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Life Channel Magazin Januar 2020

Ersehnt und abgelehnt. Abschied und Neuanfang. Ruhe und Aktion. Abbruch und Aufbruch. Freud und Leid. Altes und Neues. Sicherheit und Unsicherheit. Kaum ein Wort beinhaltet mehr Gegensätze als das Wort «Pensionierung». Wir haben bei drei Personen nachgefragt, was die Pensionierung bei ihnen bewirkt hat.

Ersehnt und abgelehnt. Abschied und Neuanfang. Ruhe und Aktion. Abbruch und Aufbruch. Freud und Leid. Altes und Neues. Sicherheit und Unsicherheit. Kaum ein Wort beinhaltet mehr Gegensätze als das Wort «Pensionierung». Wir haben bei drei Personen nachgefragt, was die Pensionierung bei ihnen bewirkt hat.

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THEMA |<br />

Die Pensionierung: mehr Neuanfang als Abschied<br />

Mehr Anfang war selten<br />

VON JÜRGEN WERTH<br />

Alles zu Ende? Oder alles auf Anfang? Der<br />

Schritt in den Ruhestand ist oft ein Schritt<br />

ins Ungewisse. Jürgen Werth hat ihn hinter<br />

sich. Und festgehalten, was ihm Kopf und<br />

Herz und Seele diktiert haben. Dieser Text<br />

ist ein Auszug aus dem Tagebuch seiner<br />

emotionalen Achterbahnfahrt eines Abschieds<br />

und eines Neubeginns.<br />

Endlich selbstständig<br />

Gestern am Davoser See: ein nicht mehr<br />

allzu junger Wanderer in knallgelbem<br />

T-Shirt mit dem Aufdruck «Endlich selbstständig».<br />

So kann man auch den Eintritt in<br />

den Ruhestand feiern. Obwohl mir da neulich<br />

ein frischgebackener Ruheständler<br />

etwas ganz anderes erzählt hat. Eine grosse<br />

Nummer war er gewesen in seiner Behörde.<br />

Sein Wort hatte etwas gegolten. Nun war er<br />

Hilfsarbeiter im Haushalt seiner Frau. «Die<br />

ersten Monate waren richtig hart», sagte er.<br />

Inzwischen hätte er sich eingefunden.<br />

Gewöhnt. Und seine Frau auch. Wenigstens<br />

ein bisschen. Endlich selbstständig? Die<br />

Schwaben nennen den männlichen Ruhestand<br />

gern augenzwinkernd den «Dätschmr-Stand».<br />

Weil Männer das dann ständig<br />

zu hören kriegten: «Dätsch mr net eikaufe?»<br />

«Dätsch mr net d’Abwasch mache?»<br />

«Dätsch mr net Kartoffle schäle?»<br />

Endlich selbstständig? Ich geb’s ja zu:<br />

Manchmal habe ich da auch ein bisschen<br />

Angst. Vom Vorstandsvorsitzenden zur<br />

Haushaltshilfe. Von einem Tag auf den<br />

anderen. Endlich selbstständig? Oder<br />

endlich selbst ständig im Dienst einer<br />

höheren Macht? Ich glaube, auch Selbstständigkeit<br />

ist ein Ausbildungsberuf. Heute<br />

Abend habe ich im Internet nach diesem<br />

T-Shirt gesucht. Habe aber nur eins gefunden,<br />

das einen ähnlichen Aufdruck anbietet:<br />

«Selbst & ständig». Das gefällt mir noch<br />

besser: man selbst sein und das ständig.<br />

Das ist es wohl. Aber das fängt nicht erst<br />

mit der nachberuflichen Selbstständigkeit<br />

an.<br />

Aufräumen<br />

Nun hat das grosse Aufräumen begonnen.<br />

Im Büro. Zu Hause. Bücher. Ordner. Briefe.<br />

Fotos. Manches Buch habe ich vor dreissig<br />

Jahren gelesen. Über manchen Brief habe<br />

ich mich vor zwanzig Jahren geärgert oder<br />

gefreut. Manches hebe ich auf. Aber ganz<br />

vieles werfe ich weg. Ich brauche es nicht<br />

mehr. Und ein anderer braucht es schon gar<br />

nicht. Erinnerungen. Warme, wehe. Bilder<br />

von damals. Das war ich? Bin ich heute noch<br />

derselbe? Bin ich ein anderer? Der alte<br />

Kalauer tanzt durch meinen Kopf: Merkwürdig,<br />

dass man auf den ältesten Bildern<br />

immer am jüngsten aussieht … Und plötzlich<br />

ist da ein Karton mit ganz alten Briefen.<br />

Liebesbriefe aller Art. Von Freunden. Von<br />

der Freundin. Manche der Freunde leben<br />

längst nicht mehr. Ich beginne zu lesen. Und<br />

stelle den Karton wieder weg. Nein, dafür<br />

reicht heute die Zeit einfach nicht. Später.<br />

Wenn ich mehr Zeit habe. Haben sollte …<br />

Jedenfalls wandern diese Briefe nicht in den<br />

Papiercontainer. Noch nicht … Aufräumen<br />

tut gut. Das Leben entrümpeln. Den Kopf<br />

und die Seele. Erinnerungen entsorgen. Ich<br />

habe sie im Kopf und im Herzen. Ich brauche<br />

sie nicht auf vergilbendem Papier. Und<br />

irgendwie gilt für Papier wohl das Gleiche,<br />

was für Klamotten gilt: Was du seit zwei<br />

Jahren nicht mehr in der Hand hattest,<br />

ziehst du auch nicht mehr an. Du hast es<br />

nicht mehr gebraucht. Du wirst es wohl<br />

auch künftig nicht brauchen. Höchstens<br />

zum Zeigen. Aber wer will das schon sehen!<br />

Nach dem Aufräumen sind die Regale<br />

leerer, die Schränke, der Kopf, die Seele.<br />

Herrscht wieder ein bisschen Ordnung.<br />

Übersichtlichkeit. Weiss ich wieder, wo alles<br />

ist. Und was das ist: Alles. Jedenfalls ist das<br />

Alles von heute weniger als das Alles von<br />

gestern und vorgestern. Und das ist gut.<br />

Aufräumen befreit. Schafft Platz für ande-<br />

4 | <strong>Life</strong> <strong>Channel</strong> <strong>Magazin</strong> | <strong>Januar</strong> <strong>2020</strong>

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