Kreffels Ruminationen - Ernst Michael Lange
Kreffels Ruminationen - Ernst Michael Lange
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Natürlich war die Philosophie am Anfang der europäischen Tradition noch einiges<br />
anderes neben begrifflicher Klärung aus der Perspektive der ersten Person –<br />
Naturwissenschaft, metaphysische Welterklärung in der Nachfolge des Mythos,<br />
Bewertung und Rechtfertigung praktischer Lebensformen – aber das Fragment des<br />
frühen Philosophen bezeugt eben, dass das Moment reflexiver begrifflicher<br />
Klärung, das der Philosophie in Laufe ihrer Geschichte aufgrund der<br />
Auswanderung der wissenschaftlichen Fragestellungen in selbstständige<br />
wissenschaftliche und soziale Disziplinen allein als spezifische Zuständigkeit<br />
geblieben ist, von beinahe allem Anfang an zu ihr gehörte. Und darin wurde<br />
Kreffel durch die Lektüre des größten Philosophen seiner Sprache bestärkt, der<br />
zwar nach <strong>Kreffels</strong> Meinung irrig vom philosophischen Forschen als ‚Erkenntnis’<br />
geschrieben hatte, wo besser von ‚Einsicht’ (diesen Ausdruck verwendet der<br />
Philosoph gelegentlich auch selbst) oder ‚Verstehen’ die Rede sein sollte, der aber<br />
unter dieser Einschränkung nachdrücklich ein Erkennen aus Gegebenheiten<br />
(cognitio ex datis) von einem Erkennen aus Prinzipien (cognitio ex principiis)<br />
unterschieden und das Philosophieren durch das zweite gekennzeichnet gesehen.<br />
Wer nur aus Gegebenheiten erkennt – und zu denen zählen auch die Texte anderer<br />
Philosophen – der erwirbt nur ‚historische’, nicht ‚philosophische’ Einsicht. Und<br />
diese Unterscheidungen erlauben auch, einfach zu erklären, wieso Kreffel erst spät<br />
zu seiner Auffassung gekommen ist. Er ist an einer Universität seines Landes im<br />
Studium der Philosophie ausgebildet worden und dieses Studium vollzog sich vor<br />
allem als Textstudium – die Studenten des Faches wurden zu Schriftgelehrten,<br />
nicht Selbstdenkern erzogen. Besonders wurde auf Schriftgelehrsamkeit<br />
hinsichtlich des Philosophen Wert gelegt, bei dem man am Ende seiner ersten<br />
großen Schrift lesen kann, dass man auf diese Weise gar nicht philosophiert,<br />
sondern nur ‚historisch’ erkennt. Als ihm dieser Widerspruch zu aufdringlich<br />
wurde und er im Interpretieren anderer immer mehr und öfter den Eindruck haben<br />
musste, nicht eigentlich zu tun, was nach dem Begriff der Philosophie – reflexive<br />
begriffliche Klärung im Wege des Selbstdenkens, der Klärung des eigenen<br />
Verstehens – zu tun ist, hat Kreffel die Schriftgelehrsamkeit auch gegenüber dem<br />
Philosophen seiner Sprache, von dem er noch mehr gelernt hatte als von dem<br />
Größten, aufgegeben und sich auf das Wagnis, sich seines eigenen Verstandes zu<br />
bedienen, zu dem der größte Philosoph nachdrücklich aufforderte, auch wirklich<br />
eingelassen.<br />
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