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Materialiensammlung - Theater Marburg

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‚sowohl – als auch’“, sorgt in einer rationalen „Verwendung der Phantastik“ dafür, dass „die ratio sich gegen<br />

sich selbst kehrt“. 40<br />

Zur selben Disjunktion gelangt Falkenberg, indem er die Rolle der Unsicherheit bei der Begegnung mit<br />

einem unheimlichen Phänomen betont. Das Auftreten von Unsicherheit im Zusammenhang mit dem<br />

Unheimlichen hat vor Freud bereits Ernst Jentsch in seinem Aufsatz „Zur Psychologie des Unheimlichen“<br />

(1906) festgestellt.41 Nach Falkenberg lege Jentsch den Fokus auf die desorientierenden Aspekte des<br />

Unheimlichen; Auslöser des unheimlichen Gefühls sei eine „cognitive uncertainty“, eine Art instinktive<br />

Unsicherheit, weshalb das Unheimliche durchaus etwas Altbekanntes oder Vertrautes sein könne, im ersten<br />

Moment der Begegnung jedoch nicht als solches erkannt werde. Freud hingegen situiert das Unheimliche<br />

mehr in der Vergangenheit, dort wo die Verdrängung passiert. Nur geht das Unheimliche nicht immer auf ein<br />

Verdrängtes zurück und vor allem würde man im Moment des unheimlichen Gefühls nicht das Verdrängte<br />

aktualisieren. Wirksam sei erstmal die bedrohende Präsenz des Unheimlichen, die verunsichert und<br />

desorientiert. 42 Eine ähnliche Desorientierung und kognitive Unsicherheit seitens des Lesers manifestiere<br />

sich in den fiktionalen Realitäten romantischer Texte, die, strukturell ähnlich einer optischen Täuschung, der<br />

die logische Disjunktion eines ‚sowohl – als auch’ zu Grunde liegt, paradoxe Ambiguitäten generieren<br />

würden, die zu einem unheimlichen Leseerlebnis führen. 43 Ein solches Leseerlebnis ist von verunsichernder<br />

Ambivalenz geprägt und gleicht der Begegnung Nathanaels mit dem an sich ambivalenten, lebendigtoten<br />

Automat Olimpia. Die Erzählstrategie der Verunsicherung hat bei Hoffmann konsequenterweise zur Folge,<br />

„das durchaus Fantastische ins gewöhnliche hineinzuspielen und ernsthaften Leuten, Obergerichtsräthen,<br />

Archivarien und Studenten tolle Zauberkappen überzuwerfen, dass sie wie fabelhafte Spukgeister am hellen<br />

lichten Tage durch die lebhaftesten Strassen der bekanntesten Städte schleichen und man irre werden kann<br />

an jedem ehrlichen Nachbar“ (II,6,250), wie es der Serapionsbruder Cyprian im Anschluss an das Märchen<br />

„Nussknacker und Mäusekönig“ treffend zur Sprache bringt. Nach Momberger ist somit mindestens ein –<br />

wenn auch nicht einziges – klar formuliertes Ziel des Fantastischen „die Fiktionen des alltäglichen<br />

Lebenszusammenhangs zu zerreissen und neu zusammenzusetzen, so dass ihre Brüchigkeit, ihre<br />

Falschheit erkannt wird. Eine […] Technik des Verfremdens und Verstörens“. 44 Hierin unterscheide sich<br />

Hoffmann von einem Grossteil der fantastischer Literatur von „Tieck über Nerval bis zu Lovecraft“. In der<br />

fantastischen Literatur gehe es normalerweise darum, „etwas Unmögliches, Phantastisches, Unheimliches,<br />

Übersinnliches so darzustellen, dass der Leser wenigstens bis zu einem gewissen Punkt der Erzählung,<br />

bereit ist, dem unmöglichen Ereignis eine mögliche Existenz zuzugestehen.“ Hierfür bedürfe es der „Mittel<br />

realistischen Erzählens“, einer „fingierten Kausalität“, die die unmöglichen Welten möglich erscheinen<br />

lasse. Diese Schreibweise etabliere sich deshalb aber gerade auf der Ebene der Beziehung zwischen<br />

Zeichen und Referenz: „sie fingiert Referenz wo keine sein kann“. 45 Hoffmanns Schreibweise hingegen gehe<br />

hierüber hinaus und würde „die Einheit des Zeichens selbst“ angreifen, „Signifikant und Signifikat“<br />

auseinander reißen. Dies erreiche er einerseits mit der Technik der „Verschiebung“, mit der beispielsweise<br />

ein vorerst im realistischen Code begonnenes Diskurssystem plötzlich zum mythischen Code und wieder<br />

zurück verschoben wird. 46 Diese tritt somit häufiger in den Märchen auf. Andererseits setzte Hoffmann die<br />

Technik der „Verdichtung“ ein, welcher man auch in den „Nachtstücken“ begegnen kann. Bei diesem<br />

sprachlichen Mittel bestehe, ähnlich wie bei einer Metapher, aber mit gegenteiligem Effekt, eine<br />

„Ähnlichkeitsbeziehung […] zwischen Signifikanten, die einander auf der Ebene des Signifikats nicht<br />

entsprechen“. 47 Ganz ähnlich fasst dies Pollet, der den Wort- und Bildsinn in den „Nachtstücken“ untersucht.<br />

„Die Vergegenständlichung eines übertragenen Sinnes durch seine Verwörtlichung“ sei „ein wesentliches<br />

Mittel der phantastischen Schreibweise“, welches denselben Effekt hat, wie ihn Momberger beschreibt:<br />

Die Verdichtung einer Metapher. Dazu müsse sich die Verwörtlichung „in das Gleiten der Rede in die<br />

Erzählung“ einschreiben, „die es dem Leser im Prinzip verbietet, sich seinerseits auf eine allegorische<br />

Interpretation zurückzuziehen.“ 48 Mit nochmals anderen Worten umschreibt dies Werber: „Die Lust am<br />

Unheimlichen basiert auf der permanenten Ambivalenz des Bezuges auf das „wörtlich“ oder „uneigentlich“<br />

Gesagte der Erzählungen.“ 49 Im Gegensatz zu Momberger und Werber führt Pollet jedoch auch den<br />

gegenteiligen Prozess an: „einen wörtlichen Gebrauch, der sich verflüchtigt oder ausser Kraft setzt – nennen<br />

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