30.10.2014 Views

Kreffels Ruminationen - Ernst Michael Lange

Kreffels Ruminationen - Ernst Michael Lange

Kreffels Ruminationen - Ernst Michael Lange

SHOW MORE
SHOW LESS

Create successful ePaper yourself

Turn your PDF publications into a flip-book with our unique Google optimized e-Paper software.

Natürlich war die Philosophie am Anfang der europäischen Tradition noch einiges<br />

anderes neben begrifflicher Klärung aus der Perspektive der ersten Person –<br />

Naturwissenschaft, metaphysische Welterklärung in der Nachfolge des Mythos,<br />

Bewertung und Rechtfertigung praktischer Lebensformen – aber das Fragment des<br />

frühen Philosophen bezeugt eben, dass das Moment reflexiver begrifflicher<br />

Klärung, das der Philosophie in Laufe ihrer Geschichte aufgrund der<br />

Auswanderung der wissenschaftlichen Fragestellungen in selbstständige<br />

wissenschaftliche und soziale Disziplinen allein als spezifische Zuständigkeit<br />

geblieben ist, von beinahe allem Anfang an zu ihr gehörte. Und darin wurde<br />

Kreffel durch die Lektüre des größten Philosophen seiner Sprache bestärkt, der<br />

zwar nach <strong>Kreffels</strong> Meinung irrig vom philosophischen Forschen als ‚Erkenntnis’<br />

geschrieben hatte, wo besser von ‚Einsicht’ (diesen Ausdruck verwendet der<br />

Philosoph gelegentlich auch selbst) oder ‚Verstehen’ die Rede sein sollte, der aber<br />

unter dieser Einschränkung nachdrücklich ein Erkennen aus Gegebenheiten<br />

(cognitio ex datis) von einem Erkennen aus Prinzipien (cognitio ex principiis)<br />

unterschieden und das Philosophieren durch das zweite gekennzeichnet gesehen.<br />

Wer nur aus Gegebenheiten erkennt – und zu denen zählen auch die Texte anderer<br />

Philosophen – der erwirbt nur ‚historische’, nicht ‚philosophische’ Einsicht. Und<br />

diese Unterscheidungen erlauben auch, einfach zu erklären, wieso Kreffel erst spät<br />

zu seiner Auffassung gekommen ist. Er ist an einer Universität seines Landes im<br />

Studium der Philosophie ausgebildet worden und dieses Studium vollzog sich vor<br />

allem als Textstudium – die Studenten des Faches wurden zu Schriftgelehrten,<br />

nicht Selbstdenkern erzogen. Besonders wurde auf Schriftgelehrsamkeit<br />

hinsichtlich des Philosophen Wert gelegt, bei dem man am Ende seiner ersten<br />

großen Schrift lesen kann, dass man auf diese Weise gar nicht philosophiert,<br />

sondern nur ‚historisch’ erkennt. Als ihm dieser Widerspruch zu aufdringlich<br />

wurde und er im Interpretieren anderer immer mehr und öfter den Eindruck haben<br />

musste, nicht eigentlich zu tun, was nach dem Begriff der Philosophie – reflexive<br />

begriffliche Klärung im Wege des Selbstdenkens, der Klärung des eigenen<br />

Verstehens – zu tun ist, hat Kreffel die Schriftgelehrsamkeit auch gegenüber dem<br />

Philosophen seiner Sprache, von dem er noch mehr gelernt hatte als von dem<br />

Größten, aufgegeben und sich auf das Wagnis, sich seines eigenen Verstandes zu<br />

bedienen, zu dem der größte Philosoph nachdrücklich aufforderte, auch wirklich<br />

eingelassen.<br />

28

Hooray! Your file is uploaded and ready to be published.

Saved successfully!

Ooh no, something went wrong!