Materialiensammlung - Theater Marburg
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wunderbar ist fast wörtlich Johann August Eberhards „Versuch einer allgemeinen deutschen Synonymik in<br />
einem kritisch-philosophischen Wörterbuche der sinnverwandten Wörter der hochdeutschen Mundart“<br />
(1795–1802) entnommen. 72 Immerhin macht diese Äußerung Theodors die schon im ersten Satz des<br />
Rahmengesprächs anklingende, adäquate Sichtweise des Wunderbaren nochmals deutlicher. Wunderlich ist<br />
‚nur’ die Oberfläche, beispielsweise also eine seltsame Kleidung oder ein skurriles Gebaren eines Menschen,<br />
das oft etwas Wunderbares, möglicherweise etwas Unbegreifliches verbirgt, das man nicht wahrhaben will<br />
oder kann. Beide Erscheinungsweisen kämen, so Theodor weiter, in seinem erlebten Abenteuer zum Tragen:<br />
„In dem Abenteuer, das ich euch mitteilen will, mischt sich beides, das Wunderliche und Wunderbare, auf,<br />
wie mich dünkt, recht schauerliche Weise.“ (161) Über diese Mischung erhalten wir an dieser Stelle keinen<br />
Aufschluss, vielmehr kann der informierte Hoffmann-Leser eine latente ‚Warnung’ erkennen: Die heterogene<br />
Mischung aus Wunderlichem und Wunderbarem wird kaum mehr ihre Elemente freigeben, bleibt<br />
diffundierendes Ineinanderfliessen polarer Bestandteile und entzieht sich somit der Analyse. Eine<br />
Mischform jedenfalls ist auch Theodors nachfolgende Ich-Erzählung, denn er nimmt „sein Taschenbuch<br />
hervor“, in dem „allerlei Notizen von seiner Reise“ (161) eingetragen sind und blickt, während dem Erzählen,<br />
dann und wann wieder in dieses Buch; die Ich-Erzählung wird medial demnach sowohl schriftlich als auch<br />
mündlich mitgeteilt: „Die Handlung geht aus der fiktiv-autobiographischen Schrift eines Ich-Erzählers<br />
hervor, der rückblickend über eine Sommerreise berichtet. Es wird ein mündliches Erzählen inszeniert, das<br />
konsequent auf den Akt des Schreibens bezogen bleibt und das Geheimnis der poetischen Verdichtung [die<br />
Mischung aus Wunderlichem und Wunderbaren] als Ausgangspunkt der Geschehnisse wählt.“ 73 Nach der<br />
noch genauer zu erläuternden Schilderung des ersten Erblickens des öden Hauses unterbricht Theodor<br />
seinen Bericht. Bei jedem Vorbeigehen hätte er sich „in ganz verwunderliche Gedanken nicht sowohl<br />
vertiefen, als verstricken“ (162) müssen. Er wendet sich an die Zuhörer – ob nur an die beiden Anwesenden<br />
scheint aufgrund des Wortes ‚alle’ etwas fragwürdig. Spricht uns Theodor hier gar als mitbeteiligte<br />
Leser an? „Ihr wisst es ja alle, ihr wackern Kumpane meines fröhlichen Jugendlebens, ihr wisst es ja alle, wie<br />
ich mich von jeher als Geisterseher gebärdete und wie mir nur einer wunderbaren Welt seltsame<br />
Erscheinungen ins Leben treten wollten, die ihr mit derbem Verstande wegzuleugnen wusstet! [...] gern<br />
zugestehen darf ich ja, dass ich oft mich selbst recht arg mystifiziert habe, und dass mit dem öden Hause<br />
sich dasselbe ereignen zu wollen schien, aber – am Ende kommt die Moral, die euch zu Boden schlägt,<br />
horcht nur auf! – Zur Sache! –“ (162f.) 74 Abgesehen von der spannungserzeugenden und, da die vorgefasste<br />
Sichtweise des Wunderbaren sich, Theodor deutet es an, im Folgenden nicht bestätigen muss,<br />
verunsichernden Aussicht auf ein unerwartetes Ende der Erzählung, irritiert zusätzlich die Selbstironie des<br />
Ich-Erzählers. Wird er nun die Phänomene des Wunderlichen und Wunderbaren in richtiger, differenzierter<br />
Weise sehen oder in der ‚Verstrickung’ verbleiben? Gebannt, wie Theodor vom öden Haus, liest man weiter...<br />
„Nun, die Zuhörer würden schon merken. Und natürlich auch der Leser, lässt sich hinzufügen“, fasst dies<br />
treffend Deterding, der angesichts der erneuten Reflexion Theodors über das Wunderbare, dieses mit dem<br />
Schrecken in Verbindung bringt: „Das Wunderbare „tritt ins Leben“. Im Wunderlichen erscheint es, und im<br />
Entdecken des Wunderlichen - im genauen Sinn des Wortes „entdecken“ – wird es erkannt. Die Erkenntnis<br />
hat in der unheimlichen Erzählung [Hoffmanns] den Charakter des Erschreckens und der Furcht [...].“ 75<br />
Wichtig ist, dass sich Furcht und Erschrecken mittels der Verunsicherung einer ironisierenden und<br />
polyperspektivischen wie polyvalenten Erzählweise auf den Leser übertragen können. Im „Bereich des<br />
Dämonischen“, beispielsweise also im „Öden Haus“, ginge es, so Deterding, um eine ‚existenzielle<br />
Gefährdung’: „Der ‚Gezeichnete’, der sich dem Wunderbaren öffnet, stürzt über der Entdeckung zunächst<br />
des Wunderlichen in ein Verderben hinein, dessen Grauen für den Betroffenen - und damit für den Leser –<br />
auch in der unausweichlichen Mechanik besteht, mit der es sich vollzieht.“ 76 Existenziell wird die Krise zwar<br />
für Theodor mit den Krankheitsanfällen, die sie nach sich zieht, hauptsächlich aber, leidet er an einer Krise<br />
seiner Sehweise. Dies kann in einer Arbeit über Hoffmann nie genug betont werden und wurde, wie<br />
Segebrecht bedauert, „in der Forschung noch längst nicht hinreichend dargelegt“: „in welchem Masse...das<br />
Ringen um die richtige Form des Erkennens der Wirklichkeit von Ich und Welt ein beherrschendes Thema der<br />
Dichtungen E. T. A. Hoffmanns ist“.77 So wird im „Öden Haus“ – und in unzähligen anderen Erzählungen –<br />
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