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Materialiensammlung - Theater Marburg

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3.1 Was versteht man unter dem Begriff Kunstmärchen?<br />

Prof. Volkmar Hansen (V.H.): Zunächst einmal ist es das Gegenteil vom sogenannten Volksmärchen. Unter<br />

einem Volksmärchen versteht man phantastische und wundersame Geschichten, die tatsächlich im Volke<br />

weitererzählt worden sind und das über einen ganz langen Zeitraum, meist über Jahrhunderte hinweg. Im<br />

Gegensatz zu diesen anonymen, aus dem Volke kommenden Märchen stammt das Kunstmärchen von<br />

einem bestimmten Autor. In der Literatur der Romantik hat sich unter den Schriftstellern das Bewusstsein<br />

herausgebildet, dass man die Erzählform, die man im Volksmärchen findet, auch dafür verwenden kann, ein<br />

Kunstmärchen zu schaffen, das künstlerische Qualitäten entwickelt und das einem hohen literarischen<br />

Anspruch genügt. Außerdem setzt das Kunstmärchen ganz klar die Schriftlichkeit voraus. Die mündliche<br />

Überlieferung wird dabei nicht mehr erwartet. Diese Tradition wird fortgesetzt durch die Kinder- und<br />

Hausmärchen. Das Kunstmärchen hat diese Tradition nicht, sondern ist konzipiert als schriftliche Form, will<br />

gelesen und vorgelesen werden und benötigt daher auch einen eigenen, sehr hoch entwickelten Erzählstil.<br />

Die Loreley auf dem berühmten Rheinfelsen<br />

Welchen Stellenwert hatte das Kunstmärchen in der Romantik?<br />

V.H.: Man muss das Kunstmärchen immer in einem dialektischen Zusammenhang mit dem Volksmärchen<br />

sehen. Das Volksmärchen ist zu jener Zeit enorm populär. Und darauf baut die Idee auf, neue Erzählungen<br />

und Inhalte, die sich an die breite Masse richten, in Märchenform zu artikulieren und zu transportieren. Das<br />

geht einher mit einem ersten wirklichen Ernstnehmen des Volkes. Man benutzt sehr bewusst die Sprache<br />

des einfachen Bürgers und spricht nicht, wie damals in den elitären Kreisen üblich, in elegantem<br />

Französisch über alle hochkomplexen Probleme. Das Volk und seine Sprache stehen im Mittelpunkt. Man<br />

benutzt märchenhafte Motive. Da können Tiere sprechen, das Wunderbare wird zu etwas ganz Alltäglichem.<br />

Magische Motive werden entwickelt. Denken Sie an die Loreley. Nicht umsonst ist das eine Erfindung des<br />

Romantikers Brentano, die eine große Wirkung gehabt hat. Da wird ein Felsen, der am Rhein steht, zu einem<br />

mythischen Ort gemacht. Man kann das alles als antiaufklärerischen Rückschlag sehen. Die Aufklärung<br />

hatte ja erst einmal mit vielen Dingen des Aberglaubens aufgeräumt. Doch damit ist auch etwas Wichtiges<br />

verloren gegangen. Das eigentliche Erleben einer Welt ist ja nicht nur von Rationalität, sondern auch von<br />

unserer Emotionalität geprägt. Auch religiöse Aspekte erlangen wieder einen hohen Stellenwert im Leben<br />

der Menschen. In diesem Sinne ist die Romantik eine Zeit, die es wieder schafft, den inneren Seelenraum<br />

des Menschen zu bevölkern. Und das Kunstmärchen spielt dabei eine große Rolle. In unserer heutigen, stark<br />

virtuell durch den Computer geprägten Welt kann man erkennen, wie sich dieser Prozess auf ähnliche Weise<br />

wiederholt. Heute haben Zeichentrickfilme auch bei Erwachsenen wieder einen enormen Aufschwung. Da<br />

leben Kinderwelten wieder auf. Oder auch die Science-Fiction- und Fantasy-Storys sind sehr beliebt.<br />

Nehmen Sie den Erfolg der Geschichten um den Zauberlehrling „Harry Potter“. Das sind ja auf ihre Weise<br />

auch alles Märchenwelten.<br />

Wer waren die wichtigsten Märchenautoren der Romantik?<br />

V.H.: Auf jeden Fall sind da Ludwig Tieck (1773 bis 1853) mit dem „Gestiefelten Kater“ als frühes Werk und<br />

später mit „Der blonde Eckbert“ zu nennen, Clemens Brentano (1778 bis 1842) mit der „Geschichte vom<br />

braven Kasperl und dem schönen Annerl“, E.T.A. Hoffmann (1776 bis 1822) mit den „Goldnen Topf“, Wilhelm<br />

Hauff (1802 bis 1827) mit „Kalif Storch“ oder mit „Die Geschichte vom kleinen Muck“. Das sind<br />

Kunstmärchen, die bewusst die Nähe zum Volksmärchen suchen. Man schreibt zwar hohe Kunst, will aber<br />

das Volk damit erreichen. Ein beliebtes Stilmittel ist es, parallel zur wirklichen Welt eine irreale magische<br />

Welt aufzubauen. Da kann also ein ganz normal lebender Mensch gleichzeitig auch in einem Zauberreich<br />

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