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atw - International Journal for Nuclear Power | 10.2020

Description Ever since its first issue in 1956, the atw – International Journal for Nuclear Power has been a publisher of specialist articles, background reports, interviews and news about developments and trends from all important sectors of nuclear energy, nuclear technology and the energy industry. Internationally current and competent, the professional journal atw is a valuable source of information. www.nucmag.com

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Ever since its first issue in 1956, the atw – International Journal for Nuclear Power has been a publisher of specialist articles, background reports, interviews and news about developments and trends from all important sectors of nuclear energy, nuclear technology and the energy industry. Internationally current and competent, the professional journal atw is a valuable source of information.

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<strong>atw</strong> Vol. 65 (2020) | Issue 10 ı October<br />

Ein Urteil zu Tihange<br />

Christian Raetzke<br />

Im Juniheft 2016 der <strong>atw</strong> hatte der Verfasser die Frage untersucht, welche rechtlichen Mittel es gibt,<br />

den Betrieb eines (zu recht oder unrecht) für unsicher gehaltenen grenznahen Kernkraftwerks in einem Nachbarland<br />

zu unterbinden. Anlass für diese Fragestellung gab die Kontroverse um die belgischen Reaktoren Tihange-2 und Doel-3.<br />

In ihren Reaktordruckbehältern (RDB) waren Wasserstoffflocken entdeckt worden, die die Frage der strukturellen<br />

Integrität aufwarfen. Nach eingehenden Prüfungen war die belgische Atomaufsicht FANC zu der Überzeugung gelangt,<br />

dass die Sicherheit nicht beeinträchtigt sei, und hatte im November 2015 dem Wiederanfahren zugestimmt.<br />

Wie im erwähnten Beitrag dargestellt, kann man auf der<br />

völkerrechtlichen Ebene wohl nur dann einen Anspruch<br />

auf Einstellung des Betriebes im Nachbarland geltend<br />

machen, wenn eine konkrete Gefahr von dem Kernkraftwerk<br />

ausgeht; bloße Bedenken hinsichtlich des Nach weises<br />

von Sicherheitsreserven, wie sie seinerzeit die RSK in einer<br />

Stellungnahme ausgedrückt hatte, dürften dafür nicht<br />

ausreichen. Deshalb hatte die damalige Bundes umweltministerin<br />

Hendricks auch nur eine Bitte an Belgien gerichtet,<br />

den Betrieb weiter auszusetzen. Immerhin stimmte<br />

Belgien einer engen Zusammenarbeit mit deutschen Experten<br />

zu; im Dezember 2016 trat ein Abkommen zwischen<br />

beiden Ländern in Kraft, mit dem die Deutsch-Belgische<br />

Nuklearkommission gegründet wurde, die seither jährlich<br />

tagt. Ohnehin besteht eine enge Zusammenarbeit, einschließlich<br />

gegenseitiger peer reviews, im Rahmen von<br />

Institutionen wie WENRA und ENSREG.<br />

Neben dieser zwischenstaatlichen, also völkerrechtlichen<br />

Schiene gab es noch eine weitere Option für eine<br />

rechtliche Klärung, die auch genutzt wurde: die Städteregion<br />

Aachen, die Länder NRW und Rheinland-Pfalz<br />

sowie deutsche Privatpersonen beteiligten sich an einer<br />

Klage, die vor dem Gericht erster Instanz (Bezirksgericht)<br />

Brüssel erhoben wurde; weitere Kläger kamen aus den<br />

Niederlanden, aus Luxemburg und aus Belgien selbst.<br />

Beklagt waren der belgische Staat, die FANC und der<br />

Betreiber Engie-Electrabel. Ziel war die Feststellung, dass<br />

die Wiederanfahrzustimmung für Tihange-2 einen rechtswidrigen<br />

Eingriff in die Rechte der Kläger darstellte und<br />

dieser Eingriff durch die Anordnung der Betriebseinstellung<br />

dieses Reaktors wieder rückgängig zu machen sei.<br />

Hier ging es also nicht um Völkerrecht, sondern um die<br />

Anwendung belgischen Rechts – mit der Besonderheit,<br />

dass die Kläger eben auch aus den Nachbarländern kamen.<br />

Aus Sicht eines deutschen Juristen verwundert der<br />

Umstand, dass die Kläger den zivilen und nicht den Verwaltungsrechtsweg<br />

beschritten; wie es scheint, rechneten<br />

sich die Kläger auf diesem Wege größere Chancen aus.<br />

Mit Urteil vom 3. September hat das Gericht nunmehr<br />

die Klage abgewiesen. Die Zuständigkeit des Gerichts<br />

und die Zulässigkeit der Klage wurden zwar bejaht; in<br />

der Sache konnte sich das Gericht jedoch nicht dem<br />

Vor bringen der Kläger anschließen, die Wiederanfahrzustimmung<br />

sei rechtswidrig gewesen.<br />

In seinem Urteil zeichnet das Gericht die Vorgänge<br />

nach, insbesondere die Handlungen der FANC, die mehrere<br />

Gutachten einholte und schließlich, auch nach Auseinandersetzung<br />

mit vereinzelten Gegenmeinungen in den<br />

Beratungsgremien, zu der Überzeugung gelangte, die<br />

Wasserstoffflocken seien bei der Fertigung des RDB Anfang<br />

der 1980er Jahre entstanden, hätten sich seither nicht<br />

vergrößert und stellten insgesamt die Integrität des RDB im<br />

Normalbetrieb und bei Störfällen nicht in Frage. Das<br />

Gericht zieht das amerikanische ASME-Regelwerk heran,<br />

das bei der Fertigung angewendet wurde und auch heute<br />

noch nach belgischem Recht maßgeblich ist, und verweist<br />

auf die dort niedergelegten Regeln zur Bewertung von<br />

Fertigungsfehlern. Letztlich – so das Gericht – sei die<br />

Einschätzung der FANC nachvollziehbar.<br />

Den klägerischen Vortrag, dass auf deutscher Seite<br />

(RSK) im April 2016 ein Vorbehalt gegen die wissenschaftliche<br />

Validierung bestimmter Aussagen <strong>for</strong>muliert worden<br />

sei und weiter bestehe, nimmt das Gericht nicht zum<br />

Anlass, seine Bewertung zu ändern: die FANC habe die in<br />

der deutschen Stellungnahme herangezogenen Aspekte<br />

bereits vor der Wiederanfahrzustimmung eingehend<br />

untersucht und sei zu einer eigenen Bewertung gekommen,<br />

dass die Sicherheit nachweisbar gewährleistet sei; das sei<br />

nicht zu beanstanden.<br />

Mit Bezug auf einen weiteren Punkt der Klage stellt das<br />

Gericht fest, die FANC habe die Öffentlichkeit ausreichend<br />

in<strong>for</strong>miert; dem klägerischen Vortrag, die Behörde habe<br />

zielgerichtet In<strong>for</strong>mationen zurückgehalten, konnte sich<br />

das Gericht nicht anschließen.<br />

Wie geht es weiter? Gegen das Urteil ist grundsätzlich<br />

Berufung möglich. Allerdings wird Tihange-2 nach<br />

jetzigem Stand ohnehin 2023 stillgelegt. Zumindest eine<br />

beteiligte belgische Umweltorganisation hat daher laut<br />

Presseberichten bereits angekündigt, auf eine Berufung zu<br />

verzichten, da das Berufungsverfahren mindestens zwei<br />

Jahre dauern würde.<br />

Wie ist das Ganze zu bewerten? Gebietskörperschaften<br />

und Privatpersonen aus Nachbarländern hatten die<br />

Gelegenheit, vor einem belgischen Gericht gegen den<br />

Betrieb eines grenznahen belgischen Kernkraftwerks zu<br />

klagen und eine gerichtliche Prüfung zu erreichen. Das ist<br />

gutzuheißen. Dass dabei belgisches Recht Anwendung<br />

findet, ist logisch. Eine Annahme, belgisches Recht sei in<br />

Sicherheitsfragen „weniger streng“ als das deutsche Recht,<br />

wäre vorschnell. Das belgische Atom- und sonstige<br />

Umweltrecht enthält Vorschriften, die ein Höchstmaß an<br />

nuklearer Sicherheit <strong>for</strong>dern; das ist schon deshalb nicht<br />

überraschend, weil Belgien sich an Euratom-Recht und<br />

insbesondere an die Richtlinie zur nuklearen Sicherheit<br />

halten muss; auch wird man davon ausgehen können, dass<br />

der Gesetzgeber in unserem Nachbarland selbst ein großes<br />

Interesse daran hat, dass nur sichere Kernkraftwerke<br />

betrieben werden.<br />

Das Gericht wiederum ist nach Prüfung des Sachverhalts<br />

zu der Ansicht gekommen, die Wiederanfahrzustimmung<br />

und damit der weitere Betrieb von Tihange-2<br />

sei, gemessen an diesen Vorschriften, rechtmäßig und<br />

nicht zu beanstanden. Damit ist diese Frage mit den<br />

Mitteln eines Rechtsstaats entschieden (vorbehaltlich der<br />

Möglichkeit einer Berufung), und zwar mit dem Ergebnis,<br />

dass die Sicherheit gewährleistet ist. Das ist doch eine gute<br />

Nachricht.<br />

Autor<br />

Rechtsanwalt Dr. Christian Raetzke<br />

Beethovenstraße 19<br />

04107 Leipzig, Deutschland<br />

481<br />

SPOTLIGHT ON NUCLEAR LAW<br />

Spotlight on <strong>Nuclear</strong> Law<br />

A Judgement Regarding Tihange ı Christian Raetzke

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