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Öffnungszeiten 25 / 2011 - Fachhochschule Lübeck

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Papiere zur Designwissenschaft<br />

<strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong><br />

»Money makes the world go round …«<br />

Tom Bieling<br />

Holger van den Boom<br />

Katharina Bredies<br />

Alfred Hückler<br />

Monique Janneck<br />

Diethard Janssen<br />

Heidi Krömker<br />

Alexander Müller-Rakow<br />

Detlev Nothnagel<br />

June H. Park<br />

Gunnar Prause<br />

Felicidad Romero-Tejedor<br />

Katrin Schulze<br />

Margarete Schmidt<br />

Yves Zimmermann<br />

<strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong> 1


Die Autoren<br />

Dipl.-Des. Tom Bieling geb. 1979. Studium des Designs in Köln (KISD) und Curitiba (UFPR, Brasilien). Doktorand<br />

am Design Research Lab der UdK in Kooperation mit den Deutsche Telekom Lab in Berlin. Aktives<br />

Gründungsmitglied des DesignResearchNetworks sowie von »Design Promoviert« | Univ.-Prof. Dr. habil.<br />

Holger van den Boom geb. 1943. Ausbildung als Grafikdesigner. Studium der Philosophie, Mathematik, Linguistik<br />

an der Universität Köln. Promotion 1974. Habilitation TU Berlin 1982. Seither Professor für Designwissenschaft<br />

an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig; Leiter der Arbeitsstelle für Designinformatik. Seit<br />

2008 Ruhestand | Dipl.-Des. Katharina Bredies geb. 1981. Studium Integriertes Design an der HfK Bremen.<br />

Doktorandin am Design Research Lab der UdK Berlin. Mitbegründerin der DGTF-Themengruppe »Design<br />

Promoviert« und Managerin des Online-Diskussionsforums DesignResearchNetwork | Prof. Alfred Hückler<br />

geb. 1931. Professor a.D. für Designgrundlagen, Entwerfen und Produktlehre. Ehem. Rektor der Kunsthochschule<br />

Berlin-Weißensee, Hochschule für Gestaltung. Ingenieur, Konstrukteur, Formgestalter; Entwerfer, Forscher,<br />

Künstler; Hochschullehrer, Weiterbilder, Fachpublizist; Praktiker, Juror | Prof. Dr. Monique Janneck geb. 1976<br />

in Frankfurt/Oder. Studium der Psychologie (Diplom 2001) und Promotion in Informatik (2006). Anschließend<br />

Juniorprofessur mit dem Schwerpunkt Mensch-Computer-Interaktion an der Universität Hamburg. Seit <strong>2011</strong><br />

Professorin für Softwareergonomie und Mensch-Computer-Interaktion an der FH <strong>Lübeck</strong> | Dr.-Ing. Diethard<br />

Janssen geb. 1957. Studium der Elektrotechnik an der TU Braunschweig. 1985 Dipl.-Ing., 1991 Dr.-Ing. Seit<br />

1990 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der HBK Braunschweig. Leiter des Hardwarelabors der Arbeitsstelle für<br />

Designinformatik | Univ.-Prof. Dr. Heidi Krömker geb. 1955. Professorin für Medienproduktion an der TU<br />

Ilmenau mit den Forschungsschwerpunkten »Gestaltung neuer Medien« und »Medienproduktionsprozesse«.<br />

1995 bis 2001 Leitung des Fachzentrums User Interface Design Center der Coporate Technology von Siemens<br />

| Dipl.-Des. Alexander Müller-Rakow geb. 1982. Studium des Industrie- und Interaktionsdesigns an der<br />

Hochschule Magdeburg und Universität Bergen (Norwegen). Doktorand am Design Research Lab der UdK Berlin.<br />

Mitbegründer der Kolloquiumsveranstaltung »Design Promoviert« | Univ.-Prof. Dr. habil. Detlev Nothnagel<br />

Studium der Kulturanthropologie, Humanbiologie und Soziologie. Promotion 1988 an der Universität<br />

Göttingen. Habilitation in Kommunikationswissenschaften an der Universität Wuppertal 1998. Seit 1999 Lehre<br />

im Design in Köln und Wuppertal. Seit 2001 Professor an der Kunsthochschule für Medien Köln | Prof. Dr.<br />

June H. Park geb. 1960 in Seoul. Studium des Grafik-Designs und der Freien Kunst an der HBK Braunschweig.<br />

Promotion in Designwissenschaft. Tätigkeit als Designer, Unternehmer und Berater. Lehre an Hochschulen in<br />

Deutschland, Österreich und Schweiz. 1999-2006 Professor für Interface Design an der FH Aargau. 2006-2010<br />

Rektor und Professor an der Muthesius Kunsthochschule Kiel | Prof. Dr. Gunnar Prause geb. 1960. Studium<br />

der Mathematik, Informatik und Betriebswirtschaftslehre. Promotion 1990. 1990-1994 Praxistätigkeit in der<br />

Wirtschaft. Seit 1994 Professor für Wirtschaftsinformatik an der Hochschule Wismar und seit 2009 Professor<br />

für BWL an der TU Tallinn | Prof. Dr. Felicidad Romero-Tejedor geb. 1967 in Barcelona. Studium Design<br />

an der Universität Barcelona, 1990 Licenciatura. 1995 Promotion. Lehraufträge für Design in Braunschweig und<br />

Hannover. Vertretungsprofessur an der FH Flensburg. Seit 2002 Professorin für Design digitaler Medien an der<br />

FH <strong>Lübeck</strong>. 2004 Gründung des Designlabors | Dipl.-Ing. Katrin Schulze geb. 1985. Promoviert am Institut für<br />

Medientechnik an der Technischen Universität Ilmenau mit dem Forschungsschwerpunkt »User Experience in<br />

der Softwareentwicklung« | Dipl.-Des. Margarete Schmidt geb. 1984. 2005-2010 Studium Industrial Design<br />

an der HBK Braunschweig. 2010 Diplomarbeit in Kooperation mit Dräger Safety in <strong>Lübeck</strong>. Seit <strong>2011</strong> Freiberufliche<br />

Designerin | Yves Zimmermann geb. 1937 in Basel. Allgemeine Gewerbeschule Basel. 1957 als Designer in<br />

New York erst im Studio von Bill Burtin »Visual Research and Design«, dann im Studio des Architekten Ulrich<br />

Franzen. Geigy Corporation in Montreal und New York. 1961 kommt er als Art Director von Geigy S.A. nach<br />

Barcelona. Gründet 1968 sein Designbüro. 1975-1988 Studio »Diseño integral« zus. mit André Ricard. Konstituiert<br />

1989 die Designfirma »Zimmermann Asociados«. 1995 »Premio Nacional de Diseño« der Stiftung BCD und<br />

des Industrie-und-Energie-Ministeriums. 1998-1999 Preisträger von »Aster de Comunicación«. Professor an den<br />

Designschulen Elisava und Eina in Barcelona. Vorträge in zahlreichen europäischen und amerikanischen Universitäten.<br />

Direktor der Bücherkollektion »GG Diseño« des Verlags Gustavo Gili. Leitet seit 2001 die Buchkollektion<br />

»Las Islas« des Verlages Ellago.<br />

2 <strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong>


5<br />

6<br />

24<br />

38<br />

48<br />

56<br />

62<br />

70<br />

76<br />

86<br />

96<br />

106<br />

112<br />

I nhaltsverzeichnis<br />

Editorial<br />

Felicidad Romero-Tejedor<br />

»Summa Cum Laude« für Mediokrität<br />

Yves Zimmermann<br />

Money makes the world go round<br />

Felicidad Romero-Tejedor<br />

Der Appeal des Machens<br />

Holger van den Boom<br />

Design als Marketing-Instrument<br />

Gunnar Prause<br />

Gestaltung positiver User Experience<br />

Katrin Schulze & Heidi Krömker<br />

Das Unsichtbare sichtbar machen<br />

Monique Janneck<br />

Designpädagogik: Eine Skizze<br />

June H. Park<br />

An den Grenzen des Wissens<br />

Detlev Nothnagel<br />

Entwicklung und Erprobung von User-Interfaces<br />

Diethard Janßen & Margarete Schmidt<br />

Vor 60 Jahren: Der »Rögnitz«<br />

Alfred Hückler<br />

Design Promoviert<br />

Katharina Bredies, Tom Bieling & Alexander Müller-Rakow<br />

Studierenden-Corner<br />

Designprojekt von Johanna Aust und Jacqueline Andermark<br />

Diplomarbeiten von: Sarah Frederike Rudelbach, Katrin Riemann,<br />

Olaf Röpcke, Daniel Rabenecker, Michael Roderfeld,<br />

Susanne Kreuschmer, Anne Geppert<br />

<strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong> 3


Impressum<br />

<strong>Öffnungszeiten</strong>. Papiere zur Designwissenschaft <strong>25</strong> / <strong>2011</strong> | ISSN 1613-5881<br />

30. Oktober <strong>2011</strong><br />

Herausgeber Präsident der <strong>Fachhochschule</strong> <strong>Lübeck</strong><br />

Redaktionsmitglieder Prof. Dr. Felicidad Romero-Tejedor, Prof. Dr. Stefan Krause (Dekan), Prof. Dr. Monique Janneck<br />

Externer Berater Prof. Dr. habil. Holger van den Boom<br />

Layout und Realisierung in InDesign und Illustrator Felicidad Romero-Tejedor<br />

Für die Inhalte der Beiträge sind die Autoren verantwortlich.<br />

Geldschein-Abbildungen nach den Reproduktionsrichtlinien der Europäischen Zentralbank.<br />

© FH <strong>Lübeck</strong> und die Autoren<br />

4 <strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong><br />

DESIGN<br />

labor


E ditorial<br />

Als 1996 die <strong>Öffnungszeiten</strong> an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig begonnen wurden,<br />

hätten wir nicht gedacht, dass es einerseits so mühsam und andererseits doch so leicht sein würde, eine<br />

Hochschulveröffentlichung konsequent und regelmäßig zu pflegen. Schon nach der ersten Nummer hatten<br />

wir nicht gerade das Gefühl, irgendwann eine Nummer <strong>25</strong> publizieren zu können. Die Nummer zwei kam nur<br />

darum zustande, weil die Studierenden der HBK Braunschweig die Initiative ergriffen und die Herausgabe mit<br />

Begeisterung forderten. Die finanziellen Mittel dafür waren immer sehr knapp, aber das hatte nur mit den<br />

Prioritäten zu tun, die von der Hochschule gesetzt wurden. Die Zuständigen hatten eine Art Rating-Agentur im<br />

Kopf, die es ihnen verbot, all zu viel Vertrauen in die Sache zu investieren.<br />

Wir können uns heute freuen, ein bescheidenes Jubiläum zu feiern. Und das ohne viel Geld (man wisse: Geld<br />

allein bringt die Welt nicht in Gang). Vielen Menschen ist dafür zu danken, die ihre Zeit für <strong>Öffnungszeiten</strong><br />

ohne Vergütung geopfert haben. Voran die Autoren, die uns vertraut haben. Auch viele Studierende haben ihre<br />

Arbeiten für den Druck vorbereitet, sogar nachdem sie ihre Diplom-Note schon in der Tasche hatten und sich<br />

bereits in einem neuen Lebensabschnitt befanden. Wir danken den Kollegen des Fachbereichs Elektrotechnik<br />

und Informatik der FH <strong>Lübeck</strong>, die sich in der Redaktionsarbeit engagierten. Hier möchten wir aber auch<br />

unseren Lesern danken. Viele haben sich wiederholt positiv geäußert. Das spornt uns an, weiterzumachen.<br />

Ganz ohne Geld geht es freilich nicht: Wir haben seit der Nummer 24/2010 auch die besondere Unterstützung<br />

des Präsidiums der FH <strong>Lübeck</strong>, das sich seitdem an den Druckkosten mit 50 % beteiligt. Ein weiterer kleiner<br />

Erfolg von <strong>Öffnungszeiten</strong>, der den bescheidenen Etat des Designlabors entlastet.<br />

Im Zeitalter der Drittmittel ist es nicht einfach, ohne »Money« in den Hochschulen etwas auf die Beine<br />

zu stellen. Derzeit kann die Designwissenschaft noch keine Drittmittel locker machen – dafür ist diese<br />

Grundlagenforschung zu jung, zu unetabliert, zu abstrakt: Insbesondere die Industrie fühlt sich nicht zuständig,<br />

etwas zu fördern, von dem man sich keinen unmittelbaren Nutzen verspricht. Und doch wagen wir zu<br />

prophezeien, dass sich dies schon sehr bald ändern könnte. Gerade die genuin technische Entwicklung geht<br />

immer stärker in Richtung human centered design.<br />

Wer es glaubt oder nicht: Es ist nicht so sehr das Geld, was die Welt bewegt, sondern die Motivation zum<br />

Denken. Wenn es stimmt, wie ein deutscher Universitätsprofessor unlängst im TV-Interview glauben machen<br />

wollte, dass ein deutscher Hochschulabsolvent dreimal so kreativ sei wie, sagen wir, ein koreanischer, und wir uns<br />

deshalb keine Sorgen zu machen brauchten, wäre das Land der Dichter und Denker auch ein Land der Kreativen.<br />

Das klingt gut, aber hat sicher gar nichts mit den Verlockungen der Drittmittel zu tun.<br />

Geld ist auch ein designwissenschaftliches Thema, wie das vorliegende <strong>25</strong>. Heft der <strong>Öffnungszeiten</strong> zeigt. Wenn<br />

es ein Profil für <strong>Öffnungszeiten</strong> zu benennen gäbe, könnte es dies sein, dass wir nicht um den heißen Brei<br />

herum reden, die Dinge auf den Punkt zu bringen versuchen und keinen Opportunitäten folgen. Es passt zum<br />

<strong>25</strong>. Jubiläumsheft, sich weiter zu »öffnen«. Wir erleben derzeit wirklich spannende »<strong>Öffnungszeiten</strong>« in der<br />

Designwissenschaft. Und möchten deswegen in Zusammenarbeit mit dem eingerichteten Kolloquium »Design<br />

promoviert« ein Publikationsforum für Doktoranden ermöglichen. Deswegen danken wir Katharina Bredies,<br />

Tom Bieling und Alexander Müller-Rakow für den vielversprechenden Beginn (siehe S. 106).<br />

<strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong> 5


»Summa cum laude«<br />

für Mediokrität<br />

6 <strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong><br />

Yves Zimmermann<br />

5 Euro<br />

10 Euro<br />

20 Euro<br />

50 Euro<br />

100 Euro<br />

200 Euro<br />

500 Euro<br />

1. Der Wettbewerb für den Entwurf der Euro-Banknoten<br />

Zu Organisation und Ablauf des Wettbewerbs<br />

Im Februar 1996 wurde vom EMI, dem European Monetary<br />

Institute, Vorläufer der späteren europäischen Zentralbank, der<br />

Wettbewerb für das Design der neuen Euro-Banknoten ausgerufen.<br />

Nicht jeder konnte da mitmachen; einzig die Zentralbanken<br />

der Länder die zur Europäischen Union gehörten, hatten die<br />

Autorität, je drei nationale Designer zu diesem Wettbewerb<br />

einzuladen. In Spanien hat die Zentralbank zwei Designer eingeladen,<br />

die den Premio Nacional de Diseño erhalten haben, ein<br />

nationaler Designpreis, der vom König übergeben wird. Einer<br />

war Enric Satué, ein bekannter katalanischer Designer, sowie ich.<br />

Auch ein technischer Designer aus der Banknotendruckerei in<br />

Madrid wurde als dritter eingeladen. So wie Satué und ich, hatte<br />

die große Mehrzahl der Teilnehmer an diesem Wettbewerb<br />

noch nie Banknoten entworfen.<br />

Alle eingeladenen Designer trafen sich dann in Frankfurt, wo<br />

Banknoten-Fachleute und Vertreter des EMI ihnen die Kommunikationskonzepte<br />

für das Design der Noten erklärten, wie<br />

auch den außerordentlich komplexen technischen Prozess für<br />

deren Herstellung. Jeder bekam dann ein konzeptuelles und ein<br />

technisches Briefing. Im ersten wurden die zwei vom EMI vorgeschlagenen<br />

Grundkonzepte erläutert, die auf den Vorder- und<br />

Rückseiten der Banknoten grafisch dargestellt werden sollten.<br />

Jeder der Teilnehmer war frei, Entwürfe für beide Konzepte oder<br />

auch nur für eines zu präsentieren.<br />

Das erste Konzept war »Epochen und Stile Europas«, wobei<br />

sieben Epochen für die entsprechenden sieben Banknoten wie<br />

auch deren individuelle Farben vorgegeben wurden:<br />

grau<br />

rot<br />

blau<br />

gelb-orange<br />

grün<br />

gelb-grün<br />

violett-rot<br />

klassisches Altertum: Athen, Rom<br />

Romanik<br />

Gotik<br />

Renaissance<br />

Barock<br />

19. Jahrhundert<br />

20. Jahrhundert


Guglielmo Savini<br />

Giovanni Pino<br />

Das zweite Konzept war »Abstrakt-Modern.« Dieser eher weitläufige<br />

Begriff überließ im Prinzip die Auswahl des Themas für<br />

die Gestaltung der sieben Banknoten dem Kriterium des jeweiligen<br />

Designers. Für beide Konzepte jedoch galt, unter vielen<br />

anderen Einschränkungen, eine gleiche Limitierung für den<br />

Designer: Der Inhalt von Bildern irgendeiner Art, die die eine<br />

oder andere Epoche darstellen sollten, musste anonym bleiben.<br />

So durfte man beim Betrachten eines Porträts zum Beispiel<br />

nicht erkennen, wer die porträtierte Person, wer sein Porträtist<br />

und wo, in welchem Museum, das Porträt ausgestellt war. Als<br />

Grund dafür wurde angegeben, »man wolle den Nationalismus<br />

unter den europäischen Ländern nicht schüren …«; denn,<br />

angenommen, es erschiene auf einer Banknote zum Beispiel<br />

das allseits bekannte Porträt der Mona Lisa, dann wäre damit<br />

Leonardo da Vinci und Italien impliziert, was andere Länder<br />

ausschließen und demzufolge »diskriminieren« würde.<br />

Das technische Briefing stellte eine äußerst komplexe technische<br />

Landschaft dar, die das Design in vielen Hinsichten sehr<br />

einschränkte. Allen technischen Anforderungen zu genügen<br />

war außerordentlich komplex, aber auch eine äußerst interessante<br />

intellektuelle wie auch kreative Herausforderung. Die<br />

Vorkehrungen, die getroffen werden mussten, um Fälschungen<br />

der Banknoten wenn nicht zu verunmöglichen, so doch sehr zu<br />

erschweren, waren für unsere beruflichen Erfahrungen außerordentlich<br />

kompliziert. Auch ähnliche Vorsichtsmaßnahmen<br />

reflektierten sich im Druck der Scheine: Nebst dem speziellen<br />

Papier werden vier verschiedene Drucktechniken wie auch<br />

silberner Foliendruck gebraucht, um Banknoten herzustellen,<br />

mit sichtbaren und anderen, für das Auge nicht sichtbaren<br />

Sicherheitselementen.<br />

<strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong> 7


Die Wettbewerbsteilnehmer hatten sechs Monate zur Verfügung,<br />

um ihre Entwürfe anzufertigen. Als der Schlusstermin<br />

nahte, mussten die Projekte an einen Notar in Frankfurt<br />

geschickt werden. Es wurden 27 Entwürfe zum Thema »Epochen<br />

und Stile Europas« eingegeben und 17 zum Thema<br />

»Abstrakt-Modern«. Auch für die Präsentation der Entwürfe<br />

mussten verschiedene Vorkehrungen getroffen werden, damit<br />

nichts an ihnen verriete, woher oder von wem sie stammen<br />

konnten. Nachdem sie alle registriert und mit einer Nummer<br />

versehen waren, wurden sie zuerst einem technischen Komitee<br />

vorgelegt, das die Entwürfe analysieren musste, um ihre Realisierbarkeit<br />

festzustellen und auch, ob alle im Briefing gestellten<br />

technischen Probleme gelöst waren. Dann wurden sie an eine<br />

Jury übertragen, die den Auftrag hatte, in verschiedenen Abstimmungen<br />

die erwähnten 27 respektive 17 Entwürfe auf je 5<br />

zu reduzieren. Von den fünf ausgewählten Projekten zum Thema<br />

»Epochen und Stile Europas« war unseres das meistgewählte<br />

und stand an erster Stelle. Die Jury bestand aus 15 Personen<br />

aus verschiedenen europäischen Ländern, es waren Fachleute<br />

aus dem Bereich der Semiotik, des Marketing und der Kunstgeschichte.<br />

Diese zweimal 5 Projekte wurden dann in verschiedenen<br />

europäischen Hauptstädten getestet. Laut Herrn Duisenberg,<br />

dem damaligen Präsidenten des EMI, ergab das Resultat<br />

des Tests, dass drei Entwürfe bei den getesteten Personen die<br />

gleiche Akzeptanz erzielt hatten. Welche diese Projekte waren,<br />

hat er leider nicht gesagt. Und somit »haben wir«, also er und<br />

seine Kollegen aus dem EMI, das Projekt ausgelesen, das dann<br />

ausgeführt wurde und jetzt von Millonen Personen benutzt<br />

wird, weil, sagte er, »uns der Symbolismus der Bilder gefiel …«<br />

Mehr darüber später.<br />

Dies zu Organisation und Ablauf des Wettbewerbs.<br />

Erik Bruun<br />

8 <strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong><br />

Joannis Pipinis | Areti Michelioudaki, Maria Antonatou | Pericles Sotiriou | Nikos Nikolaou


Terry Thorn<br />

John Stevenson<br />

Luís Filipe de Abreu<br />

Jaap Drupsteen<br />

<strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong> 9


Robert Ballagh<br />

Hannu Järviö | Karin Mörck-Hamilton<br />

10 <strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong><br />

Reinhold Gerstetter


Johann Müller<br />

Daniel Bruun | Johanna Bruun<br />

Stuart Rost<br />

<strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong> 11


Istituto Poligrafico e Zecca dello Stato S.p.A.<br />

Colin Braun<br />

12 <strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong><br />

Miguel Angel Plaza<br />

Ernst Jünger | Lorli Jünger


Inge Madlé<br />

Alain Guérault<br />

Klaus Michel | Sanne Jünger<br />

Andrew Ward<br />

<strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong> 13


Mark Scovell<br />

Pierrette Lambert<br />

14 <strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong><br />

Sandrine-Ludmilla Jung<br />

Renato Manfredi


Brigitte Matoul<br />

Véronique Boland<br />

Benoît Grégoire<br />

Monique Golaire | Patricia Vouez<br />

Maryke Degryse<br />

Kenneth Ponsaers | Nathalie Paquot<br />

<strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong> 15


Enric Satué Llop<br />

16 <strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong><br />

Robert Kalina<br />

Robert Deodaat Emile (Ootje) Oxenaar<br />

Roger Pfund


2. Zu unserem Projekt und dem Design von Banknoten selbst<br />

In meinem Büro in Barcelona haben wir während vieler Jahre<br />

Projekte verschiedenster Art ausgeführt, die auch zum Teil technisch<br />

sowie konzeptuell sehr kompliziert und herausfordernd<br />

waren. Doch ein Banknotendesign ist eine Sache besonders<br />

komplizierter Art, das sich laut meiner beruflichen Erfahrung<br />

mit keinem anderen Projekt vergleichen lässt. Wie bekannt,<br />

beinhaltet jeglicher Design-Auftrag immer eine Serie von Einschränkungen<br />

oder Konditionierungen, doch in diesem speziellen<br />

Fall sind die Limitierungen, zuerst einmal technischer Art so,<br />

dass man das Gefühl hat, mit gefesselten Händen zu arbeiten.<br />

Aber auch die konzeptuellen Limitierungen waren starke kreative<br />

Herausforderungen.<br />

Als wir in meinem Büro mit dem Projekt anfingen, habe ich meinen<br />

Mitarbeitern gesagt, »wir müssen Banknoten entwerfen, die<br />

wie Banknoten aussehen«. Dies nennt man eine Tautologie und<br />

ich wusste damals noch nicht, wie recht ich damit hatte. Dieser<br />

Satz hat folgende Berechtigung: Es existieren auf dem Markt<br />

verschiedene »Produktsprachen« oder auch etablierte »visuelle<br />

Sprachen«. Es gibt Produktgruppen, die in ihren äußeren<br />

Erscheinungen trotz aller Differenzen etliche Gemeinsamkeiten<br />

aufweisen. Man denke z. B. an Weinetiketten, an Parfümpackungen,<br />

an kosmetische und pharmazeutische Produkte oder<br />

eben an Banknoten. In einer Veröffentlichung, wo Banknoten<br />

aus allen Kontinenten farbig abgebildet sind, zeigt sich diese<br />

Produktsprache besonders klar. Mit zwei Ausnahmen (die früheren<br />

holländischen sowie jene eines arabischen Landes) zeigen<br />

alle Banknoten aus allen Ländern auf der Vorderseite immer<br />

ein Porträt einer Person. Diese kann ein König oder Königin<br />

sein; ein Staatsoberhaupt; ein Erfinder, Dichter oder sonst eine<br />

wichtige Persönlichkeit, die nicht nur für das entsprechende<br />

Land aus irgendeinem Grund wichtig ist, sondern auch international<br />

bekannt ist. So hatte es z. B. auf den spanischen Pesetas-<br />

Scheinen das Porträt des Königs Don Juan Carlos, der ja 1981<br />

einen Staatstreich einer rechtsextremen Gruppe vereitelte und<br />

deshalb großes Ansehen und viel Sympathie in der Bevölkerung<br />

genießt. Auch Kolumbus, der Entdecker Amerikas, war auf<br />

einem der Scheine, eine weltbekannte Person, und andere mehr.<br />

Auf der hinteren Seite der Scheine hatte es immer Abbildungen<br />

verschiedenster Art, die etwas Spezifisches des entsprechenden<br />

Landes darstellen. Diesen Aspekt haben viele Teilnehmer, die<br />

sich für das Konzept »Epochen und Stile« entschieden hatten,<br />

verstanden, denn die allermeisten dieser Entwürfe zeigen eben<br />

Porträts auf der Vorderseite.<br />

In dieser Hinsicht ist es auch wichtig zu erwähnen, dass in jener<br />

Zeit, als wir alle an diesem Projekt arbeiteten, einige der neuen<br />

Schweizer Banknoten zu zirkulieren begannen. Wie bekannt,<br />

sieht man auf deren Vorderseiten Porträts von wichtigen<br />

und bekannten schweizerischen Persönlichkeiten, die durch<br />

<strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong> 17


ihr Werk nicht nur sich selbst, sondern auch ihrem Land, der<br />

Schweiz, Ruhm verschafft haben. Alle abgebildeten Porträts<br />

sind von Persönlichkeiten aus der Kultur: Corbusier, Architekt;<br />

Giacometti, Künstler; Honegger, Musiker; Ramuz, Schriftsteller,<br />

Sophie Täuber Arp, Malerin, Burckardt, Historiker. Auf der hinteren<br />

Seite sind in jedem Fall Werke der entsprechenden Person<br />

abgebildet. Diese Banknoten geben meiner Ansicht nach ein<br />

hervorragendes Image der Schweiz als ein Land der Kultur. (Ich<br />

empfehle übrigens immer, mit einem Fadenzähler oder einer<br />

Lupe einmal einen »Ausflug« auf diese Banknoten zu machen.<br />

Es ist außerordentlich beeindruckend, was man da alles sieht<br />

… In der spanischen Zentralbank wurde mir übrigens gesagt,<br />

die Schweizer Scheine wären die Rolls Royce aller bestehenden<br />

Banknoten!) Diese Scheine, sowohl wie die vorher aus den<br />

verschiedenen Ländern erwähnten, charakterisieren sich grundsätzlich<br />

dadurch, dass es immer grafische Selbstdarstellungen<br />

sind. Für deren Verständnis braucht es keine komplizierten<br />

Gedankengänge von symbolischer Umsetzung; alle visuellen<br />

Elemente sind klar und für das Benutzer-Publikum verständlich.<br />

Was es braucht ist einzig, dass man die Scheine anschaut.<br />

Dies als Hintergrund zu einigen Betrachtungen zu den heutzutage<br />

zirkulierenden Euro-Scheinen. Das Grundkonzept, auf dem<br />

deren Entwurf beruht, ist »Epochen und Stile Europas«. Wie<br />

vielleicht bekannt, hat es auf der Vorderseite aller sieben Scheine<br />

ein Tor oder Tür irgendeiner Art, und auf der Rückseite eine<br />

Brücke; beide Bilder symbolisieren in jedem der sieben Banknoten<br />

einen Stil oder eine Epoche Europas.<br />

Es ergibt sich nicht oft, dass ein graphisches Produkt, wie diese<br />

Scheine, von so vielen Millionen Menschen tagtäglich gebraucht<br />

wird und dies erweckt das Interesse und den Wunsch des Designers<br />

herauszufinden, wie die normalen Leute, also nicht Fachleute,<br />

diese Banknoten empfinden. Mich hat die Frage gereizt<br />

und seit der Einführung dieser Banknoten im Jahr 2002 habe<br />

ich rund 150 Personen verschiedenster Art danach gefragt. Es<br />

waren dies Taxifahrer, Bankangestellte, VerkäuferInnen, Berufskollegen,<br />

Freunde, welchen ich immer die gleiche Frage gestellt<br />

habe: »Können Sie mir sagen, welche Bilder es auf der Vorder-<br />

und Rückseite aller Euro-Scheine hat?« Zu meinem Erstaunen<br />

hatte nie jemand die Scheine angeschaut! Auf meine Frage war<br />

die Antwort immer »Nein!«, und dann wurde der Geldbeutel<br />

hervorgezogen und zum ersten Mal die Scheine angeschaut!<br />

Nur eine Person, eine einzige, hat richtig geantwortet; drei oder<br />

vier haben behauptet, es hätte ein Porträt auf der Vorderseite;<br />

und als ich sie aufforderte, irgendwelche Banknoten aus dem<br />

Portefeuille herauszuholen and anzuschauen, waren sie völlig<br />

erstaunt, dass es keine Porträts gab. Beim Rest der Befragten<br />

passierte praktisch immer das Gleiche: als die Leute den einen<br />

oder anderen Schein aus dem Portemonnaie herausgezogen<br />

hatten, schauten sie sich Vorder- und Hinterseite und sagt dann:<br />

»Ja, vorne ein Tor und hinten eine Brücke. Es ist doch eine Brücke,<br />

nicht war?« Diese Frage wurde viele Male gestellt, denn in<br />

18 <strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong><br />

Yves Zimmermann & Ana Alavedra


Euroscheine-Design von<br />

Yves Zimmermann & Ana Alavedra<br />

<strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong> 19


20 <strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong><br />

einigen Fällen ist die Brücke so gezeichnet, wie wenn sie sich auf<br />

dem Wasser widerspiegeln würde, aber der untere Teil ist nicht<br />

so gezeichnet, dass man das Verzerrende der Spiegelung sieht,<br />

darum der Zwieifel der Beobachter. Da immer nach der kurzen<br />

Beschreibung der erstmals gesehenen Noten nichts mehr gesagt<br />

wurde, fragte ich noch: »Nichts mehr?« Nein, nichts mehr,<br />

war immer die Antwort. Somit hatte man in all diesen absolut<br />

mehrheitlichen Fällen die Banknoten zum ersten Mal richtig<br />

angeschaut, hat festgestellt, welches Bild es auf der einen und<br />

welches es auf der anderen Seite hatte. Doch die Frage, warum<br />

Brücken, warum Türen und Tore, kam überhaupt nicht auf.<br />

Die Tatsache, dass diese Banknoten nicht einmal angeschaut<br />

wurden, hat für mich nur eine mögliche Erklärung: das Design<br />

ist von einer nicht zu überbietenden Mittelmäßigkeit. Es ist<br />

das absolute déjà vu. In der spanischen Nationalbank wurde<br />

mir gesagt, dass es beim Test in den erwähnten europäischen<br />

Hauptstädten sehr häufig vorkam, dass die Versuchspersonen<br />

nicht wussten, was es mit den Türen und Toren und Brücken auf<br />

sich hatte, und dass sie es erst verstanden als ihnen die Tester<br />

die Symbolik erklärten: Offene Türen oder Toren: freier Durchlass<br />

von der einen auf die andere Seite. Also: freier Durchlass<br />

zwischen Ländern. Die Brücken verbinden Ufer; also Brücken als<br />

Symbol für die Verbindung von Ländern.<br />

Ich erhebe keinen Anspruch, dass mein persönlicher Test Allgemeingültigkeit<br />

hat, doch er gibt mir Anlass zu denken, dass es<br />

höchstwahrscheinlich vielen anderen Personen gleich geht und<br />

dass sie diese Symbolik nicht verstanden haben. Ich konstatiere<br />

somit, dass es die Absicht des Designers war, auf beiden Seiten<br />

der Banknoten eine symbolische Aussage bezüglich des Allgemeinthemas<br />

Europa zu machen, und dass diese Aussage von<br />

den von mir konsultierten Personen nicht bemerkt, respektive<br />

nicht verstanden wurde. Die kommunikative Absicht hat sich<br />

somit nicht erfüllt. Demzufolge ist die Idee, auf einer Banknote<br />

eine symbolische Aussage machen zu wollen, vom Standpunkt<br />

der Produktsprache aus gesehen ein Fehler, und zwar ein unverzeihlicher.<br />

Europa, Wiege der Kultur; Europa, der Kontinent in dem großartige<br />

Werke des menschlichen Geistes hervorgebracht wurden,<br />

verdiente eine bessere Selbstdarstellung als diese vulgäre Mediokrität,<br />

die wir Europäer in unseren Geldbeuteln herumtragen.


Technische Aspekte von Geldschein-Design<br />

Zimmermann Associates Design und Kommunikation<br />

<strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong> 21


Zimmermann Associates Design und Kommunikation<br />

Foliendruck<br />

Zimmermann Associates Design und Kommunikation<br />

technische Beispiele<br />

22 <strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong><br />

Foliendruck


5 Euro<br />

10 Euro<br />

20 Euro<br />

Zimmermann Associates Design und Kommunikation<br />

Die Raster<br />

Die Raster<br />

50 Euro<br />

100 Euro<br />

200 Euro<br />

Zimmermann Associates Design und Kommunikation<br />

Die Wasserzeichen<br />

Die Wasserzeichen<br />

5 Euro 10 Euro 20 Euro 50 Euro<br />

100 Euro 200 Euro 500 Euro<br />

<strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong> 23


Money makes the world go round<br />

24 <strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong><br />

Geld, ein soziales Design<br />

Felicidad Romero-Tejedor<br />

Ist das Design von Geldscheinen oder Münzen eine Frage des Geschmacks? Barcelona:<br />

Mit dem Designer Yves Zimmermann fahren wir im Taxi; er bekommt einen Anruf<br />

aufs Handy. Er spricht über ein Design von Banknoten.<br />

Das gibt’s nicht alle Tage. Yves erklärt uns nachher etwas über die tausend Aspekte,<br />

die bei einem solchen Projekt berücksichtigt werden müssen (siehe dazu in diesem<br />

Heft seinen Beitrag: »›Summa cum laude‹ für Mediokrität«).<br />

Geld ist ein Symbol; weder Index noch Ikon. Seine Bedeutung ist daher arbiträr. Es<br />

verkörpert sich in einem Stück Papier; rosa, blau, braun, gelb …; steht für 10, 20, 50,<br />

100 oder 200 Euro. Wir wissen nicht, was das benötigte Material und die drucktechnische<br />

Realisierung der Geldscheine kosten; wir wissen nur, welchen Wert sie zeigen.<br />

Außerdem wissen wir, dass ein Dollar mehr Wert hat als z. B. der kubanische Peso. Und<br />

wir wissen auch, dass der Dollar in Kuba die stabilere Zweitwährung ist. Das alles ist<br />

Alltagswissen.


Wenn wir über Geld sprechen, beziehen wir uns meist nicht auf seinen ökonomischen<br />

Charakter (das überlassen wir den Wirtschaftsexperten), sondern auf seine soziale<br />

Fähigkeit, einem bestimmten Gegenstand einen »gedachten« Wert zuzusprechen, der<br />

sich unter Umständen von der materiellen Realität weit entfernen kann. Am Ursprung<br />

des Geldes steht die materielle Realität des Goldes, wonach der direkte Tauschhandel<br />

durch ein allgemeineres Tauschmittel flexibilisiert wurde – bis hin zur heutigen virtuellen<br />

Zahlung. Menschen spielen im Tausch keine persönliche Rolle mehr. Heute<br />

überwiegt der Warenaustausch in Abwesenheit jeder persönlichen Beziehung und<br />

realen Geldes; als Medium existieren nur Quantifizierungsregeln und informatisierte<br />

Pay-Prozesse.<br />

Die designwissenschaftliche Frage, die für Designer Bedeutung haben könnte,<br />

lautet, wie denn ein Element der zweiten Natur, ein Design – Beispiel Geld – die<br />

Gesellschaftsstruktur beeinflussen kann. Als Designer brauchen wir ein klares Konzept,<br />

wie Werte in der Gesellschaft wirken. Dies natürlich, um zu gestalten, aber auch, noch<br />

wichtiger, um unvorhergesehene soziale Konsequenzen von Symboldesign einschätzen<br />

zu können. Es geht im Folgenden daher nicht nur um Geldzeichensysteme, es geht um<br />

die Gesellschaft, insofern sie zunehmend auf Basis von symbolischen Interaktionen<br />

funktioniert – und den Bezug auf objektive Realitäten allmählich verliert (Arnold<br />

Gehlen). Dies ist am Beispiel der Börsenkrise seit 2010 sofort ersichtlich, in der kein<br />

Einzelner und keine Regierung mehr die Macht und die Orientierung besaß, den<br />

Apparat der Symbole noch zu steuern.<br />

Die Anonymität und Abstraktion des Interagierens ist auch in anderen Systemen auffindbar,<br />

wie der Fleischskandal durch Dioxin von Anfang <strong>2011</strong> zeigt. Der Konsument<br />

spürt seine zunehmende Isolation und Ausgeliefertheit an anonyme Warensysteme.<br />

Ein kriminelles Verhalten in Schleswig-Holstein hatte eine bundesweite, sogar grenzüberschreitende<br />

Aufregung zur Folge. Einige Konsumenten reagierten prompt, aber<br />

nicht kontinuierlich genug; andere hatten den Überblick komplett verloren, und<br />

sagten sich, egal, alles ist gleich schlecht 1 . Zwischen Mai und Juni <strong>2011</strong> hatte man in<br />

Deutschland den Eindruck, in einem Science-Fiction-Film zu leben. EHEC-Bakterien<br />

mutieren plötzlich und sind tödlich. Etwa viertausend Infizierte, mehr als fünfzig Tote 2 .<br />

Erst soll Andalusien der Aussender sein, vielleicht auch Holland. Man kreist den Herd<br />

in Hamburg ein, später in <strong>Lübeck</strong>, irgendwann in Niedersachsen. Gleich empfahl man<br />

häufiges Händewaschen; Nahrungsmittel sieben Minuten mit mindestens siebzig<br />

Grad vor dem Verzehr erhitzen. Gurken, Tomaten, Salat, gar Bioprodukte gerieten in<br />

Verdacht. Oder Wasser …? Es sind schließlich die Sprossen von ägyptischen Samen.<br />

Massenhaft gehen die Leuten mehrmals am Tag auf Spiegel Online, auf Zeit Online,<br />

auf ZDF und ARD und andere Websites, um sich zu vergewissern, auf dem letzten<br />

Stand der Information zu sein. Die Spekulationen in zahlreichen Blogs, zusätzlich desorientiert<br />

durch Experten-Meinungen, wucherten progressiv. Jeder weitere Verlust der<br />

Bezüge zur Realität entfachte weitere Hysterie. Die Gesellschaft geriet in den Sog eines<br />

seltsam schwebenden Zustands. – Im gleichen Zeitraum starben unbeachtet mehr<br />

Menschen im Straßenverkehr.<br />

Finanzkrise oder EHEC-Krise: Sie erscheinen gleichermaßen real wie irreal. In beiden<br />

Fällen erlebte der Bürger einen massiven Kontrollverlust durch die Diskrepanz zwischen<br />

der Realität und ihrer Abbildung in den Medien.<br />

<strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong> <strong>25</strong>


Lebensmittel<br />

…<br />

Muscheln<br />

…<br />

Edelmetalle<br />

…<br />

Münzen<br />

Geldscheine<br />

Immaterielles Geld<br />

26 <strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong><br />

Zur Geschichte des Geldes<br />

Die ersten Zeugnisse kommerzieller Aktivitäten finden sich in Mesopotamien und in<br />

Ägypten etwa 3000 vor Christus 3 . »Edelmetalle« wie Gold, Silber, Bronze dienten dazu,<br />

den indirekten Tauschhandel zu ermöglichen. Die ältesten gefundenen Münzen datieren<br />

vom 7. Jh. v. Chr. Sie waren ihr Gewicht in Edelmetall wert. Dabei war Silber ein maßgeblicher<br />

Orientierungswert. Schriftzeugnisse belegen dies: In der Bibel (Genesis 37:28)<br />

wird berichtet, dass ein Sklave gegen 20 Silberstücke getauscht wurde. In Mesopotamien<br />

wog man die Edelmetalle mit zwei Waagen – um wirklich sicher zu gehen. Es gibt einen<br />

Strafcodex vom 20. Jh. v. Chr., der festlegt, dass ein Mann, der einen anderen in die Nase<br />

beißt, ein halbes Kilo Silber als Bestrafung zahlen musste, eine Ohrfeige kostete nur ein<br />

Sechstel dessen. Der Codex des Sumerischen Stadtstaats Eschnunna – eine Sammlung<br />

von Preisbestimmungen und Rechtsverordnungen – oder der babylonische Codex<br />

Hammurabi von etwa 1750 v. Chr. legen z. B. für Silberleihe eine formidable Zinshöhe von<br />

20 % fest. Aus solchen Codizes wissen wir, dass es den Vergleich zwischen Getreide- und<br />

Silbergewicht gab. Auch andere Güter wie Öl, Schweineschmalz oder Wolle wurden miteinander<br />

verglichen, um einen geregelten Kommerz betreiben zu können.<br />

Der Tauschprozess erlebte bald weitere Perfektionierung: Edelmetalle wurden geschmolzen,<br />

in lange Stangen neu geformt, danach in dünne Scheiben geschnitten, sogar als dünner<br />

Draht, um unterschiedliche Gewichte für den Tausch bereit zu halten. Für die offiziellen<br />

Gewichtsangaben waren die Tempel zuständig. Sie regulierten das Silbersystem, waren<br />

auch für Zahlungsregister und Leihregister zuständig. Da der größte Teil an Dokumenten<br />

aus Deir el-Medina (bei Theben) kommt, wo Handwerker die königlichen Gräber schufen,<br />

glaubt man, dass der Tausch über Edelmetalle und Münzen vorzugsweise von den oberen<br />

Schichten praktiziert wurde, die sich einen Schreiber leisten konnten, der die komplexeren<br />

Rechnungen bewältigte. Wie die breite Bevölkerung, des Lesens und Schreibens<br />

unkundig, Silber im Handel benutzte, ist bis heute unklar. Man darf wohl davon ausgehen,<br />

dass in den oberen Schichten der Gesellschaft ein abstrakteres Austauschdesign, auch mit<br />

intermediären Verträgen, herrschte, gegenüber dem direkten Tauschhandel.<br />

Warum man ein visuelles Design den Münzen aufgeprägt hat, ist nicht ganz klar. Es wird<br />

vermutet, man habe das Design der Münzen nicht nur auf die Stadt, wo sie geprägt worden<br />

waren, beziehen wollen: Aristoteles ist der Meinung, Münzen würden geprägt, um sie<br />

nicht jedes Mal wiegen zu müssen. Dies vereinfachte und beschleunigte den Handel. Ein<br />

weiterer Grund, der später hinzu kam (ab Ende des 6. Jhs. v. Chr.) bestand darin, durch<br />

die Münzprägung der Stadt eine Einnahmequelle zu sichern: Der Staat setzte eine Münze<br />

mit einem höheren symbolischen Wert (Nennwert) als dem Materialwert durch. Den<br />

Autoritäten musste es ›nur‹ gelingen, dass die Überwertung der Münzen akzeptiert wurde<br />

und dass nun symbolisches Design die Kraft hatte, ein geringer wertiges Metallstück<br />

aufzuwerten. Dies ist der Beginn einer Entwicklung, von der ab profanes Design gesellschaftliche<br />

Geltungen repräsentieren konnte.<br />

Daraus entwickelte sich in der Folge ein Bankensystem. Der Hauptzweck der Banken war<br />

der Münztausch für die Geldnutzung in der Stadt. Sie bewahrten Geld im Depot auf, ohne<br />

Zinsen zu geben. Die Händler, die sich eine Zeit lang in Athen aufhielten, deponierten das<br />

Geld auf der Bank, um nicht das ganze Geld stets bei sich tragen zu müssen (man denke<br />

nicht nur an Diebstahl, sondern auch an das Gewicht!). Zum Münzdesign trat nun ein<br />

Systemdesign der Banken, welches das Finanzsystem weiter mit Struktur anreicherte.


Auch das Design der Münzen selbst verriet jetzt mehr über die Gesellschaft. Über den<br />

Nennwert hinaus wurden die Münzen mit visuellen Markierungen ausgestattet. In Lydien<br />

kamen Münzen mit Abbildungen von Pflanzen und Tieren auf. Man könnte vermuten,<br />

dass diese Symbole die Münzfunktion des Handels mit Getreide und Vieh signalisieren<br />

sollten. In Griechenland erschienen alsbald die Götter auf den Münzen. Z. B. lässt auf einer<br />

Münze König Lysimachos die Athena Nikephoros darstellen, die eine geflügelte Nike in<br />

der Hand hält. Die Nike krönt dabei den Namen Lysimachos (Abb. 1). Die Könige begannen,<br />

auch sich selbst auf die Münzen zu prägen, wie in Münzen, die Lysimachos in Umlauf<br />

brachte, der sich als Nachfolger von Alexander dem Großen legitimieren wollte, indem<br />

er seinen Vorgänger auf der Münze darstellte. Die Münzen wurden zum politischen<br />

Machtsymbol der Regierenden.<br />

Nachdem sich der Nennwert vom Metallwert abgekoppelt hatte, konnte es später aufgrund<br />

inflationärer Prozesse passieren, dass umgekehrt der Metallwert der Münze deren<br />

Kaufkraft gemäß dem Nennwert übertraf. Die Leute horteten daraufhin die Münzen als<br />

handelbares Material, das einen Gewinn über den Nennwert hinaus erbrachte. Sogar<br />

Regierungen bedienten sich gelegentlich dieses Verhaltens. Die Bank of England sammelte<br />

die spanischen 8-Reales-Münzen wegen ihres materiellen Silberwertes. Zwischen 1797<br />

und 1804 wurden diese Münzen als englische Münzen wieder in Verkehr gebracht – mit<br />

ziemlicher Eile: Die Münzen wurden lediglich mit einem kleinen Konterfei des englischen<br />

Königs überstempelt. In England verspottete das Volk diese Münzen. Man sagte, dass die<br />

Bank of England den Kopf eines Verrückten (George III.) auf den Hals eines Esels (Karl IV.)<br />

gesetzt habe (siehe Abb. 2).<br />

Dergleichen führte dazu, die Münzen aus nichtedlen Metallen wie Kupfer und später<br />

Aluminium herzustellen. Im 18. Jh. war es schließlich nur noch ein kleiner Schritt, die<br />

Münzen aus nichtedlen Metallen bei den großen Nennwerten durch Papiernoten zu ersetzen.<br />

Freilich fand es die englische Nationalbank nötig, dem Inhaber einer Banknote zu<br />

versichern: »Bank of England / Promise to pay the Bearer on Demand the Sum of / One<br />

Pound«, eine Phrase, die immer noch auf den Geldscheinen zu lesen ist, obwohl sie nur<br />

noch eine sehr englische Tradition vertritt, aber an sich ohne Bedeutung ist.<br />

überstempelt<br />

König englischen vom Silbermünze Spanische 2:<br />

Abb. 1: Der Name des Königs Lysimachos wird<br />

von einer geflügelten Nike gekrönt Abb.<br />

<strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong> 27


28 <strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong><br />

Geldscheine sind, abgesehen vom geringen Papierwert, ganz und gar aus<br />

Symbolen gemacht. Das führte, mehr noch als bei den Münzen, zum Problem der<br />

Fälschungssicherheit (ein weiterhin bei den Euroscheinen nicht wirklich gelöstes<br />

Problem). Frühe Briefmarken, Aktien, Geldscheine und andere Urkunden erhielten<br />

ein möglichst kompliziertes, detailreiches Design, das es erschweren sollte, sie zu fälschen.<br />

Dies macht bis zum heutigen Tage die typische Ästhetik von Banknoten aus.<br />

Ein Geldschein ist also ein Symbol, dessen Geltungskraft nicht unwesentlich von seiner<br />

Fälschungssicherheit abhängt.<br />

Was heute regiert, ist allerdings das immaterielle, elektronische Geld. Ein Stück<br />

Plastik, versehen mit einem Chip, ist das einzige materiell verbliebene Unterpfand<br />

unserer Zahlungsmöglichkeiten. Statistiken in Spanien haben gezeigt, dass der<br />

Durchschnittsbürger im Jahr 2010 etwa 50 Euro bares Geld mit sich trug (in einigen<br />

Gegenden sogar nur 30 Euro). Dieses bare, »nackte« Geld dient nur noch<br />

dazu, Kleinigkeiten zu bezahlen, wie einen Espresso oder eine Zeitung. Auch diese<br />

Kleinigkeiten werden demnächst wohl überall per Handy zu bezahlen sein.<br />

Mit dem »Plastikgeld« ist es nur noch eine digital gespeicherte Adresse, die zur<br />

Identifizierung des Bankkontos und zur Information über seinen Zustand führt. Jeder<br />

muss heute das »Geld auf der Bank haben«, wenn ein Kauf im Internet getätigt wird.<br />

Vorbei ist der Tag, da man ein gutes Versteck suchte, das Geld aufzubewahren.<br />

Die zunehmende Abstraktheit und Vernetzung des Geldes führte um 1900 herum zu<br />

einer näheren Beschäftigung der Philosophie und Soziologie mit Fragen des Geldes.<br />

Dies hat mit den großen Wandlungen seit Ende des 18. Jhs. im ökonomischen, technologischen<br />

und soziologischen Umfeld zu tun. Es ist in der Tat ein Epochenumbruch,<br />

in dem Intellektuelle zu verstehen versuchen, inwiefern nun eine Globalisierung der<br />

Welt in stetigem Wandel beginnt. Viele erkennen, dass die Gesellschaftsstrukturen<br />

der Kolonialzeit langsam enden und andere Werte mit neuen Sozialstrukturen in<br />

den Vordergrund treten. Das Geld ist endgültig Kapital geworden (Karl Marx), was<br />

auch im Privaten neue Lebensstile schafft (Gründerzeit). Die Weltkommunikation<br />

ist schneller und enger geworden. Bereits 1880 konnte man zwischen London und<br />

dem Empire auf der ganzen Welt telegrafieren. 1891 fand das erste Telefongespräch<br />

zwischen Paris und London statt. Der 1. Mai 1886 wird in Illinois und Chicago zum<br />

ersten Kampftag der Arbeiterklasse. Erfindungen wie die Farbfotografie 1891 oder<br />

Lumières Kinematographie 1894 sorgen für soziale Begeisterung. 1900 eröffnet die<br />

Weltausstellung in Paris zugleich mit dem ersten Teil der Pariser Metro. Die Welt, die<br />

jetzt im Prinzip in 80 Tagen umrundet werden kann (Jules Verne, 1873), ist kleiner<br />

geworden, der Austausch dichter.<br />

Kein Zufall, wenn nach dem Erscheinen des ersten Bandes (1867) von Karl Marx’<br />

Das Kapital bald andere Werke erscheinen wie das von Georg Simmel, Philosophie<br />

des Geldes (1900), das von Thorstein Veblen Theorie der feinen Leute (1899) oder<br />

auch Max Webers Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1904).<br />

In diesem zunehmend komplexen Kontext können Soziologen wie Veblen ihre<br />

scharfe Beobachtungsgabe gesellschaftlicher Neuerungen einsetzen; der bedeutende<br />

Philosoph und Soziologe Simmel prophezeit für die Zukunft Änderungen, die sich<br />

dann während des 20. Jahrhunderts symptomatisch bestätigen. Weber untersucht die<br />

Frage, wie Religion und ökonomische Aktivität zu einander stehen.


Natur<br />

frei<br />

von<br />

Werten<br />

Materielle und soziale Werte der Objekte<br />

Objektwerte<br />

haben einen<br />

arbiträren<br />

Charakter<br />

Kultur<br />

durch<br />

Werte<br />

konstituiert<br />

Trennung zwischen gesellschaftlich-geschichtlicher Welt und Natur nach Simmel<br />

Februar <strong>2011</strong>: Spaziergang durch Hamburg – ein Konsumparadies. Im Schaufenster<br />

eine richtig schöne Tasche, mal ein anderes Design, groß, aber nicht plump … Ich mag<br />

sie. Ich gehe näher und schaue sie mir noch einmal genauer an. Sie ist wirklich pfiffig.<br />

Ich muss auf sie verzichten. Die Tasche kostet nach Auskunft des Preisschildes mein<br />

gesamtes Monatseinkommen als Hochschullehrerin. Mir ist sofort klar, ein solches<br />

Opfer für sie nicht erbringen zu können. Also wird die von mir begehrte Tasche aus<br />

meinen Gedanken (fast) entfernt.<br />

Der Soziologe und Philosoph Georg Simmel, dem wir im Weiteren folgen wollen, ist<br />

nach allgemeiner Ansicht einer der bedeutendsten Soziologen der Moderne – auch<br />

als Begründer einer formalistischen Soziologe geführt; er gilt als Vorläufer etwa der<br />

Luhmannschen Systemtheorie. Simmel schreibt im Jahr 1900: »Wir sind fähig, die<br />

Inhalte des Weltbildes zu denken, unter völligem Absehen von ihrer realen Existenz<br />

oder Nichtexistenz.« 4 Auch Waren können zum Inhalt eines Weltbildes werden.<br />

»Meine« Tasche ist ein gedachtes Bild, aber weit entfernt von jeder realen Existenz.<br />

Georg Simmel unterscheidet in seiner Philosophie des Geldes zwischen einer gesellschaftlich-geschichtlichen<br />

Welt, der Kultur, die durch Werte konstituiert wird, und<br />

der Natur, die frei von Werten ist. Werte gelten, sie konstituieren dadurch einen<br />

eigenständigen Bereich (von Karl Popper später Welt3 genannt, gegenüber der Welt1<br />

der Realität und der Welt2 der subjektiven Erlebnisse). In der Gesellschaft gibt es eine<br />

Rangordnung der Gegenstände nach Werten. Und »das ist aus ihrem bloß natürlichen<br />

Dasein und Inhalt niemals abzulesen« 5 . Die Werte der Gegenstände, so Simmel,<br />

weichen von der natürlichen Realität eventuell ganz extrem ab. Dadurch nimmt das<br />

Verhältnis Natur/Wert einen zufälligen, arbiträren Charakter an. Im Bezug auf »meine«<br />

Tasche bedeutet dies, dass sie, ihrem Preis nach, in irgendeiner Rangordnung der<br />

Modewerte sehr hoch anzusiedeln wäre, ein Umstand, der mir in seinem »Dasein<br />

und Inhalt« nicht unbedingt verständlich wurde. Aber der Wert gilt. Ein so »objek-<br />

Es gibt so etwas wie objektive Werte<br />

<strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong> 29


tivierter« Wert entsteht aus einem auf der subjektiven Ebene<br />

stattfindenden sozialpsychologischen Prozess, der mit einem<br />

ausgeprägten Symbolfetischismus einhergeht – mit Design.<br />

Ein wichtiger Aspekt der Simmelschen Theorie des Geldes<br />

ist die Gegenüberstellung von Inhalt und Form. Inhalt sind<br />

die arbiträren Bedürfnisse des Individuums, seine Interessen,<br />

Motive, Zwecke, Neigungen. Sie haben zunächst keinen sozialen<br />

Charakter. Sie sind die von Simmel so genannte »Materie<br />

der Vergesellschaftung«. Diese »Materie« wird im Prozess<br />

der Vergesellschaftung in eine »Form« gestellt, herbeigeführt<br />

durch die Verbindungen, die Individuen miteinander<br />

eingehen. Anstelle von »Form« würden wir heute eher von<br />

»Struktur« sprechen. Der Charakter des Sozialen kommt<br />

zustande, indem die »Formen« als selbstständige Strukturen<br />

aus der Wechselwirkung zwischen Individuen hervorgehen.<br />

Die Individuen, in ihrem Handeln aufeinander bezogen, folgen<br />

bestimmten Ordnungsmustern (sprich Formen). Formen sind<br />

abstrakt und allgemein; innerhalb der abstrakten Formen realisieren<br />

die Individuen ihre konkreten Inhalte. Für Simmel sind<br />

Formen der Gesellschaft z. B. Familie, Gruppe, Verband, Über-<br />

und Unterordnung, Konkurrenz, Konflikte oder Arbeitsteilung.<br />

– Sicherlich wird die heutige Soziologie der Differenzierung<br />

von Form und Inhalt zustimmen können; jedoch nicht der<br />

Vorordnung des Individuums gegenüber der Gesellschaft; vielmehr<br />

erscheint die Gesellschaft als das produktive System, das<br />

Individuen überhaupt erst ermöglicht. Inhalt und Form sind<br />

eine formale Unterscheidung, keine inhaltliche.<br />

Aus dem übersummativen Zusammenwirken von Elementen<br />

– Individuen – ergeben sich nach Simmel gestalthaft Formen<br />

– Gesellschaftsdesign. Auf die Philosophie des Geldes bezogen,<br />

verwandelt sich diese Aussage in die Feststellung, Geld sei ein<br />

allgemeines Medium, das ein spezielles, individuelles Handeln<br />

erlaubt, den Tausch. Geld gestaltet einen Markt.<br />

Eine Birne für einen Apfel zu tauschen, ist dank des Geldes nicht<br />

mehr nur Inhalt (zwei Individuen, die jedes Mal neu darüber<br />

verhandeln), sondern eine Form: das Geld reguliert den Tausch.<br />

Birnen oder Äpfel werden zu Waren abstrahiert und in eine<br />

etablierte Sozialform, das Geld, übersetzt. Geld verleiht jedem<br />

Objekt einen Wert. Keine Frage aber, nicht alles hat für jedes<br />

Individuum den gleichen Wert. In einer Gesellschaft kann ein<br />

Gegenstand für ein Individuum den höchsten, für ein anderes<br />

den niedrigsten Wert repräsentieren. Diese Subjektivität, so<br />

Simmel, ist nicht Willkür. Dem Subjekt ist schon bewusst, dass<br />

es am sozialen Wert meist so wenig ändern kann wie an den<br />

übrigen Wirklichkeiten. Der soziale Wert des Gegenstandes<br />

kann das Subjekt aber gleichgültig lassen. So kann es nach<br />

Simmel sein, dass jemand einem Objekt einen subjektiven<br />

Wert gibt, den niemand anderer bereit ist, zu akzeptieren. Der<br />

Wert bleibt aber für diese Person genauso hoch, auch wenn das<br />

Objekt dadurch unverkäuflich wird 6 . Hier kämen, so Simmel,<br />

30 <strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong><br />

individuelle Inhalte zur Geltung. Das Mittel Geld lässt also<br />

zwar eine Objektivierung zu, subjektive Werte, die zu dieser<br />

Objektivierung führen, sind dann durch die Bereitschaft, etwas<br />

für das Objekt zu opfern, zu messen. Geld erlaubt es dem<br />

Individuum, einen Wert für das Objekt zu geben oder zu verlangen,<br />

einen Wert, der durch die Geldquantität intersubjektiv<br />

messbar wird.<br />

Simmel schreibt: »Von der Mehrzahl der Objekte kann<br />

man sagen: sie sind nicht wertvoll, sondern sie werden es –<br />

denn dazu müssen sie fortwährend aus sich heraus und in<br />

Wechselwirkung mit anderen treten; es sind nur Wirkungen<br />

ihrer, an die sich ein Wertgefühl knüpft.« 7 Der objektivierte<br />

Wert geht nach Simmel also aus der Summe subjektiver<br />

Bewertungen hervor. Was die heutige Wirtschaftstheorie – siehe<br />

Marketing – etwas anders akzentuiert.<br />

Geld als »objektives« Symbol<br />

Wieso kann etwas zugleich subjektiv und objektiv existieren,<br />

wie das Geld? Simmel meint, »der Mensch ist das tauschende<br />

Tier; […] der Mensch ist das objektive Tier. Nirgends in der<br />

Tierwelt finden wir auch nur Ansätze zu demjenigen, was<br />

man Objektivität nennt, der Betrachtung und Behandlung<br />

der Dinge, die sich jenseits des subjektiven Fühlens und<br />

Wollens stellt« 8 . Durch Geld werden die wirtschaftlichen<br />

Verhältnisse der Objekte, ihre Tauschbarkeit, ausdifferenziert,<br />

und zwar durch die quasi begriffliche Existenz des Geldes, die<br />

an ein sichtbares Symbol geknüpft ist 9 . Geld verkörpert sich<br />

in Münzen und Geldscheinen, die sich wie die Wörter einer<br />

Sprache verhalten. Geld bekommt so eine Art Universalität<br />

(verschiedene Sprachen – verschiedene Geldscheine; aber<br />

dieselbe Sache Geld).<br />

Nach Simmel findet ein Tausch statt, wenn eine Leerstelle, die<br />

durch das Geben (oder die Trennung) eines Objekts entstanden<br />

ist, mit einem vermeintlich noch wertvolleren Objekt ausgefüllt<br />

wird. »[…] Schema des Tausches: von der niedrigsten<br />

Bedürfnisbefriedigung bis zum Erwerbe der höchsten intellektuellen<br />

und religiösen Güter muß immer ein Wert eingesetzt<br />

werden, um einen Wert zu gewinnen.« 10 Nach Simmel vollzieht<br />

sich unser gesamtes Handeln in Tausch-Kategorien, da jedes<br />

Gut die Hingabe eines Gegengutes verlangt. Hierbei ist schließlich<br />

ein Wechsel von Qualität zur Quantität möglich, d. h. zum<br />

Geld. Für den Vorteil etwa, durch intellektuelle Tätigkeit seinen<br />

Lebensunterhalt zu verdienen, war immer das Opfer eines großen<br />

Zeit- und Energieeinsatzes für die Aus- und Weiterbildung<br />

zu erbringen; eine quantitative Kompensation wäre dafür<br />

zu erwarten in Form höheren Einkommens. In der heutigen<br />

Gesellschaft findet diese Kompensation in der Regel nicht<br />

mehr statt. Das Gut »Freizeit« muss für das Gut »intellektuelle<br />

Tätigkeit« ohne quantitative Kompensation hingegeben<br />

werden. Die quantitative Kompensation wird heute eher für


den Nachteil erworben, einen unattraktiven Beruf ausüben zu<br />

müssen. So hat etwa der Nobelpreisträger für Ökonomie Garry<br />

Becker die Familie dargestellt als einen Markt zum Austausch<br />

von Affekten und Sicherheiten 11 .<br />

Geld ist für Simmel »das ›Geltende‹ schlechthin« 12 , also das<br />

Maß aller Dinge. Geld ist die Substanz, mit der das Gelten<br />

der Dinge ohne die Dinge selbst stattfindet. Dieser Gedanke<br />

scheint sich im Übrigen erst im Zeitalter des Internets so<br />

richtig zu bestätigen. Simmel spricht von einer Doppelrolle<br />

des Geldes. Durch Geld kann man die Verhältnisse der austauschbaren<br />

Waren untereinander messen. Geld misst sich<br />

aber auch an Geld selbst. »Das Geld gehört also zu denjenigen<br />

normierenden Vorstellungen, die sich selbst unter die Norm<br />

beugen, die sie selbst sind.« 13 Heute würden wir das durch den<br />

berühmten Matthäus-Effekt ausdrücken: Den Reichen wird gegeben,<br />

die Kinder der Reichen haben bessere Startbedingungen<br />

und bessere Bildungschancen. Wer hat, dem wird gegeben.<br />

Tausch als teleologische Kette<br />

In der Wirtschaft gewinnt ein Objekt seinen Wert durch<br />

Vergleich mit ähnlichen Objekten. Simmel nennt dies<br />

Äquivalenz. Realität »kann ein Wert als solcher nur entfalten,<br />

indem er anderen äquivalent, d. h. indem er tauschbar ist.<br />

Äquivalenz und Tauschbarkeit sind Wechselbegriffe […]« 14 .<br />

Produkte sind aber nicht immer schon anderen äquivalent.<br />

Wenn wir uns z. B. die Geschichte des Toasters ansehen, erfahren<br />

wir, dass der erste Toaster auf dem Markt nicht angenommen<br />

wurde, er wurde als nicht gebraucht eingestuft und<br />

niemand wusste ihn »objektiv« zu bewerten. Als später ein<br />

zweiter Toaster auf dem Markt erschien, begannen die Leute<br />

den älteren Toaster zu kaufen, weil der neue teurer war und<br />

der preisgünstigere ältere Toaster schien nun gut genug zu<br />

sein.<br />

Nach Simmel enthält der Tausch zudem eine »teleologische<br />

Handlung«. »Teleologisch« zu handeln bedeutet, in die<br />

Zukunft zu planen und eine Handlung zu beginnen, welche die<br />

zu erwartenden Ergebnisse erst später zu Gesicht bekommt.<br />

Wenn wir D erreichen möchten, produzieren wir eine »Kette<br />

mechanischer Vorgänge«. Hier wären A, B, C nötig, um D zu<br />

erreichen. Der Handelnde muss wissen, welche Beziehungen<br />

(»Kausalzusammenhänge«) A, B und C untereinander haben.<br />

C ist nur erreichbar, wenn A und B zuvor erreicht wurden.<br />

Es liegt also eine teleologische Kette vor, die absolviert<br />

sein muss, um den Zweck D zu erfüllen. In hochzivilisierten<br />

Kulturzuständen, in denen die primären Bedürfnisse einer<br />

Gesellschaft bereits befriedigt sind, haben die Individuen mehr<br />

Zwischenglieder in der teleologischen Kette zu absolvieren. Die<br />

»primäre Form jener teleologischen Kurve ist doch die, daß<br />

unser Tun ein äußeres Objekt zu Reaktionen veranlaßt […].<br />

Das Werkzeug bedeutet nun die Einschiebung einer Instanz<br />

<strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong> 31


32 <strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong><br />

zwischen dem Subjekt und diesem Objekt, die nicht nur zeitlichräumlich,<br />

sondern auch inhaltlich eine Mittelstellung zwischen<br />

ihnen einnimmt« 15 . Auch das Geld ist eine solche Zwischeninstanz.<br />

Es muss im Prinzip zuvor bereitgestellt werden, um einen späteren<br />

Sachverhalt erreichbar zu machen.<br />

Erst bei einer sehr verfeinerten Kenntnis der Kausalverhältnisse<br />

gelingt die Reduktion der Zwischeninstanzen. Dies ist ein wichtiger<br />

Gesichtspunkt für ein Design der »Komplexitätsreduktion«<br />

(Jerôme Bruner). Um ein »Tun« realisieren zu können – wie<br />

einen Kauf per Internet –, muss Design die Gliederzahl der<br />

Zwischenschritte drastisch reduziert halten, wegen der<br />

Kompliziertheit der Zahlweise (van den Boom). Es ist bekannt,<br />

dass die meisten Operationen im Internet im Moment der<br />

Zahlungsentscheidung abgebrochen werden, da in diesem<br />

Augenblick dem Handelnden nicht alle Voraussetzungen erfüllt<br />

scheinen. Generell gilt: Das entscheidende Problem heutigen<br />

Designs tritt auf, wenn zu viele Zwischenschritte vor den Zweck<br />

gesetzt werden, die zuvor hätten eingeplant werden müssen.<br />

Das überfordert unsere Kognition. Das alltägliche Problem im<br />

heutigen Design hat Holger van den Boom in seinem Essay Das<br />

Designprinzip. Warum wir in der Ära des Designs leben (<strong>2011</strong>) näher<br />

beschrieben. Er spricht von dem ständigen Zwang, »vor dem Tun<br />

ein Machen« einzuschieben 16 : »Die Instanzen, die uns vor dem Tun<br />

zum Machen nötigen, haben stets die allerbesten Gründe dafür. Es<br />

gehe nicht anders. Man sehe ja ein undsoweiter. Beobachten Sie<br />

doch einmal, wie oft Sie an einem Tag etwas tun wollen, aber dazu<br />

vorher noch etwas machen müssen! Auch bei ›Vater Staat‹. Und,<br />

wie gesagt, protestieren Sie! Schlechte Manieren muss man nicht<br />

hinnehmen.« 17<br />

Wert der Dinge durch Distanz<br />

Geld ermöglicht einen generalisierten Tausch. Es kann sein, dass<br />

Herr A und Herr B nicht tauschen können, weil das, was Herr A im<br />

Tausch Herrn B anbietet, nicht das ist, was Herr B haben möchte.<br />

Geld »[…] ist eine Institution, in die der einzelne sein Tun oder<br />

Haben einmünden läßt, um durch diesen Durchgangspunkt<br />

hindurch Ziele zu erreichen, die seiner auf sie direkt gerichteten<br />

Bemühungen unzugänglich wären« 18 .<br />

Der Austausch, durch Geld vermittelt, läuft über eine Distanz<br />

zwischen Subjekt und Objekt. Diese verwandelt den subjektiven<br />

Affektzustand zu einer objektiven Wertung. Auf diese<br />

Weise entstehen nach Simmel die Werte der Wirtschaft. Der<br />

Erwerb eines Objekts verlangt die Hingabe eines Opfers, das dem<br />

Tauschenden schließlich die Befriedigung des Genusses bringt.<br />

Gerade das Gleichgewicht zwischen Opfer und Gewinn begründet<br />

die Abstraktion des wirtschaftlichen Systems. Ein Objekt wird<br />

umso wertvoller, je stärker eine Person es subjektiv begehrt. Beim<br />

Ersteigern eines Objekts stehen wir in jedem Augenblick vor der<br />

Frage, ob unser Begehren den Geldeinsatz auch rechtfertigt. Eine<br />

Schwierigkeit, das Objekt zu erlangen, macht es uns oft noch wert-


voller, d. h. mit der Größe der Distanz zwischen Subjekt und<br />

Objekt kann das Begehren sogar wachsen.<br />

Der Markt macht sich das zunutze. In Zeiten der Krise, in der<br />

die Reichen absolut und relativ noch reicher werden, erfindet<br />

die Modebranche beispielsweise Formen künstlicher Distanz:<br />

Marken, die nicht in großen Läden zusammen mit anderen<br />

Marken zu kaufen sind. Bis hin zu Marken, die man nur in ein<br />

paar Städten der Welt finden kann. Preise werden erhöht, der<br />

Weg zum Kauf verkompliziert. Saisonale Nachlässe gibt es nicht,<br />

wenn man glaubt, die Marke durch einen Schlussverkauf zu<br />

beschädigen. Aufgrund solcher Distanzierung müssen Käufer,<br />

deren Begehren groß genug ist, wirklich vieles dafür opfern,<br />

wie eine Menge Geld, weite Wege, »die Geduld des Wartens,<br />

die Mühe des Suchens, die Aufwendung der Arbeitskraft, der<br />

Verzicht auf anderweitig Begehrenswürdiges« 19 …<br />

Das kann allerdings auch schief gehen. Um eine Distanz aufzubauen,<br />

muss folgendes gelten: Ich muss etwas anbieten, was den<br />

Inhaber eines Objekts überzeugt, sich von dem von mir begehrten<br />

Objekt zu trennen. Er muss in der Tauschverhandlung also<br />

bereit sein, eine zunehmende Distanz zwischen sich und dem<br />

Objekt zu akzeptieren, so dass ich meine Distanz zu seinem<br />

Objekt reduzieren kann. Dafür muss ihm der Tausch attraktiv<br />

erscheinen. Aber erst der Akt eines noch möglichen Verzichts<br />

meinerseits auf das Objekt, das ich begehrte, zeigt das Prinzip<br />

des Tausches: Der Tausch etabliert eine Grenze, die ein Opfer<br />

auf beiden Seiten nicht überschreitet. Der Wert eines Objekts<br />

wird gerade dadurch bestimmt, dass ein Begehren auch die<br />

Möglichkeit eines Verzichtes in sich trägt. So ergibt sich für das<br />

Objekt die kulturelle Objektivität seines Wertes – der nach<br />

Simmel von Personen, Orten und Zeiten abhängig ist.<br />

Simmel möchte die Distanz im Zusammenhang mit Ästhetik<br />

erklären. Er lehnt sich dabei an Kants Ästhetik an. Simmel<br />

meint, Objekte werden ursprünglich wegen ihrer Nützlichkeit<br />

(Zweckmäßigkeit) begehrt. Aber mit der Bedürfnisbefriedigung<br />

entfernen sich die Objekte unseres Begehrens immer weiter<br />

von der puren Nützlichkeit. Am Ende steht die Distanz des<br />

interesselosen Wohlgefallens: »Je weiter die Nützlichkeit für die<br />

Gattung, die zuerst an den Gegenstand ein Interesse und einen<br />

Wert knüpfen ließ, zeitlich zurückliegt und als solche vergessen<br />

ist, desto reiner ist die ästhetische Freude an der bloßen<br />

Form und Anschauung des Objekts, d. h. desto mehr steht es<br />

uns mit eigener Würde gegenüber, desto mehr geben wir ihm<br />

eine Bedeutung, die nicht in seinem zufälligen subjektiven<br />

Genossenwerden aufgeht, desto mehr macht die Beziehung, in<br />

der wir die Dinge nur als Mittel für uns werten, dem Gefühle<br />

ihres selbstständigen Wertes Platz.« 20<br />

Ein Beispiel: Ich wurde zusammen mit anderen von einem<br />

Braunschweiger Kollegen, Architekt, zum Frühstück in sein<br />

Haus eingeladen. Die Gespräche und die Beköstigung sind äu-<br />

<strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong> 33


34 <strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong><br />

ßerst angenehm, die Performance stimmt. Nach einer Weile trägt der Gastgeber eine<br />

kleine, abgeschabte Schachtel zum Tisch. Die Schachtel wird sorgsam geöffnet, darin<br />

kommt ein Messer zum Vorschein. Eine Neuerwerbung. Das Messer stelle eine Rarität<br />

dar; es habe einem Adligen vor mehr als zweihundert Jahren gehört. Das Messer hat<br />

in der Tat eine besondere Form, ein besonders gut ausgeglichenes Gewicht. Es ist ein<br />

Klappmesser, aus Silber. Der Gastgeber lässt das Picknickmesser durch die Hände<br />

der Gäste wandern. Wir sprechen über Ergonomie, Material, Handwerklichkeit. Aber<br />

zur praktischen Vorführung im Probeschneiden kommt es nicht. Der Gastgeber erklärt,<br />

das Messer habe er nicht zur Benutzung gekauft: zu wertvoll, zu schön, zu viel<br />

Geschichte … und übrigens schneide jedes Messer, das auf dem Tisch liegt, besser.<br />

– Das Messer hatte inzwischen soviel Eigenwert, dass es der Sphäre der Nützlichkeit<br />

enthoben war.<br />

Und in der Tat, ein (Design-)Objekt, das im Sinne Kants ein interesseloses<br />

Wohlgefallen vermittelt, ohne eigentlich einen nennenswerten Gebrauchswert<br />

zu haben, erlangt häufig einen höheren Tauschwert als ein funktionsnützliches<br />

Objekt, wie Simmel feststellt. Man denke nur an das Briefmarkensammeln. Wolfgang<br />

Fritz Haug zeigt in seiner Kritik der Warenästhetik (1971), dass Gebrauchs- und<br />

Tauschwert der Waren auseinandergehende Parameter sind. Wenn aber ein interesseloses<br />

Wohlgefallen uns antreibt, ein bestimmtes Objekt besitzen zu wollen<br />

(man begehrt ja auch Kunst), heißt das, der Begehrende wisse, wie Kunst zu genießen<br />

sei. Die Performance des »Schöner-Lebens« (ein Schulfach in Korea) fordert<br />

Kenntnisse und Fähigkeiten. In der japanischen Teezeremonie gibt es eine Phase, in<br />

welcher der Teetrinkende die Ästhetik der Trinkschale explizit würdigt, durch genaue<br />

Beobachtung der mehr oder weniger zufällig entstandenen Muster der handwerklichen<br />

Glasierung. Die Distanz zwischen ästhetischem Tauschwert und Gebrauchswert<br />

beinhaltet, wie Thorstein Veblen in seinem Werk Theorie der feinen Leute hervorhebt,<br />

dass man eine erhebliche Zeit dafür aufgewendet hat, ein gewisses Niveau verfeinerten<br />

Geschmacks nach Maßgabe der »müßigen Klasse« zu erreichen. Diese zeitliche Mühe<br />

ist freilich mit Geld nicht zu verkürzen.<br />

…<br />

+ 2<br />

+ 1 0<br />

– 1<br />

– 2 …<br />

Ästhetik<br />

Tauschwert<br />

Gebrauchswert<br />

Nützlichkeit


Die Fähigkeit zum interesselosen Wohlgefallen ist nicht direkt käuflich. Nach Simmel<br />

ermöglicht die Zunahme der Kultur in einer Gesellschaft für alle Mitglieder den<br />

Zugang zu dieser Fähigkeit. Durch Kultur, so Simmel, entfernt sich der Mensch<br />

mehr und mehr von seinem Naturzustand, und dadurch wird die Distanz zwischen<br />

dem »Ich« und den Objekten größer: »Die Kultur bewirkt eine Vergrößerung des<br />

Interessenkreises, d. h. daß die Peripherie, in der die Gegenstände des Interesses<br />

sich befinden, immer weiter von dem Zentrum, d. h. dem Ich, abrückt.« 21 Diese<br />

Interessenausweitung verlangt aber zugleich eine neue Form der Annäherung: »Diese<br />

Entfernung ist aber nur durch eine gleichzeitige Annährung möglich. Wenn für den<br />

modernen Menschen Objekte, Personen und Vorgänge, die hundert oder tausend<br />

Meilen von ihm entfernt sind, vitale Bedeutung besitzen, so müssen sie ihm zunächst<br />

näher gebracht sein als dem Naturmenschen, für den dergleichen überhaupt<br />

nicht existiert; daher stehen sie für diesen überhaupt noch jenseits der positiven<br />

Bestimmungen: Nähe und Entfernung. Beides pflegt sich erst in Wechselwirkung aus<br />

jenem Indifferenzzustand heraus zu entwickeln. Der moderne Mensch muß ganz<br />

anders arbeiten, ganz andere Bemühungsintensitäten hingeben als der Naturmensch,<br />

d. h. der Abstand zwischen ihm und den Gegenständen seines Wollens ist außerordentlich<br />

viel weiter, viel härtere Bedingungen stehen zwischen beiden; aber dafür ist<br />

das Quantum dessen, was er sich ideell, durch sein Begehren, und real, durch seine<br />

Arbeitsopfer, nahe bringt, ein unendlich viel größeres. Der Kulturprozeß – eben<br />

der, der die subjektiven Zustände des Triebes und Genießens in die Wertung der<br />

Objekte überführt – treibt die Elemente unseres Doppelverhältnisses von Nähe und<br />

Entfernung den Dingen gegenüber immer schärfer auseinander.« 22<br />

Was uns heute das Ferne in die Nähe rückt, derart, dass wir uns für das Fernliegende<br />

interessieren, sind die Medien. Der implizit bei Simmel unterstellte Bildungsbegriff<br />

hingegen hat in der Gegenwart offensichtlich seine Kraft verloren. Damit die Medien<br />

dies leisten können, müssen sie aufbereitet sein. Eine solche Aufbereitung nennen<br />

wir Design, insbesondere Mediendesign. Wo Simmel noch an den Gang zur<br />

Bibliothek oder in den Vorlesungssaal dachte, haben wir das »Fernsehen« im weitesten<br />

Sinne eingeschoben (TV, Internet, virtuelle <strong>Fachhochschule</strong>). In die Nähe des<br />

Individuums rücken dadurch neue Gebrauchswerte (Computer, Handys, Ubiquitous<br />

Information Devices), die ihren Tauschwert wiederum sozialen Abstimmungen verdanken<br />

(Fanverhalten der Apple-Kundschaft). Dabei nähert sich das interesselose<br />

Wohlgefallen wieder dem Objekt in der Hand: Das soziale Erscheinungsbild seines<br />

Handys ist dem Jungmanager im Intercity wichtiger als dessen realer Nutzen. Ästhetik<br />

scheint heute den Stellenwert primärer Bedürfnisse übernommen zu haben.<br />

Also umgekehrt: Die Gesellschaft hat sich daran gewöhnt, alles zu würdigen, was<br />

nah-oberflächlich attraktiv ist, weil die Distanz zum existenziellen Gebrauchswert fast<br />

unüberwindbar groß geworden ist (die meisten Besucher der Frankfurter Buchmesse<br />

lesen übers Jahr höchstens zwei Bücher). Mehr und mehr werden Objekte fetischisiert,<br />

weil sie attraktiv erscheinen. Nur so wird verständlich, warum ein Design, das in keiner<br />

Hinsicht funktional ist, eine Aura des Haben-Wollens gewinnt (sei dies Mode, ein<br />

Messer von Ludwig dem Soundsovielten, oder ein expressiver, jedoch schlechtfunktionierender<br />

Wasserkessel).<br />

Auch klassisches Design (weil häufig in Museen zu finden) vergrößert gleich einer<br />

Antiquität seinen Tauschwert, wie ein Kunstwerk des interesselosen Wohlgefallens.<br />

Es ist, würde ich sagen, ein forciertes interesseloses Wohlgefallen, da der nach wie vor<br />

konsumierbare Gebrauchswert bewusst nicht aktualisiert wird. Man denke beispielsweise<br />

an das zum Ausstellungsstück erhobene Pissoir Duchamps. Geld quantifiziert<br />

<strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong> 35


36 <strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong><br />

den neuen Tauschwert des klassischen Designs, im Vergleich mit Kunstwerken, um ein kulturelles<br />

Äquivalent zu konstituieren.<br />

Ein zeitgenössisches Design, das diesen Effekt vorweg nehmen möchte, wird nach Otl Aicher<br />

zum Design bloßer »Aufgeputztheit«. Die Proportionen zwischen Nähe und Entfernung<br />

geraten aus dem Gleichgewicht.<br />

Geld, Anonymisierung und Entfremdung<br />

Geld regiert die Welt. Das Medium Geld zeigte für Simmel eine Reihe negativer Wirkungen.<br />

Irgendwann steht das Geld als abstrakter Maßstab des Erfolgs im Mittelpunkt und nicht<br />

mehr die Qualität persönlicher Entwicklung und Leistung. Simmel sah gravierende<br />

Konsequenzen voraus: Anonymität, Isolierung und Entfremdung. Anonymität bedeutet<br />

namenlose Verwandlung in eine Nummer. Isolierung bedeutet »Einsamkeit der Masse«<br />

(David Riesman, Die einsame Masse, 1950). Entfremdung bedeutet die Krankheit der<br />

Konsumgesellschaft: Der durch Kultur ermöglichte ehemals weite Interessenhorizont wird in<br />

der Nahdistanz des fetischisierten Symbolkonsums abgedeckt.<br />

Die Konsequenzen, die Simmel voraussagte, wären am Beispiel des Internets zu exemplifizieren<br />

– ohne dass sich Simmel etwa das Internet hätte vorstellen können. »Geld« ist der<br />

heutige gesellschaftliche Repräsentant von Quantität; Quantität ist Zahl; Zahl ist binäre<br />

Ziffer in digitalen Systemen. Informatische Systeme machen sich alles gleich, auch den<br />

Menschen. Seine Identität wird zur digitalen Adresse. »Soziale Netze« sind Schein. Wer 3000<br />

»Freunde« hat, ist allein. Allein gegenüber einer Flut von Information aus der »Ferne«, die<br />

zu völliger Desorientierung führt. Das Individuum, im globalen Netz agierend, versteht seine<br />

nächste Umgebung nicht mehr. Objektivierte Kulturformen wie Geld, Recht, Staat, Religion,<br />

Bildungsanspruch kommen dem Individuum als fremde Mächte vor. Und in der Tat war zu<br />

sehen, wie die Welt-Bankenkrise von 2008, fortgesetzt in der Welt-Staatsschuldenkrise <strong>2011</strong>,<br />

eine fundamentale Desorientierung schuf. Politiker haben die Deutungshoheit über die<br />

Weltvorgänge bis zur Lächerlichkeit ihrer Darstellungen verloren. Europas Regierungschefs<br />

brachen ihren Sommerurlaub ab – um nicht mehr zu bewirken als hätten sie weiterhin<br />

Urlaub gemacht. Eine Krisensitzung nach der anderen schuf immer mehr Krise. Das<br />

Epizentrum der Krise lag in der Börse, ein Ort virtueller Werte, jenseits von Realität. Oder<br />

doch nicht? »Doch im Zuge der Finanzkrise fingen viele Menschen an, das Vertrauen in<br />

dieses hoch entwickelte Geldsystem zu verlieren. Sie kauften Ackerflächen und horteten<br />

Gold in Tresoren. Unser Verhältnis zu Geld beruht auf dem kollektiven Glauben, dass es auch<br />

morgen noch etwas wert ist.« 23 Im August <strong>2011</strong> verbreitet das »Fernsehen«, dass Gold wieder<br />

den höchsten Äquivalenz-Wert innehat. Goldinvestition, eine Zeitlang altmodisch und<br />

spekulativ unkreativ, ist zur verzweifelten Suche nach der Realität geworden.<br />

Die Strukturform des Geldes nach Simmel lässt sich auch in anderen, untergeordneteren<br />

Symbolstrukturen wiederfinden, wie dem Markendesign, dem Modedesign, dem »aufgeputzten«<br />

Industriedesign (styling) und dem penetranten Kommunikationsdesign der<br />

Medien. Design, das die Gesellschaft von der Natur bzw. Realität entfernt, kann uns alsbald<br />

in völlig unverständliche Umwelten führen, die, wie Max Weber es ausdrückte, zu stahlharten<br />

Gehäusen werden. Design macht uns dann zu desorientierten Gefangenen von<br />

Zwangshandlungen, weil es anfangs harmlose Ästhetik propagiert, nachher aber an derselben<br />

Stelle strikte Verhaltensregeln etabliert (an der Börse als Spielregeln getarnt). Wenn Designer<br />

(von Simmel Künstler genannt) einem solchen Gesellschaftsdesign entgegenwirken möchten,<br />

hätten sie, außer dem Blick auf ihre Brieftasche, einen guten Grund, sich mit dem Geld als<br />

sozialem Design zu befassen.


Anmerkungen<br />

1. Siehe dazu meinen Aufsatz »Alltagskultur Essen und Trinken. Eine designwissenschaftliche Fallstudie« in <strong>Öffnungszeiten</strong> 7/98, S. 12 – 18 | 2. In »Gute<br />

Seuchenbekämpfung, schlechte Kommunikation«, http://www.zeit.de/wissen/gesundheit/<strong>2011</strong>-09/zukunft-lernen-ehec, vom 12.9.<strong>2011</strong> | 3. Siehe dazu das großartige<br />

Buch von Catherine Eagleton und Jonathan Williams, Money: A History und das Buch von Christian Hiller von Gaertringen, Der schöne Schein | 4. Georg Simmel,<br />

Philosophie des Geldes, S. 5 | 5. Simmel, a. a. O., S. 3 | 6. Simmel, a. a. O., S. 14 | 7. a. a. O., S. 152 | 8. Simmel, a. a. O., S. 306 | 9. Simmel, a. a. O., S. 87 | 10. Simmel, a. a. O.,<br />

S. 37 | 11. Ich fand diesen Hinweis bei: José Pérez Adán, Sociología, S. 141 | 12. Simmel, Philosophie des Geldes, S. 88 | 13. Simmel, a. a. O., S. 90 | 14. Simmel, a. a. O., S. 48 |<br />

15. Simmel, a. a. O., S. 203 | 16. Holger van den Boom, Das Designprinzip. Warum wir in der Ära des Designs leben, S. 108. Siehe auch Holger van den Boom, »Der Appeal<br />

des Machens« in diesem Heft von <strong>Öffnungszeiten</strong> | 17. Holger van den Boom, a. a. O., S. 109 | 18. Simmel, Philosophie des Geldes, S. 205 | 19. Simmel, a. a. O., S. 49 | 20.<br />

Simmel, Philosophie des Geldes, S. 23-24. Ganz ähnliche Gedanken, vermutlich beeinflusst durch Simmel, äußert der Anthropologe und Soziologe Arnold Gehlen in<br />

Urmensch und Spätkultur | 21. Simmel, Philosophie des Geldes, S. <strong>25</strong> | 22. Ebenda | 23. Christian Hiller von Gaertringen, Der schöne Schein, S. 55.<br />

Literatur :<br />

Wirkungen<br />

des Mediums Geld<br />

Konsequenzen<br />

nach Simmel<br />

Internet<br />

Exemplifizierung<br />

Anonymität<br />

Individuum als<br />

namenlose Nummer<br />

Identität als<br />

digitale Adresse<br />

Isolierung<br />

Einsamkeit<br />

Soziale Netze<br />

sind Schein<br />

Entfremdung<br />

Interessenhorizont<br />

verschwindet<br />

Desorientierung<br />

Negative Wirkungen des Mediums Geld nach Simmel und Übertragung seiner vorausgesagten<br />

Konsequenzen ins heutige Internet<br />

Boom, Holger van den, Ein Designtheoretischer Versuch, Schriftenreihe der HBK Braunschweig 1984 | Boom, Holger van den, Das Designprinzip. Warum wir in der Ära<br />

des Designs leben, kassel university press <strong>2011</strong> | Eagleton, Catherine und Jonathan Williams, Money: A History, British Museum und Firefly 2007 | Erner, Guillaume,<br />

Sociologie des tendances, Presses Universitaires de France 2008 | Haug, Wolfgang Fritz, Kritik der Warenästhetik, Frankfurt am Mai, Suhrkamp 1971 | Gaertringen,<br />

Christian Hiller von, Der schöne Schein. Warum Geld doch nicht schmutzig ist, Frankfurt am Main, F.A.Z. <strong>2011</strong> | Gehlen, Arnold, Urmensch und Spätkultur, Frankfurt am<br />

Main, Athenaion 1975 [1956] | Giddens, Anthony, Konsequenzen der Moderne, Suhrkamp 1996 | Jarauta, Francisco, »Presentación«, in: Georg Simmel, Rembrandt, S.<br />

XI – XX | Pérez Adán, José, Sociología. Comprender la humanidad en el siglo XXI, Madrid, Ediciones Internacionales Universitarias 2006 | Riesman, David, Die einsame<br />

Masse. Eine Untersuchung der Wandlungen des amerikanischen Charakters, München, Rowohlt 1963 [1950] | Romero-Tejedor, Felicidad, Der denkende Designer. Von der<br />

Ästhetik zur Kognition. Ein Paradigmenwechsel, Hildesheim, Olms 2007 | Simmel, Georg, Philosophie des Geldes, Köln, Parkland 2001 [1900] | Veblen, Thorstein, Theorie<br />

der feinen Leute. Eine ökonomische Untersuchung der Institutionen, Frankfurt am Main, Fischer 2007 [1899] | Weber, Max, Die protestantische Ethik und der Geist des<br />

Kapitalismus, München, Beck 2010 [1904]<br />

<strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong> 37


Fangen wir mal mit dem Beispiel Hochschule an<br />

Ein Fußballclub der Bundesliga ist heute oft schon ein komplexeres<br />

Gebilde als eine Universität, einst Ort gesellschaftlicher<br />

Sublimation. Der Markt macht alle gleich und alles vergleichbar.<br />

Er veredelt den Fußballclub und nivelliert die Hochschule. Er liftet<br />

den Fußballclub auf das Niveau einer Aktiengesellschaft und<br />

stuft die Hochschule auf das Niveau einer Lehranstalt GmbH<br />

herunter. In der Marketing-Gesellschaft sind alle »Produkte« 1<br />

vergleichbar geworden. Die Gesellschaft, der Markt, bewertet<br />

die »Produkte« des Fußballclubs, im Kerngeschäft Tore, höher<br />

als die »Produkte« der Hochschule, akademische Abschlüsse.<br />

Beobachtungen dieser Art zeichnet der international viel beachtete<br />

französische Soziologe Gilles Lipovetsky auf, dessen Werke<br />

bislang nur sehr zögerlich ins Deutsche übersetzt werden. 2<br />

Der Markt, so Lipovetsky, richtet sich am Konsumenten aus. Der<br />

Konsument gilt als allwissend, allgegenwärtig, allmächtig. Er ist<br />

bei allen Bewertungsfragen die letzte Instanz. Der Konsument<br />

ist der narzisstische Gott der »hypermodernen« Gesellschaft,<br />

einer Gesellschaft des »Hyperkonsums«. Lipovetsky zieht es vor,<br />

statt von postmoderner von hypermoderner Gesellschaft zu<br />

sprechen.<br />

Hochschulen stellen sich ihre Studenten als angeblich anspruchsvolle<br />

Konsumenten vor – die an Zertifikaten wie an<br />

Handelsware interessiert sind. Die Hochschulen statten das<br />

Design ihrer »Produkte«, weiland Studiengänge, dementsprechend<br />

mit marktgängigen Attraktivitäten aus, gerade<br />

so, als ob niemand diese Produkte haben wollte, würde man<br />

nicht ölig für sie werben, mit recht viel Brimborium. Und mit<br />

Zugangsvoraussetzungen. Denn der »wirtschaftliche« Erfolg<br />

besteht darin, aus einem künstlich knapp gehaltenen Gut, der<br />

Ausbildung, in irgendeinem Sinn eine maximale Rendite herauszuholen.<br />

Statt, wie in einer vernünftigen Gesellschaft, in der<br />

Ausbildung selbst die Rendite zu sehen. Eine Gesellschaft, die<br />

38 <strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong><br />

Der Appeal des Machens<br />

Eine designsoziologische Betrachtung beim<br />

<strong>25</strong>. Erscheinen von <strong>Öffnungszeiten</strong><br />

Holger van den Boom<br />

Bildung wettbewerbstechnisch verknappt, hat offensichtlich<br />

vergessen, dass diese einmal von ihr als wichtigster Rohstoff für<br />

die Sicherung ihrer eigenen Zukunft betrachtet wurde. Kann<br />

man das geistige Naschwerk, fasslich zurechtdesignt, fragt<br />

Lipovetsky, das unsere heutigen öffentlichen Hochschulen eilig<br />

verbreiten, wirklich noch mit der Metapher »Rohstoff« belegen?<br />

Wissen ist ja an sich nicht mehr attraktiv, seit es als<br />

»Information« im Internet abgelegt ist, zur gefälligen Bedienung<br />

für jedermann zu jeder Zeit. Wissen, Bildung, galt einst als<br />

Voraussetzung für überlegtes, weltkluges Handeln. Letzteres<br />

ist auf breiter Front zugunsten des bloßen Machens gewichen.<br />

In meiner Schrift Das Designprinzip. Warum wir in der Ära des<br />

Designs leben (kassel university press <strong>2011</strong>) habe ich kürzlich<br />

zu zeigen versucht, wie das leere Machen, als Design getarnt,<br />

anstelle des Handlungsvollzugs die hypermoderne Gesellschaft<br />

charakterisiert. Angefangen bei der Politik: Da sitzen die Macher<br />

schon längst nicht mehr an den »Hebeln der Macht«, die es gar<br />

nicht mehr gibt. Sondern gerieren sich als drittklassige Designer,<br />

die bar jeder Metaphysik unbeholfen an von der Politik selbst<br />

ermöglichten hyperkomplexen Systemen herumbasteln, siehe<br />

exemplarisch die Finanzkrise oder inzwischen die Schuldenkrise.<br />

Über das Schicksal von Nationen wird heute an der Börse<br />

entschieden, aufgrund von Finanzprodukten. Die Finanz-<br />

»Produkte« selbst sind pures Design – ich nenne solches Design<br />

formalistisch leer (im Gegensatz zum kognitiven Design, das jeweils<br />

ein Stück Welterschließung beinhaltet; darüber in meinem<br />

genannten Buch mehr). Formalistisches Design ist – und macht<br />

– blind für Realität. Kognitives Design wendet sich nicht an blinde<br />

Konsumenten, bedient von blinden Designern, die gemeinsam<br />

irgendwann verblüfft in die Krise stürzen, eine Krise mehr,<br />

die sich plötzlich wie ein abgründiges Loch vor ihnen auftut, das<br />

sie in ihrer Blindheit gänzlich übersehen haben. Man hatte der<br />

Finanzwelt alle »Hindernisse« beiseite geräumt – zuvörderst bei<br />

Blinden macht das wohl Sinn.


Nicht-Ort, Berliner Hauptbahnhof<br />

<strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong> 39


Nicht-Ort, Barcelona Flughafen<br />

40 <strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong><br />

Sogenannte »Hindernisse« beiseite räumen: das ist zum<br />

Surrogat von Politik geworden. Der Neoliberalismus hält sein<br />

frei schwebendes Design ohne Grund und Boden für politische<br />

»Gestaltung«. Wenn die Marktmacht der Ölkonzerne<br />

die Benzinpreise willkürlich nach oben treibt, fällt einem<br />

Minister nur ein, Aldi und Lidl zu bitten, doch ebenfalls Benzin<br />

zu verkaufen. Nicht nur der Franzose Gilles Lipovetsky, auch<br />

der polnisch-englische Soziologe Zygmunt Bauman, wie jener<br />

in Deutschland kaum zur Kenntnis genommen, kommt zum<br />

gleichen Ergebnis: Die Politik räumt oben Hindernisse weg,<br />

von der Finanzpolitik bis zur Hochschulpolitik, unten erstickt<br />

der Bürger inmitten immer neuer Hindernisse, ausgeheckt<br />

von Heerscharen selbsternannter Designer, die als einzige<br />

Richtschnur bürokratische Gängelei und Marketing-Getue<br />

kennen. Die Hochschulen sind wirklich kreativ nur noch im<br />

Erfinden immer neuer bürokratischer Maßnahmen nach innen,<br />

im Geist vermeintlicher Effizienzeffekte, staunend bewundert


wie der Glanz des Feuerwerks, das im nächsten Augenblick<br />

wieder erlischt.<br />

Zygmunt Bauman erkennt darin die paradoxe Folge einer zunehmenden<br />

»Enthierarchisierung« und »Verflüssigung« der<br />

Gesellschaft. Die Anything-goes-Gesellschaft der Post- oder<br />

Hypermoderne führt zu einer Verflüssigung – Liquidierung –<br />

aller einstigen Geltungen, nach dem Motto »Planieren statt<br />

Sanieren« (Dieter Bohlen) 3 . Der Verflüssigung aller historisch<br />

gewachsenen Geltungen werden heute mühsam designte<br />

»Spielregeln« marketing-konform entgegengesetzt. In den<br />

»verflüssigten« öffentlichen Hochschulen führt das zu einem<br />

immer lästigeren Wust gremiengenerierter irrationaler Adhoc-Regulierungen<br />

mit all ihren Ausnahmeregelungen, an<br />

denen auch ihre eigenen Schöpfer ersticken. Der Beruf des<br />

Hochschullehrers nähert sich zielstrebig dem des Fahrlehrers<br />

an. Abschlussprüfungen sind heute schon, fächerübergreifend,<br />

eine Art Führerscheinprüfung für Computer. Gleichzeitig ist<br />

der Hochschullehrerberuf eine sitzende Tätigkeit geworden.<br />

Charakteristisch bleibt, so Lipovetsky, dass niemand mehr von<br />

denen, die in einer Hochschule tätig sind, wissen zu wollen<br />

scheint, was eine Hochschule ist (was, in der Marketingsprache,<br />

das Concept of Corporation ist): Die Hochschule, an sich eine<br />

alte, simple, bewährte Geschäftsidee 4 , ist ein geschichtsloser<br />

Ort geworden, dessen Regeln jeden Tag neu in Sitzungen auszuhandeln<br />

sind, unter allen Beteiligten, vom Hausmeister bis<br />

zum Präsidenten. Ein Nicht-Ort (Marc Augé, siehe weiter unten),<br />

schon daran zu erkennen, dass sich an diesem Nicht-Ort immer<br />

mehr Studiengänge in Online-Studiengänge verwandeln, als<br />

neuentdeckter Kanal der »Produkt«-Distribution. Ich habe von<br />

Kollegen die passende Wendung gehört: »Professoren sitzen,<br />

Studenten surfen.«<br />

Die Deutschen haben hierbei, gegenüber Engländern, Franzosen,<br />

Spaniern etc. einen in Europa spöttisch belächelten Vorsprung.<br />

Sie haben nämlich die radikal durch-»demokratisierte«<br />

Hochschule, entworfen mit deutscher Gründlichkeit in der<br />

Nachachtundsechziger-Epoche des vorigen Jahrhunderts, zur<br />

vollen Blüte gebracht, so scheint es, im 21. Jahrhundert (und<br />

innerhalb Deutschlands vom konservativeren Süden nach<br />

dem [fahr]lässigeren Norden hin ansteigend). In deutschen<br />

Hochschulen des öffentlichen Dienstes, besonders in den<br />

nördlicheren Bundesländern, ist der Korrosionsprozess, der aus<br />

Professoren Verwaltungsangestellte macht, die innerhalb der<br />

Hochschule in kräftezehrender Konkurrenz mit allen anderen<br />

Verwaltungsangestellten leben, weit gediehen. Die Universität<br />

Hamburg hat den historischen Ruhm für sich geerntet, die erste<br />

deutsche Universität gewesen zu sein, die einen ihrer eigenen<br />

wissenschaftlichen Mitarbeiter an die Spitze zum Präsidenten<br />

wählte – es geht nicht um die Person, es geht hier um eine<br />

institutionelle Haltung: Ein amerikanischer Kollege, dem ich<br />

das damals zu erklären versuchte, tippte sich ganz deutsch<br />

mit dem Zeigefinger an die Stirn. Kollegen von der Hamburger<br />

Uni hingegen, die ich nach dem Sinn der Maßnahme fragte,<br />

antworteten mir: »Warum nicht?« Das Warum nicht vertritt in<br />

Gegenfrageform das Anything goes, das P. K. Feyerabend mal für<br />

die Physik erfunden hatte.<br />

Seitdem liefern unsere Hochschulen eifrig Stoff für veritable<br />

Kabarettnummern – zum hämischen Gelächter Europas. An<br />

der niedersächsischen Hochschule, an der ich tätig war, wurden<br />

durch Gremienmehrheit vermeintliche Marketingprofis<br />

zu Präsidenten gewählt, die es, was akademische Affinität<br />

betrifft, bis zum Magister Artium gebracht hatten. Interne<br />

Verwaltungsangestellte erhielten akademische Lehraufträge,<br />

einer ihrer Verwaltungsangestellten der mittleren Ebene wurde<br />

nach und nach schließlich zum Kanzler befördert; eine<br />

Studentin, gerade eben mal mit dem ersten Staatsexamen fertig,<br />

wurde Frauenbeauftragte und im nächsten Karriereschritt<br />

Vizepräsidentin – für Forschung; Professoren, die selber nicht<br />

promoviert, aber doch hinreichend geltungssüchtig waren,<br />

scharten auf einmal Doktoranden um sich. Einer von ihnen<br />

behauptete öffentlich und unwidersprochen, durch seine<br />

Berufung zum Professor sei er ja sogar habilitiert. Geltung ist abgeschafft,<br />

doch Geltungssucht bleibt uns erhalten. Ein anderer<br />

selbsternannter Doktorvater setzte durch, dass sein Abschluss<br />

»Dipl.-Designer (FH)« ohne das »FH« im Vorlesungsverzeichnis<br />

erschien. Anything goes; alle Geltung verflüssigt sich. Unter den<br />

Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein. Alles geht; nur<br />

ausgerechnet nicht das, was selbstverständlich war; Planieren<br />

statt Sanieren. Warum nicht?<br />

»Warum nicht?« – Weil, wie Bauman hervorhebt,<br />

Gesellschaften, die Geltungen durch Beliebigkeiten ersetzen,<br />

über kurz oder lang an der Realitätsfrage scheitern werden,<br />

die letztlich entscheidend ist fürs Überleben in der globalen<br />

Gesellschaft. Traumtänzerei kann nicht ewig gut gehen. Das<br />

Realitätsprinzip zu negieren ist nach Sigmund Freud bekanntlich<br />

eine Regression in die Infantilität. Andernorts wird nämlich<br />

die Latte entschieden höher gelegt – man sollte sich ruhig mal<br />

ein wenig in der Welt umschauen (im Marketingjargon: ein<br />

Benchmarking machen). Übrigens spreche ich nicht nur von<br />

Produktqualität, sondern von Lebensqualität, die demnächst<br />

nun auch in Deutschland regierungsamtlich in die mathematischen<br />

Modelle eingehen soll, nach denen berechnet wird, wie<br />

gut es dem Land geht. Da könnte es dann für viele endlich ein<br />

erstauntes Erwachen geben; die Stimmung ist ja gut, wesentlich<br />

besser als die Lage.<br />

Die am Bologna-Prozess beteiligten Länder haben Deutschland<br />

inzwischen auf dem Kieker. Sie beobachten die weitmaschigen<br />

deutschen Spielregeln, insbesondere die Promotions- und<br />

Berufungsusancen, mit wachsendem Misstrauen. In meiner Zeit<br />

als Auslandsbeauftragter meiner Hochschule hatte ich in europäischen<br />

Gremien öfters Gelegenheit, diese Kritik wahrzunehmen.<br />

Eine italienische Vertreterin sagte einmal kopfschüttelnd<br />

<strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong> 41


zu mir gewandt unter dem Beifall anderer Ländervertreter, »ihr<br />

Deutschen seid drauf und dran, euren Kredit seit Humboldts<br />

Zeiten zu verspielen. Wir wollten von euch lernen, ihr müsstet<br />

nun allmählich von uns lernen, wenn ein europäisches<br />

Bildungssystem mit Freizügigkeit für Studenten und Professoren<br />

Sinn haben soll … Schafft zum Beispiel den Unsinn der ›promotionsadäquaten<br />

Leistungen‹ ab, sowas gibt’s nicht«. Offiziell<br />

sucht man einen Hochspringer; aus irgendeinem Grund gefällt<br />

einem aber der Weitspringer; man erklärt den Weitsprung zur<br />

»hochsprungsadäquaten Leistung«. Voilà! Dass wir es sind, die<br />

inzwischen zu lernen hätten, dürfte sich noch nicht weit genug<br />

herumgesprochen haben.<br />

Nirgendwo in Europa gibt es so viele juristische Klagen wegen<br />

Formfehlern bei Berufungen wie in Deutschland. Laxheit triumphiert.<br />

Aus persönlicher Erfahrung und Gesprächen mit<br />

Kollegen deutschlandweit weiß ich, dass Bewerbungsunterlagen<br />

für Professuren auch von Vertretern des nichtwissenschaftlichen<br />

Personals in den Berufungskommissionen (gibt’s nur in<br />

Deutschland) »kompetent« durchgesehen und der Kommission<br />

zur Ablehnung oder Weiterdiskussion empfohlen werden.<br />

Bekanntlich sind viele Großunternehmen inzwischen dazu übergegangen,<br />

Bewerbungsunterlagen – mittlerweile zu oft getürkt<br />

oder dreist geschönt (siehe die hoffentlich lehrreichen Aufstiege<br />

und Fälle deutscher Politiker) –, durch bestellte Fachagenturen<br />

auf ihren Wahrheitsgehalt hin prüfen und bewerten zu lassen.<br />

Da sind die Hochschulen entschieden sorgloser. Hier kann jeder<br />

alles beurteilen, zumal ohne demokratische Legitimation, kraft<br />

purer Zugehörigkeit zu einer Interessengruppe. Was zählt, ist<br />

»Engagement« bei Angelegenheiten, für die keinerlei legitimes<br />

Interesse erkennbar ist.<br />

Ein früherer Kommilitone, zwischenzeitlich Mathematikprofessor<br />

in Palo Alto (USA), sagte mir, in den USA werde<br />

aus Wettbewerbsgründen folgende Erfahrungsregel beachtet:<br />

Zweitklassige Leute holen sich drittklassige dazu; nur erstklassige<br />

Leute haben den Schneid und das Urteilsvermögen,<br />

sich weitere erstklassige Leute an die Seite zu wünschen.<br />

Darum gibt es in den USA, einem unstreitig demokratischen<br />

Land, keine »demokratisch«, d. h. nach Gruppeninteressen<br />

besetzte Berufungskommissionen. Am Aushang eines deutschen<br />

Mathematikinstituts war kürzlich zu lesen: »Ab sofort<br />

gelten Beweise durch Mehrheitsbeschluss. Angenommen<br />

mit 5 Mitarbeiter- und Studentenstimmen, gegen 3<br />

Professorenstimmen.«<br />

Das war ein Witz.<br />

Der spanische Soziologe Cayo Sastre, auch er unübersetzt,<br />

hat ein famoses Buch geschrieben unter dem Titel »McWelt«<br />

(McMundo, 2010). Er erklärt, McDonald’s funktioniere inzwischen<br />

hervorragend als soziologische Metapher für eine globale<br />

Gesellschaft des Konsums. Die McDonaldization of education<br />

42 <strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong><br />

(so der amerikanische Soziologe George Ritzer) bezieht sich<br />

vor allem auf die völlige Anonymisierung des weitergereichten<br />

Häppchen-Wissens an den Hochschulen. Professoren können<br />

mit Wikipedia nicht mehr mithalten. Die Ausbeutung 1:1 des<br />

Internets für Lehrstoff aller Art ist zum Normalfall geworden.<br />

Es gab eine Zeit, da kochte der Chef noch selbst, will sagen,<br />

was der Professor lehrte, war, wenn nicht auf seinem Mist<br />

gewachsen, doch durch die höchstpersönliche Zensur seines<br />

Urteilsvermögens gegangen, eines Urteilsvermögens, das er oder<br />

sie in langjährigen Studien und Forschungen erworben hatte.<br />

Die heutige inflationäre »Forschung«, da sind sich Lipovetsky,<br />

Bauman, Sastre und Ritzer vollkommen einig, bestehe zum<br />

größten Teil darin, das Geld Dritter auszugeben, um weitgehend<br />

ergebnislos Mitarbeiter bei einer Art Design zu beschäftigen –<br />

also nur den Apparat aufzublasen. Wenn Professoren aufgrund<br />

solcherlei Forschung ihre Lehre vernachlässigen, wird natürlich<br />

alsbald der Ruf nach mehr Hochschuldidaktik laut, gute Lehre<br />

müsse stärker belohnt werden. Doch weil die persönliche<br />

Forschung nicht mehr funktioniere, könne auch die persönliche<br />

Lehre nicht funktionieren, so unisono die genannten Soziologen.<br />

Haben Sie noch einen Moment Zeit? Ich würde Ihnen gern<br />

beschreiben, wie Berufungen in meiner Wahlheimat Spanien<br />

vonstatten gehen, in einem Land, das ja wie andere hierzulande<br />

notorisch fehleingeschätzt wird. Stellen für Hochschullehrer<br />

werden nicht in der Presse ausgeschrieben – das wäre für<br />

Interessenten viel zu unübersichtlich –, sondern ausschließlich<br />

im BOE, dem Staatsbulletin. Die Texte sind ohne jedes<br />

poetische Dekor (á la »Wir sind eine modern gemanagte<br />

Hochschule, in der Wirtschaft der Region verankert, mit weitreichenden<br />

Reformzielen in der Lehre und gut aufgestellt in<br />

der Drittmittel-Forschung …«). Wer sich bewirbt, muss a) eine<br />

durchaus nennenswerte Gebühr bezahlen; b) von vornherein<br />

beglaubigte Abschriften aller relevanten Dokumente beilegen<br />

(andernfalls nimmt man nicht teil; übrigens gibt es keinen<br />

spanischen Hochschullehrer, der nicht promoviert wäre, das<br />

ist gesetzlich definitiv ausgeschlossen, sogar für Professoren<br />

der Malerei 5 ; spricht man spanischen Kollegen gegenüber von<br />

»Juniorprofessoren« oder gar »Lehrkräften für besondere<br />

Aufgaben«, lachen die schon über den puren Wortlaut); c)<br />

einen schriftlichen projecto docente anfertigen (nicht unter<br />

dreißig bis vierzig Seiten, anständig gebunden) darüber, was<br />

und wie man lehren möchte; d) falls man von dem tribunal (!)<br />

eingeladen wird, das ausschließlich aus Professoren besteht,<br />

darunter mindestens drei vom Ministerium bestellte aus anderen<br />

Hochschulen: dann dauert die presentación zwei Tage. Jeder<br />

Kandidat hält zwei Vorträge, die Befragungen dauern Stunden<br />

und Stunden … Und ähneln den gut besuchten, öffentlichen<br />

Verteidigungen von Doktorarbeiten.<br />

Das Ganze ist eine strukturell sehr einfache, aber auch ziemlich<br />

förmliche, hochoffizielle Angelegenheit, man mag sie sogar<br />

pedantisch oder schwerfällig nennen. Wer die Stelle erhält,


Nicht-Ort, Berliner Kaufzentrum<br />

wird danach im BOE veröffentlicht, und auch jeder andere,<br />

der an der oposición teilgenommen hat, wird im BOE veröffentlicht.<br />

Und auch jeder, der aus formalen Gründen davon<br />

ausgeschlossen wurde! Ziemlich transparent, oder? Spanier<br />

überlegen sehr gründlich, ob und wo sie sich bewerben. Dieses<br />

Verfahren, das auch Hochschulen dazu zwingt, sich die Sache<br />

gut zu überlegen, wenn sie sich nicht blamieren wollen, macht<br />

manchmal Spitzenleute etwas ungeduldig (besonders, wenn<br />

sie aus den USA in die Heimat zurück möchten – wegen<br />

der Lebensqualität). Aber es garantiert, dass auf jeder Stelle<br />

mindestens gutes Mittelmaß sitzt, Flops sind äußerst unwahrscheinlich.<br />

Die Art von bunten Unterschieden, die mittlerweile<br />

hierzulande zwischen Lehrpersonen eines Fachbereichs vorkommen<br />

kann, ist in Spanien undenkbar. Solche Homogenität<br />

erleichtert Gespräche und Entscheidungen. Und vermeidet<br />

jede Menge Reibungsverluste, die zumeist auf das Konto gewisser<br />

Eitelkeiten und Wichtigtuereien gehen. Keiner muss sich<br />

abstrampeln, sein »FH« weglassen zu dürfen.<br />

Das System hat auch gewaltige Schattenseiten, ich erwähne<br />

nur die auffälligste: Wenn die Muttersprache jemandes, der<br />

aus Barcelona kommt, spanisch ist und nicht katalanisch, hat<br />

er in Barcelona keine Chance; aber auch nicht in Madrid, denn<br />

Katalanen möchte man dort nicht. Das ist der Sinn der autonomías<br />

und gilt als politisch korrekt.<br />

Erweitern wir den Horizont<br />

Die Gesellschaft des Hyperkonsums, der Enthierarchisierung<br />

und Verflüssigung ist aus der einsamen Masse hervorgegangen,<br />

die der amerikanische Soziologe David Riesman bereits 1950<br />

beschrieb (The Lonely Crowd). Sie birgt für den Einzelnen ein<br />

Orientierungsproblem. Das vorindustrielle Individuum orientierte<br />

sich an den Werten seiner Umgebung. In der anonymen<br />

Massengesellschaft gibt es diese Umgebungen nicht mehr. Der<br />

Einzelne orientiert sich jetzt an dem, was populär ist, was im<br />

trend liegt, was opportun ist.<br />

Das ist gerade im Einzelfall problematisch; in Zeiten, da<br />

dem Einzelnen wieder die alleinige Verantwortung für sein<br />

Wohlergehen aufgebürdet ist – der amerikanische Weg zum<br />

Glück –, kann das, was populär ist, mächtig in die Irre führen.<br />

Populär ist der Konsum, der Spaß, die Unterhaltung. Aktivität<br />

(vita activa im Unterschied zur vita contemplativa) meint unter<br />

solchen Umständen nicht verantwortliche Lebensgestaltung,<br />

sondern möglichst viel Sachkonsum, Spaßkonsum,<br />

Unterhaltungskonsum. Die Fähigkeit, mit einem Einkommen<br />

in der Höhe von Hartz IV über den Monat auszureichen,<br />

nach amtlicher Modellrechnung möglich, hängt, wiederum<br />

nach amtlicher Rechnung, in direkter Proportion sowohl vom<br />

Bildungsgrad wie vom Intelligenzquotienten ab. Das müssten<br />

also arbeitslose Professoren am besten hinkriegen (wenn man<br />

von dem im vorigen Abschnitt Gesagten mal absieht). Armut,<br />

<strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong> 43


sobald die Umgebung auch arm ist, bleibt schmerzhaft unerfreulich,<br />

beschädigt aber in der Regel nicht die Möglichkeit der<br />

Daseinsgestaltung und der Teilnahme an der Kultur. Armut<br />

in der Gesellschaft des Hyperkonsums (Lipovetsky) hingegen<br />

beschädigt den Bildungsgrad und den Intelligenzquotienten.<br />

Armut in der Konsumgesellschaft macht unfähig, in ihr zu<br />

überleben. Die einzige Chance gegen diese sich immer weiter<br />

auftuende Schere ist nach einhelliger Meinung der Soziologen<br />

Bildung, Bildung, Bildung.<br />

Nicht Machen, Machen, Machen. Nicht leeres Design.<br />

Was meint Machen? Betrachten wir die bekannte Weisheit:<br />

»Wenn man einen Tausendfüßler fragt, wie er das macht,<br />

seine tausend Füße bei der Fortbewegung zu koordinieren,<br />

kann er es nicht mehr.« Es kommt nämlich, so die Einsicht<br />

dahinter, nicht auf ein Machen an, sondern auf einen Vollzug.<br />

Der Tausendfüßler muss direkt losmarschieren, nicht machen,<br />

dass seine Beine sich im Rhythmus bewegen. Das kann er<br />

nicht, das kostet ihn zu große Mühe. Machen ist ein Modus<br />

der Indirektheit. Dem Tausendfüßler nützt keine noch so<br />

ausgefeilte Information darüber, wie seine Beine funktionieren,<br />

um zu gehen. Der »gebildete«, innengeleitete (Riesman)<br />

Tausendfüßler geht los, nicht in Traumtänzerei, vielmehr in<br />

traumwandlerischer Sicherheit.<br />

Der eingeübte Autofahrer fährt, er macht nicht, dass sich<br />

die Räder seines Autos drehen. Der eingeübte Klavierspieler<br />

musiziert, er macht nicht, dass der von der Taste ausgelöste<br />

Hammer die Saite schlägt.<br />

44 <strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong>


Informatiker werden bei solcher Beschreibung nervös.<br />

Tatsächlich: Sie machen, dass … Ein Informatiker, der einen<br />

künstlichen Tausendfüßler designen will, muss machen, dass<br />

der seine tausend Füße bei der Fortbewegung koordiniert. Bis<br />

das Fahren des Autofahrers bei den Rädern ankommt, ist sehr<br />

viel Machen im Spiel gewesen.<br />

Weil das Machen denn doch so gut klappt, hat die hypermoderne<br />

Gesellschaft es auf alles ausgedehnt, auch auf die<br />

Beziehung zwischen Menschen. Die Postmoderne pflegt den<br />

umgekehrten Prozess zum Vollzug: Alles ursprünglich geltungsorientiert<br />

Vollzogene wird jetzt auf ein Machen reduziert. Auf<br />

Design.<br />

Wir machen unsere Arbeit. Wir machen Urlaub. Wir machen<br />

Freunde. Wir machen Liebe. Wir machen unsere Arbeit<br />

so, dass wir möglichst wenig dabei arbeiten; wir studieren,<br />

indem wir Projekte machen. Wir machen Urlaub, d. h. wir legen<br />

Badekleidung an, setzen einen Strohhut auf, setzen eine<br />

fröhliche Miene auf, demonstrieren das Hängenlassen. Wir<br />

machen Freunde: Wir sind nett, wir sind hilfsbereit, wir sind<br />

guter Laune, wir sind auf Partys amüsant, wir sind immer ansprechbar.<br />

Wir machen Liebe (to make love): sportliche Körper<br />

verwickeln sich lachend ineinander, stöhnend und ächzend, sie<br />

machen halt ihre Arbeit …<br />

Wir sind hypermoderne Tausendfüßler, die nun doch wissen,<br />

wie man es macht, wir haben das Know-how: Die Wäsche<br />

waschen, ohne sich die Hände nass zu machen. Wir brauchen<br />

keinen eintauchenden, sich einlassenden Vollzug, uns genügt<br />

das Machen. Das hat etwas mit Verantwortungsscheu zu tun,<br />

Nicht-Ort, Berliner Hauptbahnhof<br />

<strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong> 45


verbunden mit Allmachtsfantasien (Lipovetsky). Wir nehmen<br />

uns schnell aus der Schusslinie. Wir machen etwas, warten aber<br />

nicht gern das Feedback ab. Wir machen uns unangreifbar, indem<br />

wir immer nur machen, nicht handeln, nicht geradestehen<br />

für etwas. Man darf niemals da stehen bleiben, wo man gerade<br />

durch Machen Wirkung entfaltet. Da könnten faule Eier zurückkommen.<br />

Man muss sich unsichtbar machen, anonym werden,<br />

eine Tarnkappe tragen. Alles »hintenherum« machen, nicht<br />

face-to-face. Gern durch fabrizierte Mehrheiten.<br />

Mit einem Wort: Statt uns mit Menschen auseinanderzusetzen,<br />

machen wir Sozialtechnologie. Die Postmoderne, die alle<br />

Geltung verflüssigt, alle Strukturen enthierarchisiert, wird zum<br />

Zeitalter der Sozialtechnologie (Lipovetsky, Bauman). Nicht<br />

handeln, sondern steuern heißt ihre Devise. Handeln geschieht<br />

im Rahmen von Geltungen; wenn es keine Geltungen mehr gibt,<br />

bleibt nur das Steuern (Manövrieren) übrig. Der französische<br />

Anthropologe Marc Augé vergleicht diese gesellschaftliche<br />

Situation mit einem Flughafen. Er nennt einen Flughafen (oder<br />

die verflüssigte, geschichtsvergessliche Hochschule) einen anonymen<br />

Nicht-Ort (Non-Lieux, 1992): Alle Leute bewegen sich in<br />

Strömen, wie gesteuert; sie gehen einander nichts an, sie gehen<br />

aneinander vorbei; alles läuft emsig anonym ab; rechts und links<br />

gibt es Geschäfte, Möglichkeiten des Konsums, Fast Food; und<br />

ab und zu gibt es Durchsagen von oben; die Gesichter bleiben<br />

ernst. Alle reden mit ihren Handys oder surfen im Internet.<br />

Trotz der Allgegenwart heiter erscheinen wollenden Designs<br />

und Stylings, vollmundiger Werbung, aufmunternder Angebote,<br />

hängt etwas wie angespannte Traurigkeit in der Luft – ein<br />

Nicht-Ort. Er hat keine Geschichte und keine Umgebung. Man<br />

kann dort in Wirklichkeit nicht mit Menschen plaudern, nicht<br />

speisen, nicht leben. Ein transitorischer Ort, ein Ort, an dem man<br />

nicht verweilen kann noch möchte. Die Hochschule, die ganze<br />

Gesellschaft als Nicht-Ort: »Die Gesellschaft der Opulenz rüstet<br />

sich mit privatem Reichtum aus bei öffentlicher Armutsmisere,<br />

und die Leute kaufen Mobiltelefone, obgleich sie einander<br />

nichts zu sagen haben.« (Cayo Sastre, in meiner Übersetzung).<br />

Die Leute sind nie da, wo du mit ihnen sprechen möchtest: nicht<br />

der Hausmeister, nicht deine Studenten, nicht deine Kollegen.<br />

Und schon gar nicht die Verwaltung. (In Braunschweig wurde<br />

ich Zeuge, wie eine Verwaltungsangestellte einen Professor, der<br />

Post bei der Poststelle abgeben wollte, darüber belehrte, dass<br />

die Post nach Inland und Ausland zu trennen sei. Einfach so. Erst<br />

verblüfft, dann gehorsam fing er an zu trennen, sie stand dabei<br />

und sah zu.)<br />

Machen statt Kontemplation, das ist das hypermodernisierte<br />

Leben – mit allseits ansteigenden Depressions- und Burnout-<br />

Raten (Lipovetsky). Was man heute Kommunikation nennt,<br />

ist in Wahrheit die Vermeidung von Kommunikation. Man<br />

will gerade nichts vom Anderen zurück haben; nicht wirklich<br />

antworten, nichts verantworten. Nur machen, dass …<br />

46 <strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong><br />

Facebook, ein Nicht-Ort, reicht fürs Soziale aus. Man will sein<br />

Verhalten gegenüber Apparaten auch auf Menschen ausdehnen.<br />

Sozialtechnologie machen.<br />

Was ist Sozialtechnologie?<br />

Das Wort »Sozialtechnologie« wurde vor vierzig Jahren von<br />

dem Soziologen Jürgen Habermas kritisch gegen den Soziologen<br />

Niklas Luhmann gewendet, zur Charakterisierung von dessen<br />

Systemtheorie der Gesellschaft. Die Systemtheorie bejahe<br />

Sozialtechnologie oder nehme sie billigend in Kauf. 6<br />

Weit genauer als vor vierzig Jahren können wir heute aufzeigen,<br />

wo und wie Sozialtechnologie entsteht 7 . Nämlich überall da, wo<br />

Technologien und Menschen in einen wechselweise verflüssigten<br />

Zustand eintreten. Das ist da der Fall, wo Mensch und Technik<br />

durch Design miteinander lose verklebt werden, durch zu erlernendes<br />

Verhalten. Durch ein formalistisch leeres Design. Das ist<br />

ein Design, das sich von der Realität abgekoppelt hat. Das kein<br />

Handeln erlaubt, das nur zu anpasserischen Reaktionen zwingt,<br />

die zum Paradigma sozialen Verhaltens überhaupt werden.<br />

Anything goes bedeutete ursprünglich: Realität ist ein gesellschaftliches<br />

Konstrukt, dann: bloß ein gesellschaftliches<br />

Konstrukt. Wenn einer sagt, dasunddas sei Realität, antwortet<br />

man in der Postmoderne: »Das sagst du.« Immer. Auch beim<br />

Klimagipfel. Darum bedeutet das Anything goes inzwischen: Es<br />

gibt keine universellen, nur lokale Geltungen (Jean-François<br />

Lyotard, Philosoph der Postmoderne), nur Meinungen, nur<br />

Präferenzen, nur Interessen. Und wenn es nur Meinungen gibt,<br />

kann man alles machen, beliebige Sozialtechnologien erfinden.<br />

Pseudorealitäten. Was sich ihnen entgegenstellen könnte,<br />

sind ja wieder bloß Meinungen. Wenn eine Meinung in die<br />

Minderheit gerät, rettet sie kein Verfassungsgrundsatz mehr.<br />

Die Hypermoderne kann eben auch keine Grundsätze, keine<br />

Prinzipien mehr vor der Verflüssigung bewahren (Lipovetsky).<br />

Mit Ausnahme des Designprinzips.<br />

Appelle, die an gemeinsam geteilte Wirklichkeiten anknüpfen,<br />

an von allen gesehene Tatsachen, sind, falls von der Minderheit<br />

vorgetragen, wirkungslos: Sie sind nicht populär. Frühere Zeiten<br />

nannten dies Opportunismus. Solcher verwandelt sich heute<br />

in Design, verwandelt sich in die Beflissenheit, zu machen, dass<br />

die Dinge irgendwie weiterlaufen. Wie ein programmierter<br />

Tausendfüßler.


Anmerkungen<br />

1. Die jetzt überall in Mode gekommene Rede<br />

von »Produkten« geht auf die berühmten »vier<br />

P’s« des Marketings zurück (Product, Price, Place,<br />

Promotion) | 2. Ich beziehe mich hier insbesondere<br />

auf das Werk von Gilles Lipovetsky und Jean Serroy,<br />

La Culture-monde (2008) | 3. Für Freunde platt<br />

gemachter Landschaften könnte die mathematische<br />

Gesellschaftssatire von E. A. Abbott, Flatland<br />

(1884), noch heute eine heilsame Lektüre sein |<br />

4. Eine Hochschule vermittelt nach Wilhelm von<br />

Humboldt (1767 – 1835), Begründer der Berliner<br />

Universität (1812), die Teilnahme am universellen<br />

Geltungsvorrat einer Nation | 5. Als ich einen<br />

Austausch mit einer spanischen Universität in Gang<br />

bringen wollte, mokierte sich die spanische Seite<br />

darüber, dass kein einziger Professor für bildende<br />

Kunst in Braunschweig promoviert war. »Bei euch<br />

lehren Kunstwissenschaftler Malerei, bei uns lehrt<br />

Picasso«, gab ich zu bedenken, und erhielt die<br />

entwaffnende Antwort: »Was hat denn Picasso an<br />

einer Hochschule verloren? Der verdient sein Geld<br />

woanders.« Spanier erklären das so: Die Promotion<br />

ist wie der Führerschein fürs Auto. Mag sein, dass<br />

auch einige Leute ohne Führerschein Auto fahren<br />

könnten. Für das Verkehrswesen wäre es sicherlich<br />

kein Gewinn, wenn man sie ließe. Warum soll, was<br />

gut fürs Verkehrswesen ist, nicht auch gut sein<br />

fürs Bildungswesen? Glaubt man wirklich, dass<br />

dem Verkehrswesen durch die Führerscheinpflicht<br />

Fahrtalente entgehen? Und finden wir es toll,<br />

wenn ein Minister, der für seinen Posten keinen<br />

Führerschein braucht, aber einen von ihm selbst<br />

gefälschten in der Tasche hat, behauptet, der wäre<br />

echt? Je mehr man den Doktorgrad entwertet, umso<br />

begehrter scheint er zu sein. Welch ein Paradox!<br />

| 6. Siehe Jürgen Habermas und Niklas Luhmann,<br />

Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, 1971<br />

| 7. Es sei gestattet, noch einmal auf mein Buch Das<br />

Designprinzip zu verweisen.<br />

Literatur<br />

Augé, Marc, Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen<br />

zu einer Ethnologie der Einsamkeit, S. Fischer,<br />

Frankfurt/M. 1994 | Bauman, Zygmunt, Leben als<br />

Konsum, Hamburger Edition, Hamburg 2009 | Boom,<br />

Holger van den, Das Designprinzip. Warum wir in der<br />

Ära des Designs leben, kassel university press, Kassel<br />

<strong>2011</strong> | Habermas, Jürgen und Niklas Luhmann,<br />

Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie,<br />

Suhrkamp, Frankfurt/M. 1971 | Lipovetsky, Gilles<br />

und Jean Serroy, La Culture-monde: Réponse à une<br />

société désorientée, Odile Jacob, Paris 2008 | Riesman,<br />

David, Die einsame Masse, Rowohlt, Reinbek bei<br />

Hamburg 1982 | Sastre, Cayo, McMundo. Un viaje<br />

por la sociedad de consumo, Los libros del lince,<br />

Barcelona 2010<br />

Nicht-Ort, Zug in Barcelona<br />

Nicht-Ort, Barcelona Flughafen<br />

<strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong> 47


Einleitung<br />

48 <strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong><br />

Design als Marketing-Instrument<br />

Reflektiert man über den Einfluss von Design, speziell dem Industrial Design, auf den<br />

wirtschaftlichen Erfolg von Produkten, so geht man davon aus, dass ein positiver Zusammenhang<br />

zwischen beiden Größen besteht, d. h. man vermutet eine starke Korrelation<br />

zwischen gutem Design und etwa den Verkaufszahlen des Produktes. Als Teil<br />

der Produktpolitik im Marketing-Mix eines Produktes erwartet man von gutem Design<br />

auch einen positiven Einfluss auf das Produktmarketing.<br />

Versucht man aber empirisch gesicherte Erkenntnisse über das Wirkungsdreieck Design<br />

– Marketing – Produkt zu erhalten, so stellt sich die Lage nicht mehr so eindeutig<br />

dar. Einerseits steht man vor der Frage, was denn gutes Design von schlechtem Design<br />

unterscheidet, und andererseits erweist sich die Messung des Einflusses des Designs<br />

am gesamten Marketingerfolg eines Produktes als äußerst schwierige Frage.<br />

In diesem Beitrag wird für den deutschen Automobilmarkt eine empirische Analyse<br />

vorgestellt, die zu überraschenden Ergebnissen führt. Dabei basieren die verwendeten<br />

Daten auf öffentlich zugänglichen Quellen und repräsentieren aufgrund der Größe der<br />

Stichprobe ein verlässliches Abbild der Realität.<br />

Design als Marketing-Instrument<br />

Gunnar Prause<br />

Bei der Beschreibung und Umsetzung von Marketingaktivitäten hat sich in der<br />

betriebswirtschaftlichen Literatur eine feste Begriffswelt etabliert [HM]. Der Ausgangspunkt<br />

für alle Aktivitäten im Umfeld der Marketingpolitik ist der so genannte<br />

Marketing-Mix, der sich stets aus Maßnahmen der vier Bereiche: Preispolitik, Produktpolitik,<br />

Kommunikationspolitik und Distributionspolitik zusammensetzt. Während die<br />

Preis- und die Distributionspolitik kaum Zusammenhänge mit dem Design aufweisen,<br />

da sie ausschließlich monetäre bzw. organisatorische Fragen behandeln, sind die Maßnahmen<br />

der Produkt- und der Kommunikationspolitik für das Design von besonderer<br />

Bedeutung, da hier die materielle und virtuelle Gestaltung im Produktumfeld im Mittelpunkt<br />

stehen [P1].


Bereits in [P2] stand der Stellenwert des Designs innerhalb der Produktpolitik im<br />

Mittelpunkt der Überlegungen, wobei als Beispiel der Golf genauer untersucht wurde.<br />

Untersuchungen des VW-Konzerns zu den Kaufgründen für den Golf zeigten, dass<br />

das Design des Produktes fast gleich auf mit der Technik zu finden war, so dass dem<br />

Design, in der Untersuchung Styling genannt, eine wichtige Rolle im Rahmen der Produktpolitik<br />

zuzurechnen ist:<br />

Wesentliche Einzelkaufgründe 1997<br />

Gute Erfahrung mit Marke / Modell<br />

Dichtes Händlernetz<br />

Guter Qualitätseindruck<br />

Gute Erfahrung mit Händler / Werkstatt<br />

Günstiger Kraftstoffverbrauch<br />

Hoher Wiederverkaufswert<br />

Zuverlässige Technik<br />

Styling<br />

Image der Marke<br />

Passive Sicherheit<br />

Golf III<br />

58%<br />

31%<br />

28%<br />

22%<br />

21%<br />

20%<br />

19%<br />

18%<br />

16%<br />

15%<br />

In einer internen Untersuchung des VW-Konzerns zum technischen Produktimage des<br />

Golf zeigte sich ein besonders positiver Einfluss des Designs. Dabei hob sich die äußere<br />

Form des Golf, d. h. das Design, besonders positiv vom Durchschnittsmarkt und damit<br />

von den Mitbewerbern ab:<br />

Technisches Produktimage Golf (1998) Golf 1998 Gesamtmarkt<br />

Bestnote = 10 1998<br />

Äußere Form<br />

Gegenwert fürs Geld<br />

Qualität / Zuverlässigkeit<br />

Technisch fortschrittlich<br />

Kraftstoffverbrauch<br />

Motorleistung<br />

Raumangebot<br />

Komfort<br />

Sicherheit<br />

8,2 7,0<br />

7,9 6,9<br />

8,5 7,3<br />

8,4 7,4<br />

7,4 6,8<br />

8,1 7,2<br />

7,7 7,0<br />

7,8 7,2<br />

8,2 7,3<br />

Insgesamt lässt sich also festhalten, dass das Design im Falle des VW-Golf bei den Kaufgründen<br />

zwar nicht zu den wichtigsten Einflussfaktoren zählt (nur 8. Platz), aber dass<br />

das Design einen wichtigen Einfluss im Bereich des technischen Produktimages besitzt<br />

und hierbei dem Golf einen relativ starken Vorsprung in Bezug auf die Mitbewerber<br />

beschert.<br />

<strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong> 49


ADAC-Motorwelt<br />

50 <strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong><br />

In seiner monatlichen Mitgliederzeitschrift »ADAC-Motorwelt« gibt der ADAC einen ständigen<br />

und umfassenden Überblick über alle Bereiche der Mobilität. Mit ca. 14 Mio. Exemplaren<br />

ist die Motorwelt das auflagenstärkste Journal Deutschlands im Bereich der privaten Mobilität,<br />

und Befragungs- und Testergebnisse können aufgrund der großen Repräsentanz als valide<br />

und gesichert angesehen werden. Zwei regelmäßig in der Motorwelt auftretende statistische<br />

Erhebungen sind Leserbefragungen mit dem Titel »ADAC-Praxistest« zu allen Themen des<br />

Automobilwesens sowie die mehrmals im Jahr erscheinende Studie »Auto-Marxx«.<br />

In der ADAC-Motorwelt 2/2006, Seite 10, wurden die Ergebnisse einer Leserumfrage im Rahmen<br />

des ADAC-Praxistests zum Thema »Wie zufrieden sind Sie mit dem Design?« präsentiert<br />

[MP]. Dabei förderte die Befragung, die auf der Basis von Schulnoten zwischen 1 gleich sehr<br />

gut und 5 gleich mangelhaft zu beantworten war, folgende Ergebnisse nach Marken zu Tage:<br />

Alfa Romeo 1,14<br />

Audi 1,47<br />

BMW 1,38<br />

Chevrolet 1,68<br />

Chrysler 1,36<br />

Citroën 1,54<br />

Daihatsu 1,73<br />

Fiat 1,62<br />

Ford 1,69<br />

Honda 1,46<br />

Hyundai 1,66<br />

Jaguar 1,10<br />

Kia 1,62<br />

Lancia 1,42<br />

Land Rover 1,45<br />

Mazda 1,48<br />

Mercedes 1,60<br />

Mitsubishi 1,57<br />

Nissan 1,66<br />

Opel 1,69<br />

Peugeot 1,47<br />

Porsche 1,10<br />

Renault 1,58<br />

Saab 1,34<br />

Seat 1,55<br />

Skoda 1,62<br />

Smart 1,42<br />

Subaru 1,63<br />

Suzuki 1,63<br />

Toyota 1,49<br />

Volvo 1,44<br />

VW 1,74<br />

Die erste Beobachtung der Ergebnisse zeigt, dass die besten Noten von Automarken erreicht<br />

wurden, deren Marktanteile zu den kleinsten auf dem deutschen Markt gehören. So konnten<br />

Porsche und Jaguar mit einer Note von 1,10 gefolgt von Alfa Romeo mit der Note 1,14 die<br />

besten Ergebnisse für sich verzeichnen, während etwa VW als deutscher Marktführer mit der<br />

schlechtesten Designnote 1,74 bewertet wurde.<br />

Insgesamt fällt aber ins Auge, dass die Gesamtmenge der Noten über eine relativ schmale<br />

Spanne von nur 0,64 reicht, so dass alle Noten eng zusammen liegen. Weiterhin überrascht<br />

die insgesamt gute Gesamtbeurteilung aller Modelle, was wohl darauf zurückzuführen ist,<br />

dass nur Autofahrer zu ihrem eigenen Pkw befragt worden sind. Hätte man eine repräsentative<br />

Umfrage zum Design aller Modelle durchgeführt, so wäre man wahrscheinlich auf andere<br />

Ergebnisse gestoßen. Nichtsdestotrotz kann aber festgestellt werden, dass Autobesitzer im<br />

Schnitt zufrieden mit dem Design ihres eigenen Automobils sind, was auch dahingehend interpretiert<br />

werden kann, dass der durchschnittliche Autobesitzer sich keinen Pkw anschafft,<br />

dessen Design er als unzureichend empfindet.


Auto-Marxx<br />

Eine weitere sehr aufschlussreiche, empirische Quelle aus der<br />

Motorwelt repräsentiert die Studie »Auto-Marxx«, die zweimal<br />

pro Jahr die Bewertung der wichtigsten Automarken auf dem<br />

deutschen Markt untersucht. In Gestalt eines Rankings wird den<br />

Marken ein Platz zugewiesen, wobei die jüngste Studie unter<br />

dem Titel »Die Liga der Automarken - Automarkenindex Juni<br />

2006« in der ADAC-Motorwelt 6/2006, Seite 48 – 49, zu finden<br />

ist. Die Bewertung der Automarken erfolgt nach wissenschaftlichen<br />

Methoden unter Berücksichtigung der Kriterien Markenimage,<br />

Marktstärke, Kundenzufriedenheit, Fahrzeugqualität,<br />

Techniktrend und Markentrend, die dann alle in eine gewichtete<br />

Gesamtnote einfließen, die über den aktuellen Rang der Automarke<br />

Auskunft gibt.<br />

Dabei fasst man unter dem Kriterium Markenimage die Image-<br />

Umfrage des Pkw-Monitors des ADAC mit 4.000 befragten Autofahrern,<br />

die Restwerte von Gebrauchtwagen sowie Werbewirkung<br />

und Werbeausgaben des letzten halben Jahres zusammen.<br />

Die Markenstärke bestimmt sich über die Zulassungszahlen,<br />

die Auskunft über den aktuellen Marktanteil der Automarken<br />

geben. Die Kundenzufriedenheit wird aus den Ergebnissen des<br />

bereits erwähnten ADAC-Praxistests bestimmt, wobei rund<br />

55.000 Autofahrer befragt wurden. Die Fahrzeugqualität ergibt<br />

sich aus mehr als 300 ADAC-Autotests der aktuellen Modelle<br />

sowie die Daten der ADAC-Pannenstatistik und dem TÜV-<br />

Report, die Aussagen über Langzeitqualitäten der Automarken<br />

erlauben. Die Kriterien Techniktrends und Markentrends werden<br />

von einem ADAC-Expertenteam beurteilt, wobei Innovationskraft<br />

und Zukunftspotenzial der Marken im Vordergrund<br />

stehen [MX].<br />

Das Ergebnis der Juni-Studie 2006, die Auskunft über die im<br />

letzten halben Jahr aufgetretenen Ergebnisse gibt, zeigte die<br />

Marke Mercedes auf dem ersten Platz, gefolgt von BMW und<br />

VW. Einen Überblick über alle wichtigen Automarken auf dem<br />

deutschen Markt erlaubt das folgende Diagramm:<br />

KundenFahrzeug- Gesamtnote Markenimage Marktstärke<br />

Techniktrend Markentrend Rang<br />

zufriedenheitqualität Alfa Romeo 3,30<br />

4,1 3,4 1,7 3,9<br />

3,0 2,0 28<br />

Audi 2,19<br />

2,4 3,2 1,7 1,8<br />

2,9 1,9 5<br />

BMW 2,10<br />

2,4 3,4 1,5 1,8<br />

1,9 2,1 2<br />

Chevrolet 3,59<br />

4,6 3,5 1,7 3,9<br />

3,0 3,4 32<br />

Chrysler 3,70<br />

4,6 3,7 1,9 4,4<br />

3,0 2,9 33<br />

Citroën 2,80<br />

4,1 3,0 1,7 2,8<br />

1,7 2,2 11<br />

Daihatsu 3,14<br />

4,4 3,0 1,5 3,2<br />

3,0 2,5 20<br />

Fiat 3,24<br />

4,4 3,1 1,9 3,4<br />

3,0 2,1 26<br />

Ford 2,87<br />

4,0 3,0 1,8 2,5<br />

2,6 2,9 15<br />

Honda 2,82<br />

3,8 3,3 1,3 2,8<br />

2,7 2,4 12<br />

Hyundai 3,21<br />

4,3 3,5 1,6 3,4<br />

3,0 2,0 <strong>25</strong><br />

Jaguar 3,16<br />

4,5 3,5 1,5 3,0<br />

2,8 2,8 22<br />

Kia 3,35<br />

4,4 3,4 1,8 3,9<br />

2,6 2,3 29<br />

Lancia 3,44<br />

4,4 5,0 1,8 3,3<br />

3,0 2,7 30<br />

Land Rover 3,52<br />

4,0 3,6 2,1 4,3<br />

3,0 2,7 31<br />

Mazda 3,68<br />

3,8 3,6 1,4 2,3<br />

1,9 2,6 7<br />

Mercedes 2,02<br />

2,4 3,1 2,0 1,7<br />

1,0 1,8 1<br />

Mitsubishi 3,27<br />

4,3 4,1 1,4 2,9<br />

3,0 4,1 27<br />

Nissan 3,14<br />

4,4 4,5 1,6 2,4<br />

2,6 3,5 20<br />

Opel 2,71<br />

3,7 3,1 1,8 2,2<br />

2,5 3,0 8<br />

Peugeot 2,75<br />

3,6 3,5 1,9 2,6<br />

2,3 2,1 10<br />

Porsche 2,17<br />

2,9 3,8 1,2 1,4<br />

3,0 1,7 4<br />

Renault 2,93<br />

3,8 3,6 1,9 2,8<br />

3,0 2,0 17<br />

Saab 3,09<br />

4,3 3,4 1,5 2,9<br />

2,4 3,5 19<br />

Seat 2,97<br />

4,1 3,7 1,8 2,3<br />

3,0 2,9 18<br />

Skoda 2,74<br />

4,1 3,1 1,6 2,1<br />

3,0 2,3 9<br />

Smart 3,16<br />

4,3 4,8 2,2 2,3<br />

3,0 2,9 22<br />

Subaru 2,87<br />

4,2 3,5 1,2 2,6<br />

2,9 2,2 15<br />

Suzuki 3,18<br />

4,1 3,3 1,5 3,5<br />

3,0 2,7 24<br />

Toyota 2,38<br />

3,1 3,4 1,3 2,0<br />

2,8 2,1 6<br />

Volvo 2,84<br />

3,7 4,3 1,5 2,3<br />

2,9 2,8 13<br />

VW 2,16<br />

2,6 1,7 2,0 1,8<br />

2,7 2,0 3<br />

Gewicht <strong>25</strong>% 10% 15% 30%<br />

10% 10%<br />

<strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong> 51


52 <strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong><br />

Das Design geht in die Bewertung »Auto-Marxx« über die Kundenzufriedenheit ein, die<br />

auf den Ergebnissen des »ADAC-Praxistest« fußt. Hierbei ist eine feste Frage im Fragebogen<br />

des Praxistests der Zufriedenheit mit dem Innen- und Außendesign des Fahrzeuges<br />

gewidmet. Der Praxistest ermittelt die Zufriedenheit aus folgenden Kriterien:<br />

Elektronik/Elektrik; Motor; Getriebe/Kupplung; Verarbeitung Innenraum; Verarbeitung<br />

Karosserie; Innen- und Außendesign; Sitzkomfort; Bedienkomfort; Fahrkomfort; Straßen-<br />

und Kurvenlage; Kraftstoffverbrauch; Fahrspaß; Würden Sie sich beim nächsten Mal wieder<br />

ein Auto dieser Marke kaufen?<br />

Die Befragung des Praxistests deckt also ein breites Spektrum von Kriterien zur Kundenzufriedenheit<br />

ab, die neben dem Qualitätseindruck, der technischen Leistung und dem<br />

Fahrkomfort auch das Design und die Kundenbindung an die Marke untersuchen.<br />

Korrelation und andere Zusammenhänge<br />

Nutzt man die empirischen Daten aus der ADAC-Motorwelt als Grundlage für eigene<br />

Untersuchungen, so bietet sich zunächst eine Korrelationsanalyse an. Dem unbedarften<br />

Leser soll an dieser Stelle in Erinnerung gerufen werden, dass die Korrelationsanalyse ein<br />

Verfahren zur Messung des Ausmaßes von Wechselbeziehungen zwischen zwei oder mehreren<br />

statistischen Reihen ist. Je nach Anzahl der untersuchten Variablen unterscheidet man<br />

zwischen einfacher und mehrfacher Korrelation. Der Korrelationskoeffizient variiert innerhalb<br />

der Korrelationsanalyse zwischen +1 und -1 und gibt dabei die Stärke und die Richtung<br />

des Zusammenhangs zwischen statistischen Reihen an. Hohe Werte ( > 0,7 ) bedeuten einen<br />

starken Zusammenhang und kleine Werte ( < 0,3 ) einen schwachen Zusammenhang. Positive<br />

Werte bedeuten einen gleichgerichteten Zusammenhang und umgekehrt [WP].<br />

Betrachtet man die Korrelationen zwischen der Zufriedenheit mit dem Design der Automarken<br />

aus dem ADAC-Praxistest und den Ergebnissen der Auto-Marxx-Studie, so ergibt<br />

sich folgendes Bild:<br />

Korrelation<br />

Gesamtnote<br />

Markenimage<br />

Marktstärke<br />

Kundenzufriedenheit<br />

Fahrzeugqualität<br />

Techniktrend<br />

Markentrend<br />

Design<br />

1,4 %<br />

7,7 %<br />

-33,1 %<br />

20,6 %<br />

-1,2 %<br />

-5,8 %<br />

11,9 %


Aufgrund der sehr niedrigen Korrelationswerte, d. h. aufgrund der sich nahe bei 0<br />

bewegenden Werte zwischen der Designzufriedenheit und der Gesamtnote, dem<br />

Markenimage, der Fahrzeugqualität und dem Techniktrend, kann davon ausgegangen<br />

werden, dass es keinen nennenswerten Zusammenhang gibt. Interessanter sind dabei<br />

die verbleibenden Korrelationen:<br />

Korrelation<br />

Marktstärke<br />

Kundenzufriedenheit<br />

Markentrend<br />

Design<br />

-33,1 %<br />

20,6 %<br />

11,9 %<br />

Analysiert man die drei verbleibenden Korrelationen, so soll mit dem betragsmäßig<br />

niedrigsten Korrelationswert begonnen werden. Ein Korrelationswert von rund 12 %<br />

bestätigt einen gewissen Einfluss des Designs auf das Kriterium Markentrend, wobei<br />

aber interessant festzustellen ist, dass die Designzufriedenheit von den Autofahrern<br />

bestimmt wird, während sich die Werte für den Markentrend aus Urteilen von Expertenteams<br />

zusammensetzen.<br />

Als Nächstes soll der Zusammenhang zwischen der Designzufriedenheit und der Kundenzufriedenheit<br />

betrachtet werden. Hier zeigt sich ein relativ hoher Wert von rund<br />

21 %, was aber nicht weiter überrascht, geht doch das Design über den Fragebogen<br />

des ADAC-Praxistests in das Kriterium Kundenzufriedenheit ein. Da die Korrelation als<br />

Maximalwert 100 % erreichen kann, verweist der aktuelle Wert auf einen nicht übermäßigen<br />

Einfluss des Designs auf die generelle Kundenzufriedenheit. Folglich haben<br />

technische Eigenschaften und Komfortmerkmale bei den Autofahrern größeren Einfluss<br />

auf die Zufriedenheit.<br />

Die größte Überraschung aber liefert die Analyse des Korrelationskoeffizienten zwischen<br />

dem Design und der Marktstärke. Zunächst erweist sich der Wert der Korrelation<br />

mit betragsmäßigen 33 % als größter Wert aller Koeffizienten und weist damit auf<br />

einen relativ starken Zusammenhang zwischen der Designzufriedenheit der Autofahrer<br />

und der Marktstärke einer Automarke hin, aber das Spektakuläre des Ergebnisses<br />

liegt im Vorzeichen des Korrelationskoeffizienten begründet, denn es handelt sich um<br />

einen negativen Wert. Die Negativität des Koeffizienten bedeutet in unserem Fall, dass<br />

eine höhere Zufriedenheit mit dem Design auf einen niedrigeren Marktanteil schließen<br />

lässt und umgekehrt.<br />

Interpretiert man das Ergebnis in einer ersten Betrachtung inhaltlich, so könnte eine<br />

voreilige Erklärung in der Aussage zu finden sein, dass ein gutes Design schlecht für<br />

den Verkauf ist. Diese Interpretation widerspricht aber nicht nur dem gesunden Menschenverstand,<br />

sondern auch der Einschätzung von ausgewiesenen Designexperten<br />

<strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong> 53


54 <strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong><br />

wie etwa dem Chef-Designer von Peugeot, Gérard Welter, der in einem aktuellen Interview<br />

auf die Frage, ob man Automobildesign messen kann, antwortete: »Objektiv kann man es<br />

durchaus messen. Allerdings mit dem nötigen Abstand, da gutes Automobildesign mit dem<br />

Erfolg eines Modells zusammenhängt. Um den Erfolg eines Modells zu messen, benötigt<br />

man den Abstand der Zeit. […]« [RH]. Folglich bedarf es einer tiefer liegenden Ursachenforschung,<br />

um eine Erklärung für den starken, negativen Zusammenhang zu finden.<br />

Ursachenforschung<br />

Zunächst ist festzustellen, dass es sich bei einem Automobil um einen äußerst komplexen<br />

Gegenstand handelt, der durch eine Vielzahl von Eigenschaften beschrieben werden muss.<br />

Im Vergleich zu einfacheren Produkten wie einem Tafelbesteck oder einem Modeartikel stellt<br />

ein Auto ein viel komplexeres Produkt dar, so dass die Kaufentscheidung eines Kunden aus<br />

mehr Einflussfaktoren besteht als etwa bei einem Tafelbesteck. Während man beim Erwerb<br />

eines Tafelbestecks etwa nur auf den Preis, das Design und die Verarbeitungsqualität achtet,<br />

zeigt bereits der Fragebogen zum ADAC-Praxistest eine Anzahl von 15 Fragen, wobei nur eine<br />

Frage dem Design gewidmet ist. Betrachtet man nun das durchschnittliche, relative Gewicht<br />

der Eigenschaft Design beim Tafelbesteck und beim Auto, so liegt der Wert beim Tafelbesteck<br />

bei 33 % während dieser Wert beim Auto bei 7 % liegt. Somit ist der zu erwartende Einfluss<br />

des Designs auf die Kaufentscheidung beim Tafelbesteck rund 5-mal größer als beim Automobilkauf.<br />

Schaut man sich die Ursachenforschung beim Automobil noch genauer an, so ergibt sich aus<br />

den Analysen zur Kaufentscheidung für den Golf III, dass das Styling mit 18 % erst an achter<br />

Stelle für den Kunden steht, während andere Eigenschaften wie Produkterfahrungen, das<br />

Händlernetz sowie technische und qualitative Eigenschaften weit vor dem Design rangieren.<br />

Auch das Gewicht des Designs mit 18 % ist nur rund ein Drittel so groß wie das Hauptargument<br />

der Kaufentscheidung, der guten Erfahrung mit dem Produkt. Somit lässt sich feststellen,<br />

dass das Design zwar eine Rolle bei der Produktwahl eines Automobils spielt, aber eine<br />

weitaus geringere als dem Designer lieb sein kann.<br />

Bezogen auf die Ergebnisse der Designbefragung im ADAC-Praxistest heißt dies, dass bei<br />

denjenigen Produkten, bei denen die Zufriedenheit mit dem Design besonders ausgeprägt<br />

ist, das Design als Grund der Kaufentscheidung sehr viel wichtiger ist, als bei den Automobilmarken<br />

mit einer etwas schlechteren Designbewertung. Die Annahme, dass das Design als<br />

Kaufargument für Nischenprodukte von besonderem Gewicht ist, stützen auch die Ergebnisse<br />

des ADAC-Praxistests. So erhielten wie bereits erwähnt Porsche, Jaguar und Alpha Romeo<br />

die besten Designbewertungen, was gerade bei Jaguar und Alpha Romeo nicht überrascht,<br />

denn Käufer dieser beiden Marken identifizieren sich in besonderem Maße mit englischem<br />

bzw. italienischem Lebensgefühl, was durch das Design ihres Automobils zum Ausdruck<br />

gebracht wird. Ähnlich sieht die Situation im Fall Porsche aus, wo sich der Käufer bewusst<br />

mit dem Premiumprodukt im Bereich der Sportwagen identifiziert und dies auch durch das<br />

Design seines Pkws zum Ausdruck bringen möchte.<br />

Für die Marktführer im Bereich der Automobile ist eine solch übersteigerte Gewichtung des<br />

Designs nicht ausreichend; sie müssen ihre weitaus größere Zielgruppe durch eine breitere<br />

Palette von Produkteigenschaften ansprechen, wie dies bereits am Golf III diskutiert wurde.<br />

Eine größere Anzahl von Kaufargumenten bedeutet dabei nicht den Fall des Designs in die<br />

Bedeutungslosigkeit, was die immer noch guten Gesamtbewertungen des Designs für die<br />

Marktführer belegen.


Das Ergebnis der empirischen Betrachtungen kann also in der Erkenntnis zusammengefasst<br />

werden, dass je mehr es sich bei einem Automobil um ein Nischenprodukt handelt, desto<br />

wichtiger wird für die Zielgruppe das Design. Liegt aber ein komplexes Hightechprodukt<br />

vor, so verlangt eine starke Marktposition das Management eines breiteren Spektrums von<br />

Produkteigenschaften, wobei dann das Design zwar immer noch eine von vielen wichtigen<br />

Merkmalen repräsentiert, aber für die Zielgruppe andere Eigenschaften als das Design bei der<br />

Kaufentscheidung eine wichtige Rolle spielen.<br />

Fazit<br />

Die Überlegungen zeigen, dass Design ein wichtiges Marketing-Instrument darstellt, aber dass<br />

das Gewicht des Designs bei Kaufentscheidungen stark variiert. Bei einfacheren Produkten,<br />

besonders wenn sie dem Zeitgeist näher sind wie etwa Modeartikel, kann dem Design ein<br />

großer Einfluss innerhalb des Marketings zugemessen werden. Bei komplexeren Produkten<br />

wie Automobilen, relativiert sich das Gewicht des Designs automatisch aufgrund der großen<br />

Anzahl von Produkteigenschaften.<br />

Diese Erkenntnis wird von Analysen des VW-Konzerns zu den Kaufkriterien von Golf-Kunden<br />

gestützt, die offenbarten, dass technische, ökonomische und qualitative Kriterien den Kunden<br />

stärker beeinflussen als das Styling. Dennoch geben die Ergebnisse der Korrelationsanalyse<br />

Hinweise, dass das Design für Spezialsegmente in Märkten durchaus ein entscheidendes<br />

Kriterium sein kann.<br />

Die Beispiele Alpha Romeo, Jaguar oder auch Porsche, die alle durch geringe Marktanteile<br />

auffallen, bekommen bessere Designnoten von ihren Besitzern als die Marktführer. Die hohe<br />

negative Korrelation zwischen Marktstärke und Designzufriedenheit verweist hierbei auf die<br />

zunehmende Bedeutung des Designs in Nischenmärkten. Die Marktführer müssen dagegen<br />

über ein breiteres Spektrum von positiven Produkteigenschaften die Zielgruppe ansprechen,<br />

wobei das Design nicht die Führungsrolle in der Menge der Eigenschaften übernimmt.<br />

Interessant wäre daher eine breiter angelegte empirische Analyse, die sich der Frage widmet,<br />

ob die Beobachtungen im Automobilmarkt auch für andere Produktgruppen übertragbar<br />

sind. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage über den Stellenwert des Designs für die<br />

Kaufentscheidung in Abhängigkeit von der Produktkomplexität, d. h. gibt es einen signifikanten<br />

Bedeutungsunterschied des Designs zwischen einfachen und komplexen bzw. Hightech-<br />

Produkten.<br />

Literatur<br />

[HM] Heribert Meffert, Marketing, 9. Auflage, Gabler 2000 |<br />

[P1] Gunnar Prause, »Design-Evolution und Markenwelt«,<br />

<strong>Öffnungszeiten</strong> 18/2004 | [P2] Gunnar Prause, »Auf der Suche<br />

nach der neuen Form – Ein Land und seine Wirtschaftsikone«,<br />

<strong>Öffnungszeiten</strong> 2006 | [MP] ADAC-Motorwelt 2/2006,<br />

Seite 10, Ergebnisse des ADAC-Praxistests zum Thema »Wie<br />

zufrieden sind Sie mit dem Design ?« | [MX] Auto-Marxx –<br />

Die Liga der Automarken, Thomas Kroher, ADAC – Motorwelt<br />

6/2006, S. 48 – 49 sowie die Seiten 50 – 51 für den Fragebogen<br />

des ADAC-Praxistests | [WP] Lexikon der Marktforschung,<br />

Werner Pepels, Beck-Wirtschaftsberater im dtv 1997 | [RH]<br />

Robert Hauke, Monsieur Style, Avenue 3/2006, S. 42 – 49.<br />

<strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong> 55


Gestaltung positiver User Experience<br />

bei interaktiven Produkten<br />

Eine Symbiose zwischen Technologie und Design<br />

56 <strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong><br />

Katrin Schulze & Heidi Krömker<br />

Seit einiger Zeit wird der Begriff »User Experience« im Rahmen der Entwicklung interaktiver<br />

Produkte stark diskutiert. Verschiedene Disziplinen wie die Mensch-Maschine-<br />

Kommunikation, Psychologie, Design und Marketing greifen den Begriff auf und mit<br />

der zunehmenden Popularität von User Experience wuchs seine Bedeutungsvielfalt.<br />

Ehemals von Donald Norman kreiert, um seine Intention bei Apple zu beschreiben,<br />

entwickelte sich die »User Experience« zu einem komplexen Konstrukt, an dessen<br />

Umsetzung viele Produktgestalter und -entwickler scheitern.<br />

Der Beitrag hat das Ziel, das Konstrukt »User Experience« zu durchleuchten und eine<br />

Vorgehensweise vorzustellen, mit der User Experience systematisch in ein Produkt<br />

hinein entwickelt werden kann. Damit soll die User Experience interaktiver Produkte<br />

besser verstanden und in Produkte umgesetzt werden können.<br />

Gedanken im Hintergrund<br />

In der letzten Ausgabe der <strong>Öffnungszeiten</strong> stellte F. Romero-Tejedor die einleitende<br />

Frage, was Designer, Ingenieure und Informatiker gemeinsam haben 1 . Die Kreativität,<br />

als Antwort auf diese Frage, ist laut Romero-Tejedor in jeder Disziplin unterschiedlich<br />

ausgeprägt, findet jedoch in der praktischen Produktentwicklung noch geringe<br />

Verzahnung. Stattdessen werden die jeweiligen Kompetenzen als weniger wichtig oder<br />

nicht innovativ angesehen. Eine ähnliche Tendenz lässt sich bei der Gestaltung von<br />

User Experience erkennen. Oft steht hier die Frage im Vordergrund, welche Disziplin<br />

denn die Verantwortung für das Konstrukt User Experience hat, anstatt zu überlegen,<br />

wie die einzelnen Disziplinen die User Experience gemeinsam gestalten können. Dies<br />

setzt allerdings voraus, dass ein gemeinsames Verständnis von User Experience vorliegt.


Qualitative Experten-Interviews mit achtzehn Verantwortlichen im<br />

Produktinnovations- und -entwicklungsprozess von Softwareprodukten zeigten, dass<br />

in der Praxis eines großen deutschen Telekommunikationskonzerns User Experience<br />

sehr unterschiedlich verstanden wird.<br />

Die zentralen Fragen in der praktischen Produktentwicklung lauten also:<br />

1. WAS ist User Experience?<br />

2. WIE können Designer und Ingenieure gemeinsam User Experience gestalten?<br />

WAS ist User Experience?<br />

Mit dem Aufkommen disruptiver Innovationen, wie z. B. dem Mobiltelefon, einem<br />

immer schneller werdenden mobilen Internet, sowie einem sich immer schneller<br />

entwickelnden Informations- und Telekommunikationstechnologie-Markt, welcher<br />

kurze Produktlebenszyklen, herausragende Alleinstellungsmerkmale und flexible<br />

Produktentwicklung erfordert, gewinnt die nutzer- und besonders die nutzererlebnisorientierte<br />

Produktentwicklung immer mehr an Bedeutung 2 .<br />

Für diese erlebnisorientierte Betrachtung von Produkten etablierte sich in den letzten<br />

Jahren der Begriff »User Experience«.<br />

Laut ISO 9241-210 (2010) ist diese definiert als die »Wahrnehmungen und Reaktionen<br />

einer Person, die aus der tatsächlichen und/oder der erwarteten Benutzung eines<br />

Produkts, eines Systems oder einer Dienstleistung resultieren«. Sie bezieht<br />

Komponenten wie Emotionen, Wahrnehmungen, physiologische und psychologische<br />

Reaktionen, Verhaltensweisen und Leistungen, die sich vor, während und nach<br />

der Nutzung ergeben, ein 3 . Weiterhin merkt die Norm an, dass UX eine »Folge der<br />

Markenwahrnehmung, der Darstellung, Funktionalität, Systemleistung, des interaktiven<br />

Verhaltens und der unterstützenden Ressourcen des interaktiven Systems,<br />

des inneren und physischen Zustands des Benutzers aufgrund seiner Erfahrungen,<br />

Einstellungen, Fähigkeiten und seines Charakters sowie des Nutzungskontexts« ist.<br />

Ferner können »Kriterien der Gebrauchstauglichkeit (…) angewendet werden, um<br />

Aspekte der User Experience zu beurteilen.«<br />

Aus dieser Definition sowie einer Auswahl an existierenden User Experience-Ansätzen<br />

[vgl. Mahlke (2009), Brave und Nass (2002), Schulze und Krömker (2010), Wright et<br />

al. (2003)] lässt sich festhalten, dass es sich bei der User Experience um ein zeitliches<br />

Konzept handelt, dessen Einflussfaktoren durch Vorbedingungen, die Interaktion<br />

an sich und Konsequenzen aus der Interaktion bestimmt sind. Diese drei zeitlichen<br />

Komponenten stellt die Illustration in Bild 1 anhand antizipierter Erlebnisse, momentaner<br />

Erlebnisse und reflektiver Erlebnisse dar.<br />

Vorbedingungen von Interaktionen eines Nutzers mit einem Produkt beeinflussen<br />

ihre oder seine antizipierten Erlebnisse und Erwartungen an das Produkt<br />

und somit die Motivation zur Nutzung. Beeinflussende Faktoren sind hier (1)<br />

Unternehmensaktivitäten, wie Präsentation und Kommunikation eines Produktes,<br />

welche in der Markenwahrnehmung resultieren und oftmals unter Customer<br />

Experience zusammengefasst werden; (2) das Produkt, also die Nützlichkeit von<br />

Systemeigenschaften, die Gebrauchstauglichkeit, visuelle Attraktivität und hedonische<br />

Qualität des Produkts; (3) Bedürfnisse, Ziele und Beeinträchtigungen der Nutzer subsumiert<br />

in den Nutzereigenschaften sowie; (4) situations- und aufgabenbeschreibende<br />

Kontextparameter.<br />

<strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong> 57


58 <strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong><br />

Die Interaktion an sich löst momentane Nutzungserlebnisse aus. Hierbei vergleicht der<br />

Nutzer oder die Nutzerin die antizipierte Nutzung mit der tatsächlichen Nutzung, also<br />

die vorherigen Erwartungen mit der tatsächlichen Erwartungserfüllung, woraus eine<br />

subjektive Bewertung der Nutzung resultiert. Diese Bewertung beinhaltet wahrgenommene<br />

funktionale und nicht-funktionale Eigenschaften des Produkts, wie z. B. die<br />

Nützlichkeit, Gebrauchstauglichkeit, visuelle Attraktivität und hedonische Qualität,<br />

die Neuartigkeit und den Wert des Produkts, die Hemmnisse und Kontrolle sowie die<br />

Sicherheit in der Nutzung. Daraus resultieren dann die emotionalen Reaktionen. Laut<br />

Brave und Nass (2002) zählen hierzu sowohl kurzzeitige emotionale Reaktionen wie<br />

Valenz und Erregung als auch langzeitliche emotionale Reaktionen wie Stimmung und<br />

Gefühle.<br />

Die sich aus der Interaktion ergebenen Konsequenzen, wie Verhalten oder Aktionen<br />

sowie die Nutzungsmotivation im Rahmen der Wahl zwischen Alternativen, stellen die<br />

eigentlichen Ziele der Gestaltung von User Experience für ein Produkt dar. Eine qualitative<br />

und quantitative Messung dieser Faktoren gibt Hinweise und Antworten, ob<br />

User Experience erfolgreich in ein Produkt hineinentwickelt werden konnte.<br />

Mit diesen Einflussfaktoren, die die Definition der DIN EN ISO 9241-210 ergänzen, wird<br />

das Konzept der User Experience auch für ihre Anwendung in der Produktentwicklung<br />

transparenter. Jedoch bestätigten die zuvor genannten Interviews, dass die Definition<br />

der DIN EN ISO 9241-210 für Anwender im Entwicklungsprozess interaktiver Produkte<br />

schwer verständlich und wenig praktikabel ist, sowie bestehende Ansätze zur<br />

Erklärung der User Experience zu komplex und schwer umzusetzen sind.<br />

Daraus lässt sich ableiten, dass es zusätzlich eines intuitiv handhabbaren und skalierbaren<br />

Vorgehens bedarf, um UX systematisch in ein Produkt hinein zu entwickeln.<br />

WIE können Designer und Ingenieure oder Informatiker gemeinsam<br />

positive Erlebnisse bei interaktiven Produkten gestalten?<br />

Damit Designer und Ingenieure oder Informatiker gemeinsam positive Erlebnisse<br />

gestalten können, sind menschliche Charaktereigenschaften jener Beteiligten von zentraler<br />

Bedeutung. Wesentlich sind hier insbesondere eine kollaborative Komponente,<br />

die eine offene, vertrauensvolle und respektvolle Zusammenarbeit beinhaltet, als auch<br />

eine individuelle Komponente, die durch eine stark ausgeprägte individuelle Kreativität<br />

bestimmt ist.<br />

Denn, wie Felicidad Romero-Tejedor treffend zur Lehrbarkeit von Gestaltung formulierte,<br />

gibt es auch für die Gestaltung positiver User Experience keine »Rezepte« 4 . Aber<br />

es gibt Prinzipien und Anhaltspunkte, die es zu beachten gilt, wie sie beispielsweise als<br />

Einflussfaktoren in Bild 1 illustriert sind.


Bild 1: User Experience vor, während und nach der Nutzung (nach einer Vorlage von Schulze / Krömker)<br />

Awareness<br />

Stimulation/<br />

Identification<br />

Needs, goals, demands<br />

constraints<br />

Task/Situation<br />

Antizipierte Erlebnisse<br />

Motivation<br />

Marke<br />

System-<br />

Eigenschaften<br />

Nutzer-<br />

Eigenschaften<br />

Kontext-<br />

Parameter<br />

Reflektive Erlebnisse<br />

Konsequenzen<br />

Verhalten/Aktionen<br />

Nutzungsmotivation<br />

Wahl zwischen Alternativen<br />

Momentane Erlebnisse<br />

Nutzung<br />

Wahrnehmung<br />

– Funktionale und nicht-funktionale Produkt-Eigenschaften<br />

– Wahrgenommene Neuartigkeit, Wert, Hemmnisse und<br />

Kontrolle, Sicherheit/Unsicherheit<br />

Emotionale Reaktionen<br />

– Valenz und Erregung (kurzzeitlich)<br />

– Stimmung und Gefühle (langzeitlich)<br />

Um zum einen die Zusammenarbeit von Technologie und Design und zum Anderen<br />

das Konzept von User Experience visuell zu verdeutlichen, entwickelten wir ein grafisches<br />

Modell, welches den Anspruch hat:<br />

1. Das Konzept User Experience mit den Konzepten Usability und Utility grafisch zu<br />

vereinen und damit deren Zusammenhang zu vermitteln.<br />

2. Bestehende Definitionen und Konzepte der User Experience zu integrieren und sie<br />

damit visuell im Modell verortbar zu machen.<br />

3. Zu verdeutlichen, wie Designer und Ingenieure oder Informatiker gemeinsam das<br />

positive Gesamterlebnis gestalten und wer welchen Aspekt des Gesamterlebnisses<br />

gestaltet.<br />

4. Es Produktverantwortlichen zu ermöglichen, relevante Erlebnis-Aspekte zu klassifizieren<br />

und dabei geplante Funktionalitäten sowohl der geplanten als auch der tatsächlichen<br />

Wahrnehmung durch Nutzer gegenüberstellt. Damit soll eine Verzahnung von<br />

Planung und Evaluation der User Experience erreicht werden.<br />

<strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong> 59


Bild 2: Gestaltung positiver User Experience durch das Zusammenspiel von Design und Technologie (nach einer Vorlage von Schulze / Krömker)<br />

Unternehmens-Seite<br />

Design & Technologie<br />

Designer & Ingenieur/Informatiker<br />

Produktmanager<br />

60 <strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong><br />

User Experience<br />

angenehm<br />

Usability<br />

nutzbar<br />

Utility<br />

nützlich<br />

Funktion<br />

funktional<br />

aufgabenorientierte<br />

Nutzung<br />

Nutzer-Seite<br />

Interaktionsverhalten<br />

visuelle, taktile<br />

Erscheinung<br />

bequem<br />

nutzbar<br />

zuverlässig<br />

dem mentalen<br />

Modell<br />

entsprechend<br />

Nutzung/<br />

Interaktion –<br />

intuitiv und<br />

einfach<br />

Wahrnehmung<br />

(Erscheinungs-orientiert)<br />

bedeutungsvoll<br />

angenehm<br />

physisch,<br />

kognitiv,<br />

emotional<br />

Nutzung/<br />

Interaktion –<br />

explorativ,<br />

verspielt<br />

Das Modell, wie in Bild 2 dargestellt, beschreibt kreisförmig die Zusammensetzung der<br />

User Experience aus Produktperspektive anhand der drei Ebenen Utility, Usability und<br />

User Experience.<br />

Diese kreisförmige Ebenen-Darstellung sagt aus, dass die User Experience die zwei<br />

Konzepte Usability und Utility inkludiert und dadurch maßgeblich davon beeinflusst<br />

ist. Aus der Definition der Usability laut ISO 9242-11 schließt die Usability die Utility<br />

(Nützlichkeit) wiederum ein.<br />

Kern der User Experience stellt die Nützlichkeit (Utility) dar 5 . Diese beinhaltet die<br />

Grundidee oder auch den Kernnutzen des Produkts. Wenn der Nutzen eines Produkts<br />

für einen Nutzer nicht deutlich ist, also das Produkt dem Nutzer nach seiner oder<br />

ihrer Wahrnehmung kein Bedürfnis befriedigen kann, wird er oder sie nicht oder<br />

wenig motiviert sein, das Produkt zu nutzen. Die Nützlichkeit an sich beschreibt<br />

die wahrgenommene Zufriedenstellung eines Bedürfnisses. Die Usability, auch<br />

Gebrauchstauglichkeit oder umgangssprachlich Benutzbarkeit/Bedienbarkeit genannt,<br />

ermöglicht es, das Produkt zu nutzen und damit zu dem Kern, der Nützlichkeit, intui-<br />

Wahrnehmung<br />

(Charakter-fokussiert)<br />

Reaktionen<br />

Konsequenzen


Anmerkungen<br />

tiv und einfach zu gelangen. Die über eine reine Gebrauchstauglichkeit hinaus gehende<br />

User Experience hingegen macht die Produktnutzung erlebenswert und beinhaltet<br />

damit das Potenzial, dass das Produkt angenehm und bedeutungsvoll wahrgenommen<br />

wird.<br />

All diese Ebenen können mit produktspezifisch operationalisierten Einflussfaktoren<br />

hinterlegt werden und sowohl von einer Unternehmens- bzw. Produktentwicklungs-<br />

Seite als auch einer Nutzer-Seite betrachtet werden. Diese Seiten teilen das Kreismodell<br />

vertikal in zwei Hälften (vgl. Bild 2). Die Unternehmensseite beschreibt die Gestaltung<br />

positiver Erlebnisse durch funktionale und nicht-funktionale Produktqualitäten,<br />

welche durch Verantwortliche im Produktentwicklungsprozess festgelegt und umgesetzt<br />

werden. Das Beispiel im Modell verdeutlicht eine Rollenverteilung, bei welcher<br />

eine Person, oft der Produktmanager, die gesamte Produktverantwortung hat, und<br />

Designer und Ingenieure oder Informatiker die Produktanforderungen umsetzen. Das<br />

Modell verdeutlicht, dass eine enge Zusammenarbeit der verschiedenen Disziplinen<br />

von zentraler Bedeutung für die Gestaltung positiver Erlebnisse ist. Somit bildet<br />

eine respekt- und vertrauensvolle Zusammenarbeit von Design und Technologie die<br />

Voraussetzung zur Gestaltung einer positiven User Experience.<br />

1. Romero-Tejedor, F. (2010), S. 5 | 2. Vgl. Arnold et al. oder Kankainen and Korkeakoulu, 2002, S.12 | 3. DIN EN ISO 9241-210 (2010), S.7 | 4. Romero-Tejedor, F. (2003) | 5.<br />

Vgl. Nielsen (1993).<br />

Literatur<br />

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Möckel, P. und Schläffer, C. (2010). Applied Technology and Innovation Management. Springer-Verlag Berlin Heidelberg | Brave, S. und Nass, C. (2002). Emotion<br />

in human-computer interaction. The human-computer interaction handbook: fundamentals, evolving technologies and emerging applications, Lawrence Erlbaum<br />

Associates, Inc., Mahwah, NJ. | DIN EN ISO 9241-11 (1998). Ergonomische Anforderungen für Bürotätigkeiten mit Bildschirmgeräten - Teil 11: Anforderungen an die<br />

Gebrauchstauglichkeit; Leitsätze. Berlin: Beuth | DIN EN ISO 9241-110 (2006). Ergonomie der Mensch-System-Interaktion – Teil 110: Grundsätze der Dialoggestaltung.<br />

Berlin: Beuth | DIN EN ISO/FDIS 9241-210 (2010). Ergonomics of human-system interaction – Part 210: Human-centered design for interactive systems. International<br />

Organization for Standardization (ISO). Switzerland | Kankainen, A. und Korkeakoulu, H. T. (2002). Thinking model and tools for understanding user experience related<br />

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| Nielsen, J. (1993). Usability engineering. Morgan Kaufmann | Norman, D. (2002). Emotion & Design: attractive things work better. Interactions, S. 36 - 42 | Romero-<br />

Tejedor, Felicidad (2003). Ist Gestaltung lehrbar? In: ImpulsE. Aus Forschung und Lehre. 8. Jahrgang – November 2003. <strong>Fachhochschule</strong> <strong>Lübeck</strong> | Romero-Tejedor,<br />

Felicidad (2010). Kreativität. Kreativität? Kreativität! In: <strong>Öffnungszeiten</strong>. Papiere zur Designwissenschaft 24/2010. <strong>Fachhochschule</strong> <strong>Lübeck</strong> | Roto, V., Rantavuo, H., und<br />

Väänänen-Vainio-Mattila, K. (2009). Evaluating User Experience of Early Product Concepts. International Conference on Designing Pleasurable Products and Interfaces<br />

| Schmitt, B. (2003). Customer experience management: A revolutionary approach to connecting with your customers. John Wiley & Sons Inc. | Schulze, K. und Krömker,<br />

H. (2010). A Framework to Measure User Experience of Interactive Online Products. Proceedings of Measuring Behavior 2010, Eindhoven, S. 261 - 264 | Thüring, M. und<br />

Mahlke, S. (2007). Usability, aesthetics, and emotion in human-technology interaction. International Journal of Psychology, 42, S. <strong>25</strong>3 - 264 | Vredenburg, K., Mao, J.,<br />

Smith, P., und Carey, T. (2002). A survey of user-centered design practice. In Proceedings of the SIGCHI conference on Human factors in computing systems: Changing<br />

our world, changing ourselves, S. 471 - 478. ACM | Wright, P., McCarthy, J. und Meekison, L. Making sense of experience. In: Funology: From Usability to Enjoyment,<br />

edited by M.A. Blythe et al., 2003 (Kluwer Academic: Dordrecht).<br />

<strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong> 61


62 <strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong><br />

Das Unsichtbare sichtbar machen<br />

Acht Designprinzipien zur Unterstützung sozialer<br />

Awareness bei verteilter Zusammenarbeit<br />

Monique Janneck<br />

1. Einleitung<br />

Damit gemeinschaftliche Aktivitäten überhaupt stattfinden können, müssen die beteiligten<br />

Personen ein gemeinsames Verständnis ihrer Aufgaben und der dazugehörigen<br />

Rahmenbedingungen entwickeln. In der Face-to-Face-Zusammenarbeit ist dies typischerweise<br />

ein stark impliziter Prozess, der ein gewisses Maß an informeller und auch<br />

nonverbaler Interaktion enthält. Softwarewerkzeuge, die gemeinschaftliche Aktivitäten<br />

unterstützen, müssen dementsprechend Mechanismen bereitstellen, um eine solche<br />

Geschehenswahrnehmung – oder Awareness – zu ermöglichen: »Awareness is an understanding<br />

of the activities of others, which provides a context for your own activities« (Dourish &<br />

Bellotti, 1992, S. 107).<br />

Gemeinschaftliche Aktivitäten sind zwangsläufig soziale Aktivitäten. Forschung zu kooperativem<br />

Lernen und Arbeiten betont generell die Bedeutung sozialer Prozesse hinsichtlich der<br />

gemeinsamen Repräsentation und Generierung von Wissen. Häufig wird dabei auf konstruktivistische<br />

Theorien zurückgegriffen. Jedoch wurde eine naheliegende Quelle bislang in den<br />

Informatik- und Designwissenschaften eher selten angezapft: Nämlich sozialpsychologische<br />

Theorien und Erkenntnisse, die seit vielen Jahrzehnten das soziale Miteinander und Verhalten<br />

in Gruppen beleuchten (vgl. Kraut 2003).<br />

Um diese Lücke zu füllen, werden in diesem Beitrag exemplarisch sozialpsychologische<br />

Befunde für das Design von Awareness-Funktionalitäten in Kooperationssystemen herangezogen.<br />

Als theoretische Basis dienen hierzu zwei bekannte sozialpsychologische Konzepte:<br />

Die Bedeutung von Gruppenstrukturen und -beziehungen sowie das so genannte soziale<br />

Faulenzen.<br />

Abb. 1: Kommunikationsnetzwerke nach Leavitt (1951)


2. Sozialpsychologische Perspektiven auf Gruppenarbeit<br />

In den nachfolgenden Absätzen werden zwei ausgewählte sozialpsychologische Konzepte<br />

vorgestellt, die für verteilte Zusammenarbeit von Bedeutung sind. In Abschnitt 4 wird hierauf<br />

bei der Konzeption entsprechender Designprinzipien zurückgegriffen.<br />

Gruppenstrukturen und Beziehungen. Strukturen und Beziehungen innerhalb einer Gruppe<br />

beeinflussen deren Arbeitsweise und Erfolg maßgeblich. Gruppenstrukturen lassen sich<br />

als Kommunikationsnetze darstellen, anhand derer sich die zu erwartende Motivation und<br />

Produktivität bei verschiedenen Aufgaben charakterisieren lässt. In Abbildung 1 sind verschiedene<br />

Netzwerkstrukturen vereinfacht und typisiert dargestellt.<br />

Als wesentliches Bestimmungsstück gilt die Zentralität der Kommunikationsstrukturen.<br />

Stärker zentralisierte Kommunikationsstrukturen wie das »Rad«, bei denen zentrale<br />

Personen die Kommunikation und damit die Arbeitsteilung koordinieren, sind effektiver<br />

bei einfacheren Gruppenaufgaben, die im wesentlichen Informationssuche beinhalten.<br />

Bei komplexeren Aufgaben, bei denen die Gruppe einen stärkeren Ermessungsspielraum<br />

hat, sind weniger zentralisierte Kommunikationsstrukturen effektiver. Erst wenn sich eine<br />

Gruppe eingespielt hat, kann sie wieder von stärker zentralisierten Strukturen profitieren<br />

(Wilke und van Knippenberg, 1996). Zudem ist die Zufriedenheit der Teilnehmer in Gruppen<br />

mit dezentralisierten Strukturen größer als in zentralisierten Netzwerken: Hier zeigten sich<br />

v. a. die Personen an den zentralen Positionen, die somit den größten Einfluss ausüben<br />

konnten, am zufriedensten (Shaw, 1981). Das bedeutet, dass in Gruppen mit zentralisierten<br />

Kommunikationsstrukturen die Gefahr von Motivationsverlusten droht.<br />

Bei der Entwicklung von Gruppenstrukturen spielt die Verteilung bestimmter Aufgaben<br />

an entsprechend geeignet erscheinende Mitglieder eine entscheidende Rolle. Eine wichtige<br />

Funktion haben dabei die Gruppenleiter: Selbst in kleinen und informellen Gruppen<br />

übernehmen häufig bestimmte Personen Führungsrollen, auch wenn diese nicht explizit<br />

als solche benannt werden. Dabei lassen sich aufgabenorientierte und sozioemotionale<br />

Spezialisten (Wilke und van Knippenberg, 1996, S. 487ff.) unterscheiden, die mit den anderen<br />

Gruppenmitgliedern unterschiedlich interagieren: Sozioemotionale Spezialisten gehen auf<br />

andere Gruppenmitglieder ein, holen deren Meinung ein und erhalten in der Regel hohe<br />

Sympathiewerte. Die aufgabenorientierten Experten bringen sich koordinierend und strukturierend<br />

in die Aufgabenbearbeitung ein und werden häufiger um Rat gebeten. Sie werden für<br />

ihren Beitrag zur Aufgabenlösung geschätzt, erhalten jedoch meist weniger Sympathien.<br />

Rollenmuster entstehen nicht allein aufgrund der Initiative der jeweiligen Akteure, sondern<br />

auch aufgrund der Erwartungen der Gruppe: So werden Mitglieder je nach dem erwarteten<br />

Beitrag, den sie für die Gruppe leisten können, unterschiedlich häufig angesprochen und<br />

zur Mitarbeit aufgefordert oder motiviert. Neben den Fähigkeiten und Fertigkeiten der<br />

Gruppenmitglieder gehen auch diffusere Statusmerkmale wie Alter, Geschlecht, ethnische<br />

Zugehörigkeit u. ä. in diese Bewertung mit ein (Wilke und van Knippenberg, 1996).<br />

Natürlich können produktive Gruppenstrukturen und -beziehungen nicht durch eine<br />

Softwareunterstützung »hergestellt« oder gar erzwungen werden. Das Design einer<br />

Kooperationssoftware kann diese jedoch behindern oder unterstützen. Zudem können<br />

Awareness-Funktionen dazu beitragen, die Gruppenstrukturen überhaupt transparent zu<br />

machen und somit auch zu prüfen und zu hinterfragen.<br />

<strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong> 63


64 <strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong><br />

Soziales Faulenzen. Neben Gruppenmitgliedern, die besonders stark zur Gruppenleistung<br />

beitragen, gibt es auch solche, die sich aus der Arbeit heraushalten. Dies kann aus der<br />

Überzeugung erwachsen, der eigene Beitrag sei ohnehin überflüssig und wirke sich auf die<br />

Gruppenleistung nicht aus (»Trittbrettfahren«) oder aus der Annahme, der eigene Beitrag<br />

sei im Gesamtprodukt nicht identifizierbar und somit nicht zu bewerten (»soziales Faulen-<br />

zen«). Trittbrettfahren und soziales Faulenzen kann sich auf die Motivation der restlichen<br />

TeilnehmerInnen negativ auswirken. Dennoch sind Gruppen, die kooperativ zusammenarbeiten,<br />

insgesamt produktiver und zufriedener als solche, deren Mitglieder im Wettbewerb um<br />

identifizierbare Einzelleistungen stehen (Wilke und van Knippenberg, 1996).<br />

Auch bei computervermittelter Kommunikation, z. B. bei der gemeinsamen Nutzung von<br />

Webplattformen und Foren, spielen Trittbrettfahrer und soziale Faulenzer, hier oftmals als<br />

»lurker« (Nonnecke & Preece, 2000, 18) bezeichnet, eine große Rolle: In den meisten Online-<br />

Foren und Kommunikationsplattformen beteiligt sich nur ein sehr kleiner Teil der Nutzer<br />

aktiv, während die große Mehrheit passiv bleibt bzw. lediglich Beiträge rezipiert. Häufig ist<br />

es ein Anliegen der Betreiber solcher Foren, Intranets oder Kommunikationsplattformen,<br />

den Anteil der »Lurker« zu reduzieren und eine gleichmäßigere Beteiligungsstruktur zu erreichen.<br />

Der Anteil aktiver Nutzer gilt häufig quasi als Erfolgsmaßstab. Allerdings konnten<br />

Takahashi et al. (2003) zeigen, dass viele der scheinbaren »Faulenzer« durchaus einen wichtigen<br />

Beitrag zum Gelingen der Kommunikation leisten, indem sie Informationen aus einer<br />

Kommunikationsplattform heraus weitertragen und in anderen Kommunikationskontexten<br />

(auch offline) verwenden.<br />

Informationssuche und -austausch stellen typische Aktivitäten bei verteilter<br />

Zusammenarbeit dar. Jedoch hinterlässt z. B. der Download von Informationen aus einem<br />

gemeinsamen Workspace oder das Recherchieren nach Informationen weniger oder gar<br />

keine Spuren, die für andere Nutzer wahrnehmbar sind. Aus dieser Art von »unsichtbarer«<br />

Aktivität sichtbarere zu machen, die nichtsdestotrotz von hoher Bedeutung für die<br />

Zusammenarbeit ist und möglicherweise anderweitige, ggf. auch Offline-Aktivität erzeugt, ist<br />

eine wichtige Herausforderung beim Design von Awareness-Funktionalitäten.<br />

Soziales Faulenzen tritt besonders dann auf, wenn Personen den Eindruck erhalten, ihr eigener<br />

Beitrag sei im Gesamtwerk kaum zu identifizieren oder gar überflüssig und die fehlenden<br />

Beiträge würden somit kaum auffallen und ohne Konsequenzen bleiben. Umgekehrt kann<br />

soziales Faulenzen reduziert werden, wenn alle Gruppenmitglieder Verantwortung für das<br />

Gruppenergebnis übernehmen (müssen) und ihre individuellen Beiträge klar hervortreten.<br />

Hier kann das Design von Awareness-Funktionalitäten ansetzen, indem solche individuellen<br />

Beiträge sichtbarer und damit auch wertvoller gemacht werden.<br />

3. Repräsentation sozialer Aktivität<br />

Typische Awareness-Funktionen sind Benachrichtigungen über Ereignisse sowie Tracking-<br />

Mechanismen (»Wer ist online?«). Viele Kooperationssysteme unterstützen insbesondere<br />

aufgabenorientierte Awareness hinsichtlich der gemeinsamen Arbeitsaufgaben (z. B.<br />

Hervorhebungen und Benachrichtigungen über Änderungen an einem Dokument).<br />

Die Repräsentation sozialer Aktivitäten, die sich häufig in eher flüchtigen Interaktionen manifestieren<br />

(vergleichbar den »Kaffeepausen« bei der Offline-Aktivität) ist eine ungleich größere<br />

Herausforderung für Systemdesigner. Wie oben schon angesprochen, ist damit häufig verbunden,<br />

»unsichtbare« Aktivitäten wie das Durchstöbern und Suchen nach Informationen<br />

sichtbarer zu machen. Im Folgenden werden einige Ansätze hierzu dargestellt.


Soziale Aktivität kann auf drei verschiedene Weisen dargestellt werden: realistisch, mimetisch<br />

oder abstrakt (Erickson & Kellog, 2000). Realistische Darstellungen versuchen, soziale Aktivität<br />

direkt zu übertragen. Beispiele hierfür sind vor allem Tele- oder Videokonferenzsysteme.<br />

Allerdings sind mit dem Einsatz solcher Systeme hohe Kosten und Aufwände verbunden,<br />

und der Realismus der Darstellung wird z. B. durch eine geringe Auflösung beschränkt, wodurch<br />

Feinheiten der Mimik und Gestik nicht wahrnehmbar sind. Zudem ist der Einsatz in<br />

größeren Gruppen problematisch. Mimetische Ansätze versuchen, soziale Hinweise aus der<br />

physischen Welt so genau wie möglich digital nachzubilden, z. B. durch die Nachbildung realer<br />

Umgebungen oder den Einsatz von Avataren, die Mimik und Gestik der Nutzer stellvertretend<br />

ausführen, in graphischen Chat-Systemen oder VR- (Virtual Reality) Anwendungen.<br />

Auch hier wird jedoch die Genauigkeit der Darstellung durch die Auflösung begrenzt; und<br />

auch die Darstellung größerer Informationsmengen oder größerer Gruppen von Personen<br />

ist schwierig. Zudem erfordert eine mimetische Darstellung eine komplexe Gestaltung<br />

des User Interfaces mit entsprechenden Anforderungen an Prozessorleistung, Grafikkarte<br />

und Bildschirmauflösung. Abstrakte Darstellungen hingegen versuchen nicht, soziale<br />

Informationen möglichst wirklichkeitsnah abzubilden, sondern verwenden beispielsweise<br />

graphische, textuelle, numerische oder auch akustische Repräsentationen. Sie haben den<br />

Vorteil, vergleichsweise kompakte Darstellungen zu ermöglichen, die sich gut in bestehende<br />

User Interfaces integrieren lassen und auch größere Informationsmengen anzeigen können<br />

(Erickson & Kellog, 2000).<br />

Ein Beispiele für abstrakte Repräsentationen sozialer Aktivität bei synchroner<br />

Kommunikation ist Talking in Circles, ein Audiokonferenz-System, das zusätzlich graphische<br />

Darstellungen der Nutzer verwendet, um deren Teilnahme an bestimmten<br />

Gesprächsrunden sichtbar zu machen (Rodenstein & Donath, 2000). Die Teilnehmer, die<br />

durch farbige Kreise repräsentiert werden, müssen sich in »Hörweite« eines Sprechers befinden,<br />

um die Audioübertragung empfangen zu können. Auf diese Weise werden parallele<br />

Gesprächsrunden möglich, gleichzeitig ist für alle sichtbar, wer gerade spricht und welche<br />

anderen Teilnehmer sich an diesem Gespräch beteiligen.<br />

Perry & Donath (2004) verwenden anthropomorphe Darstellungen (»Strichmännchen«),<br />

um die Aktivität von Teilnehmer – z. B. in Diskussionsforen – über eine längere Zeitspanne<br />

hinweg abzubilden (Abbildung 2). Diese »Strichmännchen« sind beispielsweise größer und<br />

bunter, wenn sich die entsprechenden Nutzer aktiv beteiligen, und wirken nach einer längeren<br />

Phase der Inaktivität zunehmend blasser. Die Anzahl der Beiträge der Teilnehmer wird<br />

durch kleine Kästchen im »Bauch« der Figuren dargestellt (wobei nach unterschiedlichen<br />

Arten von Beiträgen unterschieden wird – etwa initiale Postings oder Antworten auf andere<br />

Beiträge), und der Gesichtsausdruck gibt Aufschluss über den emotionalen Tonfall der<br />

Beiträge, indem nach bestimmten – etwa »glücklichen«, »ängstlichen« oder »aggressiven«<br />

– Schlüsselwörtern in den Textbeiträgen der Teilnehmer gesucht wird. Die Vorteile einer<br />

solchen Darstellung sehen Perry und Donath (2004, S. 1115, eigene Übersetzung) darin, dass<br />

Abb. 2: Anthropomorphe Darstellungen von Aktivität<br />

(aus Perry & Donath, 2004, S. 1116), Screenshot<br />

<strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong> 65


Abb. 3:<br />

Visualisierung zweier unterschiedlich<br />

aktiver Gruppen mit PeopleGarden<br />

(aus Donath, 2002, S. 47), Screenshot<br />

66 <strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong><br />

den Nutzern »ein unmittelbares Gefühl darüber vermittelt wird, wie die Gruppe zusammengesetzt<br />

ist. Diese Art der Darstellung gibt zudem einen Eindruck über die Unterschiedlichkeit<br />

der Verhaltensweisen der Teilnehmer in der Vergangenheit«. Mögliche Probleme sehen sie<br />

selber darin, dass sich Nutzer falsch, irreführend oder gar karikiert dargestellt fühlen oder<br />

versuchen, die eigene Darstellung zu manipulieren, indem sie sinnlose Beiträge schreiben.<br />

PeopleGarden (Donath, 2002) stellt die Teilnehmer eines Message Boards als Blumen dar, die<br />

entsprechend ihrer Aktivität wachsen und gedeihen – oder auch nicht (Abbildung 3). Ein<br />

Message Board, dessen Teilnehmer nur wenig Aktivität entfalten, »sieht aus wie ein vernachlässigter<br />

Garten mit wenigen verstreuten Pflanzen […]. Die Visualisierung einer lebendigen,<br />

aktiven Gruppe wird einem gut gedeihenden Garten mit großen und kleinen Pflanzen, riesigen<br />

Blüten und kleinen Knospen gleichen« (Donath, 2002, S. 47, eigene Übersetzung).<br />

Den letzten beiden Beispielen ist gemein, dass sie bewusst keine neutrale Darstellung, sondern<br />

emotional ansprechende und sinnträchtige Visualisierungen sozialer Aktivität wählen.<br />

Donath (2002) argumentiert, dass eine völlig neutrale Darstellung ohnehin nicht möglich sei,<br />

da soziale Aktivitäten immer auch Wertungen seitens der jeweiligen Akteure hervorrufen.<br />

Sie plädiert daher dafür, Wissen über soziale Prozesse explizit in Repräsentationen sozialer<br />

Aktivität einzubeziehen und auf dieser Grundlage Designentscheidungen zu treffen.<br />

Social Navigation bezeichnet eine Art der Orientierung in Informationssystemen, die<br />

sich auf die Wahrnehmung von Aktivitäten anderer Nutzer stützen kann: Ähnlich wie<br />

ein Trampelpfad im Wald späteren Spaziergängern Aufschluss über mögliche Wege gibt,<br />

können auch digitale Systeme Spuren früherer Benutzer zeigen, die hilfreich für die eigenen<br />

Informationsbedürfnisse sind (Dieberger, Dourish, Höök, Resnick & Wexelblat, 2000).<br />

Wexelblat (1998, S. 359) spricht in diesem Zusammenhang auch von der Geschichte, die<br />

digitale Objekte transportieren (»history-rich tools«). Als Beispiele nennen die Autoren<br />

Empfehlungssysteme, die den Nutzern eine Produktauswahl erleichtern, indem sie auf<br />

der Basis der Kaufentscheidungen früherer Kunden eine Liste mit Vorschlägen generieren<br />

(»Kunden, die dieses Buch gekauft haben, haben auch die folgenden Bücher gekauft«) oder<br />

Bewertungssysteme, die etwas über die Glaubwürdigkeit einer Person aussagen, die eine<br />

Ware oder Informationen anbietet (z. B. bei dem Internetauktionsanbieter ebay). Social<br />

Navigation soll Nutzern das Herausfiltern relevanter Informationen erleichtern, die Qualität<br />

der aufgefundenen Informationen verbessern und Nutzern darüber hinaus ermöglichen,<br />

Informationssysteme mit zu gestalten, anstatt lediglich vorgegebenen Strukturen zu folgen.


Auch wenn sich die Nutzungsszenarien von Dieberger et al. (2000) eher mit individueller<br />

Nutzung insbesondere von Web-Ressourcen und weniger mit dediziert kooperativer<br />

Aktivität befassen, erhoffen sie sich von dem Ansatz der Social Navigation, »sozial entleerte<br />

Räume […] in menschlichere Umgebungen zu verwandeln« (Dieberger et al., 2000, S. 45,<br />

eigene Übersetzung).<br />

Als »sozial durchschaubar« (»socially translucent«) bezeichnen Erickson & Kellog (2000)<br />

Systeme, die sozial bedeutsame Hinweise sichtbar machen. So genannte »social proxies«<br />

bieten stellvertretend für die soziale Aktivität in der »realen Welt« eine minimalistische<br />

Darstellung der beteiligten Nutzer und ihrer Aktivitäten (Erickson u. a., 2002, S. 41). Ein<br />

Beispiel hierfür ist die Kommunikationsplattform Babble: Personen, die an der Chat-<br />

Kommunikation teilnehmen, werden als farbige Punkte innerhalb eines Kreises dargestellt,<br />

die sich in die Kreismitte bewegen, wenn sie aktiv an der Konversation teilnehmen, und nach<br />

längeren inaktiven Phasen zurück an den Rand wandern.<br />

Ein letzter Punkt, der hier angesprochen werden soll, betrifft die Frage, ob ohnehin »sichtbare«<br />

Aktivitäten – wie z. B. Änderungen an einem Dokument oder das Verfassen eines<br />

neuen Diskussionsbeitrags – zusätzlich hervorgehoben werden, oder ob an sich »unsichtbare«<br />

Aktivitäten, wie z. B. der lesende Zugriff auf ein Material oder die bloße Anwesenheit<br />

in einem gemeinsamen Arbeitsbereich, für die anderen Gruppenmitglieder wahrnehmbar<br />

gemacht werden sollen. Letzteres birgt in besonderem Maße die Gefahr, die Privatsphäre<br />

einzelner Benutzer zu verletzen, andererseits manifestieren sich gerade soziale Aktivitäten<br />

häufig in flüchtigeren Interaktionen, die keine konkreten Spuren im virtuellen Raum hinterlassen.<br />

Auch ist wie oben bereits angesprochen passives Verhalten (»lurking«) in virtuellen<br />

Gemeinschaften weitaus häufiger anzutreffen als aktive Beteiligung (Nonnecke &<br />

Preece, 2000). Im Kontext kooperativer Aktivitäten ist »passive Aktivität« (z. B. das Abrufen<br />

von Informationen, Herunterladen von Lernmaterialien etc.) oft Hauptbestandteil des<br />

Nutzungsszenarios, und dass diese nicht sichtbar wird, ist eine Quelle von Frustration bei der<br />

Nutzung (vgl. Janneck 2007).<br />

4. Designprinzipien zur Unterstützung sozialer Awareness<br />

Die sozialpsychologischen Ansätze, die in Abschnitt 2 vorgestellt wurden, können dazu dienen,<br />

existierende Systeme zu evaluieren und neue Ideen zur Visualisierung sozialer Prozesse<br />

zu entwickeln. In den folgenden Abschnitten werden acht bewusst prägnant und thesenhaft<br />

formulierte Designprinzipien dargestellt, die bei der Konzeption von Design beachtet werden<br />

sollten. Vier davon beziehen sich auf Gruppenstrukturen und -beziehungen, vier auf soziales<br />

Faulenzen.<br />

Gruppenstrukturen und -Beziehungen<br />

1. Kontrolle ermöglichen! Die Visualisierung sozialer Aktivitäten in einem gemeinsamen<br />

Kommunikationsraum ist unverzichtbar für die Entwicklung eines gemeinsamen<br />

Gruppenbewusstseins und zur Verdeutlichung von Gruppenstrukturen und -beziehungen.<br />

Dennoch müssen die Nutzer ein gewisses Maß an Kontrolle darüber behalten, welche ihrer<br />

Aktivitäten auf welche Weise anderen zugänglich gemacht werden. Transparenz hinsichtlich<br />

der Funktionsweise von Awarenessmechanismen ermöglicht es Nutzern, Informationen,<br />

die sie anderen nicht zugänglich machen wollen, für sich zu behalten – notfalls durch<br />

Vermeidung der entsprechenden Funktionalitäten.<br />

2. Keine Individualisierbarkeit von Awareness-Funktionen! Um Transparenz zu ermöglichen,<br />

sollten Awareness-Funktionen nicht individualisierbar sein.<br />

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68 <strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong><br />

3. Keine automatischen Interpretationen! Soziale Aktivitäten und Emotionen sollten erkennbar<br />

sein, aber nicht durch die Software selber interpretiert werden, da hierdurch die<br />

Selbstkontrolle der Nutzer in einem besonders sensiblen Bereich beeinträchtigt wird. Die<br />

Software suggeriert das Vorhandensein von emotionaler Kompetenz und Meta-Wissen<br />

über die soziale Struktur einer Gruppe, ohne die zugrundeliegende Vorstellungswelt der<br />

SoftwareentwicklerInnen offenzulegen. Die daraus resultierende Gestaltungsanforderung<br />

lässt sich mit Erickson (2003, S. 847) prägnant zusammenfassen: »Portray actions, not interpretation«.<br />

4. Keine Bewertung von Aktivitäten! Aus demselben Grund sollten wertend wirkende<br />

Darstellungen äußerst sparsam eingesetzt werden, auch wenn sie, wie die oben angeführten<br />

Beispiele zeigen, sehr kreative und lebendige Visualisierungen ermöglichen. Wertend<br />

wirkende Darstellungen wie der »vertrocknete Garten« oder der blasse, kümmerliche<br />

Anthropomorph bergen jedoch die Gefahr, demotivierend oder auch beleidigend auf die<br />

so dargestellten Nutzer zu wirken und im Sinne einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung<br />

die weitere Entwicklung der Nutzung eher zu behindern, denn zu befördern. Problematisch<br />

ist auch, dass der Kontext der jeweiligen Nutzung nicht berücksichtigt wird: Zwei Gruppen<br />

können sich hinsichtlich der Anzahl und Häufigkeit ihrer Postings auch deswegen unterscheiden,<br />

weil sie unterschiedliche Nutzungsanlässe und -konventionen etabliert haben,<br />

ohne dass hierdurch eine eindeutige Aussage über die Qualität der Interaktion möglich wäre.<br />

Dasselbe gilt für die Aktivität einzelner Nutzer: Möglicherweise wendet eine weniger aktivere<br />

Teilnehmerin sogar effizientere Strategien bei der Suche nach bestimmten Informationen<br />

an – für automatisierbare Anzeigen sind jedoch quantitative Informationen stets einfacher<br />

auszuwerten als qualitative.<br />

Soziales Faulenzen<br />

5. Das Unsichtbare sichtbar machen: Das Sichtbarmachen »passiver« Verhaltensweisen im<br />

System wie der lesende Zugriff auf Informationen ist wichtig, um deren Stellenwert in der<br />

Zusammenarbeit widerzuspiegeln. Dies stellt insbesondere bei asynchronen Werkzeugen eine<br />

Herausforderung dar, da hier z. B. Anwesenheitsanzeigen, die einen einfachen und schnellen<br />

Eindruck von der Präsenz anderer vermitteln, nicht sinnvoll sind. Eine detaillierte personenbezogene<br />

Navigations- und Aktivitätshistorie hingegen beansprucht in der Regel – gerade bei<br />

größeren Gruppen – viel Bildschirmplatz, Zeit und Aufmerksamkeit. Um ein schnelles, intuitives<br />

Erfassen der vorangegangenen Aktivität zu ermöglichen, empfiehlt sich die<br />

6. aggregierte Darstellung sensibler Informationen sowie lesender Zugriffe: Anstatt einer<br />

detaillierten, personalisierten Auflistung von Aktivität können potenziell sensible<br />

Informationen sowie lesende Zugriffe in aggregierter Form dargestellt werden (z. B. »10<br />

von <strong>25</strong> Mitgliedern waren in der vergangenen Woche eingeloggt« oder »5 von 10 Personen<br />

haben diesen Beitrag angeklickt«). Bildliche oder abstrakte Darstellungen sind dabei textuellen<br />

oder Zahlenangaben vorzuziehen, da sie intuitiver und mit weniger kognitivem<br />

Verarbeitungsaufwand zu erfassen sind, zudem hebt sich eine solche Darstellung klarer von<br />

den typischerweise textbasierten Beiträgen im System ab. Die Darstellung sollte jedoch wiederum<br />

möglichst neutral und nicht wertend sein.<br />

7. Keine anonymen Beiträge! Im Gegensatz zu »passiver« Beteiligung (Lesezugriff) sollten<br />

aktive Beiträge, also schreibende Zugriffe, jedoch nicht aggregiert, sondern personalisiert<br />

dargestellt werden, um individuelle Beiträge sichtbar und zurechenbar zu machen. Anonyme<br />

Beiträge sind daher in Kooperationssystemen nicht empfehlenswert.<br />

8. Sparsamer Einsatz von Benachrichtigungsmechanismen! Vor dem Hintergrund sozialen<br />

Faulenzens sowie der Feststellung, dass »passive« Verhaltensweisen wie das Lesen


Literatur<br />

von Beiträgen, das Herunterladen von Materialien oder das bloße Navigieren und<br />

»Herumstöbern« im gemeinsamen virtuellen Raum wichtige Aktivitäten darstellen, die für<br />

die Gruppe auch wahrnehmbar werden sollten, sind Benachrichtigungsmechanismen kritisch<br />

zu diskutieren. Diese bewirken in der Regel, dass die Nutzer erst recht keine aktive, sondern<br />

eine reaktive Nutzung entwickeln: Pointiert ausgedrückt, wird der gemeinsame Arbeitsraum<br />

nicht aus Interesse oder eigenem Antrieb aufgesucht, sondern erst nach Aufforderung durch<br />

das System, das hierfür quasi eine »Belohnung« in Form neuer Informationen in Aussicht<br />

stellt. Hierdurch wird sowohl die »passive« Aktivität anderer, die keine Benachrichtigung<br />

bewirkt, wiederum abgewertet als auch eine selektive Wahrnehmung der Gruppenaktivitäten<br />

gefördert, zumal die Nutzer in der Regel konfigurieren können, über welche Arten<br />

von Ereignissen sie informiert werden möchten. Dies ist gegenüber dem Vorteil von<br />

Benachrichtigungsdiensten, schnell, zeitsparend und bequem über neue Beiträge informiert<br />

zu werden, sorgfältig abzuwägen.<br />

5. Fazit<br />

Wenn Menschen zusammenarbeiten, werden der Erfolg und das Ergebnis der<br />

Zusammenarbeit quasi zwangsläufig von der sozialen Dynamik in der Gruppe beeinflusst. Die<br />

Sozialpsychologie bietet erprobte Erklärungsansätze hinsichtlich der Interaktion in und zwischen<br />

Gruppen. In diesem Beitrag wurde anhand des Designs von Awarenessfunktionalitäten<br />

in Koperationssystemen exemplarisch aufgezeigt, wie sich Systemdesigner dieses Wissen<br />

zu Nutze machen können. Hierzu wurden acht prägnante Thesen zu entsprechenden<br />

Designprinzipien aufgestellt. Diese Prinzipien wurden bereits mit Erfolg erprobt: Die<br />

Ergebnisse sind z. B. bei Janneck (2010) nachzulesen. Eine detaillierte Darstellung der hier<br />

diskutierten Gedanken findet sich bei Janneck (2007).<br />

-<br />

Dieberger, A., Dourish, P., K. Hoek, K., Resnick, P., Wexelblat, A.: Social<br />

Navigation: Techniques for Building More Usable Systems. Interactions, 7, 6, 36-45,<br />

(2000) | Donath, J.: A Semantic Approach to Visualizing Online Conversations.<br />

Communications of the ACM, 45, 4, 45-49 (2002) | Dourish, P., Bellotti, V.:<br />

Awareness and coordination in shared workspaces. In Proceedings of the 1992<br />

ACM Conference on Computer-Supported Cooperative Work, ACM Press, 107-<br />

114 (1992) | Erickson, T.: Designing Visualizations of Social Activity: Six Claims.<br />

In Conference on Human Factors in Computing Systems - CHI ’03, ACM Press,<br />

846-847 (2003) | Erickson, T., Halverson, C., Kellogg, W.A., Laff, M., Wolf, T.:<br />

Social Translucence: Designing Social Infrastructures that Make Collective Activity<br />

Visible. Communications of the ACM, 45, 4, 40-44 (2002) | Erickson, T., Kellog,<br />

W.A.: Social Translucence: An Approach to Designing Systems that Support<br />

Social Processes. ACM Transactions on Computer-Human Interaction, 7, 1, 59-83<br />

(2000) | Janneck, M.: Quadratische Kommunikation im Netz: Gruppeninteraktion<br />

und das Design von CSCL-Systemen. Lohmar: Eul (2007) | Janneck, M.: Making<br />

the Invisible Visible: Design Guidelines for Supporting Social Awareness in<br />

Distributed Collaboration. In: Cordeiro, J., Filipe, J. (eds.): WEBIST 2010. Lecture<br />

Notes in Business Information Processing 45. Berlin: Springer, pp. 185-197 (2010)<br />

| Kraut, R.: Applying Social Psychological Theory to the Problems of Group<br />

Work. In Carroll, J.M. (ed): HCI Models, Theories, and Frameworks. Toward a<br />

Multidisciplinary Science. Morgan Kaufman, San Francisco, USA, 3<strong>25</strong>-356 (2003) |<br />

Leavitt, H.J.: Some effects of certain communications patterns on group performance.<br />

Journal of Abnormal and Social Psychology, 46, 38-50 (1951) | Nonnecke,<br />

B., Preece, J.: Lurker demographics: Counting the silent. In Proceedings of the<br />

SIGCHI conference on human factors in computing systems, The Hague, The<br />

Netherlands, ACM Press, 73-80 (2000) | Perry, E., Donath, J.: Anthropomorphic<br />

Visualizations: A New Approach for Depicting Participants in Online Spaces. In<br />

Conference on Human Factors in Computing Systems - CHI ’04, ACM Press, 1115-<br />

1118 (2004) | Rodenstein, R., Donath, J.: Talking in Circles: Designing A Spatially-<br />

Grounded Audioconferencing Environment. In Conference on Human Factors<br />

in Computing Systems - CHI ’00, ACM Press, 81-88 (2000) | Shaw, M. E.: Group<br />

dynamics: the social psychology of small group behavior. 3rd edition. New York:<br />

McGraw-Hill (1981) | Takahashi, M., Fujimoto, M. Yamasaki, N.: The Active<br />

Lurker: Influence of an Inhouse Online Community on its Outside Environment.<br />

In M. Pendergast, K. Schmidt, C. Simone und M. Tremaine, Proceedings of<br />

GROUP ’03, ACM Press, 1-10 (2003) | Wexelblat, A.: History-Rich Tools for Social<br />

Navigation. In Conference on Human Factors in Computing Systems – CHI ’98,<br />

ACM Press, 359-360 (1998) | Wilke, H., Knippenberg, A. van: Gruppenleistung.<br />

In: Stroebe, W., Hewstone, M., Stepehenson, G. M. (Hrsg.): Sozialpsychologie. 3.,<br />

erweiterte und überarbeitete Auflage. Berlin u. a.: Springer (1996)<br />

<strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong> 69


70 <strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong><br />

June H. Park<br />

Designpädagogik<br />

Eine Skizze<br />

Der theoretisierende Zugang hat die Entstehung und Entwicklung des Designs kontinuierlich<br />

begleitet und bislang zu zwei Hauptausrichtungen in der Theorielandschaft<br />

des Designs geführt. Die eine ist die utilitaristische Ausrichtung wie Ergonomie,<br />

Wahrnehmungspsychologie, Produktsemantik, Usability u. a.; die andere die geisteswissenschaftliche<br />

wie Ästhetik, Kulturwissenschaft, Medientheorie u. a. In jüngster Zeit<br />

lässt sich beobachten, dass das Thema Design im Curriculum der kunstpädagogischen<br />

Studiengänge eine zunehmende Rolle spielt und vor allem auch der pädagogische<br />

Aspekt des Designs im Unterschied zu dem der Kunst Forschungsthema geworden ist. 1<br />

Diese Tendenz ist nahe liegend, hat doch die wirtschaftliche und kulturelle Bedeutung<br />

des Designs allgemein rapide zugenommen. Gestaltete Produkte sind längst nicht<br />

bloß Träger von praktischen Funktionen und Medien nicht allein Mittler von Informationen.<br />

Beide, Produkte und Medien, sind Ausdruck von und Projektionsfläche für<br />

individuelle oder kollektive Selbstbilder, Wünsche, Hoffnungen und Emotionen. Die<br />

soziale und kulturelle Distinktion oder zumindest die authentisch gelebte Identitätssuche<br />

und Differenzierungsstrategien mittels Kultobjekten aller Art rücken nicht nur<br />

die Designprodukte, sondern auch das Wesen des Designs ins Blickfeld von Pädagogen.<br />

Nach der z. T. ideologisch gefärbten Kritik gegenüber Design in den 70er Jahren ist inzwischen<br />

offenbar die Bereitschaft gestiegen, sich sachlich und konstruktiv mit Design<br />

als Instrument des Kulturwandels zu befassen. Das ist erfreulich und auch notwendig.<br />

Dabei sollten die pädagogischen Aspekte des Designs im Rahmen designwissenschaftlicher<br />

Diskussion nicht als Randerscheinung oder sogar als Fremdkörper, sondern als<br />

integraler Teil der Designwissenschaft behandelt werden. Sonst würde man Gefahr<br />

laufen, in die gleiche Entfremdungssituation zu geraten, wie zwischen Kunst und<br />

Kunstpädagogik zu beobachten war. 2<br />

Design als Schulfach<br />

Es gibt eine ganze Reihe von Fächern oder zumindest Themen, die flächendeckend in<br />

den Grund- und weiterführenden Schulen angeboten werden sollten, z. B. Wirtschaft,<br />

Elternsein, Glück und Zufriedenheit, Nachhaltigkeit, Konfliktursachen und -bewältigung<br />

etc. Diese Inhalte hätten den Rang einer grundlegenden Kulturtechnik wie die<br />

des Lesens, des Schreibens und des Rechnens, weil sie einen Menschen lebenslang<br />

begleiten. Dazu würde ich auch Design zählen, genauer formuliert das Wesen des Designs.<br />

Design als Unterrichtsthema ist vielen aus der Schulzeit noch in Erinnerung. Es<br />

wurde zumeist in ein paar Stunden innerhalb des Kunstunterrichts abgehandelt. Die<br />

Einbettung des Designs im Kunstunterricht war und ist noch immer insofern folgerichtig,<br />

weil die Vorstellung über das Design als »angewandte« Kunst, eine Art niedere<br />

Form der »freien« Kunst, weit verbreitet ist. Außerdem bieten die curricularen Rahmenrichtlinien<br />

der Kultusministerien der meisten Länder keine Möglichkeit, Design<br />

als eingeständiges Thema neben der Kunst zu unterrichten. Die engagierten Integrati-


onsbemühungen, Design als Schulfach zu etablieren, sind jedoch in ihrer Gesamtheit<br />

zu zaghaft und von geringem Gewicht, als dass sie bildungspolitisch wahrgenommen<br />

werden könnten. 3 Auch institutionelle Hemmnisse der Schule und nicht zuletzt subjektive<br />

Geschmacksurteile der Lehrerschaft tragen dazu bei, dass Design als schulisches<br />

Thema eher rückgewandt vorgetragen wird und auf diese Weise sogar inspirationshemmend<br />

wirkt. 4 Wenn ein Unterrichtskonzept über Design etwas aufwiese, was ein<br />

Kunstunterricht nicht bieten kann und auch vom Werkunterricht (gestaltendes und<br />

textiles Werken) nicht abgedeckt wird, so müsste dieses Etwas klar benannt und dessen<br />

originäre Bedeutsamkeit aufgezeigt werden können. Dem gilt in Folgendem die<br />

Aufmerksamkeit.<br />

Derzeit kennt die Schule zwei Fächer ästhetisch-kultureller Prägung: Kunst und Werken.<br />

Diese leisten unterschiedliche Beiträge zur Bildung von Kindern und Jugendlichen.<br />

Der Bildungsbeitrag der Kunst liegt in der Förderung der Persönlichkeitsentwicklung<br />

durch die Auseinandersetzung mit Bildern, konkrete wie auch Vorstellungsbildern,<br />

und das Erproben der verschiedenen Ausdrucksformen zur Herstellung der Bilder. Der<br />

Bildungsbeitrag des Werkens hingegen konzentriert sich auf die stoffliche Seite und<br />

behandelt die Werkstoffe und deren Bearbeitungsweisen, um Gestaltungskompetenz<br />

zu fördern. Darin sind in der Tat die meisten und prominenten Seiten des Designs aus<br />

der alltagskulturellen Perspektive enthalten. Um in diesem Kontext den Bildungsbeitrag<br />

von Design zu isolieren, müssen wir die wahrnehmbare Schicht des Designs ganz<br />

durchdringen und bis in den Kern des Entwurfs vordringen. Für das Wesen des Designs<br />

ist nicht allein das für den Wahrnehmungsraum bestimmte Zeichen (designatus),<br />

sondern vielmehr das in den Möglichkeitsraum Entworfene (proiectus) maßgeblich. 5<br />

Design als Projekt, in dem das Unsichtbare, Unverständliche oder Unannehmbare in<br />

der Gegenwart für die Zukunft sichtbar, verstehbar bzw. annehmbar gemacht wird:<br />

Design als Bestimmung der Kontingenz. Der Bildungsbeitrag des Designs besteht<br />

darin, durch die Auseinandersetzung mit Entwurf und dessen Anschlussfähigkeit an<br />

mögliche Zukünfte Innovationskompetenz als Kulturtechnik zu entwickeln und zu<br />

stabilisieren. Zusammenfassend lässt sich der Bildungsbeitrag von Kunst, Werken und<br />

Design wie folgt darstellen:<br />

Fächer Gegenstand Attribut Ziel<br />

Kunst Bild Ausdrucksformen Persönlichkeitsentwicklung<br />

Werken Werkstoff Bearbeitungsweisen Gestaltungskompetenz<br />

Design Entwurf Anschlussfähigkeit Innovationskompetenz<br />

Der Bildungsauftrag des Designs betrifft nicht primär die ästhetisch-bildnerische Seite<br />

der Kunst oder die haptisch-materielle Seite des Werkens, sondern vielmehr die ideellkonzeptionelle<br />

Seite der Kultur. Darin ist das Originäre des Designs begründet. Es geht<br />

dabei um nichts weniger als um Design der Kultur und um Lebensentwürfe. Spätestens<br />

an dieser Stelle wird der Wert des Designs als eigenständiges Unterrichtsthema<br />

deutlich, das sich von der Kunst losgelöst eigenständige Beiträge leisten kann. Die<br />

Implementierung des Themas Design in diesem Sinne in den Schulalltag verlangt demnach<br />

auch eine besondere Vorgehensweise. Möglicherweise könnte das Fach Design<br />

als ein Querschnittfach eingeführt werden, das im Konzept eines Fächertandems mit<br />

anderen Fächern wie Sachunterricht, Sport, Musik oder auch Kunst projektartige<br />

Experimente, Erkundungen und Erfindungen zum Ziel hätte. In einer solchen Lernumgebung<br />

ginge es mit viel Phantasie und Freiraum darum, Innovationen zu denken,<br />

zu formulieren und darzustellen; den Kindern und Jugendlichen die Freude und das<br />

Selbstvertrauen erlebbar zu machen, dass sie ihre Welt verändern können.<br />

<strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong> 71


72 <strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong><br />

Erzieherische Momente des Designs<br />

Die durch Design zu erwerbende Innovationskompetenz wäre keine Fertigkeit, die<br />

mühsam durch wiederholte Übungen angeeignet werden muss, sondern entspräche<br />

einem tief verwurzelten und gerade im Kindesalter leicht sensibilisierbaren Formungsbedürfnis,<br />

das zur Kulturtechnik des Entwickelns und Bewältigens von Zukünften<br />

fortentwickelt werden kann. Darin liegen die erzieherischen Momente des Designs.<br />

Diese sind insbesondere:<br />

1. Distanzierung vom Ich: empathisches Moment<br />

Im Gegensatz zu Kunst, die von Ausnahmen abgesehen vorwiegend eine subjektzentrierte<br />

Auffassung des künstlerischen Tuns propagiert, liegt es im Wesen des Designs,<br />

die Entwurfsarbeit stets für andere, nämlich die Anwender der Produkte oder Medien<br />

auszurichten. Damit verbunden ist die intensive Auseinandersetzung mit Wünschen<br />

und Bedürfnissen der anderen. Das Sich-in-den-anderen-hinein-versetzen ist ein wichtiges<br />

erzieherisches Moment des Designs. Dabei wird die Sozialkompetenz mit der<br />

Kreativität einander verstärkend gekoppelt.<br />

2. Distanzierung vom Jetzt: antizipatorisches Moment<br />

Der Designprozess zielt auf eine Lösung von gegenwärtigen Problemen, indem die<br />

gegenwärtige Situation in verschiedenen Variationen in die Zukunft projiziert und<br />

soweit möglich prototypisch erprobt wird. Die Entwicklungsarbeit mit Szenarien von<br />

möglichen Zukünften birgt ein enormes erzieherisches Potenzial, weil hier das Phantastische<br />

und das Vorausschauende mit der Gegenwart in Verbindung gebracht werden.<br />

3. Distanzierung vom Hier: utopisches Moment<br />

Ungewohnte Aufgaben erfordern einen ungewohnten bis hin zum radikalen Umgang.<br />

Dabei hilft die radikale Kreativität im Designprozess, sich vom Gewohnten loszulösen<br />

bzw. sich mental an einen konventionsfreien Ort zu begeben, um neue Ideen zu generieren<br />

und ihnen vorurteilslos zu begegnen. Die Virtual Reality z. B. gibt Einblick in<br />

neue Interpretationen von Ort und Raum, die gerade wegen ihrer deutlichen Abweichung<br />

von der physischen Welt von großer Bedeutung sind. Auch die soziale Beziehungslandschaft<br />

und das kommunikative Umfeld können durch radikale Kreativität<br />

utopisch angedacht und visionär entwickelt werden.<br />

Warum Designpädagogik?<br />

Ein Wissenschaftler am Xerox Park soll einmal folgendes gesagt haben: design =<br />

moving minds, engineering = moving atoms. Diese Formel für Design, die ich atemberaubend<br />

einfach und genial finde, wäre bestens geeignet für eine Kinderuni. Mehr<br />

noch: diese Formel lässt manche vergangene und aktuelle Diskussionen um Designtheorie,<br />

-forschung und -wissenschaft übertrieben, umständlich und gelegentlich sogar<br />

überflüssig erscheinen. Ich möchte die schlichte Eindringlichkeit dieser Definition des<br />

Designs zum Vorbild nehmen und auf die Frage: »Warum Designpädagogik?« die<br />

folgende Antwort geben:<br />

Designpädagogik befähigt Kinder und Jugendliche, Forscher ihrer eigenen Lebenswelt<br />

und Entwickler ihrer eigenen Zukunft zu werden.


Anmerkungen<br />

1. So z. B. Pädagogische Hochschule Wien;<br />

Universität für angewandte Künste Wien, Institut<br />

für Kunstwissenschaften; Universität Vechta.<br />

Vgl. auch laufende Promotionsvorhaben an der<br />

Universität Oldenburg und Universität Leipzig |<br />

2. Vgl. die Publikation Kunst lehren? Künstlerische<br />

Kompetenz und kunstpädagogische Prozesse -<br />

Neue subjektorientierte Ansätze in der Kunst und<br />

Kunstpädagogik in Deutschland und Europa, hrg.<br />

von der Internationalen Gesellschaft der Bildenden<br />

Künste (IGBK)/Joachim Kettel, Stuttgart: Radius<br />

Verlag, 1998 | 3. Vgl. Komar, Reinhard: design<br />

curricular. Einführung Designpädagogik: Design<br />

als Schul- und Hochschulfach. Siehe auch Carius,<br />

Carl-Eckard: Design-Initiative-Schule, Position zur<br />

Neudefinition des Schulfaches Gestaltendes Werken<br />

(GW) | 4. Vgl. Meinel, Roland: »Von Macht,<br />

Ohnmacht und heilsamem Chaos - Möglichkeiten<br />

und Grenzen von Designpädagogik« | 5. Vgl. Flusser,<br />

Vilém: »Design: Hindernis zum Abräumen von<br />

Hindernissen?«, S. 4-5.<br />

Literatur<br />

Carius, Carl-Eckard, Design-Initiative-Schule, Position<br />

zur Neudefinition des Schulfaches Gestaltendes<br />

Werken (GW), Vechta 2006 | Flusser, Vilém, Design:<br />

Hindernis zum Abräumen von Hindernissen?, in:<br />

Design Report Nr. 9/1989, S. 4-5 | Komar, Reinhard,<br />

design curricular. Einführung Designpädagogik:<br />

Design als Schul- und Hochschulfach, Oldenburg, dbv<br />

Deutscher Buchverlag 2009, 3. Aufl., | Internationale<br />

Gesellschaft der Bildenden Künste (IGBK)/<br />

Joachim Kettel, Hg., Kunst lehren? Künstlerische<br />

Kompetenz und kunstpädagogische Prozesse -<br />

Neue subjektorientierte Ansätze in der Kunst und<br />

Kunstpädagogik in Deutschland und Europa,<br />

Stuttgart, Radius Verlag 1998 | Meinel, Roland,<br />

»Von Macht, Ohnmacht und heilsamem Chaos -<br />

Möglichkeiten und Grenzen von Designpädagogik«,<br />

in: Sachen machen - Kinder und Jugendliche als<br />

Designer, Ein Kinderkulturprojekt von Quartier e. V.,<br />

Unna: LKD Verlag 2001 | Park, June H., Design als<br />

Sinnkonstruktion - Eine systemtheoretische Skizze des<br />

Design; ein Beitrag zur Kunst- und Medienwissenschaft,<br />

Dissertation, Braunschweig 1995.<br />

<strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong> 73


Mit 304 Stundenkilometern durch zeitlose Räume:<br />

»Quer durch Spanien«, August <strong>2011</strong><br />

(128 Fotos aus dem AVE: H. van den Boom)<br />

74 <strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong>


<strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong> 75


An den Grenzen des Wissens<br />

Über die ästhetische Dimension explorativen Verhaltens<br />

– Teil 2: Verallgemeinerung und einige Konsequenzen<br />

Wiederaufnahme<br />

76 <strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong><br />

Detlev Nothnagel<br />

»Was wir als Schönheit hier empfunden, wird einst als Wahrheit uns entgegen geh en.«<br />

(Friedrich Schiller 2005, S. 202)<br />

Wie im ersten Teil vornehmlich anhand der Physik gezeigt wurde, verweisen wesentlich<br />

sinnlich gebundene Vorstellungen der Sym metrie, Ein fach heit und Zwangsläufigkeit in explorativen<br />

Kon texten auf »Ordnun gen« des Über gangs, die »Unverfügbares in Er schei nung«<br />

bringen. Es kann auf äs the ti sche Weise etwas ge wusst bzw. wahr genommen werden, was<br />

pro positionalem, »logischem« Den ken zunächst ver bor gen blei ben muss. Dieses ästhetische<br />

Gefühl für Evidenz soll im zweiten Zu griff zunächst im Umfeld kognitionswissenschaftliche<br />

Parameter genauer verstanden werden, bevor es schließlich um eine Erweiterung der<br />

Perspektive geht, die auch einige Überlegungen speziell zum Design anbietet.<br />

Über das »sinnliche Scheinen von Ideen«:<br />

Die epistemologische Ebene vorsprachlichen Denkens<br />

Die Bestimmung der phänomenalen Eigenschaften, die der Ästhetik in der Na turwissenschaft<br />

zu ge rechnet werden, und die Klärung einiger kommunikationswissenschaftlicher Aspekte<br />

ästhe ti scher Prozesse erlaubt keine Aussage über ihre kognitiven Charakteristika. Den noch<br />

wurden ei ni ge Hin weise deutlich, und so kann es nicht erstaunen, dass ein ent schei dender<br />

Hinweis, der die Dis kus sion kognitiver Qualitäten ästhetischer Evidenz auf den Punkt bringt,<br />

auf den Kom mu ni ka tions wis sen schaft ler Bateson (1991, S. 227; Hervorheb. D.N.) zu rück geht,<br />

der fol gende Frage stellt: »What if ›Truth‹ in some larger, and for us, overriding sense is in formation<br />

not about what we per ceive … but about the process of per ception?« Batesons vorsichtig<br />

formu lierter Befund stellt die pro zeduralen, wahrnehmungsnahen Eigenschaften des<br />

Denkens in den Vorder grund, die im Laufe der Über le gungen bereits verschiedentlich angesprochen<br />

worden sind und z. B. in der volks tüm lichen Be zeichnung »Gedankengang« Spuren<br />

hinterlassen haben. Proze du ra les Den ken lässt sich im Tab leau gängiger Begrifflichkeit idealtypisch<br />

von anderen Kogni tions ar ten unter schei den. Es ist an Handlungs- und Verhaltenskontexte<br />

gebunden und da mit nur in ge rin gem Maße ein fachen Weisen der Abstraktion


zugäng lich. Die Schwierig keiten im Umgang mit Ge brauchsanwei sungen sind dafür ebenso<br />

Beleg wie die relative Mühsal und Begren zung, der das Lernen von Fremd spra ch en aus gesetzt<br />

ist, sofern es auf Lehrbücher be schränkt bleibt. Das Aus maß an prozedu ra lem Wis sen<br />

un ter scheidet deshalb Ex perten von Novi zen 1 , wobei erstere kom plexe Wis sensbe stän de zu<br />

über ge ord net en Ausdrücken – »Gedanken gängen« – zusammen fassen (»chun king«), die<br />

die ein zel nen Kom po nen ten zugunsten eines über grei fen den formalen Ausdrucks in den Hinter<br />

grund treten lassen. Das Autofahren bietet dafür ebenso ein Bei spiel wie der Meister, der<br />

den Zu stand ei nes gegossenen oder geschmiedeten Werk stücks anhand seines Klangs sicher<br />

beurteilt. Da bei gibt es Hinweise aus der Psychologie, dass die Geschwindigkeit, mit der komplexe<br />

(mul ti mo dale) Zu sam men hänge kog nitiv verarbeitet werden, mit der Zuschreibung<br />

ästhetischer Qualitäten gekoppelt ist (Re ber et al. 2004).<br />

Ästhetik als Ausdruck eines vielfältigen Feldes der Übersetzung, der individuelle<br />

Kognitionsakte als Passung mit einer ge stal teten Umwelt und Anlaß für eine intersubjektive<br />

Gemeinschafts bil dung ins Werk setzt, erweist sich derart als ein doppelter »mental<br />

blend« (z. B. Fauconnier 1997). Er ist im vorlie genden Fall besonders für ein systematisches<br />

Übersetzungsfeld inter essant. Denn pro ze du rales Wis sen – dies deuten die Beispiele<br />

an – erschöpft sich nicht in der Ad dition sei ner kon sti tu tiven Ele mente. Häufig ist dieser<br />

Wissensform ein überge ordneter Aus druck zugeord net, der sinn liche und emotio nale<br />

Qualitäten anspricht. Die Lektüre eines Buches oder das Be trachten eines Bil des ver mittelt<br />

ein Gefühl von Schönheit oder nicht; das Navigieren in schwie rigem Ter rain wird von dem<br />

Ge fühl begleitet, auf dem richtigen Weg zu sein, oder umge kehrt von der Ah nung, hier<br />

stimmt etwas nicht. Diese Zusammenfassung von verhaltens- und hand lungsspe zifi sch em<br />

Wissen zu überge ordneten Aus drücken ist auch dafür verantwortlich, dass man das Ge fühl<br />

ha ben kann, etwas ge wusst zu ha ben oder – um ge kehrt – die Gewissheit, nicht alles zu wissen.<br />

In prospekti ver Hinsicht ist dieser Aspekt eine Vor aus setzung für Kreativität, in der »lang<br />

fort ge setzte unbewusste Arbeit«, die in modernen Krea ti vi täts theo rien als Inkubations phase<br />

beschrie ben wird 2 , zum Ausdruck kommt – so auch in ma the ma ti schen Um feldern. Sinnlich<br />

keit und Emo tion kehren in den Bereich der Kog nition zurück 3 . Perzep tion und Kon zeption<br />

kop peln (Bateson 1991, S. 207) und verschaffen sich in folgender Weise Aus druck:<br />

»Ganz wie eine che mi sche Verbin dung ruht auch die Form auf einem Spannungsverhältnis<br />

un ter ihren Ele men ten, und in solcher Spannung ist ein zeitliches, ein proze dierendes<br />

Element ver bor gen.« (Cra mer/Kaem pfer 1992, S. 132)<br />

Oder all ge mei ner mit Bateson (1982, S. 16) selbst ausge drückt: »Mit Äs thetik mei ne ich<br />

Auf merk sam keit für das Mus ter, das verbin det.« 4 Diese Form der »Zu sam men schau« ist von<br />

unmit telbarer alltags welt licher Bedeutung und hat die Menschheit seit ihrer Ge nese begleitet,<br />

so dass sich Mus terbildung und Reduktion von Komplexität, die mit ihr einhergeht,<br />

auch als we sent liche Auf gabe des Designs verstehen lässt 5 . Musterbildungsprozesse, in die<br />

Form ein ge schriebene Sinn an gebote sind Vor aus setzung für die Er fah rung nicht-pro po sitionaler<br />

Evidenzen, denn es fällt ge mein hin schwer, die Ein drücke und »Ent schei dun gen«, die<br />

mit ihr verbunden sind, ex plizit im Um feld satz ar ti ger Aus sagen zu be grün den.<br />

Neben die perzeptive Gebundenheit ästhetischer Kognition wird gemeinhin (Welsch 1996,<br />

S. 26; s. a. Ciompi 1992, S. 398 oder Huber 2007) ihre emotional-sinnliche Qualität gestellt.<br />

Auch dieser Aspekt ist im gegebenen Umfeld, so wurde deutlich, nachhaltig präsent.<br />

Von besonderer Bedeutung ist die Erfahrungsgebundenheit prozeduralen Wissens. Es ist an<br />

kon krete Umstände geknüpft, die ihrerseits einen kombinatorischen, zeitlich gegliederten<br />

Kon text ins Werk setzen. Damit ist ein Feld gegeben, in dem sich auf komplexe Weise Er fahrun<br />

gen mit emer genten Potenzialen relationaler Umfelder mischen. Dies nimmt die diskutierten<br />

Eigen schaf ten der Äs thetik auf, die u. a. auf dem Überschuss von Bedeutung in relationa-<br />

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len Umfel dern be ruht. Dar über hinaus impliziert prozedurales Wissen einen Aspekt, der weniger<br />

davon be stimmt ist, »was ist«, sondern vielmehr an die Frage anknüpft »wie etwas ist« 6 .<br />

Komplexe Relationen, die in pro ze du ralem Wissen Ausdruck finden, verfügen über einen<br />

formalen Aspekt, der in die Ad dition ein zel ner Se quenzen einzutragen ist. Form bezeichnet<br />

also in diesem Zusammenhang über ge ordnete Qua litäten. Im Gegensatz zu pro positionalen<br />

Aussagen ist die Information, die relatio nale Formen auf dieser Ebene beinhal ten, zugleich<br />

globaler wie entscheidend unprä ziser, und es kann nicht über raschen, wenn damit eine<br />

Vermittlung zwischen Denken und Wahr nehmen, An mutung und Wis sen gegeben ist, denn:<br />

»Form ist zunächst einmal weder richtig noch falsch, sie gefällt ei nem vielmehr oder nicht.«<br />

(Fischer 1997, S. 11) 7 Diesem Sachverhalt entspricht die semiotische Ebene äs theti scher<br />

»Konzep te« in den Natur wissenschaften, die auf die Vermittlung zwischen iko nischen und<br />

kon ven tio nel len, d. h. in dieser Notationsweise symbolischen Bedeutungsweisen ver weist.<br />

Auch die se Ebene prozeduralen Wis sens knüpft an Aspekte traditioneller Ästhetikdefinitionen<br />

an, die sich um Begriffe wie Ge schmack etc. gruppieren. Sinnlichkeit wird auf diesem<br />

Wege nicht nur zu einem be deu ten den Be standteil von Kognition, sondern es wird erneut<br />

deut lich, dass es Formen des Wis sens gibt, die dem proposi tionalen Zugriff größtenteils<br />

entzogen sind. Anders gesagt: Die Kom ple xi tät und Spe zifik prozeduralen Wissens findet<br />

einen sinnli chen Ausdruck, der es von de klarativen For men des Wissens abhebt, über die sich<br />

relativ problemlos spre chen lässt, für die Wör ter also be reits ge fun den sind. Die Bedeutung<br />

sinnlicher, emotionaler Aspekte in Er kennt nis pro zessen wird in Zeug nissen zur ästhetischen<br />

Qualität na tur wissen schaftlicher Entde ckung – dies ist in Aus schnit ten deutlich geworden –<br />

häufig beschrieben und an Konzepte wie das der In tui tion an ge schlossen:<br />

»Wenn ich die Intuition, d. h. das Gefühl für diese Ordnung, besitze, so kann ich mit ei nem<br />

Blick das Ganze der Beweisführung überschauen und brauche nicht fürchten, ein einzelnes<br />

Element zu vergessen; jedes Element wird sich von selbst an den Platz stel len, für den es bestimmt<br />

war, ohne das ich mein Gedächtnis anzustrengen brauchte.« (Poin caré 1973, S. 39)<br />

Das Gefühl für eine wesentlich in Formkriterien eingeschriebene Ordnung vermittelt den<br />

ästheti sch en Weisen des »Bedeutens« eine Funktion, die Beliebigkeit und Orientierungslosigkeit<br />

verhin dert. Es stellt sich eine Weise des »In-Erfahrung-Bringens« ein, die in<br />

Kontexten der Entdeckung schein bar mühelos Evidenz hervor bringt und deshalb als<br />

eine Form des »esthetic flow« (Grodal 1999 8 ) beschrieben werden kann, in dem Prozess<br />

und Augenblick, Verhalten und Be wusst sein zu sam men fließen. Schönheit überwältigt;<br />

sie argumentiert nicht – jedenfalls nicht im ers ten Augen blick und ist deshalb Teil von<br />

Affektkommunikation (Ciompi 1992; Mühlmann 1981). Dies ist ge rade auch für ex plo rative<br />

Kontexte unmittelbar be deutend. Exploration hat es na tur ge mäß mit nicht-etab lierten<br />

Bedeutungen zu tun; sie werden, um einen Gedanken von Cra mer/Kaempfer (s. o.) wie der<br />

auf zunehmen, als Spannung deutlich, die einen Zusammen hang zum Aus druck brin gen. Das<br />

»Ge fühl« für das Neue in Diffe renz zum Alten ist in dieser Per spek tive an die sel ben Vor aussetzun<br />

gen ge bunden wie ästhetisches Er leben allgemein:<br />

»… das Schöne ebenso wie das Erhabene ist ein Grenz phänomen, welches das Chaos mit der<br />

Ord nung übers Formprinzip in jedem Schritt vermittelt, der als Schritt auf der Linie einer<br />

Bewegung aufzu fassen ist, die sich als geschichtlich begreifen läßt.« (Cra mer/Kaem pfer 1992,<br />

S. 101)<br />

Beide Komponenten, das ästhetische Erleben und das Gefühl für das Neue sind auf konkreter<br />

Ebene unmittelbar verknüpft, denn Schönheit ge winnt als Anzei chen für die Valenz des<br />

Neuen eine in dexika lische Funktion: »the power of intel lec tual beauty reveals truth about<br />

na ture« (Po lan yi 1962, S. 149). Ein Ausdruck dieser Formen des nicht-pro po si tionalen, von<br />

ästhe tischen Qua litäten durch drungenen Denkens ist der stark visuelle Cha rakter, den Naturwis<br />

sen schaft ler vor allem der Ge nese theoretischer »Vorstel lun gen« bei mes sen. Dies ist


ereits ver schiedentlich deutlich gewor den, so bei den Berich ten von Poin caré, die in Ausschnitten<br />

vor gelegt worden sind 9 .<br />

Zwei kognitionswissenschaftliche Ansätze – gegenwärtig nicht ohne Zufall an der Peripherie<br />

der all gemeinen Diskussion verortet – helfen, die beschriebenen Phänomene näher zu<br />

verstehen. Wahr nehmungsprozesse, die beispielsweise komplexe Bewegungsvorgänge<br />

betreffen, beziehen sich nicht allein auf die Addition von einzelnen, separat aufgenommenen<br />

Informationen; so etwa beim Ge hen, wo eine große Anzahl von Muskelgruppen<br />

koordiniert wird, um einen entsprechen den Be wegungs ablauf ins Werk zu setzen. Vielmehr<br />

scheint dieser Vorgang auch Gegenstand ei ner über geordneten Wahrnehmungsebene<br />

zu sein, die Informationen darüber bereithält, wie z. B. Gehen ist. Proprio zep toren sind<br />

diejenigen Nervenzellen, mit denen der Körper feststellt, was er tut und Handlungs- und<br />

Verhaltensabläufe in übergeordneter Weise in Erfahrung bringt. Die pro priozep torische<br />

Ebene öffnet die unmittelbar biologi schen Gegebenheiten weitergehenden Quali täten,<br />

denn das Ge hen folgt nicht nur körperlichen Zuständen (etwa der Erschöpfung), sondern<br />

bringt auch psychi sch e Be findlichkeiten wie Angst, Anspannung oder Freu de zum Ausdruck<br />

und erlaubt kom plexe, soziale Ko or di nationsprozesse, die ihrerseits über rein biologische<br />

Parameter hin ausverweisen. Der Phy si ker Bohm (1988) und der Systemtheoretiker<br />

und Kognitionswissen schaftler Goertzel (1997, z. B. S. 204ff.) greifen Überlegungen zu<br />

Propriozeptoren auf, um Vor gänge des Den kens ge nauer zu ver ste hen 10 . In kognitiver Hinsicht<br />

handelt es sich um eine »sinnliche Er fah rung«, die zwar die aktive Einbindung in eine<br />

Außenwelt voraussetzt, aber zusätzlich nach in nen gerichtet ist und die interne Ver mitt lung<br />

primär sinn licher Er fahrung und damit einen dy na mi schen Aspekt von Kognition betrifft.<br />

Vor gänge auf der Kog nitionsebene analog zu propriozepti ven Leistungen zu adres sieren,<br />

bedeutet also we ni ger, sich für das Denken per se zu interessieren, son dern vielmehr für<br />

diejenigen Vor gän ge, die da rüber Aus kunft geben, wie das Denken ist und wie sich z. B.<br />

Evidenzerleb nisse »an fühlen«. Die Versuche von Einstein und Poin caré, ihre Er kennt nis weisen<br />

als sinnliche Form der In tuition zu be schreiben, ver weisen auf diesen Sachverhalt.<br />

In vergleichbarer Weise vermittelt das Konzept der Qualia zwischen biologisch Gegebenem,<br />

dem, was als äußerliche Realität beschrieben werden kann, und subjektivem Empfinden.<br />

Qualia (zsfd. Esken/Heckmann 1998; Stubenberg 1998) be zeichnen im gängigen<br />

Verständnis subjektive Erleb nis qualitäten, die über die materielle Ebene menschlicher<br />

Informationsverarbeitung hinausgehen: »there is something that it is like to have experiences«<br />

(Fawley 1997, S. 126). Mentale Zustände be sitzen in dieser Perspektive einen<br />

bestimmten phänomenalen Gehalt; Schmerz wird nicht unter schieds los gleich erlebt,<br />

seine Wahrnehmung unterscheidet verschiedene Personen, und zwar über biolo gisch induzierte<br />

Schwankungen (etwa die Ta geszeit) oder kulturelle Traditionen hinaus. Auch dieser<br />

Sachverhalt ist an die Ver mittlung unmittelbar biologisch gegebener Faktoren ge bun den und<br />

damit an Eigenschaften, die sinn liches Erleben formatieren. Zwei Ebenen werden ge meinhin<br />

un ter schie den. Sogenannte Ob jektqualia verweisen darauf wie etwas erscheint, ordnen<br />

also Din gen oder Gegen ständen Em pfin dungsquali täten zu – etwa Farben, die jenseits<br />

ihrer physi ka li sch en Ei gen schaf ten einen subjek tiven »Eindruck machen«. Darüber hinaus<br />

vermitteln Qualia auch überge ord neten Wahrnehmungs pro zes sen Em pfin dungsqualitäten.<br />

Erkenntnis ist an Erlebnis ge bun den. Überlegungen zu Qualia schließen in dieser Perspektive<br />

an Bohms und Goertzels Über le gun gen zum Bewusstsein an. Wich tig ist in diesem Zusammenhang,<br />

dass Qualia nicht-proposi tio nal und nicht kon zeptionell sind: »Qualia … are only<br />

part of reality whose nature is revealed to you with out in ference.« (Stuben berg 1998, S. 310)<br />

Anders, allgemeiner gesagt: »Die Emergenz des Erle bens geht über das hinaus, was aus einer<br />

phy si ka lischen Theorie abgeleitet werden könnte.« (Chal mers 1998, S. 235) Das Erleben<br />

referiert das Phy si sche, entsteht aber nicht zwangsläufig aus ihm, was rein ma teria listische<br />

Auffas sun gen der Kog ni tion erweitert und den platonischen Aspekt – er be tont das Primat<br />

der Vorstellung über die Empirie – aufnimmt, den die na tur wissen schaft liche Re flexion von<br />

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Erkennt nis und Ästhetik in ver schiedenen Zu sam men hängen zum Ausdruck gebracht hat 11 .<br />

Entsprechende Empfindungen sind da rü ber hin aus an eine Kom petenz gebun den, die von<br />

Wahr nehmungs- und Em pfindungsquali täten Ge brauch zu machen »weiß«. Gemeinhin<br />

wer den Qualia fun damental subjektive Eigenschaften zu ge rech net, was sie nicht nur ma teria<br />

lis ti schen Auff as sungen entgegensetzt, sondern ge le gent lich auch Skep sis bezüglich ihrer<br />

Er forsch bar keit nach sich zieht. Re lativistische Ästhetikauffas sun gen (etwa Rich mond 1994)<br />

sind eine Kon se quenz. Dies scheint über trieben. Denn Objekte, Ge gen stände ver fü gen über<br />

gegebene Ei gen schaf ten, die ihrer je wei li gen Wahrnehmung einen Raum von Frei heits graden<br />

zuordnen. Wahr neh mungsvor gän ge, auch wenn sie weniger gegenständ lich for matiert sind,<br />

vollziehen sich vor einem über grei fend glei chen physiolo gischen Hintergrund, der eben falls<br />

die An zahl von Frei heits gra den be schränkt. Zwangs läufigkeiten sind die Folge.<br />

Grundsätzlich bieten beide Konzepte wichtige Hinweise für das Verständnis von empfindungs-<br />

und wahrnehmungsge leiteten, nicht-propositionalen, unscharfen Evidenzen, die über<br />

die klas si sche Epis temologie hinaus verwei sen. Beide Argumentationsstränge sprechen diese<br />

Ebene des Den kens an und sind, obwohl unver knüpft, komplementär; beide verweisen auf<br />

Fragen des Be wusst seins. Es kann nicht Aufgabe des vorliegenden Beitrages sein, die se fundamen<br />

talen, weit ge hend ungelösten Fragen angemessen zu diskutieren. Dennoch er scheint<br />

mir die Erörte rung eines für die Ästhetik relevanten Teilaspektes übergreifend in teressant.<br />

Akzep tiert man die Vorstellung vom »sinnlichen Scheinen von Ideen«, des – allge meiner<br />

ausge drückt – »ge fühlten Sinns«, für die einige Belege zu sammen getra gen wor den sind,<br />

dann ist damit auch eine Aussage über Prozesse der Be wusst wer dung, wenn gleich zu nächst<br />

nur in spezifischen Situationen verbunden. Denn die Entdeckung des Neuen verweist auf<br />

Be wusstseinsprozesse im Sinne eines vorlin guis ti schen Mo dus Wahr nehmung, der externe<br />

und interne Aspekte verknüpft und die Zu kunft in spezifischer Wei se an die Gegenwart anschließt.<br />

Systematisch ge sehen kehrt Perzeption damit ebenso wie die Emo tio n als zentrale<br />

Be stand teile in die Kognition zu rück.<br />

Erweiterte Einordnungen<br />

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die ästhetischen Phänomene, die zur Beschreibung anstan<br />

den, auf eine Tradition verweisen, die sich in ihrer Genese vor allem mit zwei Namen verbindet.<br />

Fechner (1978, org.1876) fordert früh eine empirische Beschäftigung mit äs thetischen<br />

Phä no me nen, die einer anderer Ausrichtung folgt als philosophisch-deduktive An sät ze (1978,<br />

S. 4f.) 12 . Dabei stellt er u.a. Eigenschaften in den Vordergrund, die auch hier von Be deu tung<br />

sind, so Vor be griffl ich keit und Sinnlichkeit – Fechner spricht etwa von Lust (1978, S. 10f., 37,<br />

51) 13 – oder das as so zia tive Umfeld, in dem ästhetische Empfindungen wahrscheinlich werden.<br />

Er spricht letzteres als »Ver knüpfung von Mannigfaltigkeiten« (1978, S. 54, 86) an und<br />

verweist damit auf Pro zes se, wie sie u. a. Symmetrien in be stimm ter Wei se leis ten (1978, z. B.<br />

S. 56). Eine Ge schmacks ästhetik, die indi vi du elle oder sozio-kulturelle Va ria tion fo kus siert,<br />

tritt damit zu gun sten der grundsätz lich en, perzep tiv-kognitiven Anteile äs the ti schen Empfin<br />

dens in den Hinter grund. Fechner (1978, etwa S. 32) ist des halb nicht ohne Zufall Baumgarten<br />

(2007; org.1750) ver pflichtet, der diese Wendung vor weg nimmt, indem er sinnlich<br />

gebundene Er kennt nis for men und die Phänomene der Anmutung, die damit verbunden sind,<br />

als entscheidenden Fokus der wis sen schaft lichen Be schäftigung mit der Äs thetik benennt.<br />

Es geht ihm um generelle Fragen des men sch lichen Er kennt nisvermögens und nicht um das<br />

Kunstschöne. Diese Position ist von nach hal tiger Ak tualität, denn die moderne Kog ni tionswissenschaft<br />

ist dieser Sichtweise zu neh mend ver pflichtet. In einer generellen Einordnung<br />

schreibt Va len tine (1997, S. 3 14 ):<br />

»The almost exclusive focus of cognitive science on logical and linguistic symbolic pro cesses<br />

re veals more about cognitive scientists than it does about their subject man ner .«


Es scheint, dass die Erosion dieser letztendlich weit in die Philoso phiegeschichte zu rückreich<br />

en den Tradition, die Intellekt und Gefühl, Kognition und Emotion als wesentlich<br />

separate Domänen eta blierte, auch der Äs the tik einen neuen, herausragenden Stellenwert<br />

verschafft. In der Kon se quenz gewinnt die Äs thetik, die gemeinhin für das jeweils letztere der<br />

Begriffspaare zustän dig war (Dam me 1996, z. B. S. 138) episte mologische Funktionen, die entscheidend<br />

über die reine Emo tion hinausgreifen bzw. diese einem veränderten Verständnis<br />

unterwirft. Die erkennt nis lei tende Funk tion der Ästhetik, die Physiker rekla mieren<br />

(Gruebner/Millan 1980, S. 10) und Philosophen ver schie dentlich vermutet haben (etwa Bache<br />

lard 1965, S. 22), kommt ihrer Rehabili tierung in ihrer epis te mologischen Funktion gleich:<br />

»aesthe tic appears to merge with science.« (Roche 1987, S. 3) 15 Die Äs thetik – gemeinhin<br />

als kleine Schwes ter der Epistemologie konzipiert – wird er wach sen 16 . Dies be deutet zunächst<br />

für den in diesem Um feld gewählten Ausschnitt, dass die Un terschiede zwi sch en dem<br />

»Kunst- und Natur schö nen« ver wisch en. Allge meiner gesagt: Kultur und Natur be fin den sich<br />

in einer derart engen Re la tion, dass dichotome Kon zeptio nen wenig be gründet erschei nen.<br />

Die ser Schritt öffnet äs thetische Evidenzen sowohl kultu rellen Tra ditio nen 17 wie in di vi duel len<br />

Zu gän gen und offenbart damit ihre verteilten Eigenschaften. Aller dings gilt dies nicht un begrenzt.<br />

Denn Äs thetik bringt auch Zwangsläufigkeiten ins Spiel, die im Ver weis auf ontologische<br />

Ge ge ben heiten ästheti sche Evidenz jen seits kon struk ti vis tischer Be lie big keiten stellt. Das<br />

er staun li che dabei ist, dass ästhe tische Vorstellun gen bei de Be reiche ver mitteln. Besonders in<br />

kreati ven, in no vativen Situationen, in denen etablierte Be deu tungen über schritten werden,<br />

wird dies deutlich. Es ist deshalb wenig verwunderlich, dass der Äs thetik in ent deckungsträchtigen,<br />

d. h. vor allem auch durch Vorbegrifflichkeit gekennzeichneten Situationen eine<br />

der ar tige Be deu tung zu gemessen wird (Baars 1997, z.B. S. 114).<br />

Begriffsloses »Wissen« repräsentiert seinen Gegenstand nicht, es »präsentiert« ihn, so<br />

dass in die sem Umfeld neben propositionalen, sprach- und satzgebundenen vornehmlich<br />

andere Weisen der Kog ni tion zur Gel tung kommen. Hier sind – die deutlich gewordenen<br />

Eigenschaften ästhe ti sch en Den kens wie Wahrnehmungsnähe, Musterbildung oder<br />

Vorsprachlichkeit bzw. Tacizität weisen da rauf hin – vor al lem ana logische Formen des<br />

Denkens von Interesse. Dies verweist grundsätz lich auf die mediale Ge bun denheit menschlichen<br />

Denkens, die Metzinger (1993, S. 130) wie folgt auf den Punkt bringt: »Pro posi tionale<br />

und analoge Repräsentate … erzeugen … sehr un ter schied liche For men der Be zug nah me auf<br />

Rea li tät.« Ähnlich äußert sich Krämer (1998, S. 14f.):<br />

»Medien übertragen nicht einfach Botschaften, son dern entfalten eine Wirkkraft, welche<br />

die Moda li tä ten unseres Denkens, Wahrnehmens, Er in nerns und Kom munizierens prägt …<br />

›Medialität‹ drückt aus, dass unser Welt verhältnis und damit alle un se re Ak ti vitäten und<br />

Erfahrungen mit welt er schließen der … Funktion geprägt sind von den Unter schei dungs möglich<br />

keiten, die Medien eröffnen, und den Beschrän kun gen, die sie dabei auf er legen.«<br />

Ein Wissen, das sich zeigt, bleibt unbestimmter und pränormativ und ohne die lo gi sch e Potenz<br />

sprachgebundener Aussagen (Bippus 2009, S. 14f.) 18 . Anders gesagt:<br />

»Analog differences are differences of magnitude, frequency, distribution, pattern, or ga nization,<br />

and the like. Digital differences are those such as can be coded into distinctions and<br />

oppositions, and for this, there must be discrete elements with well-defined boun da ries.«<br />

(Wilden 1972, S. 169)<br />

Es ist damit konkret, situativ und entbehrt der Präzision. Es bleibt an mentale Vorstellungen<br />

ge bunden, über die man sich nicht ohne weiteres verständigen kann. Gerade deshalb ist<br />

ana loges Denken Kenn zeichen entdeckungs in ten si ver mentaler Pro zesse, die von Spannungsreich<br />

tum und heraus ge ho bener Emotionalität ge kenn zeich net sind 19 . Mediale Zugänge zur<br />

Welt unter scheiden sich in der Konsequenz in ihrer Ent deckungsmächtigkeit, was nicht nur<br />

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die perzeptive Gebun den heit menschlichen Denkens, von der hier die Rede war, auf den<br />

Punkt bringt sondern auch kon zeptionellen Umfelder wie dem der »Wis sensmedien« oder<br />

dem der »Eigensinnigkeit der Medien« 20 im gegebenen Kontext Re le vanz verleiht.<br />

Konsequenzen: Vom Nutzen der Grenzgänge zum Zwecke der Öffnung<br />

Zusammenfassend ist mit diesen skizzenhaften Überlegungen zur Rolle der Ästhetik in<br />

den Na tur wis senschaften der Befund verbunden, dass sich Ästhetik in der Weise, wie sie<br />

zur Geltung ge bracht wur de, keineswegs in einer ornamentalen Funktion erschöpft, sondern<br />

zentraler Teil kog ni tiver Prozesse ist 21 . Damit ist eine Anregung für komplementäre<br />

Diskussionskontexte in den Geis tes wissen schaf ten verbunden. Denn es erweist sich als unzulässig,<br />

ein grundlegendes Ver stän dnis der Ästhetik auf das Kunstschöne zu beschränken.<br />

Vielmehr tritt die Ästhe tik nachdrücklich in den Be reich der Epistemologie ein, in dem sie<br />

gerade in Ent de ckungs situa tio nen, die durch feh lende Transparenz auf propositionalem<br />

Niveau gekennzeich net sind, Ori en tie rung bie tet. Diese Über zeu gungen haben die Arbeit<br />

vieler bedeutender Physiker und Ma the matiker be stimmt:<br />

»My work al ways tried to unite the true with the beautiful; but when I had to choose one or<br />

the other, I usually chose the beauti ful.« (Hermann Weyl, zit. in Chan dra sek har 1987, S. 52 22 )<br />

Zumindest für die angesprochenen Umfelder hat also Friedrich Schiller recht. Was äs the tisch<br />

em pfun den wurde, scheint uns vielfach später als ex peri mentell verifizierter, technisch funktio<br />

nie ren der Tatbestand entgegenzu ge hen. Allerdings gewinnt ästhetische Evidenz nur in<br />

der Differenz heu ris ti schen Wert. Eine Erkennt nis ästhetik ist deshalb in der Genese auch ei ne<br />

Ästhetik des Ge schmacks und der An mutung. Die Grenze, die beide Komponenten unterscheidet,<br />

ist kaum klar zu ziehen und folgt persön lichen Eigen schaften, kultureller Variation<br />

und gesell schaft lichen Kon junk tu ren. Dies ist einer der Gründe, warum Schön heit in der<br />

Physik präzisen De fi ni tio nen ent zo gen ist 23 .<br />

Darüber hinaus lässt sich einiges für das Design, das ja immer zwischen Kunst und<br />

Wissenschaft angesiedelt war, und die wissenschaftliche Beschäftigung mit Ge staltung im<br />

Speziellen, die be son ders in Deutschland erst entsteht 24 , lernen, und zwar in zweifa cher<br />

Weise.<br />

Geht man davon aus, dass Akte der Kreativität grundsätzlich dieselben Eigenschaften zueigen<br />

sind, un ge achtet da von, ob die Entdeckung von absoluter oder ausschließlich von<br />

per so nen ge bun dener Qua lität ist, sich also auf die Entdeckung eines Sachverhaltes bezieht,<br />

der anderen bereits bekannt ist, so liegen einige Schlüsse im Hinblick auf Rezeption und<br />

Nutzung von gestalteten An ge boten nahe und damit für die Konstruktion dieser selbst.<br />

Dies gilt umso mehr als Design zu nehmend mit Komplexitäten konfrontiert wird, und zwar<br />

in sozio-kul tu rel ler, wie öko nomischer und technischer Hinsicht. Die spezifische Spannung<br />

zwischen Neuen und Gewohnten, die die be sprochenen ästhetischen Qualitäten in Prozessen<br />

der Musterbildung kennzeichnet, ist damit ein Argument dafür, explorative Komponenten<br />

mensch lichen Umgangs mit gestalteter Kom mu ni ka tion in den Vor der grund zu stellen –<br />

sofern dies möglich ist <strong>25</strong> . Formal-ästhetische Faktoren in eine Praxis einschrei ben, die jeweils<br />

– wenn auch zu unter schiedlichem Ausmaß – durch Nutzer re konfiguriert werden 26 , ist<br />

im De tail noch wenig reflektiert und be rück sichtigt (Margolin 2002, S. 38). Dass formal-ästhe<br />

tische Fak toren in der verstandenen Weise eine zentrale Rolle bei der Orien tie rung von<br />

Nutzerverhalten ist al ler dings gelegentlich postuliert worden 27 .


Anmerkungen<br />

Ein weiterer Hinweis, der sich mit den voraus ge gan genen Über le gun gen verbindet, betrifft<br />

die Kre a tion des Ar ti fi ziellen selbst. Denn künstlerische Tätigkeit und wis senschaftliche<br />

Imagination sind denselben Pro zessen verpflichtet. Dies hat bereits Polanyi (1985, S. 62) zum<br />

Ausdruck gebracht, wenn er schreibt: »Scientific ima gina tion becomes ba sed on the same<br />

prin ci ples that underlie arts.« Pra xeo lo gisch tritt damit ein Um feld we sentlich analo gischen<br />

Den kens in den Vordergrund: die Skizze. Ähnlich wie gestaltete Artefakte stellt sie eine<br />

Externalisie rung men taler Vorgänge dar, die al ler dings per se spe zifische Unschärfen ins Spiel<br />

bringt, binäre Kons tel la tionen aus setzt und da mit Möglichkeitsräume schafft. Sie er öffnet<br />

in die Form ein ge schrie bene, d. h. we sentlich ana lo gi sche Be deu tungs mög lich keiten (Bip pus<br />

2009, S. 77) und vermittelt dem Denken so spezifische Frei räume (zsfd. etwa Tversky 2002) 28 .<br />

Aus den Befunden und ihren Weiterungen folgt schließlich eine letzte Konsequenz.<br />

Denn ein ge ne rel les Interesse an der Ästhetik im Hinblick auf Zusammenhänge zwischen<br />

Wahrnehmung / Er kennt nis, Form / Ge stalt und sinnlichem Erleben / Evidenz, d. h. eine<br />

Abkehr vom traditionellen Fo kus auf das Kunst schöne erscheint nicht nur allgemein als<br />

eine überfällige Konse quenz 29 , in dem sie die Äs the tik scientistischen, vor allem auch kognitiven<br />

Perspektiven öffnet 30 und etwa die apodiktische Gegenüberstellung zwischen der<br />

Wissensgenese im Design/Kunst und in der Wissen schaft 31 in Frage stellt, son dern sollte auch<br />

einer De sign wis sen schaft – so meine Überzeugung – all gemein sehr zugute kommen.<br />

1. Siehe u.a. Nothnagel (2006) | 2. Eine Einfüh rung in Prozesse der Kreativität bietet u. a. Koestler (1966) | 3. Zur zunehmenden Bedeutung der Emotion auch in neurowissenschaftlichen<br />

Erklärungsmodellen des mensch lich en Denkens vgl. z. B. Damasio (z.B.1999) | 4. Zur hervorragenden Bedeutung von Mustern bei ästhetischen<br />

Prozessen siehe auch Kruse (2006, S. 175). Auf die Be deu tung der Ästhetik bei der Synthese menschlicher Wahrnehmung weist z. B. Fehle (2005) hin | 5. Vgl. auch<br />

Romero-Tejedor (2007, z. B. S. 55ff.) sowie Kobbert (1986, S. 19f.) | 6. Die Unterscheidung zwischen »knowing what« und »knowing how« geht auf Ryle (1949) zurück | 7.<br />

Zur Bedeutung der Form für ästhetische Urteile siehe auch Welsch (1996, S. 28f.) | 8. Das Konzept des »flow«, das auf Csikszentmihalyi (1996) zurückgeht, ist später auch<br />

in der Ästhetikaufassung von Paál (2003) von Bedeutung | 9. Siehe dazu auch Nothnagel (2001b) | 10. In vergleichbarer Hinsicht äußert sich Damasio (1999, z.B. S. 153) |<br />

11. Vgl. auch Barrow (1992, S. 236) und Roche (1987, S. 8) | 12. Als übergreifende Konsequenz dieses Zugriffs auf Ästhetik zeigt sich, dass die verschiedenen Ästhetikauffas<br />

sun gen, die den wissenschaftlichen Diskurs kennzeichnen, nur durch ein lockeres Band verbunden sind – Welsch (1996, S. 24) verwendet das Wittgenstein’sche<br />

Konzept der »Familienähnlichkeit«, um diese Zusammenhänge zu cha rak terisieren | 13. Zum Aspekt vorbegrifflicher Wahrnehmung vgl. auch Mersch (2004, S. 108) |<br />

14. Siehe zsfd. auch Zielke (2004) | 15. Vgl. auch Root-Bernstein (1996) | 16. Welsch (1996, S. 44ff., S. 92) geht so weit festzustellen, dass durch die Entwicklungen in den<br />

Wissenschaften selbst, in der Wahrheit zu einer fundamentalen ästhetischen Kategorie geworden ist, das Ästhetikverständnis eine radikale Ver än de rung erfahren hat |<br />

17. Siehe dazu etwa Nothnagel (1997) | 18. Siehe auch Mahrenholz (2003) oder Heßler/Mersch (2009). Für Kant (etwa 1991, S. 319) stellt die Vorbegrifflichkeit, die eine<br />

Form der Zweckmäßigkeit zum Ausdruck bringt, eine der zentralen Charakteristika der Ästhetik dar | 19. Ein Spezialfall diese Zusammenhangs stellen metaphorische<br />

Denk- und Darstellungsweisen dar, und zwar sowohl in Kunst wie Wissenschaft (Nothnagel 2007, S. a/b) | 20. Siehe etwa Nothnagel (2006) | 21. Vgl. auch Radman<br />

(2004/05) | 22. Siehe auch Huson/Kragh (1993), Judson (1984, S. 43), Weinberg (1987, S. 90), Wigner (1967, S. 2<strong>25</strong>) | 23. Vgl. Fechner (1978) | 24. Siehe dazu zsfd. Romero-<br />

Tejedor/Jonas (2010) | <strong>25</strong>. Eine Ausnahme stellen sicherheitsrelevante Umgebungen dar | 26. Siehe etwa Nothnagel/Aguirre (2004, 2005) | 27. Für computergestützte<br />

Anwendungen vgl. etwa Gelernter (1988) oder Mullet/Sano (1995, z.B. S. 7) | 28. Zu den verschiedenen Zugängen zu diesem für das Design zentralen Entwurfsinstrument<br />

siehe van den Boom (2000) | 29. Vgl. dazu auch Welsch (1996, S. 152ff.) | 30. Siehe auch Romero-Tejedor (2007, z.B. S. 22, S. 79) | 31. Vgl. etwa Cross (2006, S. 6ff.).<br />

<strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong> 83


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84 <strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong>


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<strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong> 85


Entwicklung und Erprobung<br />

von User-Interfaces<br />

am Beispiel des Gasmessgerätes »Sentry« mittels<br />

der Programmierumgebung Processing<br />

Diethard Janßen<br />

86 <strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong><br />

mit der Beschreibung<br />

der Diplomarbeit von<br />

Margarete Schmidt<br />

Komplexe Benutzeroberflächen von modernen Gebrauchs- und<br />

Spezialgeräten erfordern schon während des frühen Gestaltungsprozesses<br />

eine intensive Auseinandersetzung mit der Bedienlogik<br />

und der Hierarchie der Menüstruktur. Im herkömmlichen<br />

Gestaltungsprozess erfolgt die Konstruktion der Eingabelogik<br />

oftmals durch intensives Nachdenken und anschließendes<br />

graphisches Fixieren. Der Nachteil dieser Herangehensweise<br />

ist die mangelnde Überprüfbarkeit des Ergebnisses. Dabei soll<br />

allerdings nicht unterstellt werden, dass diese Methode nicht<br />

zu ausgereiften Produkten führen kann. Je nach Fähigkeit des<br />

jeweiligen Gestalters können auch so nahezu perfekte Bedienprozesse<br />

realisiert werden.<br />

Die Konsistenz dieses User-Interfaces ist aber primär von der<br />

Fähigkeit des Entwerfers abhängig, ohne dass eine objektive<br />

Möglichkeit besteht, den Prozess relativ schnell und vor allen<br />

Dingen gründlich zu evaluieren. Eine nachfolgende Realisierung<br />

des entworfenen User-Interfaces stößt auf Grund von möglichen<br />

Missinterpretationen zwischen Entwerfer und Programmierer<br />

auf enorme Schwierigkeiten, die vermieden werden<br />

können, wenn dem Programmierer schon eine Simulation des<br />

Interfaces vorliegt. Nach meiner Erfahrung scheitert an dieser<br />

Stelle der Gestalter, da ein entsprechendes einfaches Werkzeug,<br />

das Hard- und Software verbindet, nicht oder wenn, nur in Ansätzen<br />

vorhanden ist.<br />

Ein früher Ansatz für ein solches Werkzeug war die Programmierumgebung<br />

»HyperCard« auf dem Apple, deren Qualität<br />

durch entsprechende Diplomarbeiten im Designbereich der<br />

Hochschule für Bildende Künste Braunschweig bewiesen worden<br />

ist. Ein Nachteil dieses Systems ist allerdings die Tatsache,<br />

dass es sich um »Closed Source« handelt, also Software, die<br />

durch den Anwender nicht oder nur in engen Grenzen erweitert<br />

werden kann. Diesen Nachteil weisen auch nahezu alle<br />

Derivate und Nachfolger von HyperCard auf. Darüber hinaus


handelt es sich hier um reine Software, die mechanische Eingabesysteme<br />

außer Tastatur und Maus nicht berücksichtigt, es sei<br />

denn, diese werden von Drittanbietern – natürlich zu entsprechenden<br />

Preisen – angeboten.<br />

Um diesem Missstand zu begegnen, ist bereits im Jahr 1997 von<br />

Holger van dem Boom und mir ein System angedacht worden,<br />

das eine Kombination aus Soft- und Hardware darstellt (siehe<br />

»<strong>Öffnungszeiten</strong>« 6 und 7, 1998). Auf Grund der Komplexität<br />

der Anforderungen und mangelnder personeller Ausstattung<br />

musste die Entwicklung dieses Systems nach relativ kurzer Zeit<br />

aufgegeben werden. Die besonderen Schwierigkeiten lagen zum<br />

einen in der Neuentwicklung eines graphischen Grundsystems<br />

als auch in der Realisierung einer neuen Skriptsprache, die einfach<br />

und zugleich mächtig genug sein sollte, den Anforderungen<br />

des Gestaltungsprozesses zu genügen. Wie bereits erwähnt,<br />

benötigt ein solches System auch noch die Möglichkeit, Eingaben<br />

und Ausgaben, also Interaktionen, mit der Außenwelt vorzunehmen.<br />

Für diesen Zweck ist ein in der Programmiersprache<br />

»Pascal« zu programmierender Einplatinenrechner vorgesehen<br />

gewesen, der über eine serielle Schnittstelle mit dem Programm<br />

auf dem Hauptrechner kommunizieren und über Ports externe<br />

Daten einlesen und ausgeben konnte.<br />

Processing<br />

Inzwischen sind mehr als zwölf Jahre vergangen und ich muss<br />

eingestehen, dass nicht alles komplizierter geworden ist, sondern<br />

es auch einige wenige Dinge gibt, die nun einfacher sind. Es<br />

ist erfreulich, wenn einem darüber hinaus Arbeit abgenommen<br />

wird und ganz besonders, wenn es sich dabei um Mitarbeiter<br />

von renommierten Institutionen wie die Firma Sun (Java), das<br />

MIT (Processing) oder die italienische Universität Ivrea (Arduino)<br />

handelt. Doch halt, nicht so schnell!<br />

Im Jahr 1996 stellte Sun die erste offizielle Version der Programmiersprache<br />

»Java« vor. Java läuft ähnlich wie damals<br />

UCSD Pascal in einer sogenannten virtuellen Maschine und<br />

ist somit unabhängig von der jeweiligen Hardware, wenn eine<br />

solche virtuelle Umgebung für die entsprechende Hardware<br />

vorhanden ist. Der Vorteil ist, dass die eigenen Programmtexte<br />

auf unterschiedlichen Plattformen laufen. Nachteilig an diesem<br />

System ist die relativ geringe Geschwindigkeit der Programme,<br />

da immer ein Zwischencode erzeugt werden muss (fast immer,<br />

die Ausnahme ist die partielle Just-in-Time-Kompilierung, siehe<br />

wikipedia). Mit der zunehmenden Leistungsfähigkeit heutiger<br />

Maschinen fällt dieser Nachteil aber für die meisten Anwendungen<br />

nicht weiter ins Gewicht, für »Number Crunching« (siehe<br />

Ljapunow-Graphen) sollte man aber Sprachen wie C oder C++<br />

verwenden, deren Compiler direkten Code für die entsprechenden<br />

Prozessoren erzeugen. Java ist wie C++ objektorientiert und<br />

wird heutzutage allgemein als Schulungssprache eingesetzt, ist<br />

also weit verbreitet. Darüber hinaus ist Sun (jetzt Oracle) seit<br />

»Toxische sowie brennbare Gase und Sauerstoffmangel<br />

sind eine Bedrohung für das menschliche Leben. Besonders<br />

gefährdet sind Arbeitskräfte, die ihre Arbeit in Umgebungen<br />

ausführen, in denen Gaskonzentrationen unerwartet<br />

steigen können. Dazu gehören beengte Räume, wie z.B.<br />

Schächte, Behälter, Kolonnen, Kanäle und Arbeitsgruben.<br />

Mobile und stationäre Gasdetektoren dienen der Vorbeugung<br />

von Vergiftungen, Bränden und Explosionen. Sie<br />

schützen in gefährdeten Bereichen nicht nur Arbeitskräfte,<br />

sondern auch andere Menschen und ihre Umwelt. Deshalb<br />

ist die kontinuierliche Überwachung und Messung in<br />

Gefahrenbereichen erforderlich.<br />

Ziel der Diplomarbeit ist der Entwurf eines Mehrgasmessgerätes.<br />

Dazu soll der Aufbau des Mehrgasmessgerätes,<br />

dessen Anwendung in den Einsatzbereichen und die<br />

Zielgruppe untersucht werden. Die Untersuchungen sollen<br />

Probleme im Gebrauch mit den bestehenden Gasdetektoren<br />

aufzeigen und in dem Entwurf gestalterisch auflösen.«<br />

(Aus »Sentry – ein Mehrgasmessgerät«, Diplomarbeit von<br />

Margarete Schmidt an der HBK Braunschweig)<br />

Meine Motivation in der Diplomarbeit war es, eine nutzbringende<br />

und gebrauchstaugliche Gestaltung für Menschen<br />

zu schaffen und Design in einem Bereich anzuwenden,<br />

in dem Gestaltung noch keinen hohen Stellenwert<br />

erreicht hat, obwohl die gestalterische Entwicklung eines<br />

Gasmessgerätes neben den technischen Eigenschaften Leben<br />

retten kann.<br />

<strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong> 87


einigen Jahren bestrebt, diese Sprache als Open Source zu lizenzieren,<br />

das System ist also offen.<br />

Java ist die Basis für die Entwicklungsumgebungen Processing<br />

und Arduino, die für die beiden am weitesten verbreiteten Betriebssysteme<br />

und auch für Linux frei verfügbar sind. Processing<br />

ist eine Programmiersprache, die einen vereinfachten Dialekt<br />

von Java bildet, und Arduino ein System, mit dem relativ einfach<br />

Einplatinenrechner programmiert werden können. Beide<br />

sind speziell für Künstler und Designer entwickelt worden und<br />

können in Verbindung miteinander eingesetzt werden. Die<br />

Kombination aus beiden Systemen erzeugt letztendlich den<br />

Reiz und macht das Gesamtsystem extrem mächtig.<br />

An dieser Stelle möchte ich nicht weiter auf Arduino eingehen;<br />

es würde den Rahmen des Artikels sprengen. Mir kommt es<br />

zunächst einmal darauf an, Processing am Beispiel der Simulation<br />

eines User-Interfaces für ein Gasmessgerät zu erläutern; auf<br />

spezielle externe Eingabemedien, die durch Arduino realisiert<br />

werden können, soll hier zunächst einmal verzichtet werden.<br />

Im Gegensatz zu HyperCard und entsprechender Derivate ist<br />

Processing primär nicht grafikorientiert. Für reine »Mausschubser«<br />

ist daher die Eingewöhnung in Processing eine anstrengen-<br />

Abb. 1: Programmierumgebung »Processing« (Bild: D. Janssen)<br />

88 <strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong><br />

de Angelegenheit (siehe Abbildung 1), aber sie wird durch die<br />

vielfältigen Möglichkeiten dieses Systems belohnt. Und verglichen<br />

mit herkömmlichen Entwicklungsumgebungen und Programmiersprachen<br />

kann man mit wenigen Befehlen schon sehr<br />

viel erreichen; viele Beispiele im Netz dokumentieren dies. Diese<br />

Beispiele zeigen allerdings, dass Processing sehr oft für generative<br />

Gestaltung und künstlerische Arbeiten eingesetzt wird und<br />

nur wenig zur Simulation von User-Interfaces – möglicherweise,<br />

weil diese auch ein spezielles Event-Handling benötigen.<br />

Wie schon anfangs erwähnt, ist Processing eine sehr einfache<br />

Sprache, kann aber leicht durch Java-Elemente erweitert werden.<br />

Karl-Heinz Eden von der HBK Braunschweig und ich werden<br />

im nächsten Sommersemester (<strong>2011</strong>) eine Veranstaltung<br />

über Processing anbieten – eine Veranstaltung für Anfänger<br />

und von Anfängern. Denn trotz intensiver Kenntnis einiger Programmiersprachen<br />

ist die Auseinandersetzung mit einer weiteren,<br />

neuen, immer wieder eine Herausforderung, gerade, wenn<br />

es nicht nur darum geht, etwas zu programmieren, sondern<br />

anderen, in diesem Fall Anfängern, diese Sprache nahezubringen.<br />

Karl-Heinz Eden hat sich deshalb überlegt, beispielhaft eine<br />

spezielle Visualisierung des Goldenen Schnitts mit Processing<br />

zu programmieren, die mittels HyperCard auch schon von Felicidad<br />

Romero-Tejedor und Holger van den Boom in den »Öff-


System<br />

Unter Einbeziehung gesetzlicher Vorschriften für Arbeitssicherheit,<br />

einer umfassenden Analyse der Zielgruppe und<br />

ihrer Arbeitsbereiche ist der Entwurf eines Gasmessgerätes<br />

mit einer hohen Gebrauchstauglichkeit entstanden. Das<br />

Sechsgasmessgerät Sentry ist speziell für den Einstieg in<br />

beengte Räume konzipiert worden. Zu den beengten Räumen<br />

zählen alle Räume, in denen das Arbeiten nicht kontinuierlich<br />

möglich ist und in denen somit eine Arbeitsgenehmigung<br />

erforderlich ist (Beispiele: Kanalschächte,<br />

Behälter, Tanks, Kolonnen). Für die Arbeitsgenehmigung<br />

müssen die Räume mit dem Gasmessgerät freigemessen<br />

werden. Weiterhin erfolgt der Einsatz des Messgerätes<br />

bei der Leckagesuche und der Bereichsüberwachung von<br />

Arbeitsgruppen. Alle diese Anwendungen sollen mit dem<br />

Gasmessgerät möglich sein.<br />

Das erfordert darüber hinaus die Auseinandersetzung<br />

mit dem Zubehör für die Gasmessung. Zum Zubehör<br />

zählen Stabsonde und Schwimmersonde. Letztendlich<br />

ist so ein gesamtes „Messsystem“ entstanden, zu dem das<br />

Gasmessgerät, eine Stabsonde und eine Schwimmersonde<br />

gehören.<br />

Die Stabsonde kann mit einem Teleskopmechanismus bis<br />

auf 1,5m herausgezogen werden und wird zum einen für<br />

die Messung in beengte Räume gehalten und zum anderen<br />

für die Leckagesuche verwendet. Die Schwimmersonde<br />

wird für die Freimessung von vertikalen Räumen benutzt.<br />

Bei der Freimessung in vertikalen Räumen wird Meter für<br />

Meter ein Messergebnis ermittelt bis der gesamte Raum<br />

freigemessen ist. Aus der Analyse sind folgende nützliche<br />

Funktionen entwickelt und gestalterisch umgesetzt worden:<br />

– Nutzer-orientiertes Interface und großes Display für<br />

gute Lesbarkeit der Messergebnisse<br />

– Große, beleuchtete Bedienelemente für dunkle Einsatzbereiche<br />

– 360° Alarmring für die eindeutige Alarmgebung<br />

– Schiebeschalter für Wechsel der Pumpen- und Diffusionsmodi<br />

(Umschaltung schont Pumpe und verlängert<br />

Akkulaufzeit)<br />

– Sensorbezeichnung, visualisiert äußerlich die Sensorbestückung.<br />

Interface<br />

Für die unterschiedlichen Messverfahren (Freigabemessung<br />

beengter Räume, Leckagesuche und Bereichsüberwachung)<br />

ist ein Messhilfeprogramm gestalterisch umgesetzt<br />

worden, das den Nutzer bei den Messungen aktiv unterstützt.<br />

Die verschiedenen Programmverläufe haben eine<br />

unterschiedliche Farbgebung, damit sie vom Nutzer besser<br />

zu unterscheiden sind. Außerdem verfügt Sentry über an<br />

den jeweiligen Benutzer angepasste Ebenen, da Anwender<br />

unterschiedliche Schwerpunkte in ihren Tätigkeitsbereichen<br />

haben.<br />

Zudem hat das Gerät einen Tag- und einen Nachtmodus.<br />

Die Anzeige ändert sich automatisch abhängig von der<br />

Intensität des Lichtes. Eine Herausforderung dabei war<br />

die optimale Auswahl der Farben für die Icons, denn sie<br />

sollten für beide Zustände zweckmäßig sein. Die Icons sind<br />

zweidimensional gestaltet und fügen sich in das Gesamtbild<br />

ein. Das Bump-Test-Icon und das Kalibrierungs-Icon<br />

entsprechen der gleichen Formgebung wie die Kennzeichnung<br />

der Anzeigelampen für Kalibrierung und Bump-Test<br />

vorne auf der Blende des Gerätes.<br />

Es wurde auf Verläufe und Dreidimensionalität der Icons<br />

verzichtet, weil es der einfachen Formsprache entspricht<br />

und eine klare Übersicht bietet. Bei der Gestaltung der<br />

Displays war zu berücksichtigen, dass 50% der Anwender<br />

Brillenträger sind und ein beachtlicher Teil älter als 45 Jahre<br />

ist. Das machte ein möglichst großes Display erforderlich.<br />

Auch bei der Schriftgröße musste stets ein Abgleich<br />

stattfinden, ob sie für alle Personengruppen gut lesbar ist.<br />

Um besseren Schutz für die Arbeiter zu gewährleisten,<br />

verfügt das Gerät über zwei Alarme, einen Voralarm und<br />

einen Hauptalarm. Der Voralarm soll dem Benutzer signalisieren,<br />

dass möglicherweise eine gefährliche Situation<br />

entstehen könnte. Er kann vom Benutzer quittiert werden.<br />

Sinkt die Gaskonzentration, erlischt er selbstständig. Werden<br />

mehrere Gaskonzentrationen überschritten, teilt sich<br />

die Anzeige des Displays entsprechend auf, so dass alle<br />

Gaskonzentrationen angezeigt werden. Der Hauptalarm<br />

kann nicht abgebrochen werden.<br />

<strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong> 89


90 <strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong><br />

nungszeiten spezial« 1/1999 »Über den Goldenen Schnitt und Verwandtes« vorgestellt<br />

worden ist. In Abbildung 2 ist das Ergebnis zu sehen; es entspricht der Abbildung<br />

auf Seite 19 in dem angesprochenen Heft.<br />

Untenstehend ist das Listing in Processing abgedruckt. Man sieht, dass die Realisierung<br />

solcher einfachen Programme relativ unkompliziert durchzuführen ist. Im Groben<br />

besteht der Code nur aus zwei Routinen, nämlich einer Setup-Prozedur, in der die<br />

Parameter der Darstellungsfläche festgelegt werden, und einer Zeichenroutine, die<br />

auch gleichzeitig die Berechnung vornimmt. Das Window-Handling entfällt vollständig,<br />

alles ist sehr übersichtlich. Eine kleine Anmerkung: Die Zeile, die mit den beiden<br />

Slashes »//« beginnt, ist ein Kommentar. Es gibt zwei Möglichkeiten, das b, also die<br />

Konstante des Goldenen Schnitts, die Goldene Zahl Φ, analytisch auszurechnen. Je<br />

nachdem, welchen Weg man bevorzugt, kann man die jeweils andere Möglichkeit<br />

auskommentieren. Im Übrigen sind die beiden Lösungsmöglichkeiten auch ineinander<br />

überführbar, eine kleine Recherche in wikipedia führt da zum Ziel. Die Syntax von Processing<br />

entspricht der von Java und ist sehr verwandt mit der von C++, also wesentlich<br />

abstrakter als die der in HyperCard verwendeten Sprache HyperTalk. Mir persönlich<br />

kommt diese Tatsache sehr entgegen, für einen Anfänger mag es möglicherweise etwas<br />

abschreckend sein. Aber nach kurzer Zeit ist auch für diesen die Syntax beherrschbar;<br />

die durch Java bereitgestellten Erweiterungen der Sprache müssen ja nicht schon<br />

zu Beginn verwendet werden.<br />

float breit;<br />

float hoch;<br />

void setup()<br />

{<br />

background(<strong>25</strong>5);<br />

stroke(0);<br />

strokeWeight(1);<br />

size(800, 800);<br />

smooth();<br />

}<br />

void draw()<br />

{<br />

breit = width;<br />

hoch = height;<br />

for (int i = 1; i < 20; i++)<br />

{<br />

line(breit, 0, breit, height);<br />

line(width - breit, 0, width - breit, height);<br />

line(0, hoch, width, hoch);<br />

line(0, height - hoch, width, height - hoch);<br />

//float b = 2*sin(radians(18));<br />

float b = (sqrt(5)-1)/2.0;<br />

breit = breit*b;<br />

hoch = hoch*b;<br />

}<br />

}<br />

Abb. 2: Visualisiserung des Goldenen Schnitts | Listing 1: Der Goldene Schnitt in 2D


Sentry<br />

In Grundzügen ist das System vorgestellt worden. Nun möchte<br />

ich auf die Simulation von User-Interfaces eingehen. Als Vorbereitung<br />

für die Veranstaltung »Interface Design« im Wintersemester<br />

<strong>2011</strong>/12 zusammen mit Erich Kruse an der HBK<br />

Braunschweig soll die Simulation der Benutzeroberfläche eines<br />

Gasmessgerätes vollständig durchgeführt werden, so dass den<br />

Studierenden ein Beispiel vorgegeben wird, an dessen Struktur<br />

sie ihre eigenen Entwürfe anlehnen können. Die Simulation ist<br />

leider immer noch eine Baustelle, deren Struktur sich möglicherweise<br />

bis zum Winter noch ändern kann. Auch wenn man<br />

des Programmierens halbwegs mächtig ist, ist die Durchdringung<br />

einer komplexen Benutzeroberfläche, die Erschaffung von<br />

programmtechnischen Hilfsmitteln wie zusätzlichen Bibliotheken<br />

(Libraries) und deren Realisierungen nicht ohne weiteres<br />

möglich.<br />

Das verwendete Beispiel ist die Diplomarbeit von Margarete<br />

Schmidt an der HBK Braunschweig, die von Erich Kruse und<br />

mir betreut wurde. Es handelt sich um den Designentwurf des<br />

Gasmessgerätes »Sentry« für die <strong>Lübeck</strong>er Firma Dräger, der in<br />

Zusammenarbeit mit dieser entstand.<br />

Dräger ist ein international führendes Unternehmen der Medizin-<br />

und Sicherheitstechnik. Dräger-Produkte schützen, unterstützen<br />

und retten Leben. Mit einem modernen, funktionalen<br />

Design verfolgt Dräger das Ziel, seine Produkte so gebrauchstauglich<br />

wie möglich zu gestalten. Im Entwicklungsprozess des<br />

Unternehmens spielt die Gestaltung daher eine wichtige Rolle.<br />

Mit studentischen Studien wie dieser nutzt Dräger die Chance,<br />

das Thema Design losgelöst von konkreten Entwicklungsprojekten<br />

weiter voranzutreiben.<br />

Abb. 3: Interface von Sentry, Modus Freigabemessung<br />

Das vollständige Gerät darf hier aus lizenzrechtlichen Gründen<br />

nicht vorgestellt werden, einzig das Interface soll hier behandelt<br />

werden. Dennoch möchte ich noch kurz auf den Entwurf<br />

eingehen. Mir war sehr wichtig, dass das Gerät klare Strukturen<br />

aufweist und sofort visuell vermittelt, für welchen Einsatzzweck<br />

und auch wie es zu benutzen ist. Darüber hinaus sollte es durch<br />

die Form dem Betrachter den Wunsch vermitteln, das Gerät<br />

anzufassen und sich damit auseinanderzusetzen, also nicht wie<br />

viele andere High-Tech Geräte abschreckend wirken. Dieses<br />

ist der Diplomandin nach meiner Einschätzung hervorragend<br />

gelungen, wie das Modell in Originalgröße beweist, das in der<br />

Kunststoffwerkstatt der HBK Braunschweig in Zusammenarbeit<br />

mit dem Werkstattleiter Norbert Körlin entstand.<br />

Doch zurück zur Simulation von Sentry. Abbildung 3 zeigt das<br />

vom Gehäuse losgelöste Interface des Gasmessgerätes. In der<br />

Mitte befindet sich das Farbdisplay, das von drei Tasten rechts<br />

und links umrandet wird. Mit diesen drei Tasten soll die vollständige<br />

Steuerung des Gerätes erfolgen, was dazu führt, dass<br />

diese funktional doppelt belegt sind. Es gibt die Möglichkeit, für<br />

die Auswahl im entsprechenden Menü die Auf- und Abtasten<br />

kurz zu drücken, mit der rechten OK-Taste zu bestätigen und<br />

durch längeres Betätigen (ca. 2 Sekunden) der beiden linken<br />

Tasten die Menüebene zu wechseln. Durch langes Betätigen der<br />

oberen Taste (A) gelangt man in das Anwendungsmenü und<br />

durch das der unteren Taste (M) in das Systemmenü, das aber<br />

an dieser Stelle nicht näher beschrieben werden soll.<br />

<strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong> 91


92 <strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong><br />

In Abbildung 4 ist ein Auszug der Funktionalität von Sentry schematisch dargestellt.<br />

Obwohl es sich hier nur um einen Teil des gesamten Bedienprozesses handelt, wird<br />

deutlich, wie komplex die Technik eines solchen Gerätes ist. Dabei muss selbstverständlich<br />

unterschieden werden, welcher Anwenderkreis angesprochen werden soll.<br />

Die Systemfunktionen für den Kalibrier- und Funktionstest sind hier noch nicht berücksichtigt.<br />

Eine detaillierte Analyse und Synthese sämtlicher Menüpunkte würde, so<br />

habe ich inzwischen festgestellt, eine weitere Diplomarbeit erfordern, besonders dann,<br />

wenn eine funktionierende Simulation erstellt werden soll. Selbst bei einer vorhandenen<br />

Simulation ist die endgültige Realisierung der Software noch ein sehr aufwendiger<br />

Prozess.<br />

Abb. 4: Die verschiedenen Messmodi des Gasmessgerätes


Umsetzung<br />

Was jetzt hier in den Abbildungen zu sehen ist, sind Zeichnungen und nicht die Abbildungen<br />

einer funktionierenden Simulation. Die Diplomandin hat die Menüstruktur<br />

nach der in vielen Hochschulen gelehrten konventionellen Designstrategie entworfen<br />

und dabei versucht, viele der möglichen Eventualitäten zu berücksichtigen. Es handelt<br />

sich bei den Zeichnungen um Vektorgrafiken, die den Vorteil der leichten Skalierbarkeit<br />

aufweisen, ohne dass Einbußen in der Qualität zu befürchten sind. Alle Grafiken<br />

sind mit Illustrator erzeugt worden. Um diese Grafiken mit Processing verarbeiten zu<br />

können, ist es unbedingt notwendig, dass sie im svg-Format (Scalable Vector Graphics)<br />

vorliegen. Dieses Format kann aus Illustrator exportiert und in Processing importiert<br />

werden. Man hat also die Möglichkeit, mit einem Grafikprogramm wie Illustrator oder<br />

Inkscape die Oberfläche zu gestalten und das Ergebnis für die Simulation zu verwenden;<br />

das Grafikprogramm dient also gewissermaßen als Resource Construction Set,<br />

also als Gestaltungsprogramm für grafische Oberflächen.<br />

Natürlich ist auch wieder nichts ohne Haken und Ösen. Beim Import von Vektorgrafiken<br />

verzichtet Processing bedauerlicherweise auf die Darstellung von Text. Dieser<br />

muss vorher in einen Polygonzug umgewandelt oder durch eigenen Text in der Simulation<br />

ersetzt werden. An solche Defizite ist man als Programmierer gewöhnt, man<br />

schreibt einen Work-Around für solche Fälle. Anfängern hingegen machen solche<br />

Dinge sehr zu schaffen, daher sollten Mankos dieser Art schnell beseitigt werden. Zur<br />

Zeit ist die Version 1.21 die stabile Ausgabe von Processing. Auf dem Weg zu Version<br />

2 ist momentan die Beta-Version 1.94 aktuell. Die hier vorliegenden Simulationen sind<br />

mit Version 1.91 erstellt.<br />

Eine Vorabversion der Implementierung des User-Interfaces zeigt Abbildung 5. Es handelt<br />

sich hierbei um den Modus »Einfache Messung«, der gleich nach dem Einschalten<br />

aktiv ist. Das System besteht aus vier Teilen, den drei Tasten und dem Display. Jede<br />

Taste besteht aus zwei Grafiken, die je nach Aktivierung oder Nichtaktivierung verwendet<br />

werden, so kann der High-Light-Effekt realisiert werden.<br />

Abb. 5: Sentry – eine Simulation<br />

<strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong> 93


Display<br />

Das Display ist eine Grafik, auf der allerdings die Symbole, die<br />

Uhrzeit, die Überschrift und die Zahlen für die Messwerte der<br />

einzelnen Gase fehlen. Einzig Gasbezeichnungen und Einheiten<br />

sind vorhanden (umgewandelt in Polygone). Bei der Simulation<br />

werden zwei Grafiken verwendet: Nämlich einmal die eben<br />

beschriebene Grafik und dann eine leere, die nur die Symbole<br />

enthält. Programmtechnisch ist das realisiert, indem zwei Klassen<br />

existieren, nämlich die Basisklasse, die die Grafiken der Symbole<br />

beinhaltet, und eine davon abgeleitete Klasse, die den Rest<br />

enthält. In Abbildung 6 sind diese Grafiken abgebildet. Beim<br />

Zeichnen während des Programmablaufs werden die Symbole<br />

als Letztes gezeichnet, so dass sie sich über dem Rest der Zeichnung<br />

befinden; die abgeleitete Klasse benutzt den Zeichenbefehl<br />

der Basisklasse, um die Symbole zu zeichnen (Java ist objektorientiert,<br />

stellt also wie die Sprache C++ Klassen und deren<br />

Vererbung zur Verfügung!). Sämtliche Symbole sind bezeichnet,<br />

so dass aus dem Programm heraus über die Bezeichnung auf<br />

die einzelnen Symbole zugegriffen werden kann. Das hat zur<br />

Folge, dass jedes Symbol, das ja ein Einzelteil der Zeichnung ist,<br />

verschoben, nicht gezeichnet oder neu eingefärbt werden kann.<br />

Realisiert wird das mit der von Processing bereitgestellten Klasse<br />

PShape, die alle diese Funktionen zur Verfügung stellt.<br />

Listing 2 zeigt die Klasse CSymbol, die die Basis für die Symbolbehandlung<br />

bildet. Den beiden Objekten SymbolOK und SymbolX<br />

wird jeweils das entsprechende Grafikobjekt zugeordnet<br />

und je nach Modus wird dieses durch die Funktion HandleSymbol()<br />

gezeichnet oder versteckt. Die hier auf Grund des Umfangs<br />

nicht weiter dargestellte Klasse GDisplayBase beinhaltet sämtliche<br />

Symbole und ist für deren Darstellung zuständig. Die Routine<br />

DrawSymbols() (Listing 3) zeichnet das gesamte Objekt mit<br />

der Funktion winApp.shape(...), wobei aber vor dem Zeichenprozess<br />

durch die einzelnen Symbolroutinen festgelegt wird,<br />

ob gezeichnet oder versteckt werden soll. Der Vorteil dieses<br />

Verfahrens liegt darin, dass Position und Größe der einzelnen<br />

Symbole durch die Basisgrafik (siehe Abbildung 6) festgelegt<br />

sind. Man muss also nicht während des Skaliervorgangs diese<br />

beiden Parameter für jedes Symbol neu berechnen.<br />

GDisplayBase ist die Basisklasse für alle davon abgeleiteten<br />

Display-Klassen wie beispielsweise GDisplayClearance oder<br />

GDisplayMainSelection und stellt diesen alle grundlegenden<br />

Funktionen zur Verfügung. Klassenspezifische Routinen wie<br />

das Zeichnen des jeweiligen Displays werden von der vererbten<br />

Klasse übernommen.<br />

Sehen wir uns dazu Abbildung 7 an, in der das Hauptmenü dargestellt<br />

ist. Über die beiden linken Tasten (Auf und Ab) wird der<br />

entsprechende Modus ausgewählt. Durch den farbigen Balken<br />

(hier bei Freigabemessung) hat der Benutzer die Rückmeldung,<br />

welcher Modus vorselektiert ist; mit »OK« gelangt man dann<br />

94 <strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong><br />

Sentry-Symbole<br />

Listing 2: Die Klasse »CSymbol«<br />

Abb. 6: Überlagerung der Display-Grafik durch Symbole<br />

public class CSymbol<br />

{<br />

public PShape SymbolOK=null;<br />

public PShape SymbolX=null;<br />

public boolean IsOK=false;<br />

public boolean IsActive=true;<br />

public CSymbol()<br />

{<br />

}<br />

public void HandleSymbol()<br />

{<br />

if ((SymbolOK!=null) && (SymbolX!=null))<br />

{<br />

if (IsActive==true)<br />

{<br />

if (IsOK==true)<br />

{<br />

SymbolOK.setVisible(true);<br />

SymbolX.setVisible(false);<br />

}<br />

else<br />

{<br />

SymbolX.setVisible(true);<br />

SymbolOK.setVisible(false);<br />

}<br />

}<br />

else<br />

{<br />

SymbolX.setVisible(false);<br />

SymbolOK.setVisible(false);<br />

}<br />

}<br />

}<br />

}


in diesen Modus. Die grafische Darstellung des farbigen Balkens<br />

geschieht in diesem Fall nicht durch verschiedene Grafiken, die<br />

je nach Bedarf ausgewählt werden, sondern durch ein einziges<br />

grafisches Element, dessen Position und Farbe während des<br />

Programmablaufes verändert wird. Das Gleiche gilt auch für den<br />

Auswahltext, bei dem die Farbe (dunkelgrau oder hellgrau) dem<br />

entsprechenden Zustand angepasst wird.<br />

Buttons<br />

Listing 3:<br />

Symbol-Zeichenroutine<br />

Abb. 7: Menü »Anwendungen«<br />

protected void DrawSymbols()<br />

{<br />

BumpTest.HandleSymbol();<br />

Calibration.HandleSymbol();<br />

Clearance.HandleSymbol();<br />

Probe.HandleSymbol();<br />

winApp.shape(BaseDisplay,x,y,width,heig<br />

ht);<br />

}<br />

Listing 3: Symbol-Zeichenroutine<br />

Wenn Tasten gedrückt werden, erfolgt eine Interaktion des<br />

Benutzers mit dem Programm; es wird ein Ereignis, ein sogenannter<br />

Event, ausgelöst. Auf diesen Event muss das Programm<br />

reagieren, indem es diesen an das entsprechende Modul<br />

weiterleitet und auch die grafische Rückmeldung des Buttons<br />

visualisiert. Für diesen Zweck ist die Bibliothek (Library) »guicomponents«<br />

von Peter Lager (www.lagers.org.uk) verwendet<br />

und teilweise modifiziert worden. Die Events, durch Druck der<br />

Maustasten ausgelöst, werden an das Hauptmodul Sentry und<br />

von dort weiter an die Klasse GInterface geleitet, die das gesam-<br />

te Interface, also Buttons und Displays, beinhaltet. Die Behandlung<br />

dieser Events erfolgt mittels der beschriebenen Bibliothek;<br />

nur das lange Drücken der Tasten über zwei Sekunden, das<br />

benötigt wird, um aus einem Modus heraus zu kommen, wird<br />

durch zusätzliche Routinen bereitgestellt.<br />

Zum Zeichnen von frei gestaltbaren Buttons stellt die Library<br />

»guicomponents« die Klasse GImageButton zur Verfügung,<br />

die mittels vorher erstellter Pixelgrafiken den Button abbildet.<br />

Für Sentry werden aber Vektorgrafiken verwendet, so dass eine<br />

neue Klasse GShapeButton geschrieben werden musste, die den<br />

gleichen Funktionsumfang wie GImageButton zur Verfügung<br />

stellt. Beide Klassen basieren auf GComponent, der Hauptklasse<br />

der Library.<br />

Ausblick<br />

In den nächsten Monaten soll die Simulation des Gasmessgerätes<br />

Sentry weitergeführt werden, so dass eine benutzbare,<br />

erweiterte Library für die im Wintersemester <strong>2011</strong>/12 beginnende<br />

Veranstaltung in der HBK zur Verfügung steht. Neben der<br />

Vervollständigung der grafischen Elemente soll auch Arduino<br />

eingebunden werden, um externe Steuerungen von simulierten<br />

Benutzeroberflächen durchführen zu können.<br />

Am Schluss noch eine kurze Anmerkung: In diesem Artikel ist<br />

weitgehend auf Quelltexte verzichtet worden, da zunächst einmal<br />

die Herangehensweise dargestellt werden sollte. Quelltexte<br />

haben den Nachteil, dass sie in einem abgedruckten Artikel sehr<br />

viel Platz benötigen, ohne dass sie, aus dem Zusammenhang<br />

herausgerissen, ein Verständnis vermitteln können. Der Abdruck<br />

einer einzigen Klasse würde mehr als zwei Seiten füllen.<br />

Dennoch – für das tiefe Verständnis ist das Studium der Quelltexte<br />

notwendig. Sie sollen daher über das Netz zur Verfügung<br />

gestellt werden.<br />

<strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong> 95


Das Design unserer Herkunft ist eine grundsätzlich kooperierende<br />

Disziplin.<br />

Die Zuständigen des Designs kooperieren möglichst zuerst mit<br />

den Gebrauchern selbst, um das Gebrauchen als Aufgabenschwerpunkt<br />

unverstellt zu erfassen. Meist aber mit denen, die<br />

sie höchstens indirekt vertreten, den Auftrag gebenden Personen<br />

und Institutionen. Zudem, vorwiegend fallweise, lassen sich<br />

Designer, wie andere Teilnehmer an Entwicklungsarbeiten auch,<br />

inhaltlich und organisatorisch von jeweiligen Spezialisten beraten,<br />

und umgekehrt.<br />

So wichtig weitergehend auch die Marktforschung, bestimmte<br />

Sozialwissenschaften und andere, die Vorder- und Hintergründe<br />

unserer Lösungsansätze und Entscheidungen beeinflussenden<br />

Disziplinen dabei geworden sind, für das Produktdesign ist<br />

noch immer das Ingenieurwesen die nächstliegende, ständige<br />

und unverzichtbare Kooperationsdisziplin, nicht nur, wenn die<br />

technische Funktion dominiert. Eine wechselseitig fordernde<br />

und anregende Zusammenarbeit mit den Ingenieuren der Entwicklung/Konstruktion<br />

und Fertigungstechnik ist unerlässlich,<br />

da ohne das technisch-konstruktive und fertigungstechnische<br />

Planen und Umsetzen überhaupt nichts geht im industriellen<br />

Design. Erst recht bei einer abnehmenden Integration technischer<br />

Grundlagen und Gestaltungsweisen in die Designausbildung,<br />

nicht zuletzt eine Folge unziemlicher Ignoranz der Designtheorie<br />

und Publizistik gegenüber den Ingenieurleistungen<br />

bei der Produktentwicklung und deren Teilhabe am Design,<br />

sowohl konzeptionell als auch gestalterisch.<br />

96 <strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong><br />

Vor 60 Jahren<br />

Der »Rögnitz«:<br />

Das Gestalten<br />

der Form<br />

Alfred Hückler<br />

Immerhin gibt es unter den Designern solche, die durch eine<br />

entsprechende Begabung, Ausbildung und Erfahrung in der<br />

Lage sind, detaillierte, zuweilen grundlegende, funktionelle, konstruktive<br />

und fertigungstechnische Ideen in die Entwurfsarbeit<br />

der Konstrukteure einzubringen, aber nicht selten läuft es auch<br />

umgekehrt. Allerdings wird selbst der jeweils beste Konstrukteur<br />

wiederum beim Anwenden hochfein ausgearbeiteter Technologien<br />

mit den damit speziell befassten Technologen kooperieren,<br />

um nicht die Entwürfe erst nach deren voreiliger Fertigstellung<br />

ändern zu müssen. Jedenfalls, und nicht nur im hochtechnischen<br />

Bereich, sind grundsätzlich Ingenieure, speziell als Konstrukteure<br />

und Technologen, »formwirksam«: Neben dem Entwickeln<br />

und Erfinden ist das Konstruieren dadurch gekennzeichnet,<br />

dass es, zweckgerichtet und wirtschaftlich machbar »eine<br />

neue räumliche Anordnung von Baustoffen schafft« 3 . Indessen<br />

hat aber der Designer beim Herausarbeiten der Formen eines<br />

Produktes, besonders eines solchen von höherer funktionaler<br />

und baulicher Komplexität, die von anderen professionell nicht<br />

zu erbringende Kompetenz in der, dem Produkt (en gros und en<br />

detail) und dessen Gebrauchsweise, identifizierenden Ordnung<br />

und Formensprache (das jeweils Typische) und dem Formieren<br />

aller formwirksamen Lösungsanteile der beteiligten Disziplinen<br />

zu einer jeweils integrierende Gesamtform bis hin zum finish, der<br />

Feinform, sowie die ausgebildete Fähigkeit zur gestalterischen<br />

Entscheidung über eine angemessene kommunikativ-ästhetische<br />

Designqualität als Ganzes.<br />

Wenn auch zuweilen die notwendige sachliche Selbstdarstellung<br />

für ein verständnisvolles und nur dadurch wirkungsvolles<br />

Kooperieren als bloße »Rechtfertigung« denunziert wird, welche<br />

Designtheoretiker nicht interessiere, so ist doch in dieser<br />

Hinsicht festzuhalten: Ohne deutlich gemachte Kernkompetenzen<br />

und die sie begleitenden »Philosophien« (wünschenswert<br />

auch solche, über die beide gemeinsam verfügen müssen) und<br />

die wechselseitige, verständnisvolle Kenntnis davon ermöglicht<br />

erst eine jeweils stimmige Bestlösung einer gemeinsam verbindlich<br />

festgelegten Aufgabenstellung.


Es scheint ideal, würde die Kooperation der Designer mit den<br />

Ingenieuren in Personalunion, gleichermaßen als technisch-konstruktiv,<br />

wie kommunikativ-ästhetisch befähigter Entwerfer und<br />

Gestalter gelingen – Anfang der fünfziger Jahre war das bereits<br />

eine durch Erfahrung gewonnene Zielvorstellung von Rudi<br />

Högner, dem Nestor der Hochschulausbildung im Design technischer<br />

Investitions- und Konsumgüter in Deutschland – dem<br />

ich deshalb den Ruf an die Weißenseer Hochschule verdanke.<br />

Das war 1970. In diesem Sinne entwickelte ich in mehr als <strong>25</strong><br />

Jahren ein entsprechendes Lehrprogramm. Die funktionellbegriffliche<br />

und methodologische Integration war dafür ebenso<br />

notwendig wie eine interdisziplinäre Designgeometrie 28 . Dem<br />

gegenüber vorherrschend, werden immer noch die Anliegen<br />

jeweils des formgestaltenden Designs oder der designrelevanten<br />

Technik in der Lehre weitgehend additiv (als Module) in sehr<br />

unterschiedlich intensiver Verknüpfung, von passiv bis symbiotisch,<br />

eingebracht. Die dazu in <strong>Öffnungszeiten</strong> begonnene<br />

Thematik sollte ausgebaut werden, sowohl aus praktischer als<br />

auch aus theoretischer Sicht, um die Effizienz durch Sinnfälligkeit<br />

der Argumente zu steigern. Währenddessen herrscht noch<br />

immer in der Praxis und Theorie eine Stimmungslage vor, wie<br />

sie Diethard Janßen 37 treffend beschrieben hat. Äußerungen,<br />

wie »ein menschliches Wesen kommt in der Vorstellungswelt<br />

eines Ingenieurs nicht vor« 26 , oder »Der Benutzer fällt durch die<br />

Maschen dieses Quantitätsnetzes«, weil »Ingenieure nur solche<br />

Probleme bearbeiten könnten, »die dem mathematischen Kalkül<br />

zugänglich sind« 24 , entzögen dem Kooperation bedürftigen<br />

Designer jeden partnerschaftlichen Rückhalt, ohne den er nichts<br />

(aber auch gar nichts) durchsetzen könnte. Tiefgreifender, auch<br />

für die Designtheorie, ist der von Bonsiepe darin aufgestellte<br />

Alleinvertretungsanspruch, dass der »Formbegriff an das Design<br />

gebunden« sei, und »aus dem Raster der herkömmlichen Ingenieurwissenschaften,<br />

insbesondere in der Konstruktionslehre(?!)<br />

und des Maschinenbaus falle«. Solche eher wirklichkeitsfremden<br />

Behauptungen blockieren den Diskurs.<br />

Ingenieur und Gebrauchsaspekte<br />

Was etwa den entwerfenden Weitblick anbelangt, hatte vor<br />

etwa 150 Jahren der Ingenieur Max Maria von Weber am<br />

Beispiel des Eisenbahnwesens einen Betrachtungsbereich für<br />

Ingenieure umrissen, der für Designer erst im letzten Viertel des<br />

gerade ausgegangenen Jahrhunderts so richtig wahrgenommen<br />

worden ist. Das so genannte Systemdesign wurde bereits vor<br />

fast hundert Jahren von Ingenieuren industriell verwirklicht. Der<br />

berühmt-berüchtigte F. W. Taylor, der die Arbeitswissenschaften<br />

als Ingenieurdisziplin einführte, beschrieb etwa zur gleichen<br />

Zeit, wie man eine Sense ergonomisch richtig gestalten müsse,<br />

ergänzend zu seiner ansonsten zerlegenden Vorgehensweise,<br />

nach Umfang und Tiefe in einer ganzheitlichen Betrachtung, wie<br />

sie Designer sechzig Jahre später pflegten.<br />

Bereits in den Jahren unmittelbar nach 1940 hatten die Ergebnisse<br />

der Arbeitswissenschaften der Ingenieure und deren Human<br />

Engineering ihren festen Platz, ab den Fünfzigern in unserer<br />

praktischen und theoretischen Tätigkeit in der industriellen<br />

Formgestaltung, dicht gefolgt von der Ingenieurpsychologie<br />

(F. Klix, K.-P.Timpe u. a.). Ingenieure lieferten Anfang 2002 ein<br />

auf das Benutzerverhalten gerichtetes Programm TREVIS zur<br />

Evaluierung der Gebrauchsfähigkeit interaktiver Geräte bereits<br />

während der Entwurfsphase. Und das Interface ist ohnehin von<br />

Ingenieuren als ein Gegenstand der Produktgestaltung definiert<br />

worden, längst bevor theoretische Begleiter der Designer darin<br />

ihre Domäne entdeckt zu haben glaubten. Schließlich wurde<br />

sogar die Frage »Wie wollen wir leben?« als Ausgangspunkt aller<br />

Zukunftsentscheidungen für das, was die Ingenieure entwerfen<br />

und produzieren sollen, auf dem Kongress 1976, zum hundertsten<br />

Jahrestag der Gründung des Vereins Deutscher Ingenieure<br />

ausgegeben.<br />

Ingenieur und Form - und Ästhetik<br />

1836 fragte ein Parlamentsausschuß James Nasmyth: »Wie würden<br />

Sie die Kombination der Schönheit des Entwurfs mit der<br />

Maschinerie wirksam werden lassen« 12 . Nasmyth ging aus der<br />

Werkstatt von Maudslay hervor, dem Erfinder des Kreuzsupports,<br />

als Ersatz der unmittelbar wirkenden menschlichen Hand,<br />

dem eigentlichen Schlüssel der industriellen Revolution. Die<br />

Ingenieure Watt und besonders Maudslay waren auch als große<br />

Gestalter anerkannt. »Ich würde die Wege zeigen, die schönsten<br />

Formen mit der höchsten wissenschaftlichen Anwendung der<br />

Materialien zu kombinieren, angewandt bei der Formierung der<br />

Maschinerie mit der höchsten Ökonomie. In der Mehrheit der<br />

Fälle stimmt die höchste wirtschaftliche Anlage des Materials<br />

mit solch einer Form überein, die sich als die eleganteste Erscheinung<br />

für das Auge ergibt.« Zusammenfassend betonte er<br />

»die gänzliche Vereinbarkeit der Eleganz der Form mit bloßer<br />

Nützlichkeit«. »In mechanischen Bauten (Strukturen) und Erfindungen<br />

habe ich mich immer bemüht, den gewünschten Zweck<br />

durch den Einsatz wenigster Teile zu erreichen, im Aussondern<br />

jeder nicht absolut notwendigen Details und mich sorgfältig<br />

hütend vor dem Eindringen bloß traditioneller Formen und Anordnungen.<br />

Die Letzteren sind fähig, sich in jene Klarheit (Einfachheit)<br />

und Unmittelbarkeit des Vorganges einzuschmeicheln<br />

und einzumischen, welche in allen Fällen als Qualität in mechanischen<br />

Gebilden so wünschenswert ist. Der einfache gesunde<br />

Menschenverstand muß im Gesamtentwurf augenscheinlich<br />

(einleuchtend) sein, wie (auch) in der Form und Anordnung der<br />

Details, und ein allgemeiner Charakter strenger Nützlichkeit muß<br />

das Ganze durchdringen, begleitet mit soviel Aufmerksamkeit<br />

für die Anmut der Form, wie sie konsequent der Natur und dem<br />

Zweck der Struktur (des Baus) entspricht.« (Hervorhebungen<br />

von Nasmyth; Übersetzung Hückler).<br />

<strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong> 97


G.F. Reichenbach brachte solche Gestaltungprinzipien aus England<br />

nach Deutschland und schuf mit seinen Mitarbeitern Liebherr<br />

und Frauenhofer dem entsprechend anspruchsvoll gestaltete<br />

wissenschaftliche Geräte und selbst die elegante, nach ihm<br />

benannte Mechanikerdrehbank. In Deutschland begann das<br />

Reflektieren über das Maschinenbauen und das Formieren zu<br />

einer selbständigen technisch-konstruktiven Wissenschaft mit<br />

Ferdinand Redtenbacher. Doch erst seinem universell gebildeten<br />

Schüler Franz Reuleaux gelang es diese zu etablieren. 1854, in<br />

der »Konstruktionslehre für den Maschinenbau« 1 , unterscheidet<br />

Reuleaux zwischen Grundform, Zweckform und Beziehungsform<br />

und beginnt damit eine systematische Morphologie<br />

zu entwickeln. Dieses, sein »Der Konstrukteur« (3. Auflage 1871,<br />

später »Hütte«) und seine »Kinematik« 1875 und 1900 sind<br />

beispielhafte Zeugnisse großen Formbewusstseins und Grundlagen<br />

jedes konstruktionstechnisch basierten Ingenieurstudiums.<br />

Mit Reuleaux und den von ihm entdeckten Aufbaugesetzen<br />

machinaler Strukturen und dem ihnen innewohnenden Relativitätsprinzip<br />

der Umkehrungen und Abwandlungen als<br />

Grundlage des gesetzmäßig gestützten technischen Gestaltens,<br />

begann erst die urständige Technikwissenschaft. Auf der Ingenieurseite<br />

war er der Vordenker in Sachen Qualität, Technik und<br />

Kultur vor der Gründung des Deutschen Werkbundes. Sieht<br />

man sich den Katalog für »verbesserte Metall verarbeitende<br />

Maschinen« der Firma Sellers & Co. , Philadelphia, von 1895 an,<br />

dann wird man an die kritischen Briefe von Reuleaux über die<br />

Weltausstellung aus eben dieser Stadt davor erinnert. An den<br />

Maschinen kann man formale Qualitäten erkennen, die denen<br />

(auch aus Weißensee und Ulm) 60 Jahre später nicht wirklich<br />

nachstehen: technoide Formen, von Ingenieuren gestaltet, denen<br />

eine berufsethische Verantwortung für Formkultur und die<br />

dafür notwendige unverbildete Empfindsamkeit für ästhetische<br />

Qualitäten technischer Formen noch zueigen war, wie auch<br />

solchen Pionieren wie Maudslay, Nasmyth, Reichenbach, Lilienthal,<br />

Junkers, Maillart, Bauersfeld, Fuller, Zuse, Nervi, u.v.a. Sie<br />

waren es, die in vielerlei Weise das diesbezügliche Verständnis<br />

und Empfinden für eine notwendige und angemessene Form-,<br />

Produkt- und Gebrauchskultur bei Ingenieuren anmahnten,<br />

einführten und nicht aussterben ließen.<br />

Immer mehr Ingenieure befassten sich mit den Zusammenhängen<br />

von Technik und Kultur, C. Weihe (Schüler von Reuleaux),<br />

begleitet von Klärungen des Wesens des Konstruierens als Entwicklung,<br />

Erfindung und Gestaltung, sowohl mit zielgerichteter<br />

Phantasie wie in mathematisch-naturwissenschaftlicher Disziplin,<br />

mithin auch die Beziehung zwischen Kunst und Technik: so<br />

etwa, dass das konstruktive Gestalten – nach Kesselring – zwischen<br />

reiner Wissenschaft und Kunst stehe 6 , nicht nur als reine<br />

Geistesarbeit, sondern als »liebevolle Durcharbeitung« um es<br />

baulich in einer angenehmen, ansehnlichen Gestaltung zu verwirklichen,<br />

da diese von der Vollendung des Werkes untrennbar<br />

ist. Die Triebkräfte zur Gestaltung bei starken Ingenieuren entsprächen<br />

durchaus denen der Künstler, »die Lust am Zeugen,<br />

98 <strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong><br />

die Freude am Erschaffen« wie Max Eyth, der Ingenieur-Dichter,<br />

es ausdrückte. Und das sowohl im Erfinden wie im Verwirklichen,<br />

ein Luftschiff zum Fliegen zu bringen, ebenso, wie es zu<br />

bauen. Diesel: »Es ist schön, so zu gestalten und zu erfinden, wie<br />

ein Künstler gestaltet und erfindet«. 1930 führt Krenker, Rektor<br />

der Technischen Hochschule Berlin-Charlottenburg, in seiner<br />

Rektoratsrede zum Thema »Formzerfall und Formaufbau« (!) u.<br />

a. aus 32 : »Die Freude an der Form neuer Ingenieurwerke, an der<br />

Sauberkeit des Gefüges, an dem Schliff und Glanz des Metalles,<br />

der Präzision der ganzen Erscheinung, etwa eines Zeppelins, ist<br />

vielfach … schon so groß wie jene, wenn man auf der Akropolis<br />

… bezaubert steht, der man nie den Begriff der Kunstform abgesprochen<br />

hat …«. »Man wendet ein, es fehle der freie künstlerische<br />

Drang, das Schöpferische, die Phantasie des Künstlers. Ich<br />

antworte: ein Michelangelo war auch nicht frei, als er die Kuppel<br />

von St. Peter formte, und dann weise ich hin auf Flugzeug und<br />

Schiff. Flugzeug, der Schwalbe gleich, und Schiff mit stolzem<br />

Bug kann Kunstform sein, sicher werden und ist es z.T. geworden,<br />

weil die Form, die ästhetische Freude auslöst, am allerwenigsten<br />

durch Rechnen allein entstand, und das Errechnetsein<br />

für die Frage nach Anerkennung als Kunstform sekundär ist.«<br />

1936, ebenfalls in einer Rektoratsrede, äußerte der Rektor der<br />

Technischen Hochschule Aachen, Gruber, im gleichen Sinne 32 ,<br />

»im Anfang stehe für die Hochschule ein wissenschaftlich geprägter<br />

Erkenntniswillen, dessen Umsetzung in die Raum- und<br />

Körperform des Werkes immer und immer wieder dem Akt<br />

wissenschaftlichen Denkens einen schöpferischen Akt räumlichkörperlichen<br />

Gestaltens zuordne. Das Hochschulstudium werde<br />

nur dann seinen Zweck erfüllen, wenn es dem Studierenden<br />

die Möglichkeit zu dieser schöpferischen Gestaltung gebe. Ein<br />

Hochschulstudent müsse wissen, dass es eine Technik als Kunstwerk<br />

gebe, insofern der Techniker imstande sei, schöpferisch zu<br />

gestalten, und dass der Ingenieur in seiner höchsten Form ein<br />

Künstler sei. «<br />

Neben den zunehmend durch experimentell gestützte Forschung<br />

besser beherrschten Zweckformen entstanden durch<br />

die gewachsenen Kenntnisse in der Belastungsmechanik, Fortschritte<br />

in der Gestaltung der Bauformen, die in der Entwicklung<br />

des Leichtbaus und seiner revolutionierenden Formenwelt<br />

gipfelten. Der Leichtbau wurde zur technischen Lösung der<br />

modernen industriellen Formgestaltung, mithin zum epochalen<br />

Leitbild der Technischen Ästhetik seit dem ausgehenden 19.<br />

Jahrhundert – bis heute! Diese Entwicklung verlief als Folge<br />

»ausmagernder« Formgebung vom Massivbau – Sparbau-<br />

Leichtbau – bis zum Ultraleichtbau, verstärkt mit anderen<br />

Maßnahmen hin zur Minimalform, aber auch mit diesbezüglich<br />

innovativen Lösungsansätzen, sowohl aufgabenbezogen konzeptionell,<br />

als auch durch neu erkannte Konstruktionsprinzipien.<br />

Gewissermaßen begleitend wurden, meist wechselseitig<br />

verbunden, die Eigenschaften der Werkstoffe verbessert und<br />

neue entwickelt – dem entsprechend die Anwendungstechnologien<br />

und Einsatzmöglichkeiten. So ließ sich der Leichtbau als


Form-, Stoff- und Integrationsleichtbau begreifen. Zwei Generationen<br />

nach Reuleaux vermittelten Bücher, die den epochalen<br />

Fortschritt in der Gestaltung der Bauformen manifestierten.<br />

Heute noch weitgehend gültig und anregend, konnte G. I.<br />

Meyer das »Erfinden und Konstruieren«, 1926, bereits in der<br />

2. Auflage, Reuleauxsche Denkansätze verwendend, auf eine<br />

neue Höhe dieses Tuns erkennen. Inhaltlich und in der Art und<br />

Weise der Vermittlung durch C. Volk vorbereitet, besonders<br />

durch seine Schrift »Der konstruktive Fortschritt«1936, etwa<br />

zeitgleich mit dem Gründungswerk einer Theorie der »Technik<br />

des Konstruierens« von G. Wögerbauer 4 , waren es Bücher zum<br />

Leichtbau, wie solche über Vorzugsformen der Fertigungstechnik,<br />

die konstruktiv-technologisches Grundwissen – in den Grenzen<br />

der damaligen technologischen Möglichkeiten – als sicherndes<br />

wie anregendes Gestaltungspotential boten. Vorn an standen<br />

die »Leichtbau-Fibel«von W. Kloth 1947 35 , und – ein noch gesamtdeutsches<br />

Unternehmen –<br />

»Das Gestalten der Form«<br />

1950 bei B.G. Teubner in Leipzig herausgekommen 5 , von H.<br />

Rögnitz und anderen Ingenieuren, allesamt Dozenten der legendären<br />

Beuth- und Gaußschule (Heute: Beuth-Hochschule) im<br />

Westteil Berlins verfasst. Aber nicht nur das.<br />

»Der Rögnitz« war zugleich ein Manifest, ganz bescheiden<br />

daherkommend, für Kompetenz und Ethos in Fragen der Form<br />

(und mehr), ein Resümé gewissermaßen der oben genannten,<br />

ursächlich von Ingenieuren bestimmten Formenentwicklung.<br />

Dagegen offenbart sich der erhobene Alleinvertretungsanspruch<br />

in Formfragen (und das noch mit seiner Reduktion des<br />

Design auf Interface-Gestaltung), als Verzicht auf Teilhabe an<br />

einer wirklichkeitsorientierten Designtheorie (von Wissenschaft<br />

ganz zu schweigen), indem grundlegende Tatsachen liquidiert<br />

werden. Unverkennbar werden im »Rögnitz« und den ihm<br />

folgenden Büchern die beispielhaften Quellen des Formwandels<br />

industrieller Produkte vorgeführt, wie wir ihn erleben bzw.<br />

praktizieren konnten, nicht als Einfälle, um es bloß irgendwie<br />

auffällig anders machen zu wollen. Allein, als Beispiel, dass Teileformen<br />

ohne Hinterschneidungen mit verhältnismäßig tiefen<br />

Aushebeschrägen beim Urformen, eher nur eine Formteilung<br />

d.h. ein zweiteiliges Formwerkzeug ohne Kern benötigen, ergibt<br />

wirtschaftlichere Lösungen als aufwendigere Ausführungen mit<br />

Hinterschneidungen, damit eine deutlich andere, »modernere«<br />

Gestaltcharakteristik. Bild 1 zeigt exemplarisch diesen, die Herstellung<br />

vereinfachenden Schritt in der Formevolution.<br />

Bild 1: Auszug von »Rögnitz« (Quelle A. Hückler)<br />

<strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong> 99


Dazu einige Gedankensplitter aus dem »Rögnitz«:<br />

»Die Konstruktionsarbeit hat ihr gestecktes Ziel erreicht, wenn es<br />

gelingt, die Konstruktionsgedanken in möglichst vollkommener<br />

Form zu verwirklichen. Damit ist dann ein technisches Erzeugnis<br />

geschaffen, das in bestmöglicher Weise den Anforderungen seines<br />

Gebrauchs entspricht, das aber auch fertigungstechnisch durchgebildet<br />

ist, das sich wirtschaftlich auf dem billigsten Wege herstellen<br />

lässt und das in seiner Form schön und ästhetisch einwandfrei<br />

erscheint […] Aber die beste Kenntnis der (dazugehörigen) Wissensgebiete<br />

kann nicht zum Erfolge führen, wenn sie nicht mit dem<br />

Gefühl, dem Sinn für Formen und Größen gepaart ist. Der Konstrukteur<br />

muß die Formen vorhersehen können, […] wie sie entstehen.<br />

So hat der Konstrukteur schließlich die Fähigkeiten […], dem rein<br />

in der Vorstellung erwachsenen Gedanken ausführbare Formen zu<br />

geben, […] Maschinen und Geräte sollen unbedingt betriebsfähig<br />

sein und zuverlässig wie sicher arbeiten. Dieser Forderung sind alle<br />

anderen Forderungen, auch die nach wirtschaftlicher Herstellung,<br />

unterzuordnen. Zugunsten der Betriebsfähigkeit eines Gerätes sind<br />

Schwierigkeiten der Fertigung in Kauf zu nehmen. […] Besondere Bedeutung<br />

gewinnt die Forderung nach einer betriebsgerechten Gestalt<br />

bei allen Maschinen und Geräten, an denen Menschen arbeiten. […]<br />

Betriebsgerechte Form bedeutet auch, dass alle Teile beim Bedienen,<br />

Auswechseln, usw. bequem erreichbar sind. […] Übersichtlicher<br />

Aufbau und eindeutiges Anordnen der Zubehörteile erleichtern<br />

das Bedienen, Warten und Wiederherstellen. […] Es kann sein, dass<br />

solche Anordnung etwas höhere Herstellungskosten verursacht.<br />

Wird aber dadurch der Betriebswert der Konstruktion erhöht, so<br />

sind solche Mehrkosten vertretbar. […] Art und Form der (Bedien-)<br />

Elemente haben sich dem Zweck, der Größe, Dauer und Häufigkeit<br />

des Schaltens anzupassen. […] Sinnfällige Bewegungsrichtung usw.<br />

usf. […] Grundlage der Technik ist praktisches, klares, zweckhaftes<br />

Denken. Zweckmäßigkeit allein kann den Menschen jedoch nicht<br />

restlos befriedigen. Der Mensch bejaht eine Sache erst, wenn er ihr<br />

auch eine schöne Seite abgewinnen kann […] vom Gefühl bestimmt.<br />

Beim Gestalten wirken nun Verstand und Gefühl unbewußt zusammen.<br />

[…] Was nicht irgendwie anziehend ist, bleibt unbeachtet oder<br />

wird abgelehnt. Von verschiedenen Maschinen gleicher Verwendbarkeit<br />

wird die (dem entsprechend gestaltete) Art am leichtesten<br />

Käufer finden, wird auch von Arbeitern in der Benutzung bevorzugt<br />

werden und ihnen das Arbeiten daran erträglicher erscheinen lassen.<br />

Wenn nach solcher Betrachtung der Anspruch auf schöne äußere<br />

Erscheinung als Zweckforderung aufgefasst werden kann, dann<br />

liegt darin kein Herabwürdigen des Schönheitsgefühls, sondern nur<br />

eine tiefer begründete Wertschätzung«. […] Nach 179 Seiten folgt<br />

abschließend eine zehnseitige Abhandlung »Die schöne Form«, die<br />

u.a. mit diesen Sätzen endet: »Ein Konstrukteur muß jedenfalls die<br />

Fähigkeit haben, sich in die Kraftwirkungen innerhalb der geplanten<br />

Teile möglichst drastisch einzufühlen. Dies […] trägt dazu bei, dass<br />

das Äußere […] organisch und harmonisch ausgeglichen wirkt. Die<br />

Mitbeteiligung des Gefühls in jedem Stadium der Entstehung führt<br />

zur […] Zweckmäßigkeit und Schönheit. […] Liebe zum Werk ist das<br />

Geheimnis der schönen Form.«<br />

100 <strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong>


Zugegeben: Solche Gedanken heften sich an Vorbilder oder an<br />

Vorbild schaffende Überlegungen, um vom objektiven, der technologischen<br />

Entwicklung unterliegenden Lösungsraum heraus<br />

ein jeweiliges Formenrepertoire aufzubauen, Vorzugsformen,<br />

die exemplarisch angepasst werden.<br />

Der Eindruck, die heutigen Designtheoretiker hätten die Komplexität<br />

entdeckt, verfliegt, wenn man H. Wögerbauers »Die<br />

Technik des Konstruierens« von 1943 sieht, ein Fest für systemtopologische<br />

Darstellungen komplexer Zusammenhänge.<br />

Komplexität war auch einer von zehn Grundsätzen zur guten<br />

Gestaltung in den 1968 herausgebrachten »Leitlinien-Technische<br />

Formgestaltung« der Ingenieurorganisation KDT der DDR 11 .<br />

1974 hatte F. Hansen in seiner »Konstruktionswissenschaft« 7<br />

etliches von dem aufgenommen und gelöst, worüber die »Designtheorie«<br />

heute noch, über sich als Theorie des Entwerfens<br />

schlechthin hinaus(!) streitet: U = U1 & U2<br />

Treffender und in dieser Kürze und Klarheit geht es kaum, die<br />

inhaltlichen Gemeinsamkeiten und Unterschiede, wie die Kooperationspflicht<br />

zwischen den Entwurfsanteilen der Ingenieure<br />

und Designer darzustellen. Danach lassen sich die gesamten, das<br />

Erzeugnis definierenden Umweltbeziehungen U in zwei miteinander<br />

unlösbar verknüpften Teilmengen U1 und U2 erfassen:<br />

U = U1 & U2. U1 steht für Umweltbeziehungen, die allein durch<br />

physikalische Größen (technisch) wirksam sind, U2 für Umweltbeziehungen,<br />

die zwar auf physikalischen Ursachen beruhen,<br />

aber nur über menschliche Reaktionen wirksam werden. Dazu<br />

werden soziologische, physiologische, psychologische und ästhetische<br />

Wirkungen angegeben. Da hätte die sich erst später<br />

gründende Designwissenschaft andocken können. Was den Entwurfsprozess<br />

angeht, wurde der Abschnitt, in dem prinzipielle<br />

Lösungen erarbeitet werden (der noch formlich unbestimmte),<br />

deren Beziehungsgefüge zwischen den beteiligten Elementen in<br />

Form von baum- und netzartigen Punkt-/Linien- bzw. Ecken-/<br />

Kantengebilden, d. h. Strukturbild-Graphen als Topologie kenntlich<br />

gemacht, eigentlich ein Teilaspekt davon (Romero-Tejedor<br />

u. v. d. Boom 28 fanden den treffenden Begriff »Systemtopologie«<br />

dafür) im Unterschied zur darauf folgenden eigentlichen Formentwicklung,<br />

deren Beginn mit »Formtopologie« 30 einzuordnen<br />

wäre).<br />

Seitdem ist vieles, aber nicht viel an grundsätzlicher Klarheit<br />

dazugekommen. Die Konstruktionswissenschaft entwickelte<br />

sich unter dem Druck, den konstruktiven Entwicklungsprozeß<br />

durch Algorithmierung effizienter zu gestalten und zugleich das<br />

erfinderische Potential zu erhöhen, nicht zuletzt im Hinblick auf<br />

die voraus zu sehende Computerisierung CAD. Sinnstiftende<br />

Ansätze der Ingenieurseite, wie von Eugene S. Furguson, oder<br />

Lösungswege zur Formanlage, der »Grundgeometrie« von<br />

A. Jung 31 u.v.a. fehlen weitgehend in den Hinweisen der Designtheorie,<br />

die sich so ziemlich hilflos ohne diesen wesentlichen<br />

Ansatz, Form zu verstehen, bemüht. Umgekehrt wird das designtheoretische<br />

Grundanliegen in der Konstruktionswissenschaft<br />

hauptsächlich unter »Kommunikationsfunktion« abgehandelt.<br />

Dies wäre die bestmögliche Patenschaft bei der Geburt einer<br />

Designwissenschaft gewesen, jedoch wurde mehr als ein<br />

Vierteljahrhundert lang das Formulieren einer verbindenden<br />

Designwissenschaft behindert, weil wohl viele Vertreter der<br />

ungewissen Wissenschaften sich mit solcherart Denkweisen<br />

nicht kontaminieren wollten. Selbst respektable Autoren mäkeln<br />

befangen an der ingenieurartigen Diktion herum. Ich hatte<br />

das Glück an diesbezüglichen konstruktionswissenschaftlichen<br />

Erkundungen teilnehmen zu können und anderseits, die Ergebnisse<br />

in die Designlehre und Theorie zu integrieren. In Feldversuchen<br />

mit Ingenieuren und Designern gemeinsam erfolgreich<br />

gereift, konnte ein konstruktionswissenschaftlich formuliertes<br />

Designverständnis entstehen. So gelang es, ein beiderseitig zueinander<br />

verständiges, hoch effektives Arbeiten zu ermöglichen.<br />

Dem energischen öffentlichen Einfluß mancher Kulturpessimisten<br />

Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts folgend, verloren,<br />

durch deren Trennung hehrer Kunst als bestimmende Kulturmanifestation<br />

von der Technik als bloßer »Zivilisationshilfe«,<br />

die Mehrzahl der Ingenieure das Selbstbewusstsein, den urständigen<br />

Kulturbeitrag zu leisten. Weitgehend erfolgte ein Rückzug<br />

auf mikroökonomische Positionen einer »Wirkungsgradfexerei«<br />

3 . Damit verlor sich auch jene empfindsame Ausbildung<br />

der Sinne, die wir einer künstlerischen Veranlagung zuordnen.<br />

Genau das, was Leugner des Designs als grundständige Disziplin<br />

theoretisch »auslagern« wollten. Mit den inzwischen mühsam<br />

gewonnenen Einsichten gelang es, mit den vom Primat<br />

des Gebrauchens ausgehenden Sichtweisen, Kenntnissen und<br />

Fähigkeiten, die ästhetischen Potentiale von konstruktiven<br />

Lösungen mit denen eines ergonomisch-ästhetisch orientierten<br />

Gestaltungsrepertoires in Einklang zu bringen, Technische Form<br />

und Gebrauchsform, durch die ästhetischen Seiten des Gebrauchens<br />

mitbestimmt, als unauflösliche Dualität zu begreifen.<br />

Die sprachliche Unbestimmtheit, die das »Technische Design«<br />

immer noch mit sich bringt, erschwert das jedoch: betrifft es die<br />

Objektklasse, der sich der Entwurfsvorgang widmet, also die der<br />

technisch-funktional basierten Erzeugnisse, oder ist es die Art<br />

und Weise des Entwerfens, in technischen Kategorien, wie es seit<br />

über einem Jahrhundert im angelsächsischen Sprachbereich mit<br />

der Formulierung Engineering Design, Machine Design Gang<br />

und Gäbe ist und gelegentlich hierzulande als Ingenieur Design<br />

auftaucht, was auf das Entwickeln durch Erfinden und Konstruieren<br />

hinausläuft und heutzutage das Human Engineering<br />

und das aus dem Ingenieurwesen hervorgegangene Interface<br />

Design jeweils mehr oder weniger selbstverständlich einschließt.<br />

Und: »der Rögnitz« hat sogar die ästhetische Qualität der Gebrauchsform<br />

als feste Forderung an die Entwurftätigkeit der<br />

Konstruktions-Ingenieure befunden, allerdings mit der vagen<br />

Annahme, dies könne, durch Erfahrung geschult, gefühlsbezogene<br />

Gestaltungsanteile ohne eine dafür nötige besondere<br />

<strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong> 101


Ausbildung zu vermissen. Die »Schönheit der Form« in die Höhe<br />

der Zweckforderungen an die Gestaltungsarbeit der Ingenieure zu<br />

bringen, war eine mutige Großtat, gemessen an der Tabuisierung<br />

der Formprobleme und dem Verdikt von Schönheit technischer<br />

Gebilde als durch Gestaltung zu lösendes übergreifendes Problem,<br />

de facto Jahrzehnte lang durch ideologische Überfrachtung bewirkt.<br />

Das geschah allerdings konsequent, dem Design, anders als es<br />

die Designer praktizieren, keine eigenständigen Grundlagen zuzubilligen:<br />

was es nicht gibt oder nicht mehr geben soll, kann oder<br />

darf auch keine Grundlagen haben.<br />

Schrumpfen, Verschwinden Grundlagen?<br />

Für das Designpersonal ist die Verständigung mit den kooperierenden<br />

Partnern ohne deutlich erkennbare, professionell durch<br />

andere nicht ersetzbare Kompetenzen, existenziell notwendig. Das<br />

zum modischen Ritual gewordene Zerreden des Designs unserer<br />

Art zu einer nicht grundständigen Disziplin, also nur als Konglomerat<br />

empirisch ausgesuchter Bezugs- bzw. Leihdisziplinen ohne<br />

eigenständigen Anteil, schwächt die Stellung des Designpersonals<br />

innerhalb oder außerhalb der an der Produktentwicklung beteiligten<br />

Mitwirkenden anderer Fachgebiete. Das Existenz gefährdende<br />

Leugnen allein dem Design anrechenbarer Leistungen, versteht kein<br />

Gestalter, der sein tägliches Denk- und Handwerk nicht nur reflexartig<br />

betreibt, sondern auch reflektiert. Eine Disziplin ohne eine<br />

professionell eigene Fachlichkeit ist schlicht überflüssig.<br />

Design, verstanden als schlechthin vorgreifendes Formulieren (Entwerfen)<br />

von dinglichen und nicht dinglichen Möglichkeiten und<br />

Wirklichkeiten ist keine Disziplin im Sinne eines Faches, sondern<br />

nur dessen eine Seite, unbedingt notwendig im Sinne einer hierfür<br />

nötigen Disziplinierung der Denk- und Handlungsverfassung. Erst<br />

bestimmte eigentümliche Absichten, Mittel, Arbeitsweisen, sowie<br />

die nicht durch andere ersetzbaren persönlichen Fähigkeiten und<br />

Fertigkeiten, nicht zuletzt sogar zuzuordnende Charakterzüge,<br />

sowie die Zusammenhänge zwischen diesen, die andere Disziplinen<br />

nicht kennzeichnen, lassen eine grundständige Disziplin als solche<br />

erkennen. Diese Eigentümlichkeiten stehen dann, wenn sie irgendwie<br />

übergreifend, also überexemplarisch, übersubjektiv und überzeitlich<br />

gültig, d. h. brauchbar für die eigentümlichen Absichten<br />

sind, für Grundlagen. Fehlen diese, müssen sie fallweise, also exemplarisch<br />

erfunden werden. Sind sie dann gegebenenfalls direkt oder<br />

abgewandelt übertragbar, sind es wiederum (neue) Grundlagen.<br />

Mithin: Begründungen (für Absichten, Mittel und Zusammenhänge)<br />

sind nur dann Grundlagen, wenn sie über den exemplarischen<br />

Fall hinaus gültig bzw. brauchbar sind (andernfalls nur Begründungen<br />

für einen und nur diesen Einzelfall).<br />

Die Unterstellung, dass das Produktdesign nicht »grundständig«<br />

sei hieße, Design könne nur immer wieder »von Null an« betrieben<br />

werden, ist paradox zu jeder Designwirklichkeit. Um die Unterstellung,<br />

das Design sei eine grundlose Domäne 13 , nicht nur praktisch<br />

102 <strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong>


zu widerlegen, hat nun Ken Friedman 31 in bestem Popperschen<br />

Geist den erkenntnistheoretischen Beweis für die Existenz von<br />

eigenen Grundlagen des Designs mit dem Test über dessen Fortschrittsfähigkeit<br />

erbracht. Dabei sollten wir es nun belassen und<br />

uns den Erfordernissen und Möglichkeiten der Entwicklung des<br />

Designs unserer Provenienz und seiner Grundlagen zuwenden<br />

und allen weiteren Versuchen der Selbstzersetzung widerstehen.<br />

Design ist nicht Kunst<br />

Das gilt neuerdings, als wäre es vereinbart. Wenigstens wird<br />

das soweit akzeptiert, wie Design eindeutige, zumindest jeweils<br />

sicher interpretierbare Wirkungen von Formen hervorbringt,<br />

während das bei »wahrer« Kunst eben gewollt unsicher sein<br />

soll. Alle anderen Unterscheidungen sind zu vage (geworden),<br />

um dem Design das Nichtkunstsein sicher belegen zu können.<br />

Besonders die nach dem Imperativ von Adolf Loos »Kunst hat<br />

unbequem zu sein, ein Haus hat bequem zu sein«, nach einem<br />

Jahrhundert heute noch Leitphrase der »Kunst ist Waffe«-<br />

Kampfgruppe gilt. So, als wenn andererseits neuartiges, wenn<br />

auch folgerichtiges, ergonomisch bequemes Design bei seinem<br />

Erscheinen unverzüglich, kampflos bequem akzeptiert würde!?<br />

Das hat Hartmut Seeger mit einem kleinen Sprachtrick, hin<br />

zum Konjunktiv, zur Vernunft gebracht: »Kunst darf wehtun,<br />

Design nicht«, womit die meisten Werke im Museé d’Orsay, als<br />

schmerzlose Labsal für die Seele, erhalten bleiben können.<br />

Kunstverständnis 2009 – Katherina Grosse, Malerin:<br />

–»Ich glaube, das Auge ist nicht wichtig. Ich male wahrscheinlich<br />

blind.«<br />

– »Ich habe … eine ganz andere Verbindung zu dem, was ich<br />

mache als der, der es nachher anschaut«. Vielleicht auch deshalb:<br />

– »Es gibt bei mir keine ästhetischen Entscheidungen«.<br />

Designverständnis (als Beispiel für viele Ausbildungsstätten) der<br />

Lehrer- und Studierenden-Generationen seit Mart Stam, Rudi<br />

Högner & Nachfolger im Produktdesign an der Hochschule<br />

Berlin-Weißensee (zumindest bis 1998):<br />

– Sehen ist die Grundlage für die Gestaltung (auch im übertragenen<br />

wie im erweiterten Sinn, als Beobachten/Betrachten<br />

mittels aller Sinneskanäle).<br />

– Wir entwerfen und gestalten für die Gebraucher sicher,<br />

bequem, und effektiv zu gebrauchende, dabei angemessen<br />

ästhetisch ansprechende, anspruchsvolle, ökonomisch und ökologisch<br />

vertretbare Produkte. Wir verwirklichen uns mit dem<br />

Erfolg derartigen Dienstleistens.<br />

– Unsere ästhetischen Entscheidungen bestimmen unseren<br />

berufstypischen Beitrag zur Produktkultur, durch die Produkte<br />

selbst, ihre Ein- und Anbindungen und den Umgang mit ihnen<br />

(Sache und Sachverhalt).<br />

Die Mißverständnisse zwischen Kunst und Design liegen mithin<br />

in den begrifflichen Ungewissheiten der Kunst selbst.<br />

Als schäme man sich der wirklichen Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte<br />

unseres Faches, die zweifelsfrei neben<br />

den hehren sozio-kulturellen und wertbetonten ästhetischen<br />

Zielvorstellungen bereits am Ende des 19. Jahrhunderts aus<br />

der »Ingenieurkunst« bzw. dem derart wahrgenommenen Formenrepertoire<br />

und der substantiell damit verbundenen Kunst<br />

bildnerischer »Moderne« bezog. Design hieß noch in den fünfziger<br />

Jahren Formgebung, Formgestaltung, galt daneben auch als<br />

Synonym für Kunst und Industrie, bis in die siebziger Jahre als die<br />

Kunst, die sich nützlich macht. Design gab es im kunstbezogenen<br />

Verständnis als angewandte Kunst, auch noch lange als übergeordneter<br />

Klassifikator von Formgebung und Formgestaltung,<br />

untergliedert nach handwerklichen oder industriellen Herstellweisen.<br />

Noch heute gibt es solche Einordnungen, wie es uns die<br />

Museen für angewandte Kunst bzw. die Kunstgewerbemuseen<br />

zeigen. Allein die Existenz eines auf sinnliche Wahrnehmung mit<br />

Hilfe von Gestaltgesetzen zielenden Repertoires, das nie in einem<br />

mechanistischen Sinne wirkungsgerecht eingesetzt werden kann,<br />

um die kommunikative ästhetische Funktion des Designobjektes<br />

»Produkt« zu gewährleisten, ist ohne eine bestimmte Fähigkeit,<br />

die man immer noch am besten mit »künstlerisch« beschreibt,<br />

nicht zu erbringen – bei aller rationalen Kreativität und Folgerichtigkeit,<br />

die zum erfolgreichen Design gehört. Ignoriert das die<br />

Designtheorie, wird sie von keinem praktizierenden Designer<br />

als Abbild seiner Tätigkeit wiedererkannt. Derart würde seiner<br />

Arbeit im Kompetenzstreit bei wirtschaftlichen Entscheidungen<br />

die wichtigste theoretische Unterstützung fehlen. Neben dem<br />

oben erwähnten strengen Unterschied in der Deutungssicherheit<br />

bleibt den, einer anspruchslosen Beliebigkeit verfallenen<br />

Künstlern und Kunstdeutern keine Mühe mehr, Kunst mittels<br />

entsprechender Sachverhalte erklären zu müssen außer, dass<br />

alles das Kunst ist, was man dazu erklärt. So machen es nun, davon<br />

gelernt, die Werbung und einige, der Eigenwerbung mächtigen<br />

Designdeuter mit dem Design: alles geht, Design ist, was sie<br />

dazu erklären. Dann steht auch der Verkunstung der Produkte<br />

nichts mehr entgegen …<br />

Eine ästhetisch geprägte Hinwendung löst erst den, über die<br />

Notwendigkeit hinausgehenden Antrieb aus, ein Produkt<br />

erst durch »in Gebrauchnahme« technisch funktionieren zu<br />

lassen. Wenn heute »die Ästhetik frei ist für alle«, wie John E.<br />

Blake bereits 1964 feststellte, dann »bleibt nur die Funktion«<br />

als fester Anhalt für die Gestaltung mit gewollter ästhetischer<br />

Wirkung. Allen aufgesetzten, beliebigen und damit direkt manipulierbaren<br />

Gestaltqualitäten ist nur mit den innewohnenden<br />

ästhetischen Qualitäten der über die Funktionen gewonnenen<br />

Sachverhalte zu begegnen und nicht aus davon unabhängig<br />

vorgefassten Formvorstellungen. Nur so kann zur ästhetischen<br />

Identifikation des Menschen mit seiner für sich geschaffenen<br />

<strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong> 103


technoiden Umwelt beigetragen werden, statt mit gegenstandsfremden<br />

Mustern seine Entfremdung zu ihr weiter zu treiben.<br />

Dazu sind die innewohnenden ästhetischen Möglichkeiten aus<br />

der Geometrie der jeweiligen Sachverhalte, so sie denn Bestlösungen<br />

darstellen, herauszuarbeiten. Dazu gehören alle für das<br />

Design wichtigen übergreifenden Sachverhalte der Produkte<br />

und Prozesse und ihres Gebrauchs, Kenntnisse über deren Entstehen,<br />

Bestehen, Bewähren und Überwinden und den Umgang<br />

damit.<br />

Das eigentliche Formenbilden beginnt dem Anwenden der<br />

Gesetzmäßigkeiten des Raumes, ausgesucht und angepasst als<br />

Designgeometrie, um Designobjekte entwerfen und herstellen<br />

zu können. Nur Produkte, die hinreichend beschrieben werden<br />

können, lassen sich arbeitsteilig entwerfen und herstellen und<br />

für menschliche Zwecke nutzen. Praktisch heißt das für den<br />

Weg der Formbildung: die geometrische Substanz der Sachverhalte,<br />

welche die Lösungen für problemhaltige Aufgabenstellungen<br />

darstellen, ist zu ergründen, um daraus, als bleibender<br />

geometrischer Keim einer jeweiligen Bestlösung, die Formanlage<br />

zu entwickeln (entspricht geometrisch etwa der von A. Jung<br />

benannten »Grundgeometrie«). Mit ihr wird daraufhin die<br />

alle formwirksamen Lösungsanteile integrierende Gesamtform<br />

adäquat gefunden, erfunden, entwickelt und formiert, bis hin<br />

zur gediegen durchgestalteten Feinform, welche schließlich die<br />

gewollten Funktionen unter vereinbarten Bedingungen ein- und<br />

auslöst.<br />

Die Entwurfsstadien eines technischen Erzeugnisses folgen einer<br />

aus einer bestimmten Problemlage ausgelösten Aufgabe für die<br />

technischen, ergonomischen und ästhetischen Anforderungen<br />

und Bedingungen wie Lösungen gleichermaßen in dieser Folge/<br />

14,17, 22 (Bild 2 u. 3) /: präzisierte Aufgabenstellung, Funktionen/Funktionsstruktur,Funktionsträger/Funktionsträgerstruktur,<br />

Bauweise/Baustruktur, Prinziplösung (Grundprinzip, Wirkprinzip,<br />

Arbeitsprinzip, Bauprinzip) / Formprinzip (Formanlage,<br />

integrierende Gesamtform, Minimalform), Grobform, Feinform.<br />

Längst schon mieden in oder mit der Industrie kooperierende<br />

Designer in ihren Argumentationen den Kunstbezug, weil Design<br />

als »Angewandte Kunst« tatsächlich im technisch-industriellen<br />

Bereich nur unvollständig, weil milieufremd, zu vermitteln<br />

war. Der untaugliche Versuch, über die Ergonomie diese Lage zu<br />

verändern, wurde dann durch die nicht zu widerlegende Tatsache,<br />

dass das Design unmittelbar an der Produktqualität beteiligt<br />

(ein eigenständiger Qualitätsfaktor) ist, erfolgreich abgelöst.<br />

Nach diesen verlustreichen Zeiten für die gleichberechtigte<br />

Einbindung in die Entwicklungsprozesse industrieller, vor allem<br />

technischer Erzeugnisse, wird nun mit der Beschränkung des<br />

Designs auf den Geltungsbereich des Interface-Designs dessen<br />

Kompetenz ohne Not beschnitten. Damit sollte wohl dem Design<br />

letzten Endes jedweder künstlerische Anteil abgesprochen<br />

104 <strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong><br />

werden, also jeder bewusst ästhetisch angelegte Gestaltungsanteil.<br />

Was die sachbezogene Vernunft längst erkannt hat, wohin<br />

die Reise der Umdeutungen geht, ist nun heute Gewissheit: mit<br />

der »Kompetenzinitiative Usability« wurde – ungewollt – das<br />

Designverständnis wieder dem von einer auf einen umfassenden<br />

Gebrauch bezogenen Formgestaltung näher gebracht. Universitäten<br />

liefern bereits Absolventen, die als »Usability Consultants«<br />

im »Usability Management« arbeiten – ohne direkt<br />

Gestaltungsarbeit leisten zu können –, was keinerlei praktische<br />

Ausbildung gestalterischer Art erfordert.<br />

Infolge des, mit hoher publizistischer Wirksamkeit, das Design<br />

paralysierenden Palavers wurde die notwendige ästhetisch<br />

orientierte Gestaltung, einst erstrangig bestimmender Ansatz<br />

des »Designs«, anscheinend überflüssig, damit aber ein bloßer<br />

Interface-Designer tatsächlich. Hartmut Seeger erkannte offenbar<br />

diese Schrumpfgefahr früh und setzte sich seit 1964 intensiv<br />

mit der Bedeutung, dem Geltungsbereich und dem Inhalt der<br />

Begriffe »Design« / »Technisches Design« zwecks Gründung<br />

einer offiziellen Lehreinheit für Technisches Design innerhalb<br />

der Maschinenbau-Ingenieursausbildung an der TU Stuttgart<br />

auseinander. Demnach ist Technisches Design im Rahmen der<br />

gesamten konstruktiven Gestaltung als konstruktive Informations-<br />

und Bedienungsgestaltung zu präzisieren 31 . Doch das sagt explizit<br />

noch nichts über die grundständige ästhetische Seite im Produktdesign<br />

aus. Das geschieht , indem diese Seite praktisch wie<br />

theoretisch bei der Formgestaltung alternativ, entweder »analog«<br />

(analogisch), auf Gestaltanalogien bezogen, überformend,<br />

oder »konkret«, unverstellt, wie in der »konkrete Kunst«, mit<br />

den dort verwendeten Gestaltungsprinzipien konzipiert und<br />

ausgeführt wird. So sind die Ergonomie im erweiterten Sinne,<br />

wie auch die Ästhetik, von additiv vermittelten Leihdisziplinen<br />

zu dem Technischen Design gemäßen Bestandteilen mutiert.<br />

Ein nicht weniger erfolgreiches Modell wurde in Weißensee<br />

entwickelt, in dem der Funktionsbegriff integrierend auf alle<br />

konkreten Gestaltungsansätze angewendet wurde: die jeweilige<br />

Gesamtfunktion eines Gebrauchsproduktes wird in technische,<br />

ergonomische und ästhetische Teilfunktionen vernetzt<br />

abgebildet. Deren Trägerfunktionen wiederum werden durch<br />

jeweilige Funktionsträger (s. o. und Bild 2 aus /22 /), schließlich<br />

als Formanteile (Bauteile) aus einer optimalen Anordnung, der<br />

Formanlage, heraus, zu einer, einem integrierenden Formprinzip,<br />

entsprechenden Gesamtform und darüber stufenweise in<br />

eine kultivierte Endform gebracht, die im Stande ist, alle Funktionsanforderungen<br />

ein- und die den Gebrauch stützenden<br />

Handlungsfunktionen auszulösen. Voraus geht dem natürlich<br />

eine Konzeptphase, die mit einer präzisierten Aufgabenstellung<br />

vorläufig endet, begleitet wird die Formfindung von einer<br />

Entwicklung eines angemessenen Gestaltprofils und einem<br />

dementsprechenden Lösungsvorrat, dem spezifischen Gestaltungsrepertoire.


Bibliografische Anmerkungen<br />

1. Reuleaux, F./ Moll: Konstruktionslehre für den Maschinenbau. Braunschweig: Vieweg u. Sohn 1854 | 2. Weihe,<br />

C.: Kultur und Technik. Leipzig: Heilingsche Verlagsanstalt | 3. Meyer, G.I.: Erfinden und Konstruieren. Berlin:<br />

Springer-Verlag 1926, 2. Auflage; Kesselring, F.: »Konstruieren und Konstrukteur«. Z. VDI 1937, S. 365 ff. | 4.<br />

Wögerbauer, H.: Die Technik des Konstruierens, München/Berlin: R. Oldenbourg-Verlag 1943 | 5. Rögnitz, H. et<br />

al.: Das Gestalten der Form. Leipzig: B.G.Teubner Verlagsgesellschaft 1950 | 6. Kesselring, F.: Technische Kompositionslehre.<br />

Berlin/Göttingen/Heidelberg: Springer-Verlag 1954 | 7. Hansen, F.: Konstruktionssystematik. Berlin:<br />

VEB Verlag Technik 1956 | 8. VDI-Richtlinie 2224: Formgebung technischer Erzeugnisse, Empfehlungen für den<br />

Konstrukteur. Düsseldorf: VDI-Verlag 2/1960 | 9. Leyer, A.: »Kraftflußgerechtes Konstruieren«. Konstruktion H.<br />

10/1964, S. 4o1-407 | 10. Ellinger, Th. : Die Informationsfunktion des Produktes. Köln-Opladen: Westdeutscher<br />

Verlag 1966 | 11. Hückler, A., Sitte, C., et al.: Technische Formgestaltung – Leitlinien. Berlin: Kammer der Technik<br />

1968 | 12. Schaefer, H.: The Roots of Modern Design. London: STUDIO VISTA 1970 | 13. Höhne, G.: »Stand und<br />

Ziele der Konstruktionswissenschaft«. form+zweck,1/1972, S. 6/8 | 14. Hückler, A., Sitte, C.: »Arbeitsstufen der<br />

Gestaltung«. form+zweck 4/1972 | 15. Hansen, F.: Konstruktionswissenschaft. Berlin: VEB Verlag Technik 1974 |<br />

16. Hückler, A.: »Das Unersetzbare an der Formgestaltung«. form+zweck 5/1975 | 17. KDT-Empfehlung: Erzeugnisentwicklung<br />

und industrielle Formgestaltung. Berlin: Kammer der Technik 1976 | 18. Seeger, H.: Technisches<br />

Design beim systematischen Konstruieren. Stuttgart-Pforzheim 1977 | 19. Frick, R.: »Struktur des interdisziplinären<br />

Produkt-Entwicklungsprozesses«. Lehrbrief Nr. 3. Halle: HS f. ind. Formgestaltung 1978 | 20. Seeger, H.:<br />

Technisches Design. Grafenau: Expert-Verlag 1980 | 21. Hückler , A.: »Formgestaltung von Geräten«, in: Krause,<br />

W. (Hrsg.): Gerätekonstruktion. Berlin: VEB Verlag Technik 1982 | 22. Hückler, A.u.a.: Einführung in die industrielle<br />

Formgestaltung. Lehrbrief 1 und 2. Berlin: Kammer der Technik 1983 | 23. Seeger, H.: »Der Kundentyp als<br />

Bestimmungsgröße für das Bedienungskonzept für technische Produkte«. Feinwerktechnik und Messtechnik<br />

3/1984 | 24. Bonsiepe, G.: »Über Sprache, Design und Software«. Design Horizonte. 1/1991 | <strong>25</strong>. Uhlmann, J.:<br />

Design für Ingenieure, Dresden: TU Dresden Fakultät Maschinenwesen 1995 | 26. Azrikan, D.: »Krieg der Knöpfe«.<br />

Form 162 2/1998 | 27. Hückler, A.: »Progressive Paralyse oder Evolution?« in: Funke, R., Fischer F. P. (Hrsg.):<br />

Zukunftsbilder fürs Design. Potsdam 1998 | 28. Romero-Tejedor, F. u. van den Boom, H.: »Systemtopologie: Vom<br />

Konzept zum Entwurf«. <strong>Öffnungszeiten</strong> 8/99 | 29. Hückler, A.: »Gerätedesign«, in Krause, W. (Hrsg.).: Gerätekonstruktion,<br />

München: Hanser-Verlag 2000 | 30. Hückler, A.: »Design-topo-logische Ansichten«. <strong>Öffnungszeiten</strong><br />

12/2000 | 31. Jung, A.: Funktionale Gestaltbildung, Berlin: J. Springer Verlag 1989 | 31. Friedman, K.: »Problem<br />

und Paradox bei den Grundlagen des Design«, in: www.thebasicparadox.de 2002 | 32. Seeger, H.: Dokumentation<br />

über das Forschungs- und Lehrgebiet Technisches Design an der TU Stuttgart, März 2005 | 34. Ohnesorge, O.:<br />

»Schraubrill« – Die Geschichte einer Erfindung. Eine technische Schöpfung in ihren Beziehungen sachlicher, rechtlicher<br />

und menschlicher Art und ihrem Verhältnis zur Kunstschöpfung, Berlin: Verlag für Staatswissenschaften und<br />

Geschichte 1937 | 35. Kloth,W.: Leichtbaufibel, Wolfrathshausen-München: Neureuther Verlag 1947 | 36. Jung,<br />

A.: Funktionale Gestaltbildung, Berlin: J. Springer 1989 | 37. Janßen, D.: »Der gemeinsame Nenner«, in: Romero-<br />

Tejedor, F. u. Jonas, W. (Hrsg.): Positionen zur Designwissenschaft, kassel university press, 2010 | 38. Seeger, H.:<br />

Design technischer Produkte, 2. Aufl., Berlin: Springer 2005<br />

<strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong> 105


Neue Rubrik<br />

Aus »Design Promoviert«<br />

106 <strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong>


Design Promoviert<br />

Ein Kolloquium zur Designforschung für Promovierende<br />

in Deutschland, Österreich und der Schweiz<br />

Katharina Bredies, Tom Bieling & Alexander Müller-Rakow<br />

1. Kolloquium »Design Promoviert« in Berlin, Mai 2009<br />

Wer Menschen befragt, die sich eine rechtschaffene Promotion erarbeitet haben,<br />

bekommt eine Vorstellung davon, was das für ein beschwerlicher Lauf sein kann.<br />

Schlimmer ist es nur noch, wenn man neben sich weit und breit niemanden sieht, der<br />

wenigstens mitläuft und mitleidet. Die paar verstreuten Wackeren, die nun ausgerechnet<br />

im Design oder als Designer promovieren wollten, waren in der Hinsicht bis<br />

vor ein paar Jahren noch die einsamsten Menschen auf der Welt. Diese Pionierarbeit,<br />

das Betreten von unberührtem Boden im deutschsprachigen Raum bringt aber auch<br />

Gestaltungs- und Definitionsmöglichkeiten für die akademische Designausbildung<br />

mit sich. Um dafür mit Gleichgesinnten und Interessierten Kräfte zu bündeln und<br />

den Austausch anzutreiben, schlug Christian Wölfel 2008 auf der DRNetwork-<br />

Lernkonferenz Questions and Hypotheses die Gründung einer Selbsthilfegruppe für<br />

Designpromovierende vor. Ein paar Monate später wurde das erste Treffen in Berlin<br />

veranstaltet, mit selbstgeschmierten Brötchen zum Mittagessen und dreißig diskussionsfreudigen<br />

Teilnehmern. Seitdem hat es in Deutschland und der Schweiz alle halbe<br />

Jahre vier weitere Kolloquien gegeben, in Dresden, Bern, Braunschweig, und zuletzt<br />

wieder in Berlin, dieses Mal mit rund 80 Besuchern.<br />

<strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong> 107


108 <strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong><br />

Die Suche nach dem Dialog<br />

Die Kolloquien sind aus dem Bedürfnis heraus entstanden, mit anderen<br />

Promovierenden im Design das eigene Thema zu diskutieren. Zu Zeiten des ersten<br />

Treffens war die Anzahl der Promovierenden im deutschsprachigen Raum recht übersichtlich<br />

und noch dazu weiträumig verteilt. Die gemeinsame Veranstaltung sollte<br />

auch dabei helfen, einander kennen zu lernen und eigene Erfahrungen zu teilen. Das<br />

Kolloquium sollte Anfänger nicht abschrecken und wenig kosten – gerade so viel, um<br />

den Kaffeedurst und Mittagshunger zu stillen. Anmelden konnte man sich mit einer<br />

Kurzdarstellung, wer zuerst kam, war sowieso dabei. Erfahrungsträger waren gern gesehen,<br />

aber die Arbeiten und Bedürfnisse der Doktoranden und Doktorandinnen sollten<br />

immer im Vordergrund stehen. Lediglich hilfreiche Kommentare sollten die eingeladenen<br />

erfahrenen Designforschenden, darunter bisher Wolfgang Jonas, Rosan Chow,<br />

Claudia Mareis, Arne Scheuermann, Sabine Junginger, Felicidad Romero-Tejedor,<br />

Gavin Melles und Kathrin Busch, anbieten und mit konstruktiven Anregungen<br />

zur Seite stehen. Der Schwerpunkt der Veranstaltung lag von Anfang an auf der<br />

Diskussion der Promotionsprojekte. Darüber hinaus fand ein Austausch nicht nur über<br />

die oftmals leidvollen, organisatorischen Formalitäten an Unis und Kunsthochschulen<br />

statt, sondern auch über Forschungsansätze und -methoden oder den wissensbildenden<br />

Praxis-Theorie-Bezug.<br />

Seit den selbstgestrickten Anfängen hat sich einiges getan, sowohl mit der<br />

Selbsthilfegruppe als auch mit der Designpromotion selbst. Design Promoviert ist inzwischen<br />

als Themengruppe innerhalb der Deutschen Gesellschaft für Designtheorie<br />

und -forschung (DGTF) aktiv. Seit dem Berner Kolloquium bekommen die vortragendenTeilnehmer<br />

vor dem Treffen einen Review. Eine Übung, die für die selber<br />

noch promovierenden Reviewer wahrscheinlich ebenso anspruchsvoll ist wie für<br />

die Vortragenden. Und nun werden auch die Designpromovierenden langsam, aber<br />

sicher immer mehr. Das fünfte Kolloquium, ausgerichtet vom Design Research Lab<br />

der UdK Berlin war mit mehr als 80 Teilnehmenden bereits lange vor Anmeldeschluss<br />

überlaufen. Zu den bereits bestehenden Promotions- und PhD-Angeboten haben sich<br />

in den letzten Jahren neue Hochschulen und Universitäten gesellt. Rund sechzehn<br />

Design-Hochschulen in Deutschland bieten mittlerweile Promotionsstudiengänge an,<br />

ein deutliches Zeichen dafür, dass die Forschungskompetenz auch in der Gestaltung<br />

endlich neu gewichtet wird.<br />

Die wachsende Nachfrage nach Promotionen im Design lässt sich also nicht mehr<br />

ignorieren. Und offensichtlich besteht viel Austauschbedarf, denn: Noch haben<br />

viele Designpromovierende mit Widrigkeiten zu kämpfen, die bereits etablierte<br />

Wissenschaften lange hinter sich gelassen haben. So wird den Designforschenden<br />

leider immer noch mit nur langsam nachlassender Skepsis aus den Reihen der etablierten<br />

Wissenschaftler und eigenen Praktiker begegnet. Der institutionelle Support muss<br />

gerade deswegen umso mehr eingefordert werden.


5. Kolloquium »Design Promoviert« an der UdK Berlin, Juni <strong>2011</strong><br />

<strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong> 109


110 <strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong><br />

Kriterien und Kritiken<br />

Bei der Planung der Kolloquien wollen wir die Teilnehmenden nicht allzu stark auf einen<br />

Rahmen festlegen, in dem sie ihre Arbeiten präsentieren. Trotzdem haben sich bei<br />

den vergangenen Veranstaltungen gewisse Qualitätskriterien etabliert, die sich sowohl<br />

für die Vortragenden als auch für die Teilnehmenden als hilfreich erwiesen haben.<br />

Diese Anforderungen sind vor allem formal und sollen sicherstellen, dass die<br />

vorgestellten Themen sinnvoll diskutiert werden können. Die Vortragenden sollen<br />

die Fragen zum Forschungsstand, -frage und -methodik sowie die nach der<br />

Problemstellung und möglichen Hypothesen zum Anlass nehmen, um ihre Arbeit<br />

zu fokussieren und zu präzisieren. Den Zuhörern sollen diese Kriterien ermöglichen,<br />

die jeweiligen Projekte besser zu verstehen, kritische Fragen zu stellen und hilfreiche<br />

Denkanstöße zu geben – insbesondere, wenn es etwa darum geht, welchen Einfluss<br />

forscherische und gestalterische Praxis aufeinander haben. Diese Kriterien dienen<br />

auch den Reviewern, überwiegend ebenfalls Doktoranden und Doktorandinnen, als<br />

Anhaltspunkte für ihre Bewertung.<br />

Auch auf diesem Terrain sind Designer noch auf der Suche nach einer eigenen Form<br />

der Promotion: Zwar geben die etablierten Wissenschaften einen Rahmen dessen,<br />

was in einer schriftlichen Dissertation erwartet wird. Für die Einbindung der gestalterischen<br />

Praxis müssen sich die Designpromovierenden allerdings ihre Beispiele<br />

noch selbst stricken oder meißeln. Wie diese Einbindung von forschender und gestalterischer<br />

Praxis funktionieren könnte, wird auf den Kolloquien deswegen ebenfalls<br />

thematisiert. Zuletzt wurde der gemeinschaftlich gefertigte Promotionsleitfaden für<br />

Designforscher und -forscherinnen, die PhD Pilgrimage des Design Research Lab, vorgestellt<br />

und diskutiert. Als wichtige Hilfestellung dient auch der Blick über den geografischen<br />

und disziplinären Tellerrand, zuletzt durch einen Vortrag von Michael Hohl<br />

über die Promotionsabläufe und Forschungsanforderungen in Großbritannien.<br />

Design Promoviert meets <strong>Öffnungszeiten</strong><br />

Wie soll es also weitergehen? Als Co-Initiatoren der Themengruppe und als<br />

Veranstalter einiger Kolloquien freuen wir uns über die Fortführung und<br />

Weiterentwicklung von Design Promoviert, dessen 6. Kolloquium am 23. Oktober<br />

<strong>2011</strong> in Schwäbisch Gmünd in Zusammenarbeit mit der dortigen Hochschule für<br />

Gestaltung ausgetragen wird.<br />

Von Beginn an war es uns ein Anliegen, das Format der Veranstaltung Hochschulen<br />

und Universitäten, die eine Promotion im Design anbieten, mit Empfehlungen<br />

und Erfahrungsberichten über die Organisation zur Verfügung zu stellen. Für<br />

das Zustandekommen der Kolloquien bedarf es außerdem der Initiative von<br />

Promovierenden an einer Gastuniversität oder Hochschule.<br />

Als nächster Schritt ins akademische Erwachsenwerden sollen zukünftig eine Auswahl<br />

herausragender Beiträge der Veranstaltung hier in den <strong>Öffnungszeiten</strong> publiziert werden.<br />

Die Gelegenheit einer Veröffentlichung soll die Kolloquiumsteilnehmer zusätzlich<br />

motivieren, die Veranstaltung als Anlass für die eigene Textarbeit zu nutzen. Für die<br />

<strong>Öffnungszeiten</strong> als Plattform theorie- und forschungsinteressierter Designer hoffen<br />

wir, dass eine Kolumne mit Beiträgen aus dem Doktorandenkolloquium eine gute<br />

Gelegenheit bietet, ihre Leser und Leserinnen mit dem akademischen Nachwuchs zu<br />

verbinden und über aktuelle Forschungsthemen zu informieren.


Weiterführende Links:<br />

www.design-promoviert.de – Themengruppe der DGTF<br />

www.dgtf.de – Deutsche Gesellschaft für Designtheorie und -forschung e.V. (DGTF)<br />

www.designresearchnetwork.org – DRNetwork<br />

Bisherige Veranstaltungsorte:<br />

www.drlab.org – Design Research Lab der Universität der Künste Berlin<br />

www.tu-dresden.de/design – Technische Universität Dresden – Zentrum für Technisches Design<br />

www.hkb.bfh.ch – Hochschule der Künste Bern<br />

www.hbk-bs.de – Hochschule für Bildende Künste Braunschweig<br />

Kontakt:<br />

katharina.bredies@udk-berlin.de<br />

tom.bieling@udk-berlin.de<br />

alexander.mueller@udk-berlin.de<br />

<strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong> 111


Studierenden-Corner<br />

DESIGNPROJEKT<br />

Designprojekt von Johanna Aust und<br />

Jacqueline Andermark<br />

Beide Studentinnen wollten erreichen,<br />

dass durch eine Aktion die Leute sich<br />

für einen guten Zweck engagieren. Wie?<br />

Durch »karma tree«.<br />

Es gibt versteckte Hinweise auf gute<br />

Aktionen (Fahrrad statt Autofahren, Bio<br />

statt Importware, Gesund statt Süß und<br />

Fett …). Und wenn man sich für das Gute<br />

entscheidet, findet man einen Hinweis,<br />

um sich im Internet eine Animation<br />

anzusehen, die nach und nach den Karma<br />

Tree mit Blättern auffüllt.<br />

Alle, die sich dafür interessieren, treffen<br />

sich in einem sozialen Netz.<br />

Mehr dazu: www.karmatree.de<br />

112 <strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong>


<strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong> 113


114 <strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong><br />

Szenarien Soll-Stituation. Elemente, Zeichen. Einige<br />

Charaktere für den Animationsfilm.


Frames der Animation »Karma Tree« aus »http://www.karmatree.de«<br />

<strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong> 115


Studierenden-Corner<br />

DIPLOMARBEIT<br />

Entwicklung einer Augmented Reality Anwendung für die Hamburger HafenCity<br />

Sarah Frederike Rudelbach<br />

Augmented Reality – die durch digitale Elemente erweiterte Realität wird bereits seit<br />

über 20 Jahren erforscht. Doch erst heute sind mobile Geräte so leistungsfähig, dass die<br />

Nutzung für den Endkunden interessant wird. In Zusammenarbeit mit der Firma Ubilabs<br />

wurde in dieser Diplomarbeit ein Konzept für eine Augmented-Reality Applikation für die<br />

HafenCity Hamburg entwickelt. Es sollte untersucht werden, ob in der sich ständig verändernden<br />

Umgebung der HafenCity eine App platziert werden kann, die sowohl die soziale<br />

Interaktion, als auch die Elemente der Augmented Reality in einem stimmigen Konzept<br />

vereint.<br />

Dafür wurden zunächst die Bereiche Augmented Reality und soziale Netzwerke eingehend<br />

untersucht, um aus dem aktuellen Stand der Entwicklung die Basis des Konzepts<br />

zu bilden. Aus der Recherche wurden drei Ideen formuliert. Nach Auswahl des finalen<br />

Ansatzes wurde ein erster Klickdummy erstellt, um das Bedienkonzept zu evaluieren.<br />

Dabei stand vor allem der spielerische Aspekt der Bedienelemente im Vordergrund, mit<br />

denen der Nutzer der App Informationen liefert, die für das personalisierte Angebot<br />

Vorraussetzung sind. Erst danach wurden die konkreten Designs entwickelt, die dann im<br />

finalen Prototyp das Gesamtkonzept umgesetzt zeigen.<br />

Das Ergebnis der Diplomarbeit ist ein interaktiver Prototyp, der beispielhaft die Nutzung<br />

des »HafenCity Butlers« zeigt. Entstanden ist ein interaktiver Guide durch die HafenCity,<br />

der dem Nutzer ein auf ihn individuell abgestimmtes Tourangebot bietet. Durch<br />

Vergleich der unterschiedlichen Nutzerprofile und die indirekte Interaktion der Nutzer<br />

untereinander ist es möglich, während der Tour eine Route zu entwickeln. Diese ist an die<br />

Zusammensetzung der Gruppe, den zeitlichen Rahmen und die Vorkenntnisse in Bezug<br />

auf die HafenCity gekoppelt. Diese Informationen werden durch den Nutzer eingangs<br />

geliefert, um anschließend mit den auf einer Tour gesammelten Informationen kombiniert<br />

und mit anderen Nutzerprofilen verglichen zu werden. So ist es mit dem HafenCity<br />

Butler möglich diesen besonderen Hamburger Stadtteil mit einer ganz persönlichen Tour<br />

zu erkunden. Er geht individuell auf den Nutzer ein und bietet eine spielerische Art, die<br />

HafenCity durch Augmented Reality ganz neu zu erleben.<br />

Diplomarbeit begleitet durch Ubilabs GmbH<br />

FH-Betreuung: Prof. Dr. Dr. Rolf Küster<br />

Externe Betreuung: Jens Wille und Samuel Oey<br />

116 <strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong>


<strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong> 117


Studierenden-Corner<br />

DIPLOMARBEIT<br />

118 <strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong><br />

Street Art verlässt die Straße<br />

Entwicklung einer interaktiven Smartphone Anwendung, mit der man Street Art in<br />

Hamburg entdecken, teilen und konservieren kann<br />

Katrin Riemann<br />

Das Thema Street Art beschäftigte Katrin Riemann so sehr, dass sie sich ihm in ihrer<br />

Diplomarbeit gewidmet hat. Street Art kann sehr kurzlebig sein, schnell entfernt, überklebt<br />

oder vom Wetter abgetragen werden. Oft wird sie von Passanten übersehen oder<br />

gar nicht als Kunstform wahrgenommen, auch weil sie in der Regel illegal ist.<br />

Street Art ist aber viel mehr als Schmiererei. Künstler wie Banksy haben gezeigt:<br />

Kunstwerke der Straße können sich längst mit Werken in Galerien messen. Street Art<br />

ist also besser als ihr Ruf und Ihre Vergänglichkeit kann mit Hilfe der neusten technischen<br />

Errungenschaften überwunden werden. Darum entwickelte Katrin Riemann das<br />

Konzept einer interaktiven, mobilen App, die Street Art mit einem standortbezogenen<br />

Dienst von der Straße holt.<br />

Neu entdeckte Exponate können mit einem Smartphone direkt auf der Straße fotografiert<br />

und hochgeladen werden. Die App ermöglicht es dann, die GPS-Informationen<br />

aus den Fotos zu lesen und sie mit der Hamburger Stadtkarte zu verknüpfen. Street<br />

Art Neulinge nutzen die App, um herauszufinden, wo sich Paste-Ups, Stencils, Graffiti<br />

und Installationen in Hamburg verstecken. Alte Hasen stellen neue Entdeckungen<br />

ein und sichern den Qualitätsanspruch der hochgeladenen Fotos. Die Kunst und ihr<br />

Standort können auf Netzwerken wie Facebook mit Freunden geteilt und verbreitet<br />

werden.<br />

Mit der Zeit wird sich ein umfangreicher Stadtführer durch die freie Kunst entwickeln,<br />

der zu Street Art Hot Spots Bildergeschichten erzählen kann. Getragen wird das<br />

Konzept von einer Community, welche die Begeisterung für öffentliche Kunst teilt.<br />

Das Ergebnis dieser Arbeit umfasst ein schriftliches Konzept und zwei Prototypen. Der<br />

volle Funktionsumfang, der mit Testpersonen aus der Zielgruppe evaluiert wurde, ist<br />

zu finden unter http://katrinriemann.de/prototyp/prototyp.html. Eine designte Version<br />

zeigt die wichtigsten Funktionen unter http://katrinriemann.de/streetart.html (iPhone<br />

oder Safari).<br />

Diplomarbeit in Zusammenarbeit mit SinnerSchrader Deutschland GmbH<br />

FH-Betreuung: Prof. Dr. Felicidad Romero-Tejedor<br />

Externe Betreuung: Manuel Stolte, Leiter Strategische Planung digital


<strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong> 119


Studierenden-Corner<br />

DIPLOMARBEIT<br />

Portierung des »LIVE!-Bereichs« der Jägermeister Brandseite als iPad Applikation<br />

Olaf Röpcke<br />

Die von der Agentur Syzygy Deutschland GmbH entwickelte<br />

Webpräsenz für den Kunden Jägermeister ist eine reine Flashbasierte<br />

Umsetzung und somit nicht auf den mobilen Apple<br />

Geräten wie dem iPhone und dem iPad lauffähig, da diese<br />

Geräte keine Flash Kompatibilität aufweisen. Um dennoch auf<br />

dem iPad präsent zu sein, sollte ein Bereich der Seite als eigenständige<br />

Applikation umgesetzt werden. Für die Umsetzung soll<br />

der »LIVE!-Bereich« der Jägermeister Brandseite dienen.<br />

Dieser Bereich stellt einen Eventfinder und eine Galerie dar<br />

und ermöglicht es dem Benutzer, sich über aktuelle Events,<br />

die von Jägermeister veranstaltet werden oder an denen<br />

Jägermeister beteiligt ist, zu informieren. Innerhalb der Galerie<br />

werden vergangene Events durch Bilder und Videos bereitgestellt.<br />

Durch den sich ständig aktualisierten Inhalt und die<br />

anschauliche Darstellung der Events auf einer Karte eignete<br />

sich dieser Bereich besonders für die Portierung als eigenständige<br />

Applikation für das iPad. Durch den internationalen<br />

120 <strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong><br />

Stand von Jägermeister existieren mittlerweile 14 verschiedene<br />

Länderversionen, die über ein zentrales Content-Management-<br />

System erstellt und gepflegt werden. Deshalb war es wichtig,<br />

dass die Applikation ebenfalls leicht für andere Länder zu veröffentlichen<br />

und zu warten ist. Hierfür musste die Grundlage<br />

geschaffen werden, die Applikation in Kommunikation mit dem<br />

Content Management System zu stellen.<br />

Desweiteren galt es, ein verständliches User-Interface zu entwickeln,<br />

welches auf die Probleme eines Multi-Touchfähigen<br />

Gerätes eingeht. Diesbezüglich wurde die Entwicklungsphase<br />

durch ständige Usability-Tests begleitet, um schon in dieser<br />

Phase die Applikation dahingehend zu optimieren. Die<br />

Umsetzung der Applikation erfolgte in Objective-C als Native<br />

App. Spezielle funktionale Erweiterungen, die die technischen<br />

Vorzüge des mobilen Endgerätes nutzen, schaffen einen gewissen<br />

Mehrwert gegenüber der Flash-basierten Umsetzung.<br />

Diplomarbeit in Zusammenarbeit mit der Syzygy Deutschland GmbH<br />

FH-Betreuung: Prof. Dr. Felicidad Romero-Tejedor<br />

Externe Betreuung: Leonardo Paredes


<strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong> 121


Studierenden-Corner<br />

DIPLOMARBEIT<br />

122 <strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong><br />

Hypervideos als Anleitungsmedien – Diplomarbeit zur Evaluierung des<br />

Anleitungsformats »Utility Film« bei Dräger Safety AG & Co. KGaA<br />

Daniel Rabenecker<br />

Das Anleitungsformat »Utility Film« ist ein sprachneutrales, videobasiertes, interaktives<br />

Anleitungsformat, welches vor allem im Bereich der Vermittlung von Handlungswissen<br />

für Fertigungs-, Reparatur- und Montagearbeiten im Industriebereich eingesetzt wird. Im<br />

Gegensatz zu klassischen Videoanleitungen, die aus einem durchgängigen Film bestehen,<br />

ist ein Utility Film in einzelne kurze Handlungssequenzen unterteilt, so dass der Lernende<br />

Schritt für Schritt zum Anleitungsziel geführt wird, ohne kognitiv überlastet zu werden.<br />

Im Rahmen dieser Arbeit wurde das Format »Utility Film« als mögliche Ergänzung<br />

zur Produktanleitung innerhalb des Produktportfolios im Unternehmensbereich<br />

Sicherheitstechnik bei Dräger untersucht. Neben der Einschätzung, für welche Arten von<br />

Produktanleitungen es sich innerhalb dieses Unternehmensbereichs eignet, wurde untersucht,<br />

wie hoch der Produktionsaufwand ist und wie eine derartige sprachneutrale interaktive<br />

Videoanleitung aufgebaut sein muss, um verständlich und nachvollziehbar zu sein. Die im<br />

praktischen Teil der Arbeit produzierte interaktive Videoanleitung vermittelt die einzelnen<br />

Schritte für die Fertigung eines speziellen Kommunikationskabels für das Dräger X-zone<br />

5000, ein Gasmessgerät für die Bereichsüberwachung im industriellen Bereich. Der Nutzer<br />

wird Schritt für Schritt an seine Aufgabe herangeführt. Neben der Vermittlung aller für die<br />

Fertigung benötigten Werkzeuge und Materialien, wird der Fertigungsprozess innerhalb der<br />

Videoanleitung durch unterschiedliche bildliche Steuerungscodes unterstützt, so dass die<br />

Aufgabe absolut sprachneutral vermittelt werden kann. Der Nutzer hat die Möglichkeit,<br />

die Aufgabe seinen Lernbedürfnissen anzupassen. Die filmische Präsentation der einzelnen<br />

Handlungen kann vom Nutzer jederzeit angehalten und wieder gestartet werden. Eine<br />

Übersicht über die einzelnen Handlungsschritte erlaubt es ihm, gezielt Sequenzen auswählen<br />

zu können. Auch hat der Nutzer die Möglichkeit zwischen den einzelnen Sequenzen<br />

zu navigieren. Im Vergleich zu anderen aktuell publizierten Utility Filmen konnten<br />

Verbesserungspotenziale definiert werden bezüglich der Präsentation der Videoanleitung in<br />

einem den Lernprozess unterstützenden Layout, als auch bezüglich des Interaktionsdesigns<br />

sowie der Didaktik.<br />

Diplomarbeit in Zusammenarbeit mit Dräger Safety AG & Co. KGaA<br />

FH-Betreuung: Prof. Dr. Felicidad Romero-Tejedor<br />

Externe Betreuung: Dipl.-Red. (FH) Christian Engelke


<strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong> 123


Studierenden-Corner<br />

DIPLOMARBEIT<br />

Abstraktion und Komplexität von computergenerierten<br />

Informationsgrafiken zur Visualisierung statistischer Daten<br />

für die Umweltorganisation WWF<br />

Michael Roderfeld<br />

Preisträger »Annual Multimedia Award 2012«<br />

Wie abstrakt dürfen computergenerierte Infografiken gestaltet<br />

werden, um optisch ansprechend und gut verständlich<br />

zu sein? Für die Umweltorganisation WWF sollen statistische<br />

Daten informativ, verständlich und grafisch interessant dargestellt<br />

werden. Die so entstehenden Grafiken sollen über die<br />

Zusammenhänge des Buschfleischhandels in Zentralafrika<br />

informieren.<br />

Die statistischen Daten werden über eine XML-Schnittstellen<br />

in eine Adobe Flash Anwendung eingelesen, verarbeitet und<br />

mit Hilfe eines Visualisierungsalgorithmus zu einer Infografik<br />

generiert.<br />

Um eine optimale Visualisierungsmethode und einen geeigneten<br />

Abstraktionsgrad zu finden, wurde eine Studie durchgeführt.<br />

In dieser Studie wurden unterschiedliche Diagramme<br />

in je drei Abstraktionsstufen miteinander verglichen. Mit<br />

steigendem Abstraktionsgrad werden die Parameter der<br />

Visualisierungsmethoden zusätzlich durch zufallsgenerierte<br />

Zahlen beeinflusst, wodurch die Diagramme zunehmend kreativ,<br />

interessant und emotional werden.<br />

Das Ziel war es, Infografiken und interaktive Diagramme<br />

zu schaffen, die über die herkömmlichen Kuchen- und<br />

Balkendiagramme hinausgehen und den Betrachter motivieren,<br />

sich mit den Grafiken auseinander zu setzen. Durch die<br />

Interaktion mit der Grafik ist es möglich, Informationen zu<br />

filtern und verschiedene Themen und Länder miteinander zu<br />

vergleichen.<br />

Das Ergebnis dieser Studie diente als Grundlage für die<br />

Visualisierung der Daten, welche auf einer Informationswebseite<br />

des WWF zum Thema Buschfleisch veröffentlicht wurden.<br />

Auf dieser Webseite werden die Zusammenhänge zwischen<br />

Bevölkerung, Waldgebieten, Wohlfahrtsfaktoren und dem<br />

Konsum illegal gejagter Wildtiere in Zentralafrika grafisch veranschaulicht.<br />

http://www.wwf.de/bushmeat-report/<br />

Betreuung: Prof. Dr. Felicidad Romero-Tejedor<br />

124 <strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong>


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DIPLOMARBEIT<br />

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Steigerung der Attraktivität und Wahrnehmung des Gebrauchsgegenstandes »Pflaster«<br />

durch Wandlung zum Gestaltungselement und Designgegenstand<br />

Susanne Kreuschmer<br />

Das Thema erscheint vielleicht auf den ersten Blick simpel. Es stellte sich jedoch als wesentlich<br />

komplexer heraus. Es gibt unzählige Dinge des Alltags, die wir als Selbstverständlichkeit<br />

hinnehmen.<br />

Das Pflaster ist so ein »Ding«. Meiner Meinung nach steht es stellvertretend für Heilung,<br />

Schutz und bietet ein kleines Stück Sicherheit. Seit unserer Kindheit begleitet es uns bei unseren<br />

Abenteuern. Es sagt soviel wie: schau her, ich habe etwas erlebt. Einmal pusten, Pflaster<br />

drauf und die Welt ist für ein Kind wieder in Ordnung.<br />

Wenn wir erwachsen werden verliert es zwar nicht seine Funktion aber den Hauch<br />

Abenteuer aus unserer Kindheit – und wir damit den Stolz es zu tragen. In einer Gesellschaft<br />

in der das äußere Erscheinungsbild die Visitenkarte ist, wird das Pflaster zum reinen<br />

Gebrauchsgegenstand degradiert.<br />

Könnte ein Pflaster ein Symbol dafür sein, seine eigene Verletzlichkeit und Schwäche einzugestehen,<br />

zu akzeptieren und damit eine Botschaft zu übermitteln? Was wäre, wenn das<br />

traditionelle Pflaster mit Designobjekten mithalten könnte? Was würde dagegen sprechen,<br />

das Pflaster als Designgegenstand zu betrachten und es aus dieser Sicht heraus auch zu verarbeiten?<br />

Auf welchen Wegen ist das möglich? Und wie setzt sich eine geeignete Zielgruppe<br />

zusammen?<br />

All diesen Fragen versuchte ich in meiner Recherche auf den Grund zu gehen. Auf Grundlage<br />

einer ausführlichen Recherche erarbeitete ich das Produktdesign, produzierte Fotos und<br />

erstellte Layouts. Am Ende entstanden zwei Ansätze, eine emotionale Imagekampagne und<br />

eine sachliche Produktkampagne. Diese Ansätze testete ich mittels einer ausgewählten<br />

Zielgruppe gegeneinander.<br />

Wenn Sie weitere Informationen über diese Diplomarbeit wünschen schreiben Sie an:<br />

SusanneKreuschmer@web.de<br />

Zusammenarbeit mit TWBA Werbeagentur Hamburg<br />

FH-Betreuung: Prof. Dr. Felicidad Romero-Tejedor


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128 <strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong>


Diplomarbeit von Susanne Kreuschmer<br />

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130 <strong>Öffnungszeiten</strong> <strong>25</strong> / <strong>2011</strong><br />

Neugestaltung eines Kinderbuches unter zielgruppen-spezifischer Betrachtung<br />

Anne Geppert<br />

Das Lesen ist auch in der heutigen medien- und technikorientierten<br />

Zeit immer noch eine der wichtigsten Freizeitgestaltungen der Kinder<br />

und Jugendlichen. Somit gehört die Kinder- und Jugendliteratur heute<br />

zu den am stärksten wachsenden Zweigen des Buchmarktes. Sich dort<br />

unter der Vielzahl von Neuerscheinungen abzusetzen, ist nicht immer<br />

einfach. In den meisten Fällen dienen sowohl die äußere als auch die<br />

innere Gestaltung des Buches dazu, den potentiellen Käufer auf den<br />

ersten Blick zu überzeugen. Die Geschichte wird erst auf den zweiten<br />

Blick wichtig. Aus diesem Grund muss der Gestaltung des Buches<br />

besondere Beachtung geschenkt werden.<br />

Ziel dieser Diplomarbeit war eine zielgruppenspezifische<br />

Neugestaltung des Kinderbuches Die Küstendetektive – Jagd auf die<br />

Hafenbanditen von Helge Stroemer. Die Aufgabe war es, Illustrationen<br />

für den Innenteil zu entwickeln und ein Buchcover zu gestalten. Dafür<br />

wurden der Kinderbuchmarkt und die Zielgruppe analysiert. Im Zuge<br />

dessen wurde eine Befragung im Rahmen einer Lesung an einer Schule<br />

durchgeführt. Das Ergebnis der Befragung war, dass die Zielgruppe<br />

an farbigen Illustrationen in einem Buch sehr interessiert ist. Bei der<br />

Entwicklung der Illustrationen sollte aber auch darauf geachtet werden,<br />

dass der Zielgruppe noch Raum für die eigene Fantasie bleibt. Das<br />

Resultat war ein Illustrationskonzept, bei dem in den Illustrationen<br />

die Protagonisten der Geschichte in einer bestimmten Situation gezeigt<br />

wird, jedoch ohne die Gesichter der einzelnen Personen darzustellen.<br />

Diese bleiben der Fantasie des Lesers überlassen. Im eigenen<br />

Illustrationsstil entstanden dreizehn mit Auquarellfarbe colorierte<br />

Illustrationen. Diese wurden an den Anfang jedes Kapitels gestellt und<br />

läuten somit einen neuen Teil der Geschichte ein. Das Buchcover wurde<br />

passend zu den Illustrationen im Innenteil gestaltet und vermittelt<br />

die positive Grundstimmung der Geschichte.<br />

Das Illustrationskonzept wurde im Hinblick auf einen bald erscheinenden<br />

zweiten Teil der Geschichte so entwickelt, dass es ohne<br />

Probleme auch auf diesen übertragen werden kann. Dadurch wird die<br />

Wirkung einer Serie erreicht, welche sich in der heutigen Zeit effektiver<br />

vermarkten lässt.<br />

Zusammenarbeit mit dem strandfreunde.Verlag Hamburg<br />

FH-Betreuung: Prof. Dr. Felicidad Romero-Tejedor<br />

Externe Betreuung: Helge Stroemer

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