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Markus Wolf Geheimnisse der russischen Küche

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Die Moskauer standen sogar Schlange, um einen Platz in <strong>der</strong> Schlange<br />

<strong>der</strong> langen Reihe von Wohnungssuchenden zu ergattern. Zuerst, um aus<br />

einem kleinen Zimmer <strong>der</strong> kommunalen Wohnung in ein größeres zu<br />

gelangen, am Ende vielleicht sogar, um eine eigene Wohnung zu<br />

»erstehen«.<br />

Von an<strong>der</strong>er Art war die Bücherschlange, beson<strong>der</strong>s bei <strong>der</strong><br />

Subskription auf eine <strong>der</strong> Neuerscheinungen. Das Bücherlesen war zur<br />

Mode, fast zur Epidemie geworden. Natürlich waren die Bücher zum<br />

Lesen da, doch nicht nur dazu. Sie wurden gleichzeitig auch zum<br />

Tauschobjekt. In mancher Wohnung dienten sie als Verzierung; je nach<br />

Farbe des Einbands fanden sie einen Platz im Schrank o<strong>der</strong> Regal, Hauptsache<br />

dekorativ und schön. Manchmal wurden sie so zum Erbe und<br />

Gewinn für die folgende Generation. (62)<br />

Riesige Schlangen gab es auch an den Kassen <strong>der</strong> Theater o<strong>der</strong><br />

Konzertsäle. Als Jugendliche standen wir manche Nacht an, um Karten<br />

für Vorstellungen des Moskauer Künstlertheaters zu ergattern. Jahre<br />

später, 1950, betreute ich als Botschaftsrat den berühmten deutschen<br />

Dirigenten Hermann Abendroth während seines Moskauer Gastspiels. Er<br />

war beeindruckt von den Besucherschlangen zu seinen Konzerten.<br />

Mit fortschreitendem Wohlstand kamen die Schlangen nach<br />

Motorrä<strong>der</strong>n, Nähmaschinen, Autos, finnischen o<strong>der</strong> rumänischen<br />

Möbeln hinzu, wenn es galt, das zunächst noch meist reichlich<br />

vorhandene, aber ansonsten kaufkraftlose Geld auszugeben. Dann<br />

existierten die Schlangen nach Flug o<strong>der</strong> Bahnkarten, nach Arztbesuchen<br />

und, und, und...<br />

Vor unserer Abreise 1991 nach Wien waren die endlosen Schlangen<br />

nach Wodka das aktuelle Phänomen. Man nannte sie auch »Gorbatschow-<br />

Schlingen«. Für bestimmte Bürger, wie dekorierte Helden, Invaliden,<br />

kin<strong>der</strong>reiche Mütter, gab es das Privileg, nicht in <strong>der</strong> allgemeinen<br />

Schlange stehen zu müssen. Abgeordnete hatten je nach Bedeutung ihres<br />

Mandats ihre eigenen Schlangen.<br />

Im Kaukasus nennt man die Alten Aksakale. Sie verkörpern die<br />

Weisheit. Es war mir peinlich, wenn von den »Alten im Kreml« in ganz<br />

an<strong>der</strong>er Weise geredet wurde. So auch über ihre Privilegien, mit denen sie<br />

an <strong>der</strong> Spitze dieser Pyramide »standen«. Für sie gab es fast alles<br />

außerhalb <strong>der</strong> Reihe, ohne Schlange, ein Vorrecht, das nicht zum<br />

wohlschmeckenden Teil <strong>der</strong> »<strong>russischen</strong> <strong>Küche</strong>« gehörte.<br />

Nun ist auch in Rußland manche marktwirtschaftliche Neuerung<br />

eingezogen. Es gibt den Ausverkauf, außer <strong>der</strong> Reihe Inflation und, fast<br />

unfaßbar, in den Geschäften alles Lebensnotwendige an Lebensmitteln,<br />

Kleidung und vieles darüber hinaus — ohne Schlange. Aber die Preise...!

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