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5. Pressereaktionen im deutschen Sprachraum in ... - Historicum.net

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71<br />

<strong>5.</strong> <strong>Pressereaktionen</strong> <strong>im</strong> <strong>deutschen</strong> <strong>Sprachraum</strong> <strong>in</strong> der Zeit von<br />

1782 bis 1798<br />

Wie ich <strong>in</strong> der E<strong>in</strong>leitung schon bemerkt habe, hat sich Jakob W<strong>in</strong>teler, der auch<br />

die Geschichte des Landes Glarus schrieb, mit den damals erschienenen<br />

Presseberichten über den Göldi-Handel befasst. Auf 27 Seiten bespricht er alle<br />

ihm bekannten und zugänglichen ArtikeL Dieser Beitrag, e<strong>in</strong> Sonderabdruck aus<br />

der Neuen Glarner Zeitung, wurde 1951 als Broschüre unter dem Titel "Der Anna<br />

GÖldi·Prozess <strong>im</strong> Urteil der Zeitgenossen" herausgegeben.2S2<br />

Hauptsächlich setzt er sich dar<strong>in</strong> mit den "Freundschaftlichen und vertraulichen<br />

Briefen" von H. L. Lehmann ause<strong>in</strong>ander. Obschon diese Briefe äusserst wichtige<br />

Kopien von Dokumenten enthalten, die ohne ihre Publikation nie bekannt<br />

geworden wären, und die alt denen, die sich mit dem Prozess ause<strong>in</strong>andergesetzt<br />

haben, als Quelten dienten, bezeich<strong>net</strong> sie Jakob W<strong>in</strong>teler <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Schrift "Der<br />

Anna Göldi-Prozess" als eher oberflächiich.<br />

Lehmanns Briefe s<strong>in</strong>d trotz ihrer sche<strong>in</strong>baren sachlichen Dartegung eher oberllächlich, ke<strong>in</strong>esfalls<br />

e<strong>in</strong>e aktenmässige Darstellung <strong>in</strong> unserem S<strong>in</strong>n.2S3<br />

Wie er zu diesem Schluss kam, scileibt er nicht. E<strong>in</strong>e gewisse Oberflächlichkeit ist<br />

sicher dadurch entstanden, weil H. l. Lehmann nicht alles preisgab, was er<br />

wusste, und weil er durch se<strong>in</strong>e Bekanntschaften befangen war. Dennoch nehmen<br />

wir die Abschriften <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em zweiten Heft als getreue Abschriften der Orig<strong>in</strong>ale an.<br />

Dass dies unter Vorbehalt gemacht werden darf, zeigt sich an den<br />

Vergleichsmöglichkeiten, die wir heute noch haben. So kann zum Beispiel<br />

Lehmanns Abschrift des Malefiz-Prozesses vom sechsten Juni 1782 "alten Slyls"<br />

mit den noch vorhandenen Kopien der Akten <strong>im</strong> Archiv des Landes Glarus<br />

verglichen werden. Sicher auch aus diesem Grund der Verifikationsmöglichkeit<br />

haben Leute wie Joach<strong>im</strong> Heer die Briefe von H. l. Lehmann als Quellen benutzt.<br />

E<strong>in</strong> weiterer. mir sehr wichtig ersche<strong>in</strong>ender Grund ist die zeitliche Nähe, <strong>in</strong> der die<br />

Briefe Lehmanns entstanden s<strong>in</strong>d. Wohl war der Prozess vorbei, das Todesurteil<br />

vollstreckt; aber Lehmann setzte sich noch <strong>im</strong> selben Jahr mit diesem nichl<br />

e<strong>in</strong>fachen Ereignis ause<strong>in</strong>ander.<br />

252 J. W<strong>in</strong>teler: Der Anna GÖldi·Prozess. 1951,27 S.<br />

253 Ebenda, 7 - 8; J. Heer: Oer Kr<strong>im</strong><strong>in</strong>alPfozess der Anna Göldi, 1865,10 . 11.


74<br />

Joach<strong>im</strong> Heer bezeich<strong>net</strong> <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Abhandlung "Der Kr<strong>im</strong><strong>in</strong>alprozess der Anna<br />

Göldi" den Pfarrer Tschudi sogar als den Hausfreund der Familie. Jedenfalls war er<br />

der Onkei der Dienstherr<strong>in</strong> von Anna GÖldi.262<br />

Der Brief, den Antistes Ulrich an den Kammerer und Pfarrer Tschudl gesandt<br />

hatte, trägt das Datum des 19. April 1782. Nach "altem Slyl", also nach der Art, wie<br />

der ganze GÖldl·Handel datiert ist, wäre dies der achte April 1782 gewesen. Nach<br />

Lehmanns Beteuerungen soll dieser <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em zweiten Heft veröffentlichte Brief<br />

e<strong>in</strong>e "getreuliche" Abschrift des Orig<strong>in</strong>albriefes seln. 263<br />

Antistes Johann Rudolf Ulrich beschwert sich also bei se<strong>in</strong>em Amtskollegen <strong>in</strong><br />

Glarus über die Prozessführung. Er drückt se<strong>in</strong> mächtiges Erstaunen über die<br />

Möglichkeit aus, dass das Gerücht, das damals offenbar <strong>in</strong> Zürich umg<strong>in</strong>g, sich<br />

bewahrheiten könnte. Er will wissen, ob es <strong>im</strong> Giarnerland tatsächlich noch Leute<br />

gebe, die daran glauben würden, dass e<strong>in</strong>e Magd e<strong>in</strong>em K<strong>in</strong>d Stecknadeln<br />

"beigebracht" habe, und dies auf unerklärliche Weise. Er entsetzt sich darüber,<br />

dass diese Magd <strong>im</strong> Kerker sitzt und ihr sogar die Todesstrafe bevorstehe.<br />

Er braucht <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Brief Worte, die für se<strong>in</strong>en Adressaten, der überzeugt war,<br />

dass mit Anna Göldi nicht alles st<strong>im</strong>men könne, sicher schwierig zu verdauen<br />

waren. So stellt er die Frage, ob es wahr sei, dass Leute von Rang und Namen von<br />

solch albernen Gedanken e<strong>in</strong>genommen seien. Er spricht von e<strong>in</strong>em<br />

e<strong>in</strong>gebildeten Verbrechen und sagt schliesslich, dass er hoffe, Pfarrer Tschudi<br />

könne <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>flussreichen Stellung, die er als Pfarrer zweifellos besitze,<br />

e<strong>in</strong>em Misstritt vorbauen, der ihnen als reformierte Glarner, und damit der ganzen<br />

reformierten Kirche und der Eidgenossenschaff berechtigten Tadel und Spott<br />

e<strong>in</strong>br<strong>in</strong>gen würde.<br />

Er n<strong>im</strong>mt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Brief den Tonfall der meisten Presseberichte, die als<br />

Reaktionen auf den GÖldi·Handel erschienen, VOlWeg. In vielen späteren Artikeln<br />

wird se<strong>in</strong>e Sichtweise, die Glarner Obrigkeit habe sich durch ihre mittelalterliche<br />

Prozessführung lächerlich gemacht, übernommen. 264<br />

Für den Glarner Pfarrer waren diese Vorwürfe wohl kaum zu ertragen, zumal<br />

sich auch <strong>im</strong> eigenen Land angesehene Leute für die Hexerei nicht erwärmen<br />

konnten. Er sandte se<strong>in</strong>em Zürcher Amtsbruder e<strong>in</strong> langes, oben schon elWähntes,<br />

Antwortschreiben zurück. Dieses wurde am 14. April 1782 "alten Styls', also am<br />

262 J. Heer: Der Kr<strong>im</strong><strong>in</strong>alprozess der Anna Göldi. 1865,16.<br />

263 H.L. Lehmann: Freundschaftliche und vertrauliche Briefe. 1. Heft, 1783, a10.<br />

264 Dars: 2. Hell, 1783, 3 - <strong>5.</strong>


76<br />

Glarner Bevölkerung gewesen zu se<strong>in</strong>. Der Name des Glarner Plarrers wird mit<br />

Zw<strong>in</strong>gli anstatt mit Tschudi angegeben. Möglich, dass der Name Zw<strong>in</strong>gli <strong>in</strong><br />

Deutschland eher hängen blieb als Tschudi, möglich auch, dass dies der e<strong>in</strong>zige<br />

Name war, der mit e<strong>in</strong>em Plarrer <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung gebracht werden konnte, nennt<br />

Plarrer Tschudi <strong>im</strong> ganzen Antwortbrief an Antistes Ulrich doch nur die Namen der<br />

Familie Tschudi und eben jenes Plarrers Zw<strong>in</strong>gli, von dem er schreibt, er könnte<br />

über das Wunderbare der Heilung noch manches entdecken.<br />

Plarrer Tschudi musste sich nach Abschluss des Göldi-Handels aber auch<br />

gegen den Vorwurt wehren, er sei der Urheber der Wortwahl <strong>im</strong> Todesurteil<br />

gewesen, <strong>in</strong> weichem Anna Göldi nicht als Hexe, sondern als Verderber<strong>in</strong> verurteilt<br />

wurde. Dies sei e<strong>in</strong>e Rem<strong>in</strong>iszenz an die Me<strong>in</strong>ung der Zürcher, die sie durch den<br />

Brief des Antistes zum Ausdruck gebracht hätten. In der E<strong>in</strong>leitung zum zweiten<br />

Heft schreibt Lehmann:<br />

Herr Kammerer und Pfarrherr Tschudi zu Glarus hat mich gebeten zu se<strong>in</strong>em an Herrn Antistes<br />

Ulrich zu Zürich abgefasstem SchreIben nachfolgende Anmerkung zu machen. Er habe erst e<strong>in</strong>ige<br />

Zeil nach Empfang des Briefes vom Herrn Antistes. denselben zwar se<strong>in</strong>en Amtsbrüdern vorgelesen.<br />

niemals aber denen zur Untersuchung verord<strong>net</strong>en Kr<strong>im</strong><strong>in</strong>alrichtem, und folglich hätten wohl durch<br />

diesen Briel die Herren Richter nicht bewegt werden können, wie die Chronologen saglen, die<br />

Gbldlnn nicht als Hexe, sondern als Giftmischer!nn zu verurteilen. Als er dem Herrn Antistes<br />

geantwortet, härte die Obrigkeit noch e<strong>in</strong> tleles Stillschweigen Ober alles, was bei der Untersuchung<br />

vorgegangen, beobachtet. er hätte also mandlen erheblichen Umstand, der sich erst <strong>in</strong> der Folge der<br />

Zeit entwickelt, nicht erzehlen können.I...); folglich sage der Chronologist Unwahrheiten[...).269<br />

Plarrer Tschudi soll sich <strong>in</strong> diesem Handel, nach Lehmann, nur die Aufgabe<br />

gesetzt haben, der geplagten Familie beizustehen, das arme K<strong>in</strong>d zu trösten und<br />

Anna Göldi :<br />

<strong>in</strong> Gesellschaft des Herrn Diacon Marti auf obrigkeitlichen Befehl zum Tode zu bereiten, I...), und<br />

e<strong>in</strong>e venm8. doch aufrichtig reuende und bussfertige Sündennn se<strong>in</strong>em theuersten Heilande<br />

zuzuführen. n270<br />

Offenbar erhoffte sich der Plarrer Tschudi von den Veröffentlichungen der<br />

"Freundschaftlichen und vertraulichen Briefe" e<strong>in</strong>e KlarsteIlung <strong>in</strong> bezug auf se<strong>in</strong>e<br />

Person und auf die Rolle, die er <strong>in</strong> diesem traurigen Spiel <strong>in</strong>ne hatte.<br />

269 H.L. lehmann: Freundschaftliche und vertrauliche Briefe. 2. Heft. 1783, )(8.<br />

270 Ebenda, )1 )(.


77<br />

E<strong>in</strong> weiterer, uns erhaltener Bericht, der noch vor dem Todesurteil verlasst<br />

wurde, stammt aus der Feder des <strong>deutschen</strong> Professors Johann Michael Afsprung.<br />

Dieser beschreibt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Buch "Reise durch e<strong>in</strong>ige Cantone der<br />

Eidgenossenschaft", das <strong>im</strong> Jahre 1784 gedruckt wurde, die Situation <strong>in</strong> Glarus,<br />

wie sie kurze Zeit vor der Fällung des Todesurteils herrschte. 271 Se<strong>in</strong>en Bericht<br />

aus Glarus hält er <strong>im</strong> neunten Brief fest. Dieser trägt das Datum vom sechsten Juni<br />

1782. Da J. M. Afsprung ke<strong>in</strong> evangelischer Glarner war, muss das Datum auf den<br />

"alten Styl" umgeschrieben werden. Demnach hatte er se<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>drücke am 26. Mai<br />

1782 "alten Styls" festgehalten. Er hatte Gelegenheit gehabt, mit den am Prozess<br />

Beteiligten zu sprechen. Bemerkenswerterweise blieb er bei se<strong>in</strong>er aufgeklärten<br />

Haltung und Iiess sich von der allgeme<strong>in</strong>en St<strong>im</strong>mung nicht anstecken.<br />

Schon auf me<strong>in</strong>er Reise hierher habe ich h<strong>in</strong> und wieder so viel davon gehöret, dass ich begierig war,<br />

die Geschichte hier selbst zu hören; nicht als wenn ich begriffe, deren Richtigkeil mir die gesunde<br />

Vernunft verbOrget, sondern zu ertahren, was an der Sache selbst wäre, well ich wohl weiss, dass die<br />

ErzFraubase, die Fama, alles entstellet. Es war mir daher sehr angenehm, als ich den Vater des<br />

behexten K<strong>in</strong>des In e<strong>in</strong>er Gesellschaft zu sprechen Gelegenheit hatte, und die ganze Historia von<br />

ihm selber vernahm.272<br />

Er schildert nun den Verlauf des Handels, wie er ihn vom Vater des Anne<br />

Miggeli erzählt bekam. Das Mädchen habe <strong>im</strong> Beise<strong>in</strong> von vielen Personen unter<br />

Schmerzen nach und nach über 100 Stecknadeln und Eisennägel erbrochen, und<br />

weil e<strong>in</strong>ige Zeit vorher <strong>in</strong> der Morgensuppe des K<strong>in</strong>des solche Stecknadeln<br />

gefunden wurden, sei der Verdacht auf die ehemalige Magd Anna Göldi gefallen.<br />

Diese sei aber ausser Landes gegangen. In ihrer Abwesenheit sei der Verdacht<br />

<strong>im</strong>mer stärker geworden, Anna Göldi habe das K<strong>in</strong>d verhext. Dieser Aberglaube<br />

sei bestärkt worden durch den Vieharzt Irm<strong>in</strong>ger, der trotz se<strong>in</strong>es nicht gerade<br />

guten Rufes273 von den Eltern des Anne Miggeli zu ihm bestellt wurde, <strong>in</strong> der<br />

Hoffnung, er könne mit se<strong>in</strong>en zwielichtigen Künsten das K<strong>in</strong>d heilen.<br />

So sei die Magd gesucht worden und als sie schliesslich <strong>in</strong> Glarus<br />

gefangengesetzt wurde, sei sie angehalten worden, das Mädchen, das sie<br />

"verderbt" habe, wieder zu heilen.<br />

über den Grund, warum die Heilungsversuche durch Anna Göldi des Nachts<br />

271 J.M. Afsprung: Reise durch e<strong>in</strong>ige Cantone, 1784, 143·178.<br />

272 Ebenda. 171 ·172.<br />

273 Ex1ractus Prolocolli der Grafschaft Kyburg, sub 2. April 1783. In: Gazette de sante, 1783. 225·<br />

236.


abgehalten wurden, schreibt J. M. Atsprung:<br />

(...lman thai dies um Mitternachtsstunde, nicht als wenn da die hexischen Operationen besser von<br />

staUen g<strong>in</strong>gen, sondern damit es ke<strong>in</strong>en Auflauf unter dem Volke geOO.27-4<br />

Er ärgert sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Anmerkung über die Art und Weise, wie die Heilung vor sich<br />

g<strong>in</strong>g. Er nennt es e<strong>in</strong> Greuel, e<strong>in</strong>e Lästerung sondergleichen und ruchlosesten<br />

Aberglauben. Es sei e<strong>in</strong>e Schande für diejenigen, die das Volk bilden sollten, dass<br />

solch schwärzester Aberglaube noch möglich sei.<br />

Er schreibt, solche Vorhaltungen habe er auch dem Vater des Anne Miggeli<br />

gemacht, worauf ihm dieser gestanden habe, sich während der "Operationen" <strong>im</strong><br />

Nebenz<strong>im</strong>mer aufgehalten zu haben. 27s<br />

J. M. Afsprung kritisiert das Vorgehen bei der Suche nach der Wahrheit dieser<br />

Geschichte. Er hält fest, anstatt das K<strong>in</strong>d zu isolieren, um zu schauen, ob das<br />

Nadelspucken aufhöre, habe man dem Mädchen alles geglaubt und sei so dem<br />

schwärzesten Aberglauben verfalten.<br />

Ob er dies nur <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Brief anbrachte oder auch wirklich dem Vater des<br />

geheilten K<strong>in</strong>des vorhielt, ist nicht auszumachen. E<strong>in</strong>e Reaktion von Vater Tschudi<br />

wurde nicht aufgezeich<strong>net</strong>.<br />

Dem Brief nach zu schliessen, reiste J. M. Afsprung nach Rudolf Ste<strong>in</strong>mülters<br />

Selbstmord aus Glarus ab. Jakob W<strong>in</strong>teler schreibt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Bericht "Der Anna<br />

Göldi-Prozess <strong>im</strong> Urteil der Zeitgenossen", Afsprung habe das Todesurteil<br />

vorausgesehen. Afsprung schliesst se<strong>in</strong>e Berichterstattung über den Göldi-Handel<br />

mit den Worten: "und die Hexe ihr ferners Schicksal erwartet". Von ihm selber oder<br />

dem Buchdrucker wurde vermutlich bei der Druckiegung h<strong>in</strong>ter diesen Satz unten<br />

stehende Fussnote gesetzt, <strong>in</strong> der das Todesurteil bekanntgemacht wird. (Das<br />

Ersche<strong>in</strong>ungsjahr ist 1784.)<br />

(') Die bekanntlich bald nachher enlhauplet wurde.2711<br />

Im Unterschied zu späteren Berichten lässt es Afsprung nicht bei e<strong>in</strong>er<br />

kommentarlosen Berichterstattung bewenden. Er gibt zu becenken, dass man die<br />

Glarner nicht e<strong>in</strong>fach verurteilen dürfe, denn <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er der berühmtesten<br />

Germanischen Republiken bestehe noch <strong>im</strong>mer e<strong>in</strong> Gesetz, durch das jemand, der<br />

274 J.M. Alsprung: Reise durch e<strong>in</strong>ige Cantone. 1784, 173.<br />

275 Ebenda, 175 . 176.<br />

276 Ebenda, 177.<br />

78


79<br />

e<strong>in</strong>e andere Person als e<strong>in</strong>e Hexe schelte und es nicht beweisen könne, bestraft<br />

würde. Auch sei <strong>in</strong> Deutschland <strong>im</strong> Volk e<strong>in</strong> Rückschritt <strong>in</strong> die Schwärmerei zu<br />

beobachten, die, wenn man nicht dagegen kämpfe, es wieder <strong>in</strong> die F<strong>in</strong>sternis<br />

zurückwerfen könne. 277<br />

Obschon <strong>im</strong> Glarnervolk selber, aber auch ausserhalb des Kantons, viel über<br />

den Handel geredet wurde, erschienen, ausser dem Steckbrief und der<br />

Fundmeldung, <strong>in</strong> den Schweizer Zeitungen wegen der schon beschriebenen<br />

Zensurverhältnisse ke<strong>in</strong>e Berichte.2?6<br />

Dass viel darüber geredet wurde, ist auch bei J. M. Afsprung nachzulesen, war<br />

das Geschwätz über den Göldi-Handel doch se<strong>in</strong>e Motivaton, sich <strong>in</strong>s Glarnerland<br />

zu begeben.<br />

Ich deli me<strong>in</strong>en Brief wohl nicht schliessen,ohne Ihnen e<strong>in</strong> paar Worte Ober den seit e<strong>in</strong>iger Zelt hier<br />

obschwebenden Hexenhandel zu sagen. Schon aU1 me<strong>in</strong>er Reise hierher, habe ich h<strong>in</strong> und wieder<br />

so viel gehöret, dass ich begierig war, die Geschichte hier selbst zu hören; (...].279<br />

<strong>5.</strong>2 öffentliche Reaktionen vom Juli 1782 an<br />

Zum Zeitpunkt der Vollstreckung des Todesurteils an Anna Göldi <strong>im</strong> Juni 1782<br />

existierten an uns bekannten Berichten der Reisebericht von J. M. Afsprung,260 der<br />

Brief von Antistes Ulrich, sowie die Antwort darauf vom Arzt Johann Marti, der auch<br />

die beiden Visa et Reperta und das mediz<strong>in</strong>ische Gutachten dazu erstellte. 26 !<br />

Offentlieh bekannt waren der Steckbrief, mit dem Anna Göldi <strong>in</strong> der Schweiz<br />

gesucht wurde und die Meldung, sie sei gefangen genommen worden. Beide<br />

Mitteilungen erschienen damals <strong>in</strong> der Zürcher Zellung (der heutigen NZZ).262 In<br />

Glarus selber wurden die Verhöre des Prozesses mitgeschrieben, ebenso die<br />

Verhandiungen während der Ratssitzungen. 263 Weder von Antistes Ulrich, noch<br />

von J. M. Afsprung ist, dass sie Informationen weitergegeben hatten. Auch von der<br />

Glarner Obrigkeit kam wohl kaum etwas <strong>in</strong> Umlauf. Lehmann war zum Zeitpunkt<br />

der ersten öffentlichen Publikation noch nicht, oder noch nicht lange, <strong>in</strong> Glarus.<br />

2n J.M. Afsprung: Reise durch e<strong>in</strong>ige Canlone, 1784, 177·178.<br />

278 NZZ vom 9.2.1782, Nr.12:Sleckbrief. NZZ vorn 23.3.1782. Nr. 25: Fundmeldung.<br />

279 J.M. Afsprung: Reise durch e<strong>in</strong>ige Centone, 1784, 171.<br />

280 J.M. Alsprung: Reise durch e<strong>in</strong>ige Canlone. 1784, 143· 172.<br />

281 Alle diese Dokumente s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> H. L. Lehmanns zweitem Heft der freundschaftlichen und<br />

vertraulichen Briefe, 1783, enthalten.<br />

282 Zürcher Zeitung: Nr. 12 vom 9.2. 1782 und Nr. 25 vom 23.3. 1782.<br />

283 Rals- und Verhörprolokol1e, 1781 . 1782.


80<br />

Aber bereits <strong>in</strong> der Juli- und Augustausgabe 1782 e<strong>in</strong>er <strong>deutschen</strong> Zeitschrift<br />

wurde der Göldi-Handel zum ersten Mal erwähnt.<br />

<strong>5.</strong>2.1 Der Kirchenbote, Juli und August 1782, viertes Stück<br />

Der Kirchenbote, e<strong>in</strong> Publikationsorgan für eher aufgeklärte Pfarrkreise, wurde<br />

<strong>in</strong> Dessau und Leipzig durch die "Buchhandlung der Gelehrten" herausgegeben.<br />

Er erschien vom Jahr 1782 an sechsmal jährlich. Er bot sich als Informationsträger<br />

für "Religionsfreunde aller Kirchen" an. Diese Haltung darf für die damalige Zeit, <strong>in</strong><br />

der es noch ke<strong>in</strong>e öffentlichen ökumenischen Bestrebungen gab, sicher als<br />

fortschrittlich oder aufgeklärt angesehen werden.264<br />

In dieser Zeitschrift, <strong>in</strong> der Ausgabe vom Juli und August 1782, erschienen also<br />

die beiden ersten öffentlichen Artikel über den GÖldi-Handel. Herausgeber und<br />

Verfasser der Artikel s<strong>in</strong>d nicht namentlich erwähnt. Auch <strong>im</strong> Text selber f<strong>in</strong>det sich<br />

nichts, das auf e<strong>in</strong>en möglichen Autor oder Informanten des Autors schliessen<br />

lassen könnte.<br />

Im Augustheft des Kirchenboten, <strong>im</strong> 16. Beitrag, f<strong>in</strong>det sich nur die<br />

Veröffentlichung des Protokolls der Ratssitzung vom 17. Juni 1782 (neuen Stils), <strong>in</strong><br />

der das Todesurteil gefällt wurde. 285 Verglichen mit dem entsprechenden<br />

Ratsprotokoll vom sechsten Juni 1782 "alten Styls", ist die Abschrift <strong>im</strong><br />

Kirchenboten nicht ganz vollständig, fehlt doch der Satz:<br />

Der Executionstag solle von heül über 8.T ag als auf Montag den 13. Brachmonat angesetzet seyn.<br />

[ ...].286<br />

Die Unterschrift, wLandschreiber Kn, ist dieselbe, wie diejenige <strong>in</strong> Lehmanns<br />

Briefen. Der 17. Beitrag <strong>in</strong> der Augustausgabe des Kirchenboten gibt dann das<br />

mediz<strong>in</strong>ische Gutachten wieder, welches der weiter oben erwähnte Arzt Johann<br />

Marti auf die erste Untersuchung des Anne Miggeli h<strong>in</strong> der Untersuchungs­<br />

kommission des Glarner Gerichts zur Verfügung stellte. Er trägt den Titel "Beylage<br />

zu 16. Bef<strong>in</strong>den e<strong>in</strong>es Arztes". Diesem Bericht fehlt <strong>im</strong> Unterschied zum Protokoll<br />

das vollständige Datum und der ausgeschriebene Name des Arztes. Es heisst nur:<br />

284 Der Kirchenbote, 1782, 464· 471.<br />

285 Rals- und Verhörprotokolle, 1781 - 1782; H.L Lehmann: Freundschaftliche und vertrauliche<br />

Briefe. 2. Heft, 1783, 88.<br />

286 Rals- und Verhörprolokolle, 1781 - 1782.


83<br />

Sicher aber ist, dass die belden Artikel des Kirchenboten <strong>im</strong> späten Frühjahr<br />

1783 Im Glarnerland bekannt waren. In der Kopie e<strong>in</strong>es Antwortschreibens, das<br />

die Glarner <strong>im</strong> oben schon erwähnten "Fall WeKhrl<strong>in</strong>" am vierten Juni 1783 "alten<br />

Styls" an das "Ott<strong>in</strong>gsche Oberambt" (die Regierung des Fürstentums Ott<strong>in</strong>gen,<br />

deren Aufsicht Wekhrl<strong>in</strong> unterstellt war) schickten, heisst es, dass der Kirchenbote<br />

nicht das ger<strong>in</strong>gste anzügliche wider uns als Obrigkeit meldet, sonderen ledigerd<strong>in</strong>gen unser Urtheil<br />

samt dem Visa si Reperto bekannt machte.296<br />

Die nächste Veröffentlichung machte der Glarner ObrigKeit wesentlich mehr zu<br />

schaffen. Es ist Wekhrl<strong>in</strong>s Artikel <strong>in</strong> den Chronologen.<br />

<strong>5.</strong>2.2 Chronologen, X. Band, 11. Stück 1782<br />

Wekhrl<strong>in</strong>s "Chronologen" zählten zu den bedeutendsten Zeitschriften der<br />

Aufklärung. 29? Gottfried Böhm kommt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er 1893 veröffentlichten Biografie über<br />

Wekhrl<strong>in</strong> zum Schluss, die Motivation für Wekhrl<strong>in</strong>s Stellungnahme zum Göldi­<br />

Handel In den Chronologen liege wohl dar<strong>in</strong>, dass er se<strong>in</strong>e Abneigung gegen<br />

Oligarchien und kle<strong>in</strong>e Republiken rechtlertigen Könne. Böhm erklärt:<br />

Im Gegensatz zu vielen se<strong>in</strong>er schwäbischen Zeit- und Ges<strong>in</strong>nungsgenosssen, (... ), welche für die<br />

Schweiz als für e<strong>in</strong> politisches Idyll (... ] schwärmten, übertrug Wekhrl<strong>in</strong> se<strong>in</strong>e aus dem Konflikte mit<br />

den <strong>deutschen</strong> Reichsstädten geschöpfte Abneigung gegen kle<strong>in</strong>e Republiken auch auf die<br />

Kantone der schweizerischen Eidgenossenschaft. [...]. Gerne nahm er daher auch Artikel Ober<br />

Vorkommnisse <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Zeitschriften auf, die geeig<strong>net</strong> erschienen, se<strong>in</strong>e abfällige Me<strong>in</strong>ung zu<br />

begründen.298<br />

Wekhrl<strong>in</strong> selber sieht <strong>im</strong> Gegensatz zu se<strong>in</strong>em Biografen se<strong>in</strong>e Motivation, über<br />

den Göldi-Handel zu berichten, an e<strong>in</strong>em etwas anderen Ort.<br />

Deutschland weis aus Schlözer's Briefwechsel, dass vorigen Jahrs <strong>im</strong> kato/ischen Spanien e<strong>in</strong>e Hexe<br />

verbrannt ward. Es wäre schade, wenn das nachbarliche Gegenstück dieser Tragödie, das der<br />

Eidgenössische Stand Glarus - reformierten Anteils - erst noch <strong>in</strong> diesem Jahr geliefert hat, verloren<br />

gehen soUte.299<br />

296 Briefwechsel <strong>im</strong> Falle W.L Wekhrl<strong>in</strong>s, 4. Juni 1783 "alten Stylsn.<br />

297 G. Böhm: Ludwig Wekhrl<strong>in</strong>,1893,103.<br />

298 Ebenda,130.<br />

299 W.L Wekhrt<strong>in</strong>: Chronologen, 1781 (Diese Jahreszahl ist zurückdatiert, der Band erschien erst<br />

1782. Schon <strong>in</strong> den Kopien des Briefwechsels <strong>im</strong> Falle W.L Wekhrl<strong>in</strong>s, die <strong>im</strong>,Glarner Archiv liegen,<br />

wird <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Randbemerkung auf die falsche Jahreszahl h<strong>in</strong>gewiesen.), 213.


84<br />

Die Darstellung des Gdldi-Handels <strong>im</strong> zehnten Band der Chronologen300 beg<strong>in</strong>nt<br />

mit der nicht sehr sorgfältigen Wiedergabe des Fahndungsbriefes, der am neunten<br />

Februar 1782 auch <strong>in</strong> der "ZOrcher Zeitung- (heute NU) erschien. Anschliessend<br />

an die Fahndungsmeldumg fügt Wekhrl<strong>in</strong> die Meldung der Gefangennahme an,<br />

die am 23. März <strong>in</strong> der gieichen Zeitung zu lesen war. 301 Dann folgt die<br />

Darstellung der ganzen Tragddie. Es zeigt sich aber, dass se<strong>in</strong>e Beschreibung des<br />

Falles nicht sehr genau ist, s<strong>in</strong>d doch e<strong>in</strong>ige Details frei erfunden. So nennt er den<br />

Glarner Pfarrer, der den Brief des Antistes Ulrich erhalten hatte, wie weiter oben<br />

schon erwähnt, Zw<strong>in</strong>gli anstatt Tschudi. Er behauptet auch, Anna Gdldi sei schon<br />

am Anfang des Prozesses gefoltert worden. Auf Grund dieser Folter habe sie die<br />

Aussage gemacht, Rudol! Ste<strong>in</strong>mOller habe ihr e<strong>in</strong>e KonfitOre (<strong>in</strong> den Akten e<strong>in</strong><br />

"Leckerli") gegeben, die Gufen, Eisen- und DrahtstOcke "gebären" wOrde. In<br />

Wirklichkeit wurde Rudolf Ste<strong>in</strong>mOlier aber durch die Geschichte des Anne Miggeli<br />

und auch durch se<strong>in</strong>en Brief, den er der Anna Gdldi nach ihrer Flucht schickte, <strong>in</strong><br />

den Handel h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>gezogen.302 Und die pe<strong>in</strong>lichen Verhöre mit Anna Gdldi<br />

begannen erst, nachdem Anne Miggeli geheilt war, und es vor den Richtern se<strong>in</strong>e<br />

Version mit dem "Ruedeli", Rudolf Ste<strong>in</strong>mOlier habe ihm zusammen mit Anna Gdldi<br />

e<strong>in</strong> Oberzuckertes Leckerli zu essen gegeben, erzählt hatte.300<br />

E<strong>in</strong> weiteres Beispiel für eher polemische Darstellung <strong>in</strong> den Chronologen ist<br />

die Art, wie er Ober die Heilung des Anne Miggeli schreibt. Aus den Akten ist<br />

ersichtlich, dass es den damaligen Landweibel Blumer e<strong>in</strong>ige überredungskOnste<br />

gekostet habe, bis Anna Gdldi bereit gewesen sei, dem K<strong>in</strong>d zu helfen.<br />

[... J'was sollte ich dem K<strong>in</strong>de helfen können; ich habe ihm gar nichts zuleide gethan.' Darüber der<br />

Landweibel ihre versezt habe, dass sie ohne Zweifel die Thäter<strong>in</strong> des dem K<strong>in</strong>de zugefallenen<br />

übels seie und wenn sie die Wahrheit h<strong>in</strong>terhalte, SO werde sie mit dem Scharfrichter<br />

angegriffen werden, sie solle also selbst prüfen, Gott und der Obrigkeit die Ehre geben und die<br />

Wahrheit bekennen. [... }.304<br />

Am anderen Tage sei sie nochmals bedrängt worden. Sie habe schliesslich<br />

zugesagt, aber den Seufzer angehängt.<br />

300 Nach Wekhrl<strong>in</strong>s Angaben <strong>im</strong> ggrauen Ungeheur". 2. Bd. Nr.4, vom April 1784 auf Seite 128, lässt<br />

sich schHessen, dass der Artikel <strong>in</strong> den Chronologen <strong>im</strong> Oktober 1782 erschien.<br />

301 Zürcher Zeitung, Nr. 25 vom 23.3. 1782.<br />

302 J. Heer: Der Kr<strong>im</strong><strong>in</strong>alprozess der Anna GOld;, 1865,19·20.<br />

303 Ebenda, 30 - 31.<br />

304 J. Heer: Der Kr<strong>im</strong><strong>in</strong>alprozess der Anna Göldi,1865, 2<strong>5.</strong>


{... ]: 0 wie e<strong>in</strong> unglücklich Mensch b<strong>in</strong> Ich!305<br />

Verglichen mit der Stelle <strong>im</strong> Artikel <strong>in</strong> den Chronologen, gibt dies zwei völlig<br />

verschiedene Bilder.<br />

Während dem giengen die Verhöre mit der lauber<strong>in</strong> ihren Gang. Man lragte sie, ob sie das K<strong>in</strong>d auch<br />

wieder gesund machen könnte. Göld<strong>in</strong> versprachs.306<br />

Bemerkenswert ist, wie Wekhrl<strong>in</strong> <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Artikel die Anna Göldi schildert. Er<br />

unterschiebt ihr Fluchtgedanken. Er glaubt, Annas Wunsch, die Heilungsversuche<br />

<strong>in</strong>s Haus des Anne Miggeli zu verlegen, sei dar<strong>in</strong> begründet, auf dem Weg dorth<strong>in</strong><br />

fliehen zu können. Je? Auch schreibt er, Anna Göldi habe das Zuckergebäck,<br />

welches er Konfitüre nennt, für e<strong>in</strong>e "grosse Gefälligkeit" von Rudolf Ste<strong>in</strong>müller<br />

erhalten. Sie habe gewusst, dass Ste<strong>in</strong>müller die Kunst beherrsche, durch<br />

"Beibr<strong>in</strong>gen e<strong>in</strong>er Essware die Leute zu behexen".JOB<br />

Obschon er vehement das Todesurteil kritisiert, f<strong>in</strong>det er, sowohl Rudolt<br />

Ste<strong>in</strong>müller als auch Anna Göidi selen schuldig, jener wegen Betrugs, diese<br />

wegen Ihres bösen Willens. Beide hätten etwas gegen das Anne Miggeli <strong>im</strong><br />

Schilde geführt. Rudolt Ste<strong>in</strong>müller habe Anna betrügen wollen, <strong>in</strong>dem er ihr e<strong>in</strong><br />

"gutengebärendes· Zuckergebäck gegeben habe. Er sei aber ob der tatsächlich<br />

e<strong>in</strong>getroffenen Wirkung so verwirrt gewesen, dass er sich erhängt habe.<br />

(...): Sle<strong>in</strong>müller und Göld<strong>in</strong> aber würden - jener zum Lohn se<strong>in</strong>es Betrugs, diese zur Strafe ihres<br />

bösen Willens - e<strong>in</strong>ige Jahre die Strasse kehren.309<br />

Das Anne Miggeli, so W. L. Wekhrl<strong>in</strong>, habe das Drama des Nadelspeiens aus<br />

Rache an der Magd <strong>in</strong>szeniert. Er räumt aber e<strong>in</strong>, die Augenzeugen hätten ke<strong>in</strong>en<br />

Betrug feststellen können.<br />

Dass die behexte Tochter mit dem SIDckchen Konfiture die hundert Stecknadeln, die eisernen Nägel<br />

u.<strong>5.</strong>1. nicht verschluckt habe. ist e<strong>in</strong>leuchtend; und doch schwören die Augenzeugen, dass diese<br />

305 J. Heer: Der Kr<strong>im</strong><strong>in</strong>alprozess der Aona Göldi, 1865,2<strong>5.</strong><br />

306 W.L Wekhrl<strong>in</strong>: Chronologen. 1782. 219.<br />

307 Ebenda, 219<br />

308 Ebenda, 215<br />

309 Ebenda, 224.<br />

85


D<strong>in</strong>ge von ihr gegangen seien. Lässt sich dieses nicht ohne Hexerei erklären?31o<br />

E<strong>in</strong>e Erklärung für alle diese Ereignisse gibt er nicht.<br />

In se<strong>in</strong>em Artikel stellt Wekhrl<strong>in</strong> auch Ausschnitte aus dem Brief vor, den Antistes<br />

Ulrich an Pfarrer J. J. Tschudi, bei Wekhrl<strong>in</strong> Zw<strong>in</strong>gli genannt, sandte. Ebenso<br />

erwähnt er die Antwort, die der Glarner Pfarrer nach Zürich schickte. Dem Brief des<br />

Antistes wird er mit se<strong>in</strong>er Schilderung noch e<strong>in</strong>igermassen gerecht. Se<strong>in</strong>e<br />

Wiedergabe der <strong>im</strong>merh<strong>in</strong> vierzehnseitigen Antwort des Pfarrers Tschudi aus<br />

Glarus ist aber doch recht eigenwillig. Es ist zu vermuten, dass er mrt se<strong>in</strong>er<br />

Darstellung der beiden Briefe deutlich zeigen wollte, dass die Glarner sich durch<br />

den Brief des Antistes gezwungen fühlten, <strong>in</strong> der Formulierung des Todesurteils<br />

das Wort "Hexe" zu vermeiden. Er me<strong>in</strong>t, die Kritik der Zürcher habe die Richter zu<br />

ihrer vorsichtigen Formulierung <strong>im</strong> Urteil geführt.<br />

Gleichwohl, um das GelächtBr zu vermeiden, beschloss man, sie nicht unter dem Titel der Hexe,<br />

sondern unter e<strong>in</strong>em andem - verdient oder nicht, das kam, <strong>in</strong> Kollision mit der Ehrenrettung des<br />

Kr<strong>im</strong>lnalgerichts, gar nicht mehr <strong>in</strong> Anschlag - aus der Welt zu schaffen.311<br />

E<strong>in</strong>e weitere Ungenauigkeit, die dem Berichterstatter <strong>in</strong> den Chronologen<br />

unterlaufen ist, betrifft die zeitliche Reihenfolge. Die Anfrage, ob die Zürcher Anna<br />

Göld; <strong>in</strong>s Gefängnis aufnehmen würden, fand, <strong>im</strong> Gegensatz zur Behauptung<br />

Wekhrl<strong>in</strong>s, erst kurz vor der Fällung des Todesurteils statt312 und nicht schon zu<br />

Beg<strong>in</strong>n des Prozesses313. Dies st<strong>im</strong>mt auch mit den Aussagen von Johann Marti<br />

übere<strong>in</strong>, die ich am Anfang dieses Kapitels ausführlich besprochen habe.<br />

Den gekürzten Text des Todesurteils und dessen Schluss, dass es e<strong>in</strong>em übei<br />

Nachredenden gieich ergehen solle wie der Verurteilten selbst, versieht er mit<br />

e<strong>in</strong>er Fussnote, zu der er schreibt:<br />

o . Wehe - den Chronologen ! ! !314<br />

Auf den letzten zwei Seiten se<strong>in</strong>es Artikels hält er sich nochmals darüber auf, wie<br />

es den Glarner Richtern möglich war, die Bezüge herzustellen zwischen<br />

310 W,L. Wekhrf<strong>in</strong>: Chronologen, 1782, 222.<br />

311 Ebenda, 220·221.<br />

312 Aals- und Verhölrprotokolle. 24. Mai 1782 ualten Styls".<br />

313 W.L. Wekhrl<strong>in</strong>: Chronologen, 1782, 219.<br />

314 Ebenda, 222.<br />

86


87<br />

Giftmischerei, der unnatürlichen Heilkraft und der "gebärenden Konfitüre". Vor<br />

allem wundert er sich darüber, dass es noch Richter gebe, die <strong>im</strong> Ernst an solche<br />

Konfitüre und an Hexerei glaubten. Solche Leute fühiten sich sicher <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

Dilemma, denn es sei ja so, dass:<br />

(... 1, man den Rich1ern mit e<strong>in</strong>em Universalgelächter drohte; dass man ihnen sagte, ihr W<strong>in</strong>kel sei der<br />

e<strong>in</strong>zige, so weit man deutsch spricht, der noch an Hexen glaubt (...). Welche Inkonsequenzen <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em Todesurteil! Wie sehr ist das Volk zu bedauern, dessen Leben <strong>in</strong> den Händen solcher<br />

Kr<strong>im</strong><strong>in</strong>alrichter steht.<br />

Ich überlasse es den Rechtsgelehrten [... )diesen fOr unsere Zeiten und für die Richter so<br />

schandvollen Auftritt ause<strong>in</strong>ander zu 59tzen.315<br />

Dieser Artikel war es, der die Glarner so <strong>in</strong> Rage brachte, dass sie sich auf die<br />

Suche nach möglichen Informanten machten und krampfhaft versuchten<br />

herauszuf<strong>in</strong>den, woher Wekhrl<strong>in</strong> die Informationen hatte.<br />

In e<strong>in</strong>em Antwortschreiben an die Glarner Regierung bezeich<strong>net</strong>e dieser e<strong>in</strong>en<br />

"Kirchenboften aus Zürich" als Quelle. Da der Kirchenbote, den ich oben vorgestellt<br />

habe, <strong>in</strong> Leipzig und Dessau gedruckt wurde, kann man ihn nicht unbed<strong>in</strong>gt als<br />

Zürcher Zeitschrift betrachten. "Staatsfe<strong>in</strong>dliche" Schriften mussten zwar damals<br />

aus Zensurgründen oft auswärts gedruckt werden. Also könnte dies auch für den<br />

Leipziger Kirchenboten der Fall gewesen se<strong>in</strong>.<br />

Wekhrl<strong>in</strong> stand aber nicht nur diese Zeitschrift als Quelle zur Vertügung. Er<br />

berichtet 1784 <strong>im</strong> "Grauen Ungeheur", se<strong>in</strong>er Nachfolgezeilschrift der<br />

Chronologen, er habe e<strong>in</strong>en Korrespondenten, der ihm e<strong>in</strong>iges berichtet habe,<br />

dessen Namen er aber verschweige. Nennen würde er ihn, falls die Glarner ihm<br />

beweisen könnten, dass er e<strong>in</strong> "Unfaktum" publiziert hätte.31B<br />

E<strong>in</strong>mal <strong>im</strong> sächsischen Kirchenboten und <strong>in</strong> den schwäbischen Chronologen<br />

veröffentlicht, wurde dieser Göldi-Handel <strong>in</strong> den <strong>deutschen</strong> Zeitschriften zu e<strong>in</strong>em<br />

zentralen Thema für das Jahr 1783.<br />

Aufgeschreckt durch diese Artikel reagierte e<strong>in</strong> Zeitgenosse, e<strong>in</strong> Glarner<br />

namens Johann Ulrich Legler, der <strong>in</strong> Sevelen <strong>im</strong> Kanton SI. Gallen Pfarrer war, auf<br />

Wekhrl<strong>in</strong>s Aufsatz. Er bot der Glarner Obrigkeit an, mit e<strong>in</strong>em öffentlichen<br />

Schreiben darauf zu antworten, um ihre Ehre zu retten. Er schickte den Glarnern<br />

315 W.L. Wekhrt<strong>in</strong>: Chronologen. 1782,223·224.<br />

316W.L Wekhrt<strong>in</strong>: Das Graue Ungeheur. 2. Bd. 1784, 130.


88<br />

se<strong>in</strong> Manuskript. Da diese nicht auf se<strong>in</strong>en Vorschlag e<strong>in</strong>gehen und von e<strong>in</strong>er<br />

Publikation nichts wissen wollten, forderte er se<strong>in</strong> Manuskript wieder zurück.<br />

Dieser Rückforderungsbrief ist <strong>im</strong> Archiv des Landes Glarus e<strong>in</strong>sehbar. In se<strong>in</strong>er<br />

VerteidigungsschriM soll er, laut Lehmann, über den Arzt J. Marti, der ja <strong>in</strong> den<br />

Chronoiogen als der Urheber des Hexenglaubens bezeich<strong>net</strong> wird,317<br />

geschrieben haben:<br />

Er ist so sehr e<strong>in</strong> Fe<strong>in</strong>d der Leichtglaubigkeit und des Aberglaubens. als e<strong>in</strong> Freund, Verehrer und<br />

Kenner der re<strong>in</strong>en Gelehrsamkeit und gründlichen Madic<strong>in</strong>lschen Wissenschaften. {...], als es<br />

gelehrte und kluge Aerzte <strong>in</strong> der Schwanz oder <strong>in</strong> Deutsch- und Welschland giebt.3l&<br />

Bevor Lehmann se<strong>in</strong>e freundschaMlichen und vertraulichen Briefe anfangs 1783 <strong>in</strong><br />

den Druck gab, erschienen neben den oben besprochenen Berichten noch drei<br />

weitere. Der erste Artikel des Jahres 1783, der am vierten Januar <strong>im</strong> "Reichs Post­<br />

Reuter" von Altona erschien, war Lehmann möglicherweise nicht bekannt, denn er<br />

erwahnt ihn nirgends. Die beiden anderen h<strong>in</strong>gegen kommentiert er <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en<br />

Briefen.319<br />

<strong>5.</strong>2.3 Reichs Post-Reuter vom Sonnabend, 4. Januar 1783, Nr. 3<br />

Die erste publizistische Reaktion auf den Göldi-Handel aus dem Jahr 1783<br />

f<strong>in</strong>den wir <strong>im</strong> Reichs Post-Reuter vom vierten Januar 1783. Diese ZeitschriM wurde<br />

<strong>in</strong> Altona hergestellt. Altona war damals danisches Hoheitsgebiet, also ideal<br />

gelegen. um die Zensur zu umgehen. 320<br />

Der anonyme Verfasser überschreibt se<strong>in</strong>en Artikel über den Göldi-Handel mit<br />

"Altona" und leitet ihn folgendermassen e<strong>in</strong>:<br />

Werden unsere Leser es auch glauben, wenn wir ihnen melden, dass man noch <strong>im</strong> verwichenen<br />

Jahre. <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em der reformierten Religion zugelhanen Orte e<strong>in</strong>e Weibsperson als e<strong>in</strong>e Hexe e<strong>in</strong>ge­<br />

zogen, getottert und hemach als e<strong>in</strong>e Gfftmischer<strong>in</strong> (welche Inoonsequenzl) durch das Schwerdt<br />

h<strong>in</strong>gerichtet hat. [...J. Der Vortall ist so merkwürdig, dass [...J wir uns ertauben, ihn (...] zu erzählen,<br />

zuma! da die Zeitungen hiesiger Gegend, so viel wir wissen, noch nichts davon gemeldet haben.321<br />

Anschliessend an diese E<strong>in</strong>leitung wird auch hier, wie <strong>in</strong> den Chronologen, der<br />

317 W.L. Wekhrt<strong>in</strong>: Chronologen, 1782, 215<br />

318 H.L. Lehmann: Freundschattliche und vertrauliche Briefe. 2. HeH, 1783, )(6.<br />

319 Ebenda,1. HeH. a4 und 2.I-ieH )()( 3.<br />

320 H.J. Schütz: Verbotene Bücher, 1990,71 - 72.<br />

321 Reichs Post-Reuter,1783, 2.


89<br />

Steckbrief, mit dem Anna Göldi gerichtlich ausgeschrieben wurde, zitiert. Der<br />

Verlauf des GÖldi·Handeis wird auf ähnliche Art geschildert. Dieselben Fehler<br />

werden Obernommen. So helsst auch hier der Pfarrer Zw<strong>in</strong>gli anstalt Tschudi, und<br />

das Todesurteil wird auch hier auf der gnädigsten Herren Edikt anstalt auf ihren<br />

Eidt ausgesprochen. Ebenfalls IOr e<strong>in</strong>e übernahme des Stoffes aus den<br />

Chronoiogen spricht der Schluss des Artikeis. Dort heisst es:<br />

[...]. und Anna Göld<strong>in</strong> vermehrte den Haufen der unglücklichen Schlachtopfer, Ober die der<br />

Menschenverstand seufzt:I...}.<br />

Und:<br />

Wie sehr ist das Volk zu bedauern, dessen Leben <strong>in</strong> den Händen solcher Kr<strong>im</strong><strong>in</strong>alrichter steht. 322<br />

Der anonyme Autor <strong>im</strong> Reichs Post-Reuter stellt diese zwei, sicher treffenden Sätze<br />

e<strong>in</strong> wenig um und macht daraus:<br />

E<strong>in</strong> Glück ist es, dass sich die Gerichtsbarkeit der Herren von Glarus nur über ihre 15 Tagwen<br />

(Distriele) erstreckt; wie würde es sonst dem Verfasser des Reichs Post· Reuters ergehen! Das Urtheil<br />

ward pünktlich vollzogen, und Anna Göld<strong>in</strong> vermehrte die Anzahl der unglücklichen Schlachtopfer,<br />

über welche Menschlichkeit und Vernunft seufzen.323<br />

Jakob W<strong>in</strong>teler, der <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er BroschOre "Der Anna Göldi-Prozess <strong>im</strong> Urteil der<br />

Zeitgenossen" diesen Artikel bespricht, schreibt fälschiicherweise die Kreation des<br />

Begriffes "Justizmord" dem Autor des Reichs Post-Reuters ZU. 32' Dies trifft <strong>in</strong>des<br />

nicht zu, denn weder <strong>im</strong> Titel noch <strong>im</strong> Text des Artikels taucht der fOr die deutsche<br />

Sprache neue Begriff auf325 Erst <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Abschritt dieses Artikels <strong>im</strong> "Schlözer<br />

Statsanzeiger", den ich weiter h<strong>in</strong>ten ebenfalls bespreche, wird er als Titel<br />

gebraucht. Joach<strong>im</strong> Heer stellt dies, <strong>im</strong> Gegensatz zu Jakob W<strong>in</strong>teler, <strong>in</strong> der<br />

E<strong>in</strong>leitung zu se<strong>in</strong>er Arbeit Ober den Göldi-Handei richtig dar. 32•<br />

322 W.L. Wekhrl<strong>in</strong>: Chronologen, 1762, 222 und 224.<br />

323 Reichs Posl·Reuter,1783, 3.<br />

324 J. W<strong>in</strong>teler: Der Anna Göldi-Prozess, 1951, 17.<br />

325 Brockhaus, 2. Bd. 1923,559.<br />

326 J. Heer: Der Kr<strong>im</strong><strong>in</strong>alprozess der Anna Göldi, 1865, 9.


91<br />

Schicksal wie die Vergifter<strong>in</strong> Anna Göldi rechnen müsse. 332 Das quittiert er wieder<br />

mit se<strong>in</strong>er Ansicht:<br />

- Ach Gottl me<strong>in</strong> armer Kopf! - ich habe ihn schon verwOrktl-333<br />

Was auch hier auffällt, ist die sehr negative Beschreibung Rudol! Ste<strong>in</strong>müllers. In<br />

W. L. Wekhrl<strong>in</strong>s Chronologen heisst es:<br />

In der ThaI lebte der Pursch he<strong>im</strong>lich <strong>in</strong> diesem bösen Ruf, und bestärkte wol selbst die Leute dar<strong>in</strong>n:<br />

entweder um sich unter se<strong>in</strong>em Mitpöbel <strong>in</strong> gewisse Art von Respekt zu setzen, oder von e<strong>in</strong>em und<br />

dem andern schadenfrohen Dümml<strong>in</strong>g e<strong>in</strong> StOckehen Geld zu erhaschen.334<br />

E<strong>in</strong>e negative Sicht, die auch <strong>im</strong> Reichs Post-Reuter übernommen wird:<br />

Dieser Bursch stand <strong>in</strong> der That he<strong>im</strong>lich <strong>im</strong> Rufe, er mag es nun vorgegeben haben, um sich beym<br />

Pöbel <strong>in</strong> Ansehen zu selzen, oder um e<strong>in</strong> Stück Geldes von Dummköpfen zu erhaschen.335<br />

Der Erlanger Autor schildert Ste<strong>in</strong>müller als schillernde Figur, aber etwas weniger<br />

negativ:<br />

Dieser Ste<strong>in</strong>mDller sonst e<strong>in</strong> Iüstlger Passagier, der von der Leichtgläubigkeit se<strong>in</strong>er Landsleute<br />

leble, ward also als Hexenmeister auch e<strong>in</strong>gezogen, kannte aber se<strong>in</strong>e Leute sd1on, und hieng sich<br />

lieber selbst <strong>im</strong> Gefängnis auf.336<br />

Auf Grund dieser Beschreibung, vor allem derjenigen der Chronologen und des<br />

Reichs Post-Reuters, könnte H. L. Lehmann als Korrespondent fOr den Aufsatz <strong>in</strong><br />

den Chronologen <strong>in</strong> Frage kommen, schilderte er doch <strong>im</strong> 1. Heft se<strong>in</strong>er freund­<br />

schaftlichen und vertraulichen Briefe Ste<strong>in</strong>mOller äusserst unvorteilhaft als<br />

"kle<strong>in</strong>es, kahlköpfiges, hageres Männle<strong>in</strong> mit hervorstechenden Augen, grosser<br />

Nase und kle<strong>in</strong>em K<strong>in</strong>n, als arbeitsam, herrschsüchtig, zornmüthig und<br />

rachsüchtig-. Dies s<strong>in</strong>d Attribute, die <strong>im</strong> Zeitalter der "Physiognomischen<br />

Fragmente" des Zürcher Geistlichen Johann Kaspar Lavater, die zwischen 1774<br />

und 1778 gedruckt wurden, sicher ihre Wirkung hatten.<br />

332 J. Heer: Der Kr<strong>im</strong><strong>in</strong>alprozess der Anna Göldi, 1865, 49.<br />

333 Erlanger Real-Zeitung, 1763, 32.<br />

334 W.L. Wekhrl<strong>in</strong>: Chronologen, 1762, 216.<br />

335 Reichs Post-Reuler.1783, 2.<br />

336 Erlanger Real-Zeitung, 1763,31.


92<br />

Weder <strong>im</strong> Kirchenboten noch <strong>im</strong> neunten Brief J. M. Alsprungs "Reise durch<br />

e<strong>in</strong>ige Cantone der Eidgenossenschaft" ist e<strong>in</strong>e negative Beschreibung Rudol!<br />

Ste<strong>in</strong>müllers zu f<strong>in</strong>den. J. M. Afsprung, der nach Rudol! Ste<strong>in</strong>müllers Selbstmord<br />

aus Glarus abreiste, nachdem er auch Kontakt mit dem Vater des Anne Miggeli<br />

gehabt hatte, hätte sicher dessen schlechten Ruf <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Brief festgehalten. Da<br />

lässt sich aber nichts l<strong>in</strong>den.337<br />

Zehn Tage nach der Veröffentlichung des Göldi-Handels <strong>im</strong> Reichs Post-Reuter,<br />

erschien die Geschichte auch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er holländischen Zeitung.<br />

<strong>5.</strong>2.5 Oprechte D<strong>in</strong>gsdagse Haarlemse Courant vom 14. Januar 1783<br />

Die holländische Zeitung "Haarlemse Couran!" erschien wöchentlich dre<strong>im</strong>al.<br />

Gedruckt wurde sie be<strong>im</strong> Haarlemer Buchdrucker Johannes Enschede und se<strong>in</strong>en<br />

Söhnen. Der Herausgeber war Abraham Casteleyn.338 Der Name des Autors ist <strong>in</strong><br />

der Zeitung nicht zu f<strong>in</strong>den.<br />

Da der Titel des Artikels über den Göldi-Handel ·Van den Neder-Rhyn den 4.<br />

January" heisst, ist es sehr wahrsche<strong>in</strong>lich, dass der Bericht <strong>im</strong> Reichs Post-Reuter<br />

vom 4. Januar als Quelle diente. Der Umfang des holländischen Artikels ist<br />

allerd<strong>in</strong>gs kle<strong>in</strong>er als derjenige des Reichs Post-Reuters. Als E<strong>in</strong>leitung heisst es:<br />

Van den Neder-Rhyn den 4 January. 339<br />

Sollte man glauben, dass <strong>in</strong> diesem Jahrhundert, das so manchmal das erleuchtete, das<br />

philosophische Jahrhundert genannt wird, und selbst noch <strong>in</strong> diesem vergangenen Jahr, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er der<br />

reformierten Religion angehörenden OrtschaN e<strong>in</strong> Frauenz<strong>im</strong>mer wegen zauberei, e<strong>in</strong>gefangen,<br />

gepe<strong>in</strong>igt und nachher unter dem Namen Gittmischer<strong>in</strong> (weil man Gelächter belürchte1 hat1e, wenn<br />

man sie als Zauber<strong>in</strong> verbrennen liasse) mit dem Schwert zum Tode gebracnt wurde.340<br />

Ausser dem Ortsnamen "Vlek Glarus <strong>in</strong> Zwitzerland" und dem Namen der<br />

Verurteilten "Anna Göldi" werden ke<strong>in</strong>e anderen Namen erwähnt. Rudolf<br />

Ste<strong>in</strong>müller wird lediglich als "Zweitperson" aufgeführt. über se<strong>in</strong>en Selbstmord<br />

heisst es nur:<br />

I... ): an verh<strong>in</strong>g zieh <strong>in</strong> da gevangenis.341<br />

337 J.M. Alsprung: Reise durch e<strong>in</strong>ige Cantone.1784, 176.<br />

338 Angaben aus der Kon<strong>in</strong>klijke Bibliotheek, s'Gravenhage, vom 23.3 9<strong>5.</strong><br />

339 Oprechle D<strong>in</strong>gsdagse Haarlemse Courant, 1783, 1. (übersetzt von Mieke EgoH-Snijders)<br />

340 Ebenda, 1.<br />

341 Ebenda, 1.


93<br />

Pfarrer Tschudi und der Arzt Marti werden als Pfarrer und Arzt bezeich<strong>net</strong>, die<br />

erklärten:<br />

(... l, dal da zaak onmogelyk op asne natuurlyke wyze kon toegaan. maar dat da Duivel on1ellbar <strong>in</strong>'t<br />

spei moasl zyn.342<br />

Jakob W<strong>in</strong>teler343 und Joach<strong>im</strong> Heer 344 haben <strong>in</strong> ihren Arbeiten Lehmanns<br />

Aussage, Professor Allamand aus Leyden habe sich anerboten, die Glarner <strong>im</strong><br />

"Haarlemer Courant" zu verteidigen, wiecerholt, wobei Heer Lehmann als Quelle<br />

angab. Bei Jakob W<strong>in</strong>telers Bericht "Der Göldi-Prozess <strong>im</strong> Urteil der Zeitgenossen"<br />

fehlen manchmal die exakten Quellenangaben. Es ist schwierig, aus se<strong>in</strong>en<br />

Formulierungen herauszulesen, ob se<strong>in</strong>e Angaben nacherzählend geme<strong>in</strong>t s<strong>in</strong>d,<br />

oder ob er sie durch andere Quellen abgesichert hat. So schreibt er über die<br />

holländische Berichterstattung des Göldi-Handels:<br />

Die 'Haarlemer Zeitung' vom 14. Jänner 1783 schwatzte e<strong>in</strong> tanges und breites darOber und e<strong>in</strong><br />

gewisser Professor <strong>in</strong> Leyden, Allamand. hat sich [... ].345<br />

Dies s<strong>in</strong>d aber Inhalte aus den Briefen Lehmanns. E<strong>in</strong>deutiger wäre es gewesen,<br />

wenn W<strong>in</strong>teler se<strong>in</strong>e Aussagen klar belegt hätte. Vermutlich hat er den Artikel <strong>im</strong><br />

Haarlemse Courant ebenso wenig gesehen wie H. L. Lehmann, denn dann wäre<br />

es weder dem e<strong>in</strong>en noch dem anderen e<strong>in</strong>gefallen zu sagen, der Artikelschreiber<br />

schwatze e<strong>in</strong> "langes und breites" darüber. Der holländische Publizist hat den<br />

Handel als kurze Zusammenfassung drucken lassen; dies <strong>im</strong> Gegensatz zu den<br />

anderen, bisher vorgestellten Veröflentlichungen. 346<br />

E<strong>in</strong>e Zeitung, die noch vor dem Ersche<strong>in</strong>en der freundschaftlichen und<br />

vertraulichen Briefe das Thema"Anna Göldi" aufnahm, waren die Schlözerschen<br />

"Stats-Anzeigen" aus Gött<strong>in</strong>gen.<br />

<strong>5.</strong>2.6 Stats-Anzeigen, 2.Band, Helt 5 - 8,1782 (-1783)<br />

August Ludwig Schlözer, Professor und Publizist aus Gött<strong>in</strong>gen, gab se<strong>in</strong>e<br />

"Stats-Anzeigen" von 1782 bis 1794 <strong>in</strong> Gött<strong>in</strong>gen (Königreich Hannover) heraus.<br />

Se<strong>in</strong> grosser Vorteil <strong>in</strong> jener Zeit war die Möglichkeit, se<strong>in</strong>e Staatsanzeigen<br />

342 Oprechte D<strong>in</strong>gsdagse Hasrlemse GouTa"t, 1783, 1.<br />

343 J. W<strong>in</strong>leler: Der Anna GÖldi·Prozess, 1951,23·24.<br />

344 J. Heer: Der Kr<strong>im</strong><strong>in</strong>alprozess der Anna Göldi, 1865, 10.<br />

345 J. W<strong>in</strong>leler: Der Anna GÖldi·Prozess,1951, 23.<br />

346 Oprechle D<strong>in</strong>gsdagse Haarlemse Courant, 1783,1.


95<br />

Autor des Reich> Post-Reuters e<strong>in</strong>ige Begebenheiten des Göldi-Handels selber<br />

kommentiert.<br />

So schreibt er zu den Briefen des Antistes Ulrich von Zürich und des Glarner<br />

Pfarrers Tschudi (natürlich auch hier Zw<strong>in</strong>gli genannt), und zu dessen Aussage,<br />

Antistes Ulrich solle sich nicht <strong>in</strong> fremde Angelegenheiten mischen, e<strong>in</strong>en<br />

persönlichen Kommentar. Dar<strong>in</strong> äussert er se<strong>in</strong>en Unmut über die Glarner Richter.<br />

Er f<strong>in</strong>det die Borniertheit dieser Leute unerträglich.354 Unter den Schluss des<br />

Todesurteils, es solle sich niemand erlauben, sich über den Handel lächerlich zu<br />

machen, da es ihm sonst wie der verurteillen Anna Göldi ergehen würde, schreibt<br />

er, e<strong>in</strong>e bloss historische Erläuterung dieses Vorfalles sollte wohl möglich se<strong>in</strong>. 355<br />

Schlözer bestätigt auch, dass e<strong>in</strong> Reisender die Informationen aus Glarus<br />

mitgebracht habe. Das gleiche hatte schon W L Wekhrl<strong>in</strong> erwähnt.<br />

Diese ganze Hexen Geschichte von GlaNs übrigens, war mir schon <strong>im</strong> vorigen Sommer von e<strong>in</strong>em<br />

Reisenden, der eben von Glarus kam, mH allen Umständen erzählt; nur mit dem Unterschiede, dass<br />

man die Hexe zuletzt <strong>in</strong> Glarus geköpft habe, weil man sie nicht <strong>in</strong> Zürich <strong>in</strong>s Zucht Haus namen<br />

wollen.356<br />

Was für Afsprung als Korrespondeten spricht, ist die Aussage von Schlözer, der<br />

Reisende, der direkt aus Glarus gekommen sei, habe ihm das <strong>im</strong> Sommer 1782<br />

ausführlich erzählt. 357 Afsprung ist Mai 1782 aus Glarus abgereist.<br />

Das siebte Hett der "Stats-Anzeigen", <strong>in</strong> dem der Artikel "Abermaliger Justiz<br />

Mord <strong>in</strong> der Schweiz" steht, endet mit der Datierung vom 31. Januar 1783.358<br />

Jakob W<strong>in</strong>teler schreibt, Schlözer habe die Nachricht vom Reichs Post-Reuter am<br />

1<strong>5.</strong> Februar 1783 voll<strong>in</strong>haltlich nachgedruckt. Auch me<strong>in</strong>t er, der Titel U Abermaliger<br />

Justiz Mord" sei schon <strong>im</strong> Reichs Post-Reuter aufgetauchj359<br />

Diese Annahmen st<strong>im</strong>men aber nicht. Joach<strong>im</strong> Heer formulierf das <strong>im</strong> Jahrbuch<br />

des historischen Vere<strong>in</strong>s sorgfältiger. Er schreibt dort, Schlözer habe den Artikel<br />

unter dem Titel "Abermaliger Justizmord" übernommen.360<br />

354 A.L. Schlözer: Stats-Anzeigen,1782· 1783, 27<strong>5.</strong><br />

355 Ebenda, 277.<br />

356 Ebenda, 27<strong>5.</strong><br />

357 AL Schlözer; Stats-Anzeigen,1782 . 1783, 275<br />

358 Ebenda, 400.<br />

359 J. W<strong>in</strong>leler: Der Anna Göldi-Prozess, 1951,17.<br />

360 J. Heer: Der Kr<strong>im</strong><strong>in</strong>alprozess der Anna Göldi, 1865, 9.


96<br />

<strong>5.</strong>2.7 Bunzlauische Monatsschrift zum Nutzen und Vergnügen. Zehnter Jahrgang<br />

1783.<br />

Die Bunzlauische Monatsschrift wurde von Joh. Friedrich B. Löwe und von<br />

Erdmann Friedrich Bucquoi herausgegeben. E. F. Buquoi verfasste <strong>im</strong> zehnten<br />

Band des Jahres 1783 e<strong>in</strong>en Artikel über den Göldi-Handel mit der Überschrift<br />

"Historische Nachrichten". Der Untertitel heisst:<br />

Hexenprozess <strong>in</strong> Glarus, e<strong>in</strong> merkwürdiger Beitrag zum Beweise. dass unsre Zeiten erleuchtet<br />

s<strong>in</strong>d.361<br />

Geschrieben wurde dieser Bericht <strong>im</strong> Zeitraume des ersten Quartals, vermutlich <strong>im</strong><br />

Februar des Jahres 1783. Schliessen lässt sich das aus dem nachfolgenden<br />

Artikel über den Frieden zwischen Versailles, Madrid und London am 20. Januar<br />

1783.362<br />

Auch hier handelt es sich um e<strong>in</strong>e Übernahme des Artikels aus dem Reichs<br />

Post-Reuter. Der Verfasser Bucquoi gibt mit dem Schluss, ·wie würde es sonst dem<br />

Verfasser des Reichs Post-Reuters ergehen!", se<strong>in</strong>e Quellen an. Im Anschluss an<br />

die Berichterstattung über den Glarner Göldi-Handel <strong>in</strong> Glarus führt er noch zwei<br />

weitere, allerd<strong>in</strong>gs zu e<strong>in</strong>em früheren Zeitpunkt geführte, Hexenprozesse aus der<br />

Schweiz auf.363<br />

<strong>5.</strong>2.8 Strasburgische Gelehrte Nachrichten. Erstes Vierteljahr 1783<br />

Diese Zeitschrift erschien <strong>in</strong> den Jahren 1782 bis 1785 als "Strasburgische<br />

Gelehrte und Kunstnachrichten". In der Ausgabe vom ersten Vierteljahr des Jahres<br />

1783, <strong>im</strong> 41. Stück, f<strong>in</strong>det sich die erste Rezension des kurz vorher<br />

herausgekommenen ersten Heftes der freundschaftlichen und vertraulichen Briefe<br />

von H. L. Lehmann.364 E<strong>in</strong> nicht namentlich eTVIähnter Autor behandelt unter der<br />

Überschrift ·Ulm" Lehmanns Version des GÖldi-Handels. Gleich unterhalb dieser<br />

Überschrift wird der ganze Titel des ersten Hettes, wie ihn Lehmann gesetzt hat<br />

und der Name des Buchdruckers, Christian Ulrich Wagner, aufgeführt.36S Als<br />

E<strong>in</strong>leitung schreibt der Publizist:<br />

361 E.F. Buquoi: Bunzlauische Monalsschrift,1783, 49.<br />

362 Ebenda, 5<strong>5.</strong><br />

363 Ebenda, 53 . 54.<br />

364 Strasburgische Gelehrte Nachrichten, 1783, 482 • 493.<br />

365 Ebenda, 482.


97<br />

Oie Geschichte der Anna Götd<strong>in</strong>n, welche In dem Canton Glarus zuerst als Hexe angeklagt, hernach<br />

als Giftmischer<strong>in</strong> unlängst zum Tode verurteiH worden, ist schon <strong>in</strong> Wekhrl<strong>in</strong>s Chronologen, <strong>in</strong> dem<br />

Kirchenbothen und anderswo berührt. Hf. Lehmann n<strong>im</strong>mt sich vor mit philosophischer KallblO1igkeit<br />

den ganzen Process zu beleuchten. Denselben betrachtet er <strong>in</strong>dessen mehr aus dem Gesichts­<br />

puncte des Seelen- und Naturforschers als des Juristen.366<br />

Er me<strong>in</strong>t, H. L. Lehmann spreche mit e<strong>in</strong>er zu grossen Wärme und e<strong>in</strong>em zu<br />

starken "Triumphtone". Dies erwecke sogleich Misstrauen. Auch müsse sich<br />

Lehmann nicht SO über die falschen Namen auslassen, die <strong>in</strong> Wekhrl<strong>in</strong>s<br />

Chronologen stünden, ver1alle er doch selber der Inkonsequenz, den Arzt J. Marti<br />

e<strong>in</strong>erseits als aufgeklärt h<strong>in</strong>zustellen, ihn aber andererseits abergläubisch zu<br />

nennen.3.7 Ebenso sei die ausschmückende Erzählart der Briefe nicht richtig<br />

gewählt. Dies würde nur den Blick auf das Wesentliche trüben.<br />

Der Artikelschreiber will den richtigen Namen des Glarner Pfarres angeben,<br />

macht aber ebenfalls e<strong>in</strong>e Verwechslung und nennt ihn "Zwicki" anstatt<br />

"Tschudi".3••<br />

Den Hauptteil des Artikels gestaltet er mit Zitaten aus den Lehmannschen<br />

Briefen, unterbricht sie aber <strong>im</strong>mer wieder mit kritischen Bemerkungen. Überall<br />

dort, wo Lehrnanns Berichterstattung Lücken aufweist, sei es be<strong>im</strong> Erklärungs­<br />

versuch, wie die Gufen <strong>in</strong> den Körper des Mädchens gelangten oder sei es bei den<br />

vone<strong>in</strong>ander abweichenden Schilderungen des Anne Miggeli, setzt er mit se<strong>in</strong>en<br />

Fragen e<strong>in</strong>. Er me<strong>in</strong>t, Lehmann hätte besser die Art und Weise, wie die Gufen vom<br />

K<strong>in</strong>d g<strong>in</strong>gen, aufs genaueste er10rscht und sorgfältig festgehallen, als sich über<br />

falsche Namen geärgert.<br />

An den Schluss des Artikels stellt der Autor die Hoffnung, das zweite Heft der<br />

freundschaftlichen und vertraulichen Briefe werde für alle aUfgetauchten Fragen<br />

Antworten liefern.<br />

Mehr Lichl verbreitet sich erst. wenn Hf. lehmann <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em zweiten Hefte die Gerichtsacten selbst<br />

vorlegen wlrd.369<br />

366 Strasburgische Gelehr1e Nachrichten, 1783, 482.<br />

367 Ebenda, 482.<br />

368 Ebenda, 483.<br />

369 Ebenda, 493.


99<br />

Auch soll das K<strong>in</strong>d, laut Lehmann, an e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>neren und äusseren Erstarrung, den<br />

"gichterischen Anfällen", der Glieder gelitten haben, trotzdem sei:<br />

[...} das Nadelspeien bei aU dieser Erstarrung so glücklich vor sich gegangen [...]. dass ke<strong>in</strong>e <strong>im</strong><br />

Schlund slekken blieb.374<br />

Erwähnenswert ist, dass der Autor die Vorverurteilung der Anna Göidi anprangert.<br />

Denn schon <strong>im</strong> Steckbrief vom 28. Januar 1782 "aiten Styls" werde sie als die<br />

schuldige ÜbeMter<strong>in</strong> bezeich<strong>net</strong>. Diese überall verbreiteten Steckbriefe gäben sie<br />

sogar schon als überführte Verbrecher<strong>in</strong> aus.,75<br />

Nachdem er e<strong>in</strong>iges über die Heilungsversuche erzähit hat, hält er sich über das<br />

Geständnis der Magd auf:<br />

Es war ihr nicht beigefallen den Ste<strong>in</strong>mOlJer anzuklagen; und doch wusste sie, dass ihr Urtheil so gut<br />

als gesprochen sei. Sie bekannte endlich glOcklich (sagt H.K.L.) die obige Geschichte, und<br />

versicherte, dass Ste<strong>in</strong>müller ihr gemeldet, das K<strong>in</strong>d würde vom genossenen Lekkerli Nadeln u.d.gl.<br />

ausbrechen müssen. Sie habe deswegen die Stecknadeln <strong>in</strong> des K<strong>in</strong>des Essen gethan. damit<br />

alles blasser Zufall sche<strong>in</strong>en solne. L. sagt aber nicht, ob man ihr die Geschichte zuerst 6rzähh.<br />

und die Bestätigung von ihr verlangt habe. Und doch ist dieser Umstand wichlig.376<br />

Genau diesen Punkt, die Problematik der Suggestivfragen während der Verhöre,<br />

bezeich<strong>net</strong> auch Joach<strong>im</strong> Heer als den schwierigsten <strong>in</strong> der ganzen Geschichte.<br />

Im Unterschied zu Lehmanns Briefen, zum Bericht <strong>in</strong> den Chronologen und<br />

foiglich zu allen, diese beiden zitierenden Zeitschriften, schildert die Berl<strong>in</strong>ische<br />

Monatsschrift Rudolf Ste<strong>in</strong>mülier als e<strong>in</strong>en Mann, der e<strong>in</strong>en ganz guten Ruf hatte<br />

und der <strong>in</strong> "der Chymie e<strong>in</strong>ige Kenntniss besass".377<br />

E<strong>in</strong>e weitere Begebenheit f<strong>in</strong>det sich nur <strong>in</strong> diesem Artikel. Es heisst, e<strong>in</strong><br />

Geistlicher aus Zürich habe noch vor der Verhaftung Rudolf Ste<strong>in</strong>müllers versucht,<br />

e<strong>in</strong>en Aufsatz zu veröffentlichen, der das ganze eher als Betrügerei hätte<br />

darstellen sollen. In Privatbriefen aus Glarus sei er aber gewarnt worden, solches<br />

komme <strong>in</strong> Glarus sehr schiecht an. Darauf sei die Drucklegung dieses Aufsatzes<br />

unterblieben.'7a Etwas späler habe die Glarner Obrigkeit auf Wekhri<strong>in</strong>s Artikel <strong>in</strong><br />

den Chronologen reagiert:<br />

374 Berl<strong>in</strong>ische Monatsschritt.1763. 477.<br />

375 Zürcher Zeitung vom 9.2. 1782; Berl<strong>in</strong>ische Monatsschrift, 1783,479.<br />

376 Ebenda, 481.<br />

377 Ebenda, 483.<br />

378 Ebenda, 484.


103<br />

möglich gewesen. Die Glarner seien dennoch sehr glückliche E<strong>in</strong>wohner und<br />

hälten e<strong>in</strong>e vortreffliche Vertassung. Für die <strong>in</strong> ihrer Ehre verletzten Glarner war<br />

dies sicher e<strong>in</strong> erholsamer Schlussatz.<br />

Im September des gleichen Jahres wurde die Geschichte auch <strong>in</strong> Französisch<br />

sprechenden Gebieten publik. Obschon diese Arbeit sich auf den Deutsch<br />

sprechenden Teil Europas bezieht, muss dieser Artikel hier kurz gestreift werden.<br />

<strong>5.</strong>2.11 L'Espri1 des Journaux, fran90is et e1rangers. Sep1embre. 1783<br />

Im September 1783 ersche<strong>in</strong>t <strong>in</strong> Paris, <strong>in</strong> der Zeilschrift "L'Esprit des Journaux"<br />

e<strong>in</strong>e Besprechung der beiden Hefte der "Freundschaftlichen und vertraulichen<br />

Briefe" von H. L. Lehmann. Der Vertasser dieser Zeitschrift publiziert den <strong>in</strong>s<br />

Französische übersetzten Bericht der Gölt<strong>in</strong>glschen Anzeigen un1er dem Tilel<br />

"Leltres amicales & familieres touchant le fameux proces de sorcellerie de Glaris".<br />

Er lässt allerd<strong>in</strong>gs den Schluss des Gött<strong>in</strong>gischen Artikels, wo die demokratische<br />

Vertassung der Glarner gelobt wird, weg und endet nach den Fragen, die ich oben<br />

zitiert habe. 388<br />

<strong>5.</strong>2.12 Bericht von dem Hexen-Prozess <strong>in</strong> Glarus. Basel <strong>im</strong> Jahr 1783<br />

Im Basel erschien irgendwann <strong>im</strong> Jahre 1783 e<strong>in</strong>e anonyme Schrift, die den<br />

Untertitel "Wahrhafte Erzehlung von dem Verbrechen, der Gefangennehmung,<br />

Befragung und endlichen Verurtheilung e<strong>in</strong>er rachgierigen Weibsperson <strong>in</strong> Glarus,<br />

wegen ihrer Merkwürdigkeit kurz zusammengefasst und <strong>in</strong> Druck gegeben" trägt.<br />

E<strong>in</strong>e Angabe des Buchdruckers h<strong>in</strong>gegen fehlt.<br />

Das Schreiben hat e<strong>in</strong>en "Vorbericht", der die Drucklegung begründet:<br />

Diese Blätter enthalten e<strong>in</strong>e kurze doch ziemlich umständliche Erzehlung von e<strong>in</strong>em Cr<strong>im</strong><strong>in</strong>al­<br />

Prozess, der von der Hohen Obrigkeit Reformierten Antheils <strong>in</strong> Glarus ist entschieden worden.<br />

Derselbe haI h<strong>in</strong> und wieder Aufsehen gemacht, und ist ausser Landes unter dem Namen des<br />

Hexenhandels bekannt. Man hat viele ungleiche Urtheile darüber <strong>in</strong> öffentlichen Blättern gelesen. So<br />

viel ist aber gewiss, dass die Anna Göld<strong>in</strong> nicht als Hexe oder Zauber<strong>in</strong>, sondern als e<strong>in</strong>e boshafte<br />

VergifteT<strong>in</strong> ist zum Tode verurtheitl worden. Die Erzehlung ist meisl aus den richterlichen Akten<br />

gezogen und folglich der Wahrheit völlig gemäss. Sie verdient wegen ihren merkwOrdigen<br />

Umständen von Jedermann gelesen zu werden.389<br />

Ob der ganze Artikel "der Wahrheit vöilig gemäss" ist, bleibe dah<strong>in</strong>gestellt. Die<br />

388 L'Esprtt des Joumaux, 1783.419·424.<br />

389 Historischer Berichl von dem Hexen-Prozess. 1783, 1.


106<br />

Vikar, übrigens e<strong>in</strong> Zeitgenosse des Pfarrers Tschudi von Glarus, nicht von se<strong>in</strong>er<br />

überzeugung abbr<strong>in</strong>gen liess, Zauberei sei nicht möglich. Nur so konnte er genau<br />

dort mit se<strong>in</strong>er Intervention ansetzen, wo bei anderen der Glaube an Hexerei<br />

anf<strong>in</strong>g.<br />

Wie weiter vorne schon erwähnt, waren solche Nadel-Geschichten zu jener Zeit<br />

aligeme<strong>in</strong> bekannt. Dieter Richter schreibt 1995 <strong>in</strong> der Festschrift zum 6<strong>5.</strong><br />

Geburtstag von Rudol1 Schenda <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Artikel "Erzähne Aufklärung", das<br />

Nadelschlucken und se<strong>in</strong>e gesundheitlichen Folgen seien schon <strong>im</strong> 17. und 18.<br />

Jahrhundert, neben dem mediz<strong>in</strong>ischen, e<strong>in</strong> verbreitetes Erzählthema gewesen.'99<br />

Man kann annehmen, dass solche Geschichten zur Zeit des Göldi-Handels auch<br />

<strong>im</strong> Glarnerland zum Erzählgut gehörten.<br />

5,3 Reaktionen <strong>in</strong> mediz<strong>in</strong>ischen Zeitschriften Im Jahr 1783<br />

Der Göldi-Handel beschattigte damals auch die mediz<strong>in</strong>ischen Fachkreise. Drei<br />

Beiträge aus dem Jahre 1783 s<strong>in</strong>d bekannt. Alle drei hat auch Jakob W<strong>in</strong>teler <strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>er Broschüre "Der Anna Göldi-Prozess <strong>im</strong> Urteil der Zeitgenossen" erwähnt. 400<br />

<strong>5.</strong>3.1 Medic<strong>in</strong>ische Bibliothek. Ersten Bandes zweytes Stück. 1783<br />

Der erste mediz<strong>in</strong>ische Artikel wurde vom Gött<strong>in</strong>ger Arzt und Professor Johann<br />

Friedrich Blumenbach herausgegeben. Im neunten Beitrag dieses ersten Bandes<br />

f<strong>in</strong>det sich e<strong>in</strong>e Beschreibung der beiden Hefte H. L. Lehmanns. Die Begründung<br />

für e<strong>in</strong>e Publikation dieser Rezension lautet:<br />

Die traurige Geschichte, die den Gegenstand dieser Briele ausmacht, verdient ausser dem<br />

allgeme<strong>in</strong>en Aufsehn. das sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em grossen thai! von Europa verursacht, um so mehr e<strong>in</strong>e<br />

genauere Anzeige <strong>in</strong> unsern Blättern, je gr0SS8r die Verlegenheit ist, <strong>in</strong> die oN sehr er1ahme und<br />

würdige Aerlte durch solche rätselhafte Fälle versetzt werden kÖnnen.4Ql<br />

Die Geschichte des ganzen Handels wird anschliessend frei erzählt, wobei<br />

Blumenbach die Angaben, die er aus den Lehmann'schen Briefen verwendet, mit<br />

den jeweiligen Seitenzahlen versieht. Auch an dieser Stelie wird von Blumenbach<br />

e<strong>in</strong>e Kausalität hergestellt, die nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat, aber sehr<br />

399 D. Richter: Erzählte Aufklärung. In: Hören Sagen Lesen Lernen, 1995, 585·598.<br />

400 J. W<strong>in</strong>teler: Der Aona GOldl-Prozess,1951, 24 -2<strong>5.</strong><br />

401 Medic<strong>in</strong>ische Bibliothek,1783, 263.


107<br />

logisch sche<strong>in</strong>t. Er stellt den Streit der Anna Göldi mit dem Anne Miggeli an den<br />

Anfang. Dies ermöglicht, die Leckerli-Geschichte als Racheakt plausibel zu<br />

machen, Als Arzt <strong>in</strong>teressieren ihn vor allem mediz<strong>in</strong>ische Detaiis aus Lehmanns<br />

Darstellung, So betrachtet er Lehmanns Angabe, das Anne Miggeli habe<br />

Spulwürmer gehabt und sei darum kränklich gewesen als wissenswert, E<strong>in</strong><br />

weiteres Detail ist ausschliesslich <strong>in</strong> diesem Artikel anzutreffen, Blumenbach gibt<br />

zu bedenken, am Tag, da Rudoi! Ste<strong>in</strong>müller und Anna Göldi dem K<strong>in</strong>d das<br />

"Leckerli" zu essen gegeben hätten, sei dieses nur wenige M<strong>in</strong>uten mit den beiden<br />

alle<strong>in</strong> gewesen, es hätte deshalb auf ke<strong>in</strong>en Fall betäubt werden können, um ihm<br />

die Nadeln u,s,w, <strong>in</strong> den Leib zu stopfen, wie H. L. Lehmann es für möglich<br />

halte. 402 Es gebe dafür e<strong>in</strong>en Beweis "aus sicherer Hand",403 Das K<strong>in</strong>d habe gleich<br />

nach dem Genuss des "Leckerlis' die Handschuhe gesucht und sei mit se<strong>in</strong>en<br />

Freund<strong>in</strong>nen spazieren gegangen,<br />

Blumenbach sagt, dass er die Nadeln, Haken und Nägel, die das Mädchen<br />

ausgespien, gesehen, und dass er das Mädchen angeschaut und untersucht<br />

habe. 404<br />

lJeber den gegenwärtigen (Fall) hoft der Rac. e<strong>in</strong>en desto belriedigernden Aufschluss zu geben, da<br />

er selbst ohnlängst <strong>in</strong> Glarus gewesen, das corpus delicti genau untersucht, und sowohl die kle<strong>in</strong>e<br />

Kranke, als die wichtigsten noch lebenden Personen die bey dem so verworrnen Handel Interessiert<br />

gewesen, kennen gelernt hal.405<br />

Er ist überzeugt, diese gekrümmten Nägel, die er <strong>in</strong> den Händen gehabt habe,<br />

hätten niemals den Schlund passieren können, ohne grössere Verletzungen zu<br />

verursachen, und diese hätten ja bei dem Mädchen völlig gefehlt.<br />

Blumenbach vertritt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Artikel ganz klar die Me<strong>in</strong>ung, für Anne Miggeli<br />

habe es nur zwei Möglichkeiten gegeben, die Nadeln zu speien, Entweder habe<br />

es sie vorher bewusst <strong>in</strong> den Mund genommen, oder es habe sie unbewusst, <strong>im</strong><br />

Delirium, aus e<strong>in</strong>er panischen Nadel-Angst heraus, sich <strong>in</strong> den Mund gesteckt.<br />

Solche Handlungen seien nicht nur se<strong>in</strong>er Ansicht nach möglich, Er könne se<strong>in</strong>e<br />

Behauptung mit e<strong>in</strong>er mediz<strong>in</strong>ischen Untersuchung aus dem Jahre 1775<br />

belegen,406<br />

402 H.L lehmann: Freundschaftliche und vertrauliche Briefe. 1. Heft, 1783.58.<br />

403 Medic<strong>in</strong>ische Bibliothek, 1783. 266.<br />

404 Ebenda. 267<br />

405 Ebenda, 263.<br />

406 Ebenda, 267 -268.


108<br />

Als Grund für die Heilung des "contracten" Fusses des Anne Miggeli nennt er<br />

das grosse Vertrauen, welches das K<strong>in</strong>d Ins "Heilmittel", <strong>in</strong> diesem Fall Anna Göldi,<br />

hatte. AUCh diese Ansicht stützt er mit Angaben über ähnliche Fälle ab.407<br />

Was er bei Anne Miggeli mit Vertrauen me<strong>in</strong>t, darüber schreibt Blumenbach<br />

nichts. Glaubt er, dass es froh war, die Anna wieder bei sich zu haben? Me<strong>in</strong>t er<br />

die Erlösung, weil es nicht mehr weiter die Kranke spleien musste? Oder sieht er<br />

gar <strong>im</strong> Bewusstse<strong>in</strong> des K<strong>in</strong>des, dass Anna Göldi e<strong>in</strong>e Hexe se<strong>in</strong> musste und<br />

folglich heilen konnte, das Heilmittel "Vertrauen"?<br />

<strong>5.</strong>3.2 Gazette de Sante: Oder geme<strong>in</strong>nütZiges medic<strong>in</strong>isches Magaz<strong>in</strong>. Zweyter<br />

Jahrgang. Erstes und zweytes Stück. 1783<br />

Dieses Magaz<strong>in</strong> wurde von Dr. J. He<strong>in</strong>rich Rahn In der Absicht herausgegeben,<br />

die Leser mit Wissen zu versehen, das ihnen nützlich se<strong>in</strong> könnte. Fridol<strong>in</strong><br />

Lustenberger, e<strong>in</strong> Arz1 aus dem Kanton Luzern, bescheibt den Arz1 Rahn <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er<br />

Dissertation als die wichtigste Persönlichkeit für die Geschichte des schweizerisch­<br />

mediz<strong>in</strong>ischen Zeitschriftenwesens. Er bezeich<strong>net</strong> ihn als e<strong>in</strong>en Mann, der se<strong>in</strong><br />

Leben der Volkswohlfahrt geweiht hat. 408 J. H. Rahns Artikel ist <strong>in</strong> Form e<strong>in</strong>es<br />

Briefes an se<strong>in</strong>en Freund abgefasst. Er schreibt dar<strong>in</strong>, dass er auf Lehmanns Briefe<br />

gehofft hätte, die ihm über den Göldi-Handel Klarheit br<strong>in</strong>gen sollten, aber diese<br />

Erwartung nicht erfüllen konnten. Er erwähnt von Lehmanns Briefen nur dessen<br />

Ansicht, wie die Stecknadeln <strong>in</strong> den Körper des Anne Miggeli gekommen seien,<br />

und die, wie er schreibt, "possierlich sche<strong>in</strong>ende Heilung" des K<strong>in</strong>des. 409 Da ihm<br />

dies alles nach wie vor unmöglich ersche<strong>in</strong>e, erzählt er se<strong>in</strong>em Adressaten zur<br />

Veran-schaullchung se<strong>in</strong>er Zweifel am Göldi-Handel e<strong>in</strong>e Begebenheit, die<br />

ähnliche Züge trage wie der Fall Anna GÖldi. E<strong>in</strong> vierzehnjähriger Knabe habe<br />

unter entsetzlichen Gichtern gelitten, Nägel, Knöpfe und Ste<strong>in</strong>e erbrochen, und<br />

auch <strong>im</strong> Stuhl und <strong>im</strong> Ur<strong>in</strong> habe man solche Gegenstände gefunden. Auch <strong>in</strong><br />

diesem Fall sei der Pfaffhauser Vieharz1 Irm<strong>in</strong>ger derjenige gewesen, der glauben<br />

machen wollte, dass da etwas Übernatürliches geschehe. Der Verfasser dieses<br />

Artikels sei zum Knaben gerufen worden und habe den Vater überzeugen können,<br />

dass man das K<strong>in</strong>d nach Zürich br<strong>in</strong>gen solle, damit es dort geheilt werde. Der<br />

Doktor Sch<strong>in</strong>z, den auch H.L. Lehmann zu Beg<strong>in</strong>n des ersten Heftes erwähnte,410<br />

407 Medic<strong>in</strong>ische Bibliothek, 1783, 279 - 270.<br />

408 F. Lustenberger: Schweizerische Mediz<strong>in</strong>isch-naturwissenschaftliche Zeitschriften von 1751 ­<br />

1871,1927,7 - 8 und 2<strong>5.</strong><br />

409 Gazette da Sanle, 1783,213 - 214.<br />

410 H.L. Lehmann: Freundschaftliche und vertrauliche Briele. 1. Heft, 1783, a3.


109<br />

habe die ärztliche Aufsicht über diesen Knaben gehabt. Mit der Zeit hätte dieser<br />

gestanden, alles sei nur Gaukelei gewesen sei. 411<br />

Anschliessend an den Bericht des Arztes folgt der Protokollauszug vom 2. April<br />

1783 aus der Grafschaft Kyburg über die gerichtliche Untersuchung dieses Falles,<br />

die am 2<strong>5.</strong> März 1783 stattgefunden hatte. Der Vieharzt Irm<strong>in</strong>ger soll auch <strong>in</strong><br />

diesem Falle die Gutgläubigkeit und den Aberglauben der Eltern schamlos<br />

ausgenützt haben. Er wurde ebenfalls vor Gericht geladen. Der Knabe wurde zur<br />

Strafe gezüchtigt und musste <strong>in</strong> der Kirche, unter der Kanzel sitzend, e<strong>in</strong>e<br />

Strafpredigt anhören. Der Vieharzt wurde wegen se<strong>in</strong>es hohen Mers nicht<br />

körperlich bestraft. Er musste e<strong>in</strong>e Busse zahlen. 4Tz<br />

Als diese beiden Beiträge <strong>in</strong> der Gazette de Sante erschienen, war Lehmanns<br />

zweites Heft noch nicht verötfentiicht.<br />

<strong>5.</strong>3.3 Neues Magaz<strong>in</strong> für Aerzte. Fünften Bandes sechstes Stück. Leipzig, 1783<br />

Ernst Gottfried Bald<strong>in</strong>ger, der Herausgeber des neuen Magaz<strong>in</strong>s für Aerzte,<br />

spricht <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Bericht "Uber die fälschlich sogenannte Hexe zu Glarus" kurz von<br />

den beiden Heften der "Freundschaftlichen und vertraulichen Briefe". Er habe sie<br />

noch nicht erhalten. Er verspreche aber, davon so schnell wie möglich e<strong>in</strong>en<br />

Auszug zu veröffentlichen. 413<br />

E.G. Bald<strong>in</strong>ger zählt anschliessend se<strong>in</strong>e Beiträge zur Hexenproblematik auf,<br />

mit denen er e<strong>in</strong>en Kampf gegen den Glauben, Hexerei stünde am Anfang von<br />

Krankheiten, führe. Unter anderem wendet er sich vor allem gegen den Wiener<br />

Arzt, Anton de Haen, der 1772 diesen Hexen"Glauben <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er "Oe Magia" <strong>in</strong><br />

Schutz genommen hatte. Den Bericht J. H. Rahns <strong>in</strong> der Gazette de Sante<br />

bezeich<strong>net</strong>e er als sehr <strong>in</strong>teressanten Brief. Weiter bemerkt er, Herr Pastor Johann<br />

Moriz Schwager habe e<strong>in</strong> wichtiges Werk über die Hexenprozesse angekündigt,<br />

welches auch 1784 erschien, und <strong>in</strong> welchem, wie weiter oben schon erwähnt, der<br />

Göldi-Handel <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Anmerkung erwähnt wird, als Beispiel für den leider <strong>im</strong>mer<br />

noch nicht ausgerotteten Hexengiauben. 4'4 Schliessiich lässt er zu Lehmanns<br />

Briefen, die <strong>in</strong> der Zwischenzeit offenbar bei ihm e<strong>in</strong>getroffen waren, verlauten:<br />

Herr Lehmann schliesst <strong>in</strong> dem erzäh"en Falle alle l-iexerey selbst aus, [... ]. Da ich diese Briefe und<br />

411 Gazette da Sante, 1783, 213·22<strong>5.</strong><br />

412 Ebenda, 225· 236.<br />

413 G.E. Bald<strong>in</strong>ger: Nauas Magaz<strong>in</strong> für Aerzte, 1783, 481 ·484.<br />

414 J.M. Schwager: Versuch e<strong>in</strong>er Geschichte der Hexenprocesse, 1784, 343.


110<br />

die gön<strong>in</strong>gischen Anzeigen gelesen und verglichen habe, so glaube ich, der Herr Recensenl habe<br />

den Fall so gründlich beurtheltt. als er sich nur beurtheilen lässt.415<br />

Zur Aufforderung Lehmanns, Philosophen und Ärzte sollen sich mit der<br />

Geschichte befassen und untersuchen, ob es nicht e<strong>in</strong>e natürliche Erklärung dafür<br />

gäbe, me<strong>in</strong>t Bald<strong>in</strong>ger, dass schon aus den Jahren 1713 und 1720 Schriften über<br />

ähnliche Fälle wie derjenige <strong>in</strong> Glarus existierten würden, die sich aber am Ende<br />

alle als natürlich herausgestellt hätten. 416<br />

<strong>5.</strong>4 Publikationen Ober den Handel zwischen 17B4 und 179B<br />

Auch <strong>im</strong> zweiten Jahr nach der Vollstreckung des Todesurteils wurde <strong>in</strong> der<br />

deutschsprachigen Presse des Auslandes eifrig Ober den Handel weiterdiskutiert.<br />

Sicher geriet das Intresse an diesem Ereignis nochmals <strong>in</strong> den Aufw<strong>in</strong>d durch das<br />

Verhalten der Glarner Obrigkeit. Sie fühlte sich durch den Artikel <strong>in</strong> den<br />

Chronologen dermassen beleidigt, dass sie beschloss, den Vertasser dieses für<br />

sie sehr ungünstigen Berichts, Wekhrl<strong>in</strong>, suchen zu lassen. Sie forderten ihn <strong>im</strong><br />

Jahre 1783 mehrmals auf, <strong>in</strong> Glarus vor Gericht zu ersche<strong>in</strong>en, was Wekhrl<strong>in</strong> nicht<br />

tat. Da beschlossen die Glarner, ihn öffentlich ausschreiben zu lassen.<br />

<strong>5.</strong>4.1 Inserat <strong>in</strong> den Nouvelles de divers Endroits vom 20. Dezember 1783<br />

In den schweizerischen Zeitungen und Zeitschriften wurde, wie wir schon<br />

wissen, ausser dem Steckbrief und der Anzeige, Anna Göldi sei "e<strong>in</strong>gebracht"<br />

worden, nichts weiteres publiziert. Als sich jedoch W. L. Wekhrl<strong>in</strong>, trotz<br />

mehrmaliger Aufforderung zu ersche<strong>in</strong>en, nicht <strong>in</strong> Glarus zeigte, wurde <strong>in</strong> der<br />

französischsprachigen Berner Zeitung "Nouveltes de divers Endroits" vom<br />

Samstag, dem 20. Dezember 1783, e<strong>in</strong> Inserat veröffentlicht. Plaziert vor dem<br />

"Supplement aux Nouvelles de divers Endroits" vom gleichen Tag, steht unter dem<br />

Titel "SIGNALEMENT":<br />

Anna Goeld<strong>in</strong> ayant ete jugee & condamnee par LL.EE., & executee le 13 Ju<strong>in</strong> 1783 apres une<br />

Procedure cr<strong>im</strong><strong>in</strong>elle.•l1<br />

415 G.E. Bald<strong>in</strong>ger: Neuas Magaz<strong>in</strong> tür Aerzte, 1763.484.<br />

416 Ebenda, 483.<br />

417 Nouvelles da divers Endroits. 1783,4.


111<br />

Die Jahreszahl 1783 ist nicht e<strong>in</strong>deutig zu identifizieren, vermutlich ist die Ziffer "3"<br />

e<strong>in</strong> Druckfehler. Es mOsste richtigerweise das Jahr 1782 se<strong>in</strong>. H<strong>in</strong>gegen ist der<br />

Exekutionstag, der dreizehnte Juni, korrekt angegeben. 41 • Anschliessend an den<br />

oben zitierten Satz wird der Name des gesuchten Mannes "Ludwig Wehrl<strong>in</strong>"<br />

aufgefOhrt. Es heisst, dieser Mann unterstehe der Gerichtsbarkeit des FOrsten von<br />

Wallenste<strong>in</strong> und habe sich dem Glarner Souverän gegenaber völlig respektlos<br />

benommen.<br />

(...), a eu I'audace d'<strong>in</strong>serer dans S8 Chronologie un Ubet1e atroce. taux &. calomnieux contra la dite<br />

sanlencs. I...JCel <strong>in</strong>fame Ubelle a donc 8te bn1le Ie I. da ce mois par la maln du bour(r)eau"4111<br />

Am ersten Dezember 1783 "alten Styls" seien, gemäss diesen Angaben, die<br />

Chronologen durch den Scharfrichter verbrannt, und am Tag darauf sei das Inserat<br />

aufgesetzt worden. Die Glarner fordern <strong>in</strong> diesem Inserat alle eidgenössischen<br />

Kantone auf, den gesuchten Mann, wo auch <strong>im</strong>mer er sich bef<strong>in</strong>de, zu verhaften<br />

und gegen "cent ecus neu!s" der Glarner Justiz zu Obergeben. Am Schluss des<br />

<strong>in</strong>serats folgt noch e<strong>in</strong>e Beschreibung des "Ludwig Wehrl<strong>in</strong>":<br />

La dll Ludwig Wehrl<strong>in</strong> est age da 30 ans, visage pale &. maigre, 1ai11e pelite, jambes m<strong>in</strong>ces, &. an<br />

general la figura tres desagreable.42o<br />

Das Inserat erschien fOr die evangelischen Glarner am neunten Dezember 1783.<br />

Diese öffentliche Ausschreibung <strong>in</strong> der Berner Zeitung habe, so Jakob W<strong>in</strong>teler<br />

<strong>in</strong> se<strong>in</strong>er BroschOre Ober die zeitgenössische Berichterstattung, bei Wekhrl<strong>in</strong> e<strong>in</strong><br />

wahres Geheul ausgelöst. 421<br />

<strong>5.</strong>4.2 Das Graue Ungeheur. Erster und zweiter Band. 1784<br />

"Das Graue Ungeheur" war Wekhrl<strong>in</strong>s Nachfolgezeitschrft fOr die Chronologen.<br />

Von dieser neuen Zeitschrift wollte er pro Jahr zwölf Stacke, zusammengefasst <strong>in</strong><br />

vier Bänden, ersche<strong>in</strong>en zu lassen. Folglich deckt der erste Band den Zeitraum<br />

vom Januar bis zum März 1784, der zweite denjenigen vom April bis zum Juni<br />

1784 ab.<br />

Im zweiten Band des Grauen Ungeheurs, <strong>im</strong> Anhang zum Heft vom April, f<strong>in</strong>den<br />

418 Aals- und Verhörprotokolle, 1781 . 1782.<br />

419 Nouvelles da divers Endrohs.1783. 4.<br />

420 Ebenda, 4.<br />

421 J. W<strong>in</strong>teler: Der Anna Göldi Prozess, 1951, 14.


112<br />

wir die Reaktion Wekhrllns auf das Inserat aus den "Nouvelles de divers Endroits".<br />

Als erstes ist das oben besprochene Inserat zu lesen. Weil Wekhrlln es unter<br />

se<strong>in</strong>er Würde hielt, sich damll zu befassen, veröffentlichte er se<strong>in</strong>e Ansicht darüber<br />

nicht <strong>im</strong> Hauptteil des Aprilheftes, sondern nur <strong>in</strong> dessen Anhang. 422<br />

Anschllessend an den Wortlaut des Inserates n<strong>im</strong>mt Wekhrl<strong>in</strong> Bezug auf den<br />

"Hexenritt zu Glaris", 423 den er <strong>im</strong> zehnten Band der Chronologen <strong>im</strong> Oktober 1782<br />

kommentiert, und der ihm e<strong>in</strong>ige Umtriebe beschert hatte. Er erzähll, fünf Monate<br />

nach Ersche<strong>in</strong>en des Artikels <strong>in</strong> den Chronologen, also <strong>im</strong> März 1783, habe er von<br />

se<strong>in</strong>er Regierung die Nachricht erhalten, die Glarner seien am Namen des<br />

Korrespondenten äusserst <strong>in</strong>teressiert. 424 Er sei der Me<strong>in</strong>ung gewesen, die<br />

Chronologen seien schon durch den Scharfrichter verbrannt worden. Somit sei die<br />

Sache für ihn abgeschlossen gewesen. Er werde den Glarnern jederzeit den<br />

Korrespondenten nennen, wenn sie ihn von der RichtigkeIl ihres Gerichtsurteils<br />

überzeugen könnten.<br />

Darauf hätten die Glarner versucht, se<strong>in</strong>er habhaft zu werden. Etwa <strong>in</strong> der Mitte<br />

des Jahres 1783 habe er herausgefunden, wie der Landschreiber des Kantons<br />

Glarus heisse. Diesem habe er e<strong>in</strong> Schreiben und dazu e<strong>in</strong>en Schattenriss<br />

geschickt, damit die Glarner ihn symbolisch verbrennen könnten. Er vermute nun,<br />

das Signalement <strong>in</strong> den "Nouvelles de divers Endrolls" sei nach se<strong>in</strong>em<br />

Schattenriss zusammengestellt worden. 425<br />

Im Mai 1784, <strong>in</strong> der fünften Nummer des Grauen Ungeheurs, äussert sich<br />

Wekhrl<strong>in</strong> nochmals zur Problematik der Berichterstattung über den GÖldi-Handei.<br />

Er veröffentlicht e<strong>in</strong>en Brief, adressiert an den "Herrn S<strong>in</strong>cerus zu Giaris", <strong>in</strong> dem er<br />

auf dessen Frage, warum er, W. L. Wekhrl<strong>in</strong>, sich anmasse, sich <strong>in</strong> fremde<br />

Angelegenheiten zu mischen, Antwort gibt.<br />

Wodurch ich mich zum Beruf Obrigkeiten zu beurtheilen. Privatlälle vor den Richterstuhl des<br />

Publikums zu ziehen, mich zum Censor der Regierungen aufzuwerfen, zu legit<strong>im</strong>iren wisse?426<br />

Eigentlich müsste er, schreibt er, auf diese Frage ke<strong>in</strong>e Antwort geben, denn er sei<br />

nur se<strong>in</strong>em eigenen "Souvera<strong>in</strong>" Rechenschaft über se<strong>in</strong> Tun schuldig. Zudem sei<br />

die Frage nicht sehr höflich gestellt. Er nehme diese Gelegenheit zum Anlass, über<br />

422 W.L. Wekhrl<strong>in</strong>: Das Graue Ungeheur, 1784, 128.<br />

423 Der Mundartname des Ortes.<br />

424 W.L. Wekhrl<strong>in</strong>: Das Graue Ungehaur,1784, 129.<br />

425 Ebenda, 136.<br />

426 Ebenda, 188.


113<br />

die Pflicht des Schriftstellers, der Gesellschaft zu nützen, e<strong>in</strong>e Abhandlung zu<br />

schreiben. Weder die Grossen noch die Regierungen und schon gar nicht die<br />

Beamten seien fähig, unabhängig für die Gerechtigkeit der Bürger zu sorgen.<br />

Ertauben sie mir I Herr S<strong>in</strong>cerus von Glaris, Sie und Ihres Gleietlen handeln sehr ungerecht gegen die<br />

Schriftsteller. FOT wen opfern wir unsere NAchte, unsere Vortheile, und sehr oft unsere Ruhe, auf, als<br />

tOr Sie und unsere Obrigen Mitbürger. Was sollten wir für e<strong>in</strong>en Genuss davon haben. dass<br />

Blutgerüste e<strong>in</strong>es Waser, e<strong>in</strong>er GOld<strong>in</strong>, e<strong>in</strong>es SuttaT, niederzureissen, wenn es nicht der wäre. sie<br />

und ihren Nachbarn davon zu retten?427<br />

Und:<br />

hr (der Publizität) ist man's schuldig, [...l. dass die Grossen Ehrlurch! vor dem Ot1entHchen Ruf haben,<br />

und die Druckerpresse e<strong>in</strong> eiserner Kaul <strong>im</strong> Naken des TiTanen 151.428<br />

Zur von der Obrigkeit gefürchteten und daher unterbundenen Pressefreiheit<br />

schreibt er:<br />

Sie thut mehr als die Batterie aller Canonen von Europa nicht tun könnte: sie erschüttert den<br />

Tirannen mitten auf se<strong>in</strong>em Kopfkissen.429<br />

Mit der Bitte, dem Magistrat zu Glarus se<strong>in</strong>e Ehrerbietung zu übermitteln, schiiesst<br />

er se<strong>in</strong>en Brief <strong>im</strong> Grauen Ungeheur.<br />

Gottfried Böhm, der 1893 die Biografie von Wekhrl<strong>in</strong> herausgab, hat diesen Brief<br />

an den Herrn S<strong>in</strong>cerus zu Giarus als das Ernsthafteste und Beste aus Wekhrl<strong>in</strong>s<br />

Feder e<strong>in</strong>gestuft.43O<br />

<strong>5.</strong>4.3 Briefe über die Schweiz. Erster Theil.1784<br />

Der Autor der "Briefe über die Schweiz", der Publizist Christoph Me<strong>in</strong>ers, ist<br />

nicht zu verwechseln mit dem Herausgeber des Neuen Gött<strong>in</strong>gischen historischen<br />

Magaz<strong>in</strong>s, Carl Me<strong>in</strong>ers. 431<br />

Christoph Me<strong>in</strong>ers schrieb se<strong>in</strong>en Brief über Glarus am vierzehnten Juni 1782<br />

(3. Jun. "a.St."), als er <strong>in</strong> Zürich we<strong>in</strong>e. Dieser Brief gehört wohl auch zu den vielen<br />

427 W.L. Wekhrl<strong>in</strong>: Das graue Ungeheur,1784, 193.<br />

428 Ebenda. 19<strong>5.</strong><br />

429 Ebenda. 196.<br />

430 G. Böhm: Ludwig Wekhrl<strong>in</strong>. 1893.138.<br />

431 J. W<strong>in</strong>leler: Der Anna Göldi·Prozess, 1951,22.


114<br />

Privatbriefen, von denen <strong>in</strong> der Berl<strong>in</strong>ischen Monatsschrift <strong>im</strong> ersten Band 1783 die<br />

Rede ist. 432 Auch bestätigt dieser Brief die Aussage von J. M. Afsprung, über den<br />

GOldi-Handel werde viel gesprochen. Es heisst:<br />

SChon am ersten Taga härte ich auf der Promenade zuerst von e<strong>in</strong>er settsamen zaubergeschicht9.<br />

die <strong>in</strong> Glaris vorge1allen se<strong>in</strong> 50I1t9.433<br />

Me<strong>in</strong>ers teilt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Schreiben mit, er versuche, so gut es gehe, sich bei den<br />

Leuten über diesen Handel zu erkundigen. Es falle ihm aber schwer, etwas<br />

Brauchbares herauszuf<strong>in</strong>den. Schliesslich habe er E<strong>in</strong>blick <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Sammlung von<br />

Glamer Briefen e<strong>in</strong>es berühmten Mannes (dessen Namen er aber leider nicht<br />

nennt) erhalten.<br />

Ch. Me<strong>in</strong>ers ist überzeugt, glaubwürdige Informationen erhalten zu haben. In<br />

se<strong>in</strong>em Brief erzählt er nun den Ablauf des bisher <strong>in</strong> Glarus Geschehenen. Bei ihm<br />

f<strong>in</strong>den wir die Angaben, dass Anna GOldi gleich von Anfang an gefoltert wurde, e<strong>in</strong><br />

Fehler, der auch <strong>in</strong> den Chronologen anzutreffen ist.- Ob der Reisende, von dem<br />

Wekhrl<strong>in</strong> Angaben zum GOldi-Handel erhalten halte, Christoph Me<strong>in</strong>ers selber<br />

war? Über Anna GOldi schreibt er, sie sei e<strong>in</strong> Dienstmädchen von e<strong>in</strong>em<br />

"verdächtigen Rufe" gewesen. Auch diese Aussage würde zum Bild passen, das <strong>in</strong><br />

den Chronoiogen von Anna GOldi gezeich<strong>net</strong> wird.43S<br />

Über Rudolf Ste<strong>in</strong>müller schreibt er:<br />

In dem Hause des Selbstmörders fand man a1lerley verdächtige Arztneyen und Vorschrif1en, welche<br />

letztere man aber nlchl das Herz hane genau zu untersuchen, weil man gefährliche und magische<br />

Wirkungen davon fürchleI9.4a6<br />

Was aber <strong>im</strong> Vergleich zum Artikel <strong>in</strong> W. L. Wekhrl<strong>in</strong>s Chronologen wahrheits­<br />

gemässer dargestellt wird, ist die Sequenz, wie Anna GOldi bewegt wird, das Anne<br />

Miggeli zu heilen.<br />

Man zwang die Gefangene, so oft und feierlich sie auch ihre Unwissenheit belheuerte. dass sie das<br />

kranke K<strong>in</strong>d durch eben die übematürliche Kunst. wodurch sie es krank gemacht habe, auch wieder<br />

heilen solle. Entweder aus Furcht vor den Martern, womit man sie bedroheIe, oder weil sie wirklich<br />

432 Berl<strong>in</strong>ische MonalsschriN, 1783, 484.<br />

433 Ch. Me<strong>in</strong>ers: Briefe über die Scl1weiz, 1784, 39.<br />

434 Ebenda, 40.<br />

435 Chronologen, 1782, 216 und 219.<br />

436 Ch. Me<strong>in</strong>ers: Briefe über die Schweiz, 1784,40·41


115<br />

anf<strong>in</strong>g, sich etwas zuzutrauen, dessen selbst die Herren von Glaris sie lählg hielten. legte die<br />

Gefangene Hand an das grosse Werk, das man von itv vertangte.437<br />

Völlig falsch ist die Aussage, Anna Göldi habe die letzte "Operation" am Mädchen<br />

<strong>im</strong> Beise<strong>in</strong> von "vielen Persenen und mehreren Richtern" vorgenommen. Bei den<br />

Heilungsversuchen <strong>im</strong> Tschudischen Hause waren, wie wir wissen, lediglich der<br />

Schützenmeister Tschudi und der Landweibel Blumer anwesend.""" Die anderen<br />

mussten <strong>im</strong> Wohnz<strong>im</strong>mer warten. 439 Nach Christoph Me<strong>in</strong>ers Darstellung seil es<br />

während dieser "Operation" gar e<strong>in</strong>e Erschütterung des Hauses gegeben<br />

haben.- Der Protokollführer und Landschreiber Melchior Kubli h<strong>in</strong>gegen schreibt,<br />

be<strong>im</strong> K<strong>net</strong>en des l<strong>in</strong>ken Be<strong>in</strong>chens habe man e<strong>in</strong> Knallen gehört wie von e<strong>in</strong>er<br />

zerbrechenden Tabakspfeife aus Gips.. 441<br />

Me<strong>in</strong>ers geht <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Brief auch auf den Besuch des Vieharzfes Irm<strong>in</strong>ger aus<br />

Platthausen e<strong>in</strong>. Diese Darstellung st<strong>im</strong>mt mtt den anderen schon erwähnten<br />

Schilderungen, z. B. derjenigen aus der "Gazette de Sante", übere<strong>in</strong>.442<br />

Den Verlauf der Prozessführung zweifelt er massiv an. So schreibt er:<br />

Bey den ungeheuren Versehen, welche man <strong>in</strong> dem ganzen Verlaufe des Process9S begangen haI,<br />

wäre es vielleicht jetza den scharls<strong>in</strong>nigsten und unparteyischsten Beobachtern <strong>in</strong> Glaris selbst nicht<br />

möglich, die wahre Beschaffenheit der Sache zu ergrunden.443<br />

Gleich anschliessend wendet er aber e<strong>in</strong>, aus der Ferne sei es noch schwieriger,<br />

darüber e<strong>in</strong> gerechtes Urteil zu fällen, ausser man würde die verschiedenen<br />

Charaktere der am Handel beteiligten Persenen aufs genaueste untersuchen. Die<br />

Richter seien wahrsche<strong>in</strong>lich eher unwissende und abergläubische Personen, was<br />

be<strong>im</strong> gegenwärtigen Wohlstand der Glarner, ihrer grossen Industrie und "ihren <strong>in</strong><br />

der ganzen Schweiz anerkannten gücklichen Anlagen" kaum verständlich sei.444<br />

Schliesslich fügt er noch eigene Spekulationen über mögliche Gaukeleien des<br />

Anne Miggeli an.<br />

1791 kommt Christoph Me<strong>in</strong>ers <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Artikel <strong>in</strong> der Zeitschrift von Carl<br />

4.37 eh. Me<strong>in</strong>ers: Briele über die Schweiz. 1764. 41.<br />

438 H.L. Lehmann: Freundschaftliche und vertrauliche Briefe. 2. Heft, 1783,56.<br />

439 J. Heer: Der Kr<strong>im</strong><strong>in</strong>alprozess der Anna Göldi,1865, 34.<br />

440 eh. Me<strong>in</strong>ers: Briefe über die Schweiz, 1784, 41<br />

441 H.l. Lehmann: Freundschaftliche und vertrauliche Briefe. 2. Heft, 1763, 58.<br />

442 Gazette de Sanle, 1783, 213 . 22<strong>5.</strong><br />

443 eh. Me<strong>in</strong>ers: Briele über die Schweiz1784, 42.<br />

444 Ebenda, 43.


117<br />

br<strong>in</strong>gen, und daher sey es gekommen, dass die 13. oder 14. Aathsglieder, die auf den Tod gest<strong>im</strong>mt,<br />

die Mehrheit ausgemacht häUen. Diese wenigen Personan also verdienten alle<strong>in</strong> den Tadel, wenn<br />

e<strong>in</strong> Fehler geschehen saY.449<br />

Durch diesen Kommentar bestätigt sich die Aussage <strong>in</strong> Lehmanns zwenem Heft,<br />

e<strong>in</strong>e Mehrhen von nur zwei St<strong>im</strong>men hätten das Todesurteil besiegelt. 4SO<br />

Im Jahr 1784 wird am Schluss des ersten Bandes von Johann Moriz Schwagers<br />

"Versuch e<strong>in</strong>er Geschichte der Hexenprocesse" der Göldi-Handel <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er kurzen<br />

Notiz erwähnt. 45! G. E. Bald<strong>in</strong>ger hatte schon 1783 <strong>im</strong> neuen Magaz<strong>in</strong> IOr Arz1e auf<br />

dieses Buch vorausgewiesen.452<br />

<strong>5.</strong>4.4 Altere und neuere wöchentliche Beiträge zur Geschichte der Gebräuche und<br />

Sitten der Kunst und Natur<br />

Im Jahr 1785 erschien <strong>in</strong> Zürich <strong>in</strong> dieser Zeitschrift e<strong>in</strong> Artikel des Pubizisten<br />

Leonhard Meister zum Thema Aberglauben.453 <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Artikei def<strong>in</strong>iert er<br />

Aberglauben mit dem Begriff "Irrlicht der E<strong>in</strong>bildungskraft" und schreibt, durch die<br />

abergläubische E<strong>in</strong>bildung sei schon manche Vettel <strong>in</strong> den Tod befördert<br />

worden.'" Obschon er nicht direkt Bezug auf den GOldi-Handel n<strong>im</strong>mt, ist der<br />

Beitrag <strong>in</strong> unserem Zusammenhang wichtig, weil er verschiedene Fälle mit<br />

ähnlichen Vorkommnissen wie be<strong>im</strong> Anne Miggeli schildert, die aber meistens auf<br />

erzieherischem Wege, mit der Rute, "gelOst" wurden.<br />

<strong>5.</strong>4.5 Tableaux topographiques de la Suisse, 1780 - 1786<br />

Jakob W<strong>in</strong>teler schreibt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Arbeit, e<strong>in</strong> Baron Zurlauben habe <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en<br />

"Tableaux de la Suisse" den Göldi-Handel kurz gestreift. Zurlauben sei erstaunt,<br />

dass das Glarnervolk trotz des evangelischen Glaubens noch so abergläubisch<br />

geprägt sei und an Hexen glaube. Es wäre gut, wenn das Volk sich mn geeig<strong>net</strong>er<br />

Literatur bilden würde.<br />

449 Nauas Göll<strong>in</strong>gisches historisches Magaz<strong>in</strong>, 1791, 23.<br />

450 H.L Lehmann: FreundschaMliche und vertrauliche Briefe. 2. HaH, 1763, 96.<br />

451 J.M. Schwager: Versuch e<strong>in</strong>er Geschichle der Hexenprocesse, 1784, 343.<br />

452 G.E. Bald<strong>in</strong>ger: Nauas Magaz<strong>in</strong> toT Arzte, 1783, 481 ·484.<br />

453 L. Meister: Aberglauben,178<strong>5.</strong> 196 -201.<br />

454 Ebenda. 196.


118<br />

Nach Auskunft der Stadtbibliothek Schaffhausen handelt es sich bei diesem<br />

Kommentar um e<strong>in</strong>en Text zu den "topographischen Ansichten" von Beat Fidel<br />

Zurlauben aus dem Zeitraum 1780 - 1787.455<br />

<strong>5.</strong>4.6 Bibliothek der Schweizer-Geschichte. Sechster Teil. 1787<br />

Gotllieb Emanuel von Halier stelit <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er 1787 <strong>in</strong> Bern erschienenen<br />

Bibliothek der Schweizer Geschichte <strong>im</strong> neunten Abschnitl <strong>in</strong> der SpezIal­<br />

geschichte von 1726 bis 1784 die freundschaftlichen und vertraulichen Briefe von<br />

H. L. Lehmann mit folgendem Kommentar vor:<br />

Ist das beste so noch Ober diesen wunderlichen Handel ist geschrieben worden, (...)..m;<br />

Anschliessend zählt er alie ihm bekannten Beijräge auf, die zu dieser Zeit Ober den<br />

Göldi-Handel <strong>im</strong> Umlauf waren. Die wichtigsten werden kommentiert. Er gibt zu<br />

bedenken, dass die Glarner Obrigkeit durch ihre Reaktion auf den Wekhrl<strong>in</strong>'schen<br />

Artikel <strong>in</strong> den Chronologen das Gegenteil ihrer Absichten erreicht habe. Sie sorge<br />

nur IOr e<strong>in</strong>e"Ausbreitung" des Interesses am Göldi-Handel und fOr die Entstehung<br />

von "Satyren" Ober diese Geschichte.<br />

Zwei solche Satiren erschienen <strong>im</strong> Jahr 1787.<br />

<strong>5.</strong>4.7 Satirische Skizzen. 1787<br />

1787 kam e<strong>in</strong> bissiger Artrikel <strong>in</strong> den "Satirischen Skizzen", <strong>in</strong> Franidurt a. M.<br />

und Leipzig gedruckt, heraus. Der Verfasser, Joh. Wh. Andreas Kosmann, ereifert<br />

sich In der Vorrede se<strong>in</strong>es Al1ikels darüber, die Kirche könne nichts dafür, wenn<br />

das ehrwürdige und hochgelahrte M<strong>in</strong>isterium zu Glarus den berOhmten Hexenritt gegen die Anna<br />

Goeld<strong>in</strong> wagte. die dieses Faktum freymüthig erzählenden Chronologen nicht widerlegte, sondern<br />

durch die Hand des Sch<strong>in</strong>ders verbrennen liess, hundert Thalsr aut den Kopf ihres Verfassers setzte<br />

und <strong>in</strong> dieser Tragicomödie die Person e<strong>in</strong>es LlI:lio's vor den Augen ganz Europas spieltef...].4S7<br />

455 B.F. Zurlauben: Tableaux lopographiques da la Suisse,1780· 1786.<br />

456 G.E. von Haller: Bibliothek der Schweizer- Geschichte,H8l, 278 - 279.<br />

457 J.W.A. Kosmann: Satirische Skizzen, 1787, 151.


119<br />

Die zweite Reaktion dieser Art, die <strong>im</strong> seiben Jahr erschien, stammt wie die<br />

satirischen Skizzen aus Leipzig.<br />

<strong>5.</strong>4.8 Korrespondenz der Heiligen aus dem Mittelalter; und Briefe der Narren aus<br />

den neueren Zeiten. Leipzig, 1787<br />

Der unbekannte Autor benutzt als Darstellungsmittel die Briefform. Er lässt,<br />

welche Ironie, den Stadtpfarrer Zw<strong>in</strong>gli von Giarus, nach unserem Wissen<br />

Kammerer Johann Jakob Tschudi, e<strong>in</strong>en Brief an den kalholischen Bibliothekaren<br />

Mertens <strong>in</strong> Augsburg schreiben. Pfarrer Zw<strong>in</strong>gli fragt dar<strong>in</strong> den Bibliothekaren, ob<br />

er wohi, als er kürzlich vor dem Papst kniend e<strong>in</strong>e Rede gehalten hatte, dessen<br />

Ohren gesehen habe. Denn die müssten sicher riesengross se<strong>in</strong>, oder dann<br />

müssten es sehr viele se<strong>in</strong>, der Papst könne ja bekanntlich die St<strong>im</strong>me des<br />

Heiligen Geistes hören. Er solle ihm diese Frage doch beantworten. Als<br />

Gegengabe tor se<strong>in</strong>e Antwort werde er ihm e<strong>in</strong>e Neuigkeit aus Glarus erzählen.<br />

Worauf die Geschichte des GÖldi·Handels folgt.<br />

Jakob W<strong>in</strong>teler bemerkt zu diesem recht bissigen Artikel, er habe manchmal<br />

e<strong>in</strong>e derart scharte Sprache, dass man nicht alles zitieren könne.-58 E<strong>in</strong> bei<br />

W<strong>in</strong>teler nicht erwähnter Abschnitt ist folgender:<br />

Es erhellet also sichtbar, dass der Teufel bey all se<strong>in</strong>er st<strong>in</strong>kenden Hoffart dennoch e<strong>in</strong> schwacher<br />

Geist ist: denn häne er mit e<strong>in</strong>em Mädchen vom hohem Range, I.B. mit e<strong>in</strong>er Pfarrerstochler,mil e<strong>in</strong>er<br />

Ralhsherrenlochter Gesellschaft gepflogen, so dürfte man sich tange nichl so sehr verwundern, und<br />

man könnte dem D<strong>in</strong>ge e<strong>in</strong>igermassen durch die F<strong>in</strong>ger sehen: aber mit e<strong>in</strong>er schlechten<br />

Dienstmagd! plui der Schande! das ist abscheulich, und dabei e<strong>in</strong> erschreckliches Laster. [...]; aber<br />

jetz1 habe ich schon angefangen. auch den Dienstmädchen zu predigen, dass sie sich vor aller<br />

Geme<strong>in</strong>schaft mit dem bösen Geiste sorgfättig hüten 50119n,459<br />

Noch ist nicht ersichtlich, was für W<strong>in</strong>teler unerträglich war. Be<strong>im</strong> Vergleichen<br />

se<strong>in</strong>er Besprechung des Artikels mit dem Orig<strong>in</strong>al fällt auf, dass er nicht etwa die<br />

sexuellen Anzüglichkeiten sondern die sehr zynischen Anspielungen auf die<br />

Glaubenshaltung des reformierten Pfarrers übergangen hat.<br />

Vor bald fünfundvierzig Jahren, als diese Broschüre geschrieben wurde, war es<br />

sicher nicht anständig, sich abschätzig über kirchliche Autoritäten auszulassen.<br />

Wenn ich daran zurückdenke, wie tief der Religionsgraben <strong>in</strong> den sechziger<br />

Jahren <strong>in</strong> Glarus noch war, verstehe ich, dass Jakob W<strong>in</strong>teler Abschnitle wie den<br />

458 J. W<strong>in</strong>teler: Der Anna Göldi·Proz8SS, 1951,20.<br />

459 Korrespondenz der Heiligen aus dem Mittelalter, 1787. 229.


120<br />

folgenden ganz weglassen musste. Der Autor dieser Satire lässt nämlich den<br />

reformierten Pfarrer Zw<strong>in</strong>gli seufzen:<br />

k:h weiss mir selbst vor Angst nicht zu hellen. und ich b<strong>in</strong> Willens, ob ich schon ke<strong>in</strong> Katholike b<strong>in</strong>, e<strong>in</strong><br />

he<strong>im</strong>liches GelObd nach unserem benachbarten MaMa E<strong>in</strong>siedeln zu thun. [...]. Ich sage <strong>im</strong>mer, dass<br />

wir uns bei der Reformation gar zu weit von der katholischen Kirche getrennt haben: unsere frommen<br />

Stifter, Kalv<strong>in</strong> und Luther haben sehr weise gedacht, als sie die Priesterehe e<strong>in</strong>geführet haben; aber<br />

die Mirakelbilder und die Halbguldenmesse hätten sie beibehalten sollen. welche StOcke uns, und<br />

besonders uns Geistlichen, gute Dienste thun wOrden.460<br />

Auch die Ansicht des Autors Ober Anna Göldi passt nicht <strong>in</strong> die vorherrschenden<br />

Frauen- und Religionsbilder der sechziger Jahre unseres Jahrhunderts. Vielleicht<br />

schienen J. Wlnteler diese Abschnitte darum zum Zitieren nicht geeig<strong>net</strong> zu se<strong>in</strong>.<br />

Es heisst <strong>in</strong> dieser "Korrespondenz der Heiligen", Anna Göldi sei wohl die<br />

sonderbarste Hexe, die es gebe. Sie könne tatsächlich heilen, wie sonst nur <strong>im</strong><br />

Evangelium geheilt werde. Man könne sie, wäre sie ke<strong>in</strong>e Hexe, durchaus mit den<br />

helligen Wundermännern vergleichen. Hätte sie nicht diese vertlixte Verzauberung<br />

begangen, könnte sich Glarus rOhmen, e<strong>in</strong>e mit wunderbaren Heilkräften<br />

versehene "Hexe" zu besitzen.'" Am Schluss dieses für unsere Zeit wohl<br />

unterhaltsamsten Beitrages lässt der anonyme Autor den armen Pfarrer nochmals<br />

Ober die schreckliche, moderne Zeit seufzen, <strong>in</strong> der der Teufels- und<br />

Hexenglauben am Verschw<strong>in</strong>den sei...2<br />

<strong>5.</strong>4.9 Taschenbuch für Aufklärer und Nichtaufklärer auf das Jahr 1791<br />

In diesem kle<strong>in</strong>en, von J. F. Unger <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> herausgegebenen BOchle<strong>in</strong> wird der<br />

Göldi-Handel als spezielles Beispiel fOr den Hexenglauben als misslicher<br />

Auswuchs des Aberglaubens erwähnl. 463 Diese Erwähnung bildet den Schluss<br />

des Kommentars zu e<strong>in</strong>em Kupferstich "Die Hexen". Jakob W<strong>in</strong>teler hat den<br />

ganzen Abschnift fOr se<strong>in</strong>en Bericht Ober die zeitgenössischen Presserealctlonen<br />

übernommen. 464<br />

460 Korrespondenz der Heiligen aus dem Mittelalter, 1787, 230·231,<br />

461 Ebenda, 234 . 23<strong>5.</strong><br />

462 Ebenda, 235 . 237.<br />

463 Tasdlenbuch für Aufklärer und Nichtaufklärer . 1791, 74 . 7<strong>5.</strong><br />

4S4 J. W<strong>in</strong>leler: Der Anna Göldi-Prozess, 1951. 22.


<strong>5.</strong>4.10 Briefe e<strong>in</strong>es reisenden Dänen, 1793<br />

121<br />

Frederik Sneedorf, e<strong>in</strong> Professor aus Kopenhagen, der später während e<strong>in</strong>er<br />

Englandreise tödlich verunfallte, veröftentiichte se<strong>in</strong>e Reisee<strong>in</strong>drücke <strong>in</strong> Brieftorm<br />

<strong>in</strong> den Monatsstocken der dänischen "M<strong>in</strong>erva". Im Brief, den er am zehnten<br />

September 1791 <strong>in</strong> Genf geschrieben hat, berichtet er über das Todesurteil, das<br />

1784 <strong>im</strong> Kanton Appenzell gegen den Gastwirt und Landammann Suter, nach<br />

Folterungen, vollzogen wurde. Im gleichen Abschnitt erwähnt er den Göldi-Handel<br />

und schiiesst mit der Feststellung, dass solche Beispiele ke<strong>in</strong> vorteilhaftes Bild von<br />

den jeweiligen Regierungen geben würden. 485<br />

<strong>5.</strong>4.11 Über die Schweiz und die Schweizer. Erster Theil 1795 und zweiter Theil<br />

1796.<br />

Über den Verfasser dieser Briefe herrschte lange Zeit Unklarheit. Zuerst wurde<br />

die Autorschaft dem Herausgeber Carl Julius Lange zugeschrieben, dann aber<br />

angezweifelt und dem Verfasser der freundschaftlichen und vertraulichen Briefe, H.<br />

L. Lehmann, zugeschoben. Im "Deutschen Anonymen-Lexikon" wird der<br />

Briefschreiber als Karl He<strong>in</strong>rich Gottfried Witte angegeben.486 Dieser war von 1792<br />

bis 1796 Erzieher <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Bündner Familie. Von daher könnte es kommen, dass oft<br />

auch Lehmann als Verfasser <strong>in</strong> Betracht gezogen wurde, weilte dieser doch <strong>in</strong> den<br />

Jahren vor dem Göldi-Handel für längere Zeit <strong>in</strong> Graubünden.487<br />

Witte zeich<strong>net</strong> <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Brief e<strong>in</strong> negatives Bild von der schweizerischen<br />

Rechtsprechung. Sogar die Zürcher kommen bei ihm schlecht weg. Er bezeich<strong>net</strong><br />

die Rechtsprechung als Raum, <strong>in</strong> dem WillkOr und Missbrauch zu viel Platz hätten.<br />

Er verwendet als Beispiel fOr e<strong>in</strong>en wilikürlich gefOhrten Prozess den Göldi­<br />

Handel. Er fordert die Reisenden auf, die Schweiz nicht mit der allgeme<strong>in</strong>en<br />

VerzOckung anzuschauen, sondern vor dem H<strong>in</strong>tergrund der schreckiichen<br />

Prozesse gegen e<strong>in</strong>en Waser oder e<strong>in</strong>e GÖldi. 488<br />

Im zweiten Teil se<strong>in</strong>er Reisebeschreibungen bezeich<strong>net</strong> Witte Glarus als e<strong>in</strong>en<br />

Ort ohne Bedeutung, ausser der BerOhmtheit, die er durch den Ruf, "<strong>in</strong> welchem<br />

die Hexen hier stehen", erlangt habe.48•<br />

465 F. Sneedorf: Bnale e<strong>in</strong>es reisenden 08nen,1793, 169.<br />

466 Deutsches Anonymen·Lexikon. IV.Band, 1907, 228.<br />

467 K. Goedeke: Grundrisz zur Geschichte der <strong>deutschen</strong> Dichtung. <strong>5.</strong> Bd, 1893,536.<br />

468 K.Hch.G. Witte: Ober die Schweiz und die Schweizer. Erster Thail, 1795, 74 - 81,<br />

469 Dars.: Ober die Schweiz und die SChweizer. Zweiter Thai!. 1796,212 - 213.


122<br />

Zwei Dokumente aus der Handschriftensammlung der Bibliothek des Landes<br />

Glarus stammen ebenfalls aus dieser Zeit.<br />

<strong>5.</strong>4.12 Notizen zur Glarner Geschichte<br />

Diese Notizen wurden <strong>in</strong> zwei Bänden von Pfarrer Joh. Rud. Sle<strong>in</strong>müller<br />

gesammelt und autgeschrieben. Der erste Band trägt ke<strong>in</strong> Datum, der zweite<br />

stammt aus dem Jahre 1797. J. R. Ste<strong>in</strong>müller hat <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Notizen zur Glarner<br />

Geschichte die Artikel über den Göldi-Handel aus den ihm zugänglichen<br />

Zeitschriften abgeschrieben. Im ersten Band f<strong>in</strong>den wir als "Beylagen No. 6" den<br />

Bericht aus den "Stats-Anzeigen" von A. L. Schlözer. Er nennt ihn allerd<strong>in</strong>gs<br />

"Abermaliger Justiz=Mord" <strong>in</strong> der Schweitz 1783. Aus dem RPstr = 4. Jan = 1783".<br />

Mit dieser Abkürzung ist offenbar der "Reichs Post-Reuter vom 4. Januar" geme<strong>in</strong>t.<br />

Die Verwechslung der Urheberschaft des Begriffs "Justizmord" ist hier zum ersfen<br />

Mal dokumentiert. Möglich, dass J. W<strong>in</strong>teler, da ihm der gieiche Fehler unterlaufen<br />

ist, diese Handschrift als Quelle benutzt hat. 470<br />

Des Weitern f<strong>in</strong>den sich dar<strong>in</strong> Wekhrl<strong>in</strong>s Artikel aus den Chronologen und der<br />

ebenfalls oben besprochene Artikel aus dem Taschenbuch für Aufklärer und<br />

Nichtaufklärer. Im zweiten Band folgt noch die Abschrift von der "Korrespondenz<br />

der Heiligen aus dem Mittelalter".47'<br />

<strong>5.</strong>4.13 Fortsetzung der Glarnerchronik von Christoph Trümpi vom Jahr 1774 bis<br />

1796<br />

Die zweite Handschrift aus dieser Zeit ist e<strong>in</strong>e Chronik der Glarner Geschichte.<br />

Begonnen wurde sie von Christoph Trümpi und weitergeführt durch Johann Marti,<br />

Pfarrer zu Ennenda. Unter dem Jahr 1782 steht der Titel "H<strong>in</strong>richtung e<strong>in</strong>er Magd".<br />

Es heisst dort:<br />

Den Juni ward durchs Schwerd h<strong>in</strong>gericht Anna Göld<strong>in</strong>n aus dem Sennwald, welche wegen e<strong>in</strong>er<br />

begangenen Greüelthat an e<strong>in</strong>em 9 jährigen K<strong>in</strong>d des H. Richter Doctor Tschudis. bey welchem sie<br />

<strong>im</strong> Dienst gestanden war, sich auf flüchtigen Fuss gesetzt, hemach aber <strong>im</strong> Toggenburg entdeckt, u.<br />

gefänglich e<strong>in</strong>gezogen worden. Obbemelcttes K<strong>in</strong>d, e<strong>in</strong> Töchterli, war das unschuldige Opfer ihrer<br />

Rache u. das Subject e<strong>in</strong>er unmensch!. fasl unbegreifl. u. unemörten That.472<br />

Auf den zwei schön geschriebenen Seiten f<strong>in</strong>den wir e<strong>in</strong>e Zusammenfassung des<br />

470 J. W<strong>in</strong>leler: Der Anna GÖldi·Prozess, 1951, 17.<br />

471 J.R, Ste<strong>in</strong>müller: Notizen zur Glamer Geschichte 1797.<br />

472 Fortsetzung der Glarnerdlronik von Christoph Trümpi durch Johannes Marti, 1774·1796, 21.


123<br />

Falles, die mit dem Satz abgeschlossen wird, die ganze Sache sei e<strong>in</strong> Gehe<strong>im</strong>nis<br />

der Bosheit. 473<br />

Weder <strong>in</strong> den "FreymOthigen Gedanken" des Pfarrers J. R. Ste<strong>in</strong>mOller von 1798<br />

noch <strong>in</strong> H. L. Lehmanns Buch "Die frei sich wähnenden Schweizer", das 1799<br />

erschien, noch <strong>in</strong> der "Kie<strong>in</strong>en Schweizer-Chronik Ober die Zeit von 1700 bis<br />

1801", lassen sich H<strong>in</strong>weise auf den Göldi-Handel f<strong>in</strong>den. 474 In Anbetracht der<br />

Kriegsereignisse, die <strong>in</strong> dieser Zeit das gewohnte Leben durche<strong>in</strong>ander brachten,<br />

ist es nicht verwunderlich, dass der Göldi-Handel <strong>in</strong> den H<strong>in</strong>tergrund rOckte.<br />

1802 berichtet dann Johann Gottfried Ebel <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er "Schilderung der<br />

Gebirgsvölker der Schweiz", <strong>im</strong> Zusammenhang mit der mange<strong>in</strong>den Volksbildung<br />

sei es nicht verwunderlich, wenn man noch an Hexen glaube. Die Verbrennung<br />

der Hexe von Glarus <strong>im</strong> Jahre 1782 sei durch die <strong>deutschen</strong> Monatshefte genug<br />

bekannt geworden.<br />

Interessant ist, dass hier zum erstenmal die Version mit der Hexenverbrennung<br />

auftaucht. 475 Ais K<strong>in</strong>d glaubte ich lange, die Anna Göldi sei auf dem heutigen<br />

SonnenhOgel <strong>in</strong> Glarus als Hexe verbrannt worden.<br />

6. Ergebnisse, Zusammenfassung und Schlussgedanken<br />

6.1 Ergebnisse<br />

Durch die Nachforschungen Ober das Leben der Anna Göidi hat sich<br />

herausgestellt, dass diese tatsächlich drei und nicht, wie bisher angenommen, nur<br />

zwei K<strong>in</strong>der auf die Welt gestellt hatte. Sie selber brachte dies vor Gericht zur<br />

Sprache. Aber diese Aussage wurde bis jetzt von niemandem aufgenommen und<br />

somit auch nicht OberprOft.<br />

Lehmanns Behauptung, der Entscheid fOr e<strong>in</strong>e Verurteilung zum Tode sei nur<br />

mit dOnner Merhheit von zwei St<strong>im</strong>men zustandegekommen, wird durch Christoph<br />

Me<strong>in</strong>ers Artikel <strong>im</strong> neuen Gölt<strong>in</strong>gischen historischen Magaz<strong>in</strong> bestätigt. Dies zeigt<br />

deutlich, dass damals die Me<strong>in</strong>ungen <strong>im</strong> Gericht geteilt waren. Hätte Anna Göldi<br />

473 Fortsetzung der Glamerchronik von Christoph Trümpi durch Johannes Marti, 1n4 - 1796, 22.<br />

474 J.R. Ste<strong>in</strong>mOlIer: Freymothlge Gedanken über die naueslen Ereignisse, 1798 ; H.l. Lehmann, :<br />

Oie sich freywähnenden Schweizer, 1799, 99 - 104; J.G. He<strong>in</strong>zmann: Kle<strong>in</strong>e Schweizer-ehronik.<br />

Zweyter Thail, 1801.<br />

475 J.G. Ebel: Schilderung der Gebirgsvölker der Schweiz. 11: Kanton Glarus, 1802.302- 303.

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