atw - International Journal for Nuclear Power | 10.2020

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atw Vol. 65 (2020) | Issue 10 ı October EDITORIAL 468 Nach Corona mit Kernenergie – für Menschen und Beschäftigung in der EU Liebe Leserin, lieber Leser, der Corona-Virus und seine unmittelbaren und mittelbaren Folgen und Auswirkungen begleiten uns weiterhin. Niemand kann aktuell sagen, wann es in unserem Alltagsleben wieder eine Normalität wie vor Corona geben wird. Dennoch kann, ja muss jetzt über die Zeit nach der Krise vorausgedacht werden, und dies betrifft auch die Energieversorgung und die Kernenergie. Zwar hatte Corona, bedingt durch deutlich weniger Wirtschaftsaktivitäten, einen Einfluss auf den Energie- und Strombedarf, er sank in einzelnen Staaten teilweise um fast 30 %, dies war aber ein nur temporärer Effekt des umfassenden Lockdowns und als Beispiel in China liegen Energie- und Stromverbrauch aktuell wieder auf Vorjahresniveau. Auch ein Blick auf die längerfristige Entwicklung zeigt das nüchterne Bild, dass die weiterhin stetig steigende Weltbevölkerung und eine bessere Versorgung zukünftig den Energiebedarf ansteigen lassen. Studien der Internationalen Energieagentur (IEA), der BP Energy Outlook, Referenzszenarien der U.S. Energy Administration oder ExxonMobil zeigen dies deutlich auf. Ein Blick auf die Entwicklung beim Strombedarf verweist zudem auf das augenscheinliche Paradoxon, dass der eher emissionsbehaftete Strom bedarf überproportional wachsen wird. Auf den zweiten Blick von Zahlen und Strategien verbirgt sich dahinter allerdings das komplexe Thema der Sektorenkopplung, bei der emissionsarme Primär energien über die Stromerzeugung in anderen Sektoren stärker emissionslastige Energien verdrängen werden. Im Frühjahr dieses Jahres, etwas im medialen Schatten der sich anbahnenden Folgen durch Corona, veröffentlichte die Europäische Kommission ihre lang erwartete Industriestrategie. Sie zielt im Kern in einer Zeit sich weiter deutlich verschiebender geopolitischer Gewichte und einem sich noch verstärkenden wirtschaftlichen Wettbewerb – vor allem mit Staaten Asiens – auf eine Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit und technologischen Unabhängigkeit Europas ab. Ob diese Strategie Erfolg haben wird, hängt auch davon ab, ob diese Ziele in Einklang mit anderen, d. h. vor allem dem Ziel der Klimaneutralität, gebracht werden können. Hier kann die Kernenergie eine Schlüsselrolle übernehmen. Eine saubere Energieversorgung und der Erhalt der eigenen Wettbewerbsfähigkeit Europas sind mit der Kernenergie zu erreichen und folgen den Zielen der EU-Industriestrategie. Eine, wie in der Industrie strategie gefordert, sichere Versorgung mit Elektrizität, unabhängig von Uhrzeit und Wetter, kohlenstoffarm und zu wettbewerbsfähigen Preisen kann mit Kernenergie gewährleistet werden. Die Rolle der Kernenergie in der Energieversorgung der EU muss als strategischer Beitrag anerkannt werden mit entsprechenden Schlussfolgerungen: Die aktuell in der EU in Betrieb befindlichen 109 Kernkraftwerke mit einer Gesamtnettoleistung von 109.570 MW repräsentieren zwar „nur“ rund 9,5 % der Stromerzeugungskapazität, liefern aber aufgrund ihrer sehr hohen Ver fügbarkeit rund 30 % des Strombedarfs. Bei der emissionsarmen Erzeugung liegt der Anteil bei sogar 50 %. Neben ihrer Verlässlichkeit haben die Kernkraftwerke die Fähigkeit, die Stromnetzstabilität durch Flexibilität zu unterstützen, ja zu gewährleisten. Keine andere emissionsarme Technologie hat ein so hohes Flexibilitätspotenzial wie die Kernenergie, d. h. Kernkraftwerke können viel mehr Leistung in kurzer Zeit ins Netz einspeisen, wenn andere Erzeuger nicht verfügbar sind, oder im umgekehrten Fall auch in kurzer Zeit auf niedrige Last herunter gefahren werden, um „Platz im Netz“ für volatile Erzeugung bereit zu stellen. Darüber hinaus hat die Kernenergie für die EU aber auch weitere wirtschaftliche und strategische Bedeutung. Die europäische Nuklearindustrie sichert aktuell rund 1 Millionen subventionsfreie Arbeitsplätze und erwirtschaftet ein Bruttoinlandsprodukt von 450 Milliarden Euro. Der Sektor bietet eine hohe Fachkompetenz, nach einem Bericht von Deloitte sind 47 % der Arbeitsplätze hoch qualifiziert, und sowohl Know-how als auch erforderliche Ressourcen sind im Wesentlichen in der EU angesiedelt. Zudem umfasst die Kernenergie nicht nur die Stromerzeugung in den Anlagen selbst, sondern auch ein qualifiziertes Netzwerk, beginnend mit der Kernbrennstoffversorgung und -entsorgung über Regulierungsbehörden, Hersteller, Dienstleister, die Forschung & Entwicklung und liefert Spin-off für Anwendungen in Industrie, Landwirtschaft und Medizin. Dabei ist noch als ganz wesentlich anzumerken, dass die Kernenergie in einem verlässlichen regulatorischen Umfeld im – freien – Markt wettbewerbsfähig ist und so günstige Rahmenbedingungen für alle Verbraucher, private und Industrie liefert. Hier wiegen die Vorteile preisgünstiger Energie fast noch stärker als bei der Erzeugung selbst, da die gesamte Kette nach der Versorgung profitiert. Im Rahmen ihrer Industriestrategie muss die Europäische Kommission bestrebt sein, Industrien zu identifizieren, die insgesamt strategisch für Europa sind. Die Vorteile der Kernenergie in den Bereichen Emissionsminderung, Preiswürdigkeit und Beschäftigung müssen anerkannt werden, damit sie den Wandel der Energieversorgung in Europa mit begleitet. Ein politischer Rahmen muss dazu in Europa gegeben sein und geschaffen werden – jenseits ideologischer Abgrenzungen oder wirtschaftlicher Partikularinteressen –, der auch die unvoreingenommene politische Akzeptanz für die Kernenergie mit einschließt. Wenn sich Staaten der EU für die Kernenergienutzung entscheiden, muss dies in der übrigen EU akzeptiert werden, wie auch Kernenergie nutzende Staaten ein Nein zur Kernenergie akzeptieren. Angesichts der durch die Maßnahmen von EU und den Mitgliedsstaaten zur Abfederung bzw. Überwindung der wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise eingeleiteten Hilf- und Förderprogramme freigesetzten oder angekündigten Finanzmittel sei noch auf einen Punkt verwiesen: Auch diese Mittel lassen sich nur einmal ausgeben. Natürlich lässt sich damit auch eine beliebige Energieversorgung aufbauen. Doch wie es die EU schon in ihrem Eingangsstatement festgestellt hat, befinden wir uns in einem verschärften globalen Umfeld und Wettbewerb. Zu starke Gewichte auf heute noch nicht wettbewerbsfähige Technologien können dann ihre Zukunft eher versperren, als ihnen den Weg in die Zukunft öffnen. Dies gilt auch und im Besonderen in der Energieversorgung. Mit der Kernenergie in Europa wissen wir kommerziell seit 1956, in Deutschland seit 1960 umzugehen. Nutzen wir die Erfahrungen für ein zukunftsfähiges Europa, das mit Vernunft und Innovationen eine weiterhin lebenswerte Zukunft gestaltet. Das dies nicht reines Wunschdenken ist, zeigen europäische Realitäten: Das Kernkraftwerkszubauprojekt Paks 5 & 6 in Ungarn ist konkret, die zwei 1200-MW-Blöcke sollen in den Jahren 2025 und 2026 den Betrieb aufnehmen. Einwendungen gegen Planung und Bau via EU-Rechtsnormen wurden von der EU-Justiz abgewiesen. In der Tschechischen Republik hat der Energieversorger und Kernkraftwerksbetreiber ČEZ den Antrag auf Errichtung von zwei weiteren Kernkraftwerksblöcken am Standort Dukovany in 2020 eingereicht. Und in den Niederlanden hat das Parlament einem Antrag auf Prüfung der Marktoptionen der Kernenergie in diesem September zugestimmt. Christopher Weßelmann – Chefredakteur – Editorial After Corona with Nuclear Energy – For People and Employment in the EU
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