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Schmerztherapie 2 / 2010 - Schmerz Therapie Deutsche ...

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ISSN 1613-9968<br />

26. Jahrgang <strong>2010</strong> Ehemals StK<br />

Opioide und die S3-Leitlinie LONTS<br />

<strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong> in rauer See<br />

2I <strong>2010</strong><br />

Editorial<br />

LONTS – Kommentierung dringend<br />

erforderlich __________________________2<br />

<strong>Deutsche</strong>r <strong>Schmerz</strong>- und<br />

Palliativtag <strong>2010</strong><br />

Versorgung in der Breite sichern _______3<br />

Spannungskopfschmerz: Wenn<br />

die Zeit zum Stress wird ______________7<br />

Der <strong>Deutsche</strong> <strong>Schmerz</strong>preis<br />

Versorgungskonzepte in der<br />

<strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong> und Palliativmedizin ___9<br />

Der besondere Fall<br />

Implantation eines intrathekalen<br />

Portsystems _________________________13<br />

Biometrie<br />

Metaanalysen klinischer Studien ________14<br />

Zertifizierte Fortbildung<br />

Neuropathischer <strong>Schmerz</strong> _____________18<br />

SCHMERZTHERAPIE<br />

Algesiologische Fachassistenz<br />

Pflegestützpunkte als Basis der<br />

ambulanten <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong> __________23<br />

Palliativmedizin<br />

SAPV rechnet sich ___________________24<br />

Pharmakotherapie<br />

Opioidinduzierte Hyperalgesie: keine<br />

Rarität und therapiebedürftig __________26<br />

Integrierte Versorgung<br />

„IVZ“ mit dem Innovationspreis<br />

ausgezeichnet _______________________28<br />

Medizin und Recht<br />

Fragen aus der schmerztherapeutischen<br />

Vertragsarztpraxis ____________________30<br />

DGS-Veranstaltungen/Interna ________33<br />

Kasuistik<br />

<strong>Schmerz</strong>en bei degenerativer Wirbelsäulenerkrankung<br />

_____________________35<br />

www.dgschmerztherapie.de


Editorial<br />

LONTS –<br />

Kommentierung<br />

dringend erforderlich<br />

Liebe Kolleginnen und Kollegen,<br />

„Ohne Morphium möchte ich kein Arzt sein“, sagte Albert Schweitzer, und<br />

Thomas Sydenham hatte bereits im 17. Jahrhundert den Stellenwert von Opium<br />

in der Medizin für sich eindeutig definiert.<br />

D iese<br />

fast euphorische Bewertung von Opioiden hat in<br />

der jüngsten Zeit einen erheblichen Dämpfer erhalten.<br />

Unter dem Schirm der <strong>Deutsche</strong>n Gesellschaft zum Studium<br />

des <strong>Schmerz</strong>es und unter der Federführung von Prof. Hardo<br />

Sorgatz, Professor für Psychologie an der Technischen Universität<br />

Darmstadt, haben Vertreter von 14 wissenschaftlichen<br />

Fachgesellschaften die Leitlinie LONTS – Langzeitanwendung<br />

von Opioiden bei nicht tumorbedingten <strong>Schmerz</strong>en – am<br />

25.06. 2009 auf der Homepage der Arbeitsgemeinschaft der<br />

wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften AWMF<br />

ins Netz gestellt. Diese – anfangs wenig von der medizinischen<br />

Öffentlichkeit beachtete – S3-Leitlinie hat inzwischen<br />

zu zahlreichen Diskussionen und kontroversen Kommentaren<br />

geführt. Nur drei Zitate sollen die in der Leitlinie selbst widersprüchlich<br />

erscheinenden Äußerungen unterstreichen:<br />

„Zur Verbesserung der Lebensqualität von <strong>Schmerz</strong>patienten<br />

wird eine Behandlung mit Opioiden nicht empfohlen,<br />

da aufgrund uneinheitlicher Studienbefunde keine zuverlässige<br />

Wirksamkeit der Opioide bestätigt werden kann ...“<br />

III. Empfehlung ↑↑ (A), uneinheitliche Studienlage ↔ (D)<br />

„Opioidhaltigen Analgetika ist aufgrund ihrer geringeren<br />

organtoxischen Wirkung gegenüber anderen Analgetika<br />

bei einer medikamentösen NTS­Langzeittherapie der<br />

Vorzug zu geben….“<br />

III. Empfehlung ↑↑ (A), Kein primäres Untersuchungsziel<br />

Gerhard H. H. Müller-<br />

Schwefe, Göppingen<br />

„Wie bei der Kurzzeitanwendung von Analgetika (bis ca.<br />

drei Wochen) sollte auch bei der Langzeitanwendung opioidhaltiger<br />

Analgetika überwiegend mit Non­Respondern<br />

gerechnet werden …“ Offene Empfehlung ↔ (KQ 36)<br />

Bereits diese wenigen Zitate belegen, dass in diesen Leitlinien<br />

reichlich Zündstoff für Diskussionen und widersprüchliche<br />

Betrachtensweisen, aber auch für Fehlinterpretationen<br />

steckt.<br />

Metaanalysen – der Stein der Weisen?<br />

Da klinischen Studien einzeln betrachtet der Nimbus anhaftet,<br />

durch immanente Fehler wie Beschränkung der Patientenrekrutierung,<br />

zu geringe Fallzahlen und Ähnliches wenig Aussagekraft<br />

zu haben, haben Metaanalysen, in denen zahlreiche<br />

Studien zusammengefasst werden, schon allein durch die<br />

schiere Zahl der dann erfassten Patienten in der öffentlichen<br />

Wahrnehmung eine wesentlich bessere Aussagefähigkeit.<br />

Dies gewinnt besonders Bedeutung, da die meisten Leitlinien,<br />

insbesondere auf hoher Evidenz basierende wie S3-Leitlinien<br />

– wie auch die Leitlinie LONTS – auf Metaanalysen zurückzuführen<br />

sind.<br />

Wie sehr Metaanalysen selbst äußeren Einflüssen unterliegen<br />

und wie limitiert unter Umständen ihre Aussage sein<br />

kann zeigt Michael Überall in seinem Beitrag „Metaanalysen<br />

klinischer Studien – Stein der Weisen oder des Anstoßes?“<br />

(S. 14).<br />

Nur wer Studien und Metaanalysen richtig lesen kann, hat<br />

eine Chance, hieraus abgeleitete Handlungsanweisungen<br />

oder Leitlinien auch kompetent zu hinterfragen.<br />

Kommentierung erforderlich<br />

Weil die Leitlinie LONTS und die daraus abgeleiteten Handlungsempfehlungen<br />

so widersprüchlich sind und damit einer<br />

missbräuchlichen Interpretation und Anwendung Tür und Tor<br />

öffnen, ist eine Kommentierung für den Praxisgebrauch dringend<br />

erforderlich. Aus diesem Grund hat die <strong>Deutsche</strong> Gesellschaft<br />

für <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong> im Januar bereits zu einer<br />

Themenkonferenz der beteiligten Experten und Fachgesellschaften<br />

eingeladen. Eine Fortsetzung der Expertenrunde hat<br />

das Ziel, eine für die Praxis taugliche Kommentierung dieser<br />

Leitlinie zu erarbeiten, um ihre wichtigen und richtigen<br />

Schlussfolgerungen herauszuarbeiten, aber auch ihre missverständlichen<br />

Aussagen und die Grenzen der Aussagefähig-<br />

SCHMERZTHERAPIE 2/<strong>2010</strong> (26. Jg.)


keit in einem Kommentar zu erarbeiten und für den Praxisgebrauch<br />

zur Verfügung zu stellen. Hierzu werde ich sicher in<br />

meinem nächsten Editorial Näheres berichten können.<br />

Neues vom <strong>Deutsche</strong>n <strong>Schmerz</strong>tag<br />

Seit Jahren werden am <strong>Deutsche</strong>n <strong>Schmerz</strong>- und Palliativtag,<br />

der großen Jahrestagung der <strong>Deutsche</strong>n Gesellschaft für<br />

<strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong> und der mit ihr verbundenen Fachgesellschaften<br />

und Patientenorganisationen, die neuesten Forschungsergebnisse<br />

der <strong>Schmerz</strong>grundlagenforschung und<br />

der hieraus resultierenden aktuellsten <strong>Therapie</strong>konzepte in<br />

Symposien, Workshops und Seminaren vorgestellt und diskutiert.<br />

Für diejenigen, die nicht dabei sein konnten, bietet<br />

dieses Heft einen breiten Überblick über wichtige Highlights<br />

des <strong>Deutsche</strong>n <strong>Schmerz</strong>- und Palliativtages <strong>2010</strong>.<br />

Neue Versorgungskonzepte<br />

Gerade das heftige Ringen der neuen Bundesregierung um<br />

bessere Versorgungskonzepte in einer älter werdenden Gesellschaft<br />

macht deutlich, wie wichtig sektorenübergreifende<br />

Versorgung und komplexe <strong>Therapie</strong>ansätze in einer effizienten<br />

und dennoch kostengünstigen Medizin sein müssen.<br />

Thomas Nolte, der diesjährige Träger des <strong>Deutsche</strong>n<br />

<strong>Schmerz</strong>preises, hat diesen Gedanken in vielen Jahren zum<br />

Zentrum seiner Arbeit gemacht und berichtet ab Seite 9 über<br />

die vielfältigen inhaltlichen, aber auch wirtschaftlichen Aspekte<br />

innovativer Versorgungskonzepte in <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong><br />

und Palliativmedizin.<br />

Die <strong>Deutsche</strong> Gesellschaft für <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong> bringt<br />

sich in diese Diskussionen intensiv ein, unter anderem durch<br />

Gespräche mit dem Gesundheitspolitischen Arbeitskreis des<br />

<strong>Deutsche</strong>n Bundestages, mit der Bundesärztekammer und<br />

mit Gesundheitspolitikern auf allen Ebenen wie dem Bundesgesundheitsministerium,<br />

um die Versorgung von <strong>Schmerz</strong>patienten<br />

auch in Zukunft qualitätsgesichert zu ermöglichen.<br />

SCHMERZTHERAPIE 2/<strong>2010</strong> (26. Jg.)<br />

Editorial<br />

Neue Vergütungsregelungen ab Juli <strong>2010</strong><br />

Die Neuregelung der ärztlichen ambulanten Vergütung durch<br />

die Kassenärztliche Bundesvereinigung wird auch diesmal<br />

Einfluss auf die <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong> haben, da viele der bisher<br />

„freien Leistungen der <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong>“ jetzt in qualitätsgebundene<br />

Zusatzvolumina eingepackt werden, mithin budgetiert<br />

sind und die in der <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong> ohnedies meist<br />

geringen Regelleistungsvolumina mit einem festen Betrag<br />

vergütet werden.<br />

Insgesamt erweckt die immer hektischer werdende Veränderung<br />

der Vergütungsregelungen bei gleichzeitig gleichbleibender<br />

Gesamtvergütung den Eindruck eines Kartenspielers,<br />

der 32 Karten immer neu mischt und neu verteilt,<br />

ohne dass zusätzliche Joker ins Spiel gekommen sind.<br />

Die Verteilung wird anders, aber es gibt nicht mehr, es<br />

treten immer wieder erneut Verwerfungen auf, die es hinterher<br />

(meist hektisch) zu glätten gilt. Insofern glaube ich, sollten<br />

wir von der veränderten Vergütung ab 1. Juli <strong>2010</strong> nicht<br />

allzu viel erwarten, allenfalls sehr schnell reagieren und sich<br />

abzeichnende Verwerfungen, die zu einer Verschlechterung<br />

der schmerztherapeutischen Versorgung führen, kommunizieren<br />

und auch öffentlich artikulieren.<br />

In all diesen Bemühungen wird Sie Ihre <strong>Deutsche</strong> Gesellschaft<br />

für <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong> auch weiterhin intensiv unterstützen!<br />

Für die bevorstehende Ferienzeit wünsche ich Ihnen sonnige<br />

und erholsame Tage und grüße Sie herzlich<br />

Ihr<br />

Dr. med. Gerhard H. H. Müller-Schwefe<br />

Präsident<br />

<strong>Deutsche</strong> Gesellschaft für <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong> e. V.<br />

Versorgung in der Breite sichern<br />

Beim <strong>Deutsche</strong>n <strong>Schmerz</strong>- und Palliativtag 010 wurden neben den neuesten Erkenntnissen<br />

der Grundlagenforschung auch die hieraus resultierenden Versorgungskonzepte<br />

intensiv diskutiert. Von Stammzellenforschung, Hyperalgesie bis zu den<br />

integrativen Versorgungskonzepten spannte sich der breite Themenbogen, der mit<br />

einem gesundheitspolitischen Forum abschloss. Über 00 Teilnehmer konnten von<br />

den Kongresstagen viel Nützliches für ihre tägliche Arbeit mitnehmen.<br />

O pioide<br />

können nicht nur <strong>Schmerz</strong>en lindern,<br />

sondern ihrerseits auch die Empfindlichkeit<br />

auf <strong>Schmerz</strong>reize erhöhen und dadurch<br />

<strong>Schmerz</strong>en intensivieren. Einen synaptischen<br />

Mechanismus, der hinter dieser sogenannten<br />

opioidinduzierten Hyperalgesie (OIH)<br />

steckt, klärte die Wiener Arbeitsgruppe von<br />

Prof. Jürgen Sandkühler* auf. μ-Opioide besitzen<br />

eine direkte hemmende Wirkung auf die<br />

synaptische Übertragung zwischen Aδ- bzw.<br />

C-Fasern und den Nervenzellen im Hinterhorn<br />

des Rückenmarks. Dieser Effekt erklärt, warum<br />

Opioide den Nozizeptorschmerz hervorragend<br />

lindern, während sie die durch A-Fasern ver-<br />

<strong>Deutsche</strong>r <strong>Schmerz</strong>-<br />

und Palliativtag <strong>2010</strong><br />

in Frankfurt a. Main<br />

mittelte dynamische mechanische Allodynie<br />

weitaus weniger unterdrücken. Kommt es zu<br />

anhaltenden <strong>Schmerz</strong>en, z.B nach Traumen<br />

oder Entzündungen, entsteht ein <strong>Schmerz</strong>gedächtnis<br />

durch die Potenzierung der synaptischen<br />

Übertragung an den nozizeptiven C-<br />

Fasern, die sog. synaptische Langzeitpotenzierung<br />

(LTP). Diese kann laut Sandkühler durch<br />

eine frühzeitige präventive Analgesie durch<br />

Opioide verhindert werden.<br />

* Symposium „<strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong> am Puls der Zeit:<br />

von Grundlagen bis Wirtschaftlichkeit“, 9. . 010<br />

in Frankfurt/M. Veranstalter: Mundipharma GmbH


Der <strong>Deutsche</strong> <strong>Schmerz</strong>- und Palliativtag 010<br />

Hyperalgesie durch <strong>Schmerz</strong>mittel<br />

Werden Opioide kontinuierlich appliziert und<br />

abrupt abgesetzt, kommt es aber zu einem<br />

Anstieg der Kalziumionen in den Nervenzellen<br />

des Rückenmarks, die von den C-Fasern erregt<br />

werden. Dieser Kalziumanstieg führt wie<br />

beim <strong>Schmerz</strong>gedächtnis zu einer Langzeitpotenzierung<br />

an C-Fasern und zur verstärkten<br />

Nozizeption. Um dieses Entzugsphänomen zu<br />

vermeiden, empfiehlt Sandkühler, eine Opioidtherapie<br />

stets langsam auszuschleichen. Nach<br />

den Experimenten der Wiener Arbeitsgruppe<br />

lässt sich die opioidinduzierte Hyperalgesie<br />

auch durch die Zugabe eines NMDA-Rezeptorantagonisten<br />

verhindern. Möglicherweise verursachen<br />

auch starke Schwankungen des<br />

Opioidspiegels während der <strong>Therapie</strong> eine Hyperalgesie.<br />

„Darum ist der Einsatz retardierter<br />

Darreichungsformen, die den Wirkstoff gleichmäßig<br />

über einen längeren Zeitraum abgeben,<br />

besonders wichtig“, so Sandkühler.<br />

Neben diesem Entstehungsmechanismus<br />

wird auch die Downregulation der Opioidrezeptoren<br />

über die zentrale Sensibilisierung<br />

bis hin zur Zellapoptose von GABA-Neuronen<br />

als weiterer Mechanismus diskutiert,<br />

ergänzte Dr. Uwe Junker, Remscheid. Klinisch<br />

bedeutsam ist, dass eine opioidinduzierte<br />

Hyperalgesie keineswegs nur unter<br />

Morphin, sondern ebenso bei transdermalem<br />

Fentanyl entstehen kann. Jeder diffuse<br />

<strong>Schmerz</strong> wechselnden Charakters, der sich<br />

auf Erhöhung der Opioidddosis nicht bessert<br />

sondern verschlimmert, sollte an diese<br />

Diagnose denken lassen. Um diese Komplikation<br />

zu vermeiden, empfiehlt der Algesiologe,<br />

stets Opioide in der niedrigstmöglichen Dosis<br />

einzusetzen und je nach Situation mit Regionalverfahren,<br />

Koanalgetika und auch Ketamin<br />

zu kombinieren. Als Beispiel für eine derartige<br />

Behandlung schilderte Junker den Fall einer<br />

49-jährigen Patientin mit einem neuroektodermalen<br />

Tumor mit schwersten stechendbohrenden<br />

gemischten <strong>Schmerz</strong>en, die nozizeptiv<br />

durch den destruierenden Tumor und<br />

neuropathisch durch die Kompression nervaler<br />

Strukturen waren. Dieses komplexe <strong>Schmerz</strong>bild<br />

konnte mit der Fixkombination Oxycodon/<br />

Naloxon in einer Dosis von 40/20–20/10 mg<br />

in Kombination mit Naproxen und Pregabalin<br />

und der Bedarfsmedikation mit 5 mg unretardiertem<br />

Oxycodon beherrscht werden. Oxycodon<br />

besitzt eine hohe Affinität zu Kappa-<br />

Opioidrezeptoren, eignet sich besonders für<br />

neuropathische <strong>Schmerz</strong>en und reduziert die<br />

Dosis des Koanalgetikums wie Pregabalin, bei<br />

dem in diesem Fall nur 75 mg morgens und<br />

150 mg abends nötig waren.<br />

Ansätze aus der Stammzellforschung<br />

Neue Perspektiven für die <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong><br />

eröffnet die Stammzellforschung, die Prof. Dr.<br />

Jürgen Hescheler skizzierte. Humane Fibroblasten<br />

in Kultur können über die Übertragung<br />

von vier Genen, den sog. Pluripotenzfakto-<br />

ren, mithilfe von Lentiviren zu pluripotenten<br />

Stammzellen zurückverwandelt werden. Je<br />

nach <strong>Therapie</strong>zweck können daraus Herzmuskelzellen<br />

oder auch Neurone gezüchtet werden,<br />

die dann in den Spender zurückimplantiert<br />

werden. Pluripotente Stammzellen ermöglichen<br />

erstmals eine Forschung ohne das<br />

ethische Problem der Embryonalzellen. Die<br />

Kölner Arbeitsgruppe konnte so z.B. hochspe-<br />

Ehrenpreis des <strong>Deutsche</strong>n <strong>Schmerz</strong>preises <strong>2010</strong><br />

Dr. rer. nat. Ruth Drdla, Mag. rer. nat.<br />

Matthias Gassner und Prof. Dr. med. Jürgen<br />

Sandkühler wurden auf dem <strong>Deutsche</strong>n<br />

<strong>Schmerz</strong>- und Palliativtag in Frankfurt/Main mit<br />

dem Ehrenpreis des <strong>Deutsche</strong>n <strong>Schmerz</strong>preises<br />

010 – <strong>Deutsche</strong>r Förderpreis 010 für <strong>Schmerz</strong>forschung<br />

und <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong> ausgezeichnet.<br />

Die Arbeitsgruppe um Prof. Sandkühler, dem<br />

Leiter des Zentrums für Hirnforschung an der<br />

Medizinischen Universität Wien, lieferte grundlegend<br />

neue Erkenntnisse über die durch Opioide<br />

vermittelte <strong>Schmerz</strong>überempfindlichkeit.<br />

Die Biologin und Anthropologin Dr. rer. nat. Ruth<br />

Drdla absolvierte bei Prof. Sandkühler ihre Doktorarbeit<br />

und forscht seit 2008 in Sandkühlers Labor.<br />

Der Biologe und Zoologe Mag. rer. nat. Matthias<br />

Gassner schrieb Diplom­ und Doktorarbeit am<br />

Zentrum für Hirnforschung der Medizinischen Universität<br />

Wien und forscht seit 2007 in Sandkühlers<br />

Arbeitsgruppe. Der Preis wird<br />

jährlich an Persönlichkeiten verliehen,<br />

die sich durch wissenschaftliche<br />

Arbeiten über Diagnostik<br />

und <strong>Therapie</strong> akuter und chronischer<br />

<strong>Schmerz</strong>zustände verdient<br />

gemacht oder die durch ihre Arbeit<br />

oder ihr öffentliches Wirken<br />

entscheidend zum Verständnis des<br />

Problemkreises <strong>Schmerz</strong> und der<br />

davon betroffenen Personen<br />

beigetragen haben. Der wissenschaftliche<br />

Träger des Ehrenpreises<br />

ist die <strong>Deutsche</strong> Gesellschaft für <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong><br />

e.V. Gestiftet wird der mit 3.000 Euro dotierte<br />

Preis von der Firma AWD.pharma GmbH, Dresden.<br />

In der Urkunde heißt es: „Mit ihren bahnbrechenden<br />

Arbeiten über die synaptischen Wirkungen der<br />

Opioide in <strong>Schmerz</strong>bahnen hat die Arbeitsgruppe<br />

Übergabe des Ehrenpreises <strong>2010</strong><br />

an die Wiener Preisträger<br />

zifische Herzmuskelzellen produzieren. Diese<br />

Technik eröffnet damit große Hoffnungen für<br />

Patienten mit Herzinfarkt oder für Patienten<br />

mit Diabetes mellitus, bei denen die Inselzellen<br />

ersetzt werden könnten. Neurologische<br />

Erkrankungen wie die Huntington-Erkrankung,<br />

Morbus Parkinson, Multiple Sklerose ebenso<br />

wie Rückenmarksverletzungen könnten Indikationen<br />

für eine regenerative <strong>Therapie</strong> mit<br />

Stammzellen darstellen. Denkbar wäre auch,<br />

dass aus den Stammzellen Neurone gezüchtet<br />

würden, die große Mengen Endorphine<br />

produzieren und dann ähnlich einer Medikamentenpumpe<br />

gezielt in das Hinterhorn des<br />

Rückenmarks injiziert würden, um dort über<br />

die Endorphine <strong>Schmerz</strong>en zu reduzieren.<br />

Erste Experimente bei ischämischen Hirnläsionen<br />

haben bereits gezeigt, dass Nervenzellen<br />

in den Neuronenverbund durch synaptische<br />

Verbindungen integriert werden und<br />

dort spezifische Reparaturprozesse einleiten<br />

können. Auch wenn diese Möglichkeiten derzeit<br />

noch reines Forschungsgebiet sind, erwartet<br />

Hescheler von dieser regenerativen<br />

Technik einen wertvollen Beitrag, um die Lebensqualität<br />

lange erhalten zu können.<br />

S3­Leitlinie ein Flop?<br />

Ein Risiko für die medikamentöse <strong>Therapie</strong> von<br />

chronisch <strong>Schmerz</strong>kranken stellt die neue S3-<br />

Leitlinie zur Langzeitanwendung von Opioiden<br />

(LONTS) bei nicht tumorbedingten <strong>Schmerz</strong>en<br />

dar, warnte Priv.-Doz. Dr. med. Michael Überall,<br />

Nürnberg. Massive methodische Schwächen<br />

bei der Analyse wissenschaftlicher Studien<br />

und ein Mangel an Langzeitstudien haben hier<br />

zu falschen Schlussfolgerungen geführt. Evi-<br />

das Verständnis über die opioidinduzierte Hyperalgesie<br />

grundlegend revolutioniert. Dies hat weitreichende<br />

Konsequenzen für die praktische <strong>Therapie</strong><br />

mit Opioiden und das Verständnis für die Entwicklung<br />

von Hyperalgesie bei Patienten unter Opioidtherapie.<br />

Gleichzeitig eröffnet es Perspektiven<br />

für eine bessere <strong>Therapie</strong>.“<br />

© Photo Grysa<br />

SCHMERZTHERAPIE 2/<strong>2010</strong> (26. Jg.)


denzbasierte Medizin darf nicht bedeuten,<br />

dass wir unser Gehirn ausschalten, warnte<br />

Überall (s. S. 14). Wie vorgefertigt die Meinung<br />

der Autoren sei, zeige sich daran, dass sie psychologischen<br />

Verfahren mit einer fünfprozentigen<br />

Wirkstärke eine gesicherte Wirksamkeit<br />

bestätigen, Opioiden trotz einer zehnprozentigen<br />

Wirkstärke diese aber absprechen. Unverständlich<br />

ist es, dass erste Institutionen wie<br />

kassenärztliche Vereinigungen diese Leitlinien<br />

so interpretieren, dass eine <strong>Therapie</strong> nach drei<br />

Monaten abgesetzt werden müsse. Dies ist laut<br />

Dr. med. Gerhard H. H. Müller-Schwefe, Göppingen<br />

eine absurde Fehlentwicklung. Innerhalb<br />

der nächsten drei bis fünf Jahre müssen<br />

valide Daten regeneriert werden, forderte<br />

Überall. Derzeit ist LONTS „Schrott“ und erfordere<br />

eine kritische Stellungnahme.<br />

Lebensqualität ist kein Luxus<br />

Eine adäquate frühzeitige <strong>Therapie</strong> mit einem<br />

Opioidanalgetikum wie der Fixkombination<br />

Oxycodon/Naloxon bei chronischen Rückenschmerzen<br />

verbessert die Lebensqualität und<br />

verhindert die <strong>Schmerz</strong>chronifizierung. Die innovative<br />

<strong>Therapie</strong> mit dem retardierten Oxycodon/Naloxon<br />

verursacht zudem weniger direkte<br />

und indirekte Kosten als eine <strong>Therapie</strong> mit anderen<br />

starken Opioiden (WHO Stufe III), berichtete<br />

Prof. Dr. Dr. Rychlik, Institut für Empirische<br />

Gesundheitsökonomie Burscheid.<br />

Dies zeigte eine prospektive multizentrische<br />

Versorgungstudie mit 1095 Patienten, von der<br />

eine Zwischenauswertung nach sechs Monaten<br />

<strong>Therapie</strong> eine erste Trendbeschreibung<br />

erlaubt: 669 Patienten mit chronischen Rückenschmerzen<br />

erhielten ein halbes Jahr die<br />

Fixkombination oder ein alternatives stark<br />

wirksames Opioidanalgetikum. Neben den<br />

medizinischen Eckpunkten wurde die gesundheitsbezogene<br />

Lebensqualität mithilfe<br />

von krankheitsspezifischen (BPI-SF, Summenscore<br />

aus vier Einzelparametern [<strong>Schmerz</strong>],<br />

Summenscore aus sieben Einzelparametern<br />

[schmerzbedingte Beeinträchtigung; Lebensqualität])<br />

und krankheitsübergreifenden (SF-<br />

36) Instrumenten erhoben und den entstandenen<br />

<strong>Therapie</strong>kosten gegenübergestellt.<br />

Zu Beginn der <strong>Therapie</strong> litten die Patienten<br />

an einer mittleren <strong>Schmerz</strong>intensität von 23,4<br />

Punkten (auf einer Skala von 0 = kein bis 40<br />

= stärkster <strong>Schmerz</strong>, BPI-SF), 24,3 Punkte in<br />

der Targingruppe und 21,8 Punkte in der Gruppe<br />

mit anderen starken Opioiden. Ihre durchschnittliche<br />

Beeinträchtigung der täglichen<br />

Lebensführung lag im Mittel bei knapp 40 (70<br />

Punkte stärkste Beeinträchtigung, BPI-SF):<br />

41,3 (OXN) und 36,8 (andere starke Opioide),<br />

sodass die Ausgangsbefunde der Targin-Gruppe<br />

sogar etwas ungünstiger waren.<br />

SCHMERZTHERAPIE 2/<strong>2010</strong> (26. Jg.)<br />

Die drei Gewinner des Posterpreises von<br />

links nach rechts: Sven Gottschling, Homburg,<br />

Claudia Sommer, Lübeck, und Hans<br />

Bernd Sittig, Geesthacht.<br />

Unter der Fixkombination mit Oxycodon/<br />

Naloxon nahm die <strong>Schmerz</strong>intensität um<br />

37,4% und die damit verbundene Beeinträchtigung<br />

im Alltag um 25,7% ab, unter den alternativen<br />

stark wirksamen Opioiden nahm<br />

die Intensität dagegen nur um 15,6% und die<br />

Beeinträchtigung des Alltags um 13,6% ab.<br />

Die direkten <strong>Therapie</strong>kosten betrugen in den<br />

ersten sechs Monaten 1128 Euro im Durchschnitt,<br />

65% entfielen davon auf die Arzneimitteltherapie<br />

(60% unter Targin, 67% WHO<br />

III). Targin verursachte mit 1027 Euro deutlich<br />

geringere Kosten, verglichen mit den anderen<br />

starken Opioiden, die Kosten von 1327 Euro<br />

mit sich brachten.<br />

Die indirekten Kosten für Arbeitsunfähigkeit<br />

und Erwerbsminderung bezogen auf den Anteil<br />

der Patienten im berufsfähigen Alter waren in<br />

diesem Zeitraum dreimal so hoch. Sie betrugen<br />

3254 Euro für die Fixkombinationsgruppe und<br />

4499 für die Gruppe unter alternativen starken<br />

Opioiden. Aufgrund der Zwischenauswertung<br />

folgert Rychlik, dass eine suffiziente <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong><br />

bei chronischen Rückenschmerzen die<br />

Lebensqualität signifikant verbessert und das<br />

Voranschreiten der <strong>Schmerz</strong>chronifizierung<br />

verhindern kann. Die nebenwirkungsarme <strong>Therapie</strong><br />

mit einem innovativen Fixpräparat wirkt<br />

nicht nur besser, sondern verursacht auch weniger<br />

direkte und indirekte <strong>Therapie</strong>kosten.<br />

Dronabinol in der Pädiatrie<br />

Der erste Preis für ein Poster ging an Priv.-Doz.<br />

Dr. Sven Gottschling, Homburg/Saar, der den<br />

Stellenwert der Cannabinoide an acht Kindern<br />

(2 bis 17 Jahre alt) mit schwersten Mehrfachbehinderungen<br />

mit therapieresistenter Spastik<br />

und <strong>Schmerz</strong>en untersuchte. Alle Kinder hatten<br />

eine baclofenresistente Spastik, drei Kinder<br />

erhielten zusätzlich Opioide und Nonopioide,<br />

Der <strong>Deutsche</strong> <strong>Schmerz</strong>- und Palliativtag 010<br />

© Photo Grysa<br />

zwei nur Nonopioide. Unter der <strong>Therapie</strong> mit<br />

zweimal täglich mindestens 1 mg Dronabinol<br />

bis höchsten zweimal 5 mg zeigte das Cannabinoid<br />

in einer mittleren Dosierung von 0,25<br />

mg/kg/d einen antispastischen und analgetischen<br />

Effekt und verbesserte zudem das<br />

Schlafverhalten. Die <strong>Therapie</strong> wurde von ihnen<br />

ohne Nebenwirkungen toleriert, Opioide konnten<br />

darunter eingespart werden, und auch in<br />

der Langzeittherapie kam es bei den Kindern<br />

nicht zur Dosiseskalation. Inzwischen dauert<br />

die <strong>Therapie</strong> bereits im Median zwei Jahre und<br />

drei Monate an. Fünf der acht Kinder leben<br />

noch. Die <strong>Therapie</strong> mit Dronabinol, so das Fazit<br />

des Homburger Pädiaters, wird auch von Kindern<br />

gut toleriert und sollte in prospektiven<br />

randomisierten Doppelblindstudien bei Kindern<br />

überprüft werden.<br />

Ibandronat gegen Knochenmetastasen<br />

Den zweiten Posterpreis erhielt Dr. med. Hans-<br />

Bernd Sittig, Geesthacht, der die analgetischen<br />

Effekte einer hoch dosierten Ibandronattherapie<br />

bei therapieresistenten Knochenschmerzen<br />

untersucht hatte. Behandelt wurden neun Patientinnen<br />

mit Brustkrebs und ossären Metastasen<br />

im Endstadium, die sich im Hospiz befanden.<br />

Trotz einer Vorbehandlung mit Opioiden,<br />

Nichtopioiden und Koanalgetika litten die Betroffenen<br />

an schwersten, fast unerträglichen<br />

<strong>Schmerz</strong>en und kämpften mit opioidbedingten<br />

Nebenwirkungen wie Obstipation, Nausea und<br />

Müdigkeit.<br />

Mit einer <strong>Therapie</strong> von 6 mg Ibandronat als<br />

Kurzinfusion jeweils über 15 min intravenös<br />

an drei aufeinanderfolgenden Tagen ließen<br />

sich die <strong>Schmerz</strong>en deutlich reduzieren: Der<br />

vor <strong>Therapie</strong>beginn ermittelte VAS-Wert der<br />

maximalen <strong>Schmerz</strong>intensität ging von 9,5 auf<br />

4,0 zurück, im Durchschnitt sanken die VAS-<br />

Werte von 9,3 auf 2,1 VAS-Punkte. Parallel<br />

dazu konnte die Rescue-Medikation gesenkt<br />

werden. Nebenwirkungen traten unter der hoch<br />

dosierten Ibandronattherapie nicht auf. Sittig<br />

folgert, dass die Ibandronat-Loading-Dose eine<br />

hocheffektive analgetische Wirkung bei therapierefraktären<br />

Knochenmetastasen besitzt und<br />

gut verträglich ist.<br />

<strong>Schmerz</strong> bei Auszubildenden<br />

Mit dem dritten Preis der Postersession wurde<br />

eine epidemiologische Untersuchungen von<br />

Claudia Schwager ausgezeichnet. Mit dem Lübecker-<strong>Schmerz</strong>screening-Fragebogenbefragte<br />

sie 7158 Auszubildende (15 bis 25 Jahre)<br />

an einer Berufsschule. 6175 Bögen wurden<br />

beantwortet, davon waren 94,1% auswertbar.<br />

90% litten an <strong>Schmerz</strong>en innerhalb der letzten<br />

drei Monate, 72% an Kopfschmerzen, 60% an<br />

Rückenschmerzen, 38% an Halsschmerzen,


© Photo Grysa<br />

Der <strong>Deutsche</strong> <strong>Schmerz</strong>- und Palliativtag 010<br />

Teilnehmer der gesundheitspolitischen Diskussion: von links nach rechts Alexander Ehlers,<br />

Marianne Koch, Gerhard H.H. Müller-Schwefe, Brigitte Fischer und Werner Baumgärtner.<br />

37% an Bauchschmerzen und 35% an Arm-<br />

und Beinschmerzen. Jeder Fünfte nahm bereits<br />

häufig oder immer wegen seiner <strong>Schmerz</strong>en<br />

Medikamente ein und konsultierte häufig<br />

oder immer einen Arzt. Aufgrund dieser Befunde<br />

folgert Schwager, dass <strong>Schmerz</strong>en bereits<br />

bei Auszubildenden häufig sind und schon<br />

in der Adoleszenz ein erwachsenentypisches<br />

Muster aufweisen. Fast die Hälfte der Betroffenen<br />

klagt bereits über anhaltende <strong>Schmerz</strong>en,<br />

die über zwölf Monate andauern. In einer<br />

zweiten Analyse wurde bei 4207 Auszubildenden<br />

untersucht, inwieweit die <strong>Schmerz</strong>en tätigkeitsspezifische<br />

und geschlechtsspezifische<br />

Charakteristika aufweisen. Dabei zeigte sich,<br />

dass Frauen im Büro signifikant häufiger an<br />

Kopfschmerzen, anhaltenden Kopfschmerzen<br />

und Rückenschmerzen leiden als Frauen im<br />

Tätigkeitsbereich Handwerk. Männer in beiden<br />

Tätigkeitsbereichen unterscheiden sich dagegen<br />

nicht in der <strong>Schmerz</strong>prävalenz. Aufgrund<br />

dieser Studie folgern die Lübecker Experten,<br />

dass künftig auch geschlechtsspezifische Präventionsstrategien<br />

nötig sind, um <strong>Schmerz</strong>en<br />

und ihre frühzeitige Chronifizierung effizient zu<br />

verhindern.<br />

<strong>Schmerz</strong>enswunsch und Tipps<br />

Beim <strong>Deutsche</strong>n <strong>Schmerz</strong>tag überreichte die<br />

Firma Mundipharma eine Spende von 3274<br />

Euro an die <strong>Deutsche</strong> <strong>Schmerz</strong>liga, mit der sie<br />

zur Verbesserung der Lebensqualität von Menschen<br />

mit chronischen <strong>Schmerz</strong>en beitragen<br />

möchte. Mit je einem Euro unterstützte Mundipharma<br />

nämlich die Aktion <strong>Schmerz</strong>enswunsch.<br />

Die 3274 Einsendungen zeigten klar,<br />

dass Lebensqualität der <strong>Schmerz</strong>enswunsch<br />

Nr. 1 ist. Gleichzeitig wurde von der „Initiative<br />

<strong>Schmerz</strong> messen“ beim <strong>Deutsche</strong>n <strong>Schmerz</strong>tag<br />

die Aktion „Tipps bei <strong>Schmerz</strong>en gesucht“<br />

gestartet. Dabei werden <strong>Schmerz</strong>patienten<br />

aufgerufen, ihren Leidensgenossen Tipps zu<br />

geben, wie sie den Alltag besser bewältigen<br />

können. Auch bei dieser Aktion spendet Mundipharma<br />

für jeden eingeschickten Tipp einen<br />

Euro an die <strong>Deutsche</strong> <strong>Schmerz</strong>liga. Bis zum<br />

31.10. <strong>2010</strong> können <strong>Schmerz</strong>patienten mitmachen<br />

und sollen auf einer Postkarte ihren Tipp<br />

an die „Initiative <strong>Schmerz</strong> messen“ c/o <strong>Deutsche</strong><br />

<strong>Schmerz</strong>liga e.V., Adenauerstr. 18, 61440<br />

Oberursel schicken (oder per E-Mail an: tipp@<br />

schmerzmessen.de)<br />

Gesundheitspolitisches Forum<br />

Zum Ausklang des 21. <strong>Deutsche</strong>n <strong>Schmerz</strong>-<br />

und Palliativtages <strong>2010</strong> diskutierten Patienten<br />

und Ärzte gemeinsam mit Juristen und Vertretern<br />

der Krankenkassen die Zukunft der<br />

<strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong>. Dr. med. Marianne Koch,<br />

Präsidentin der <strong>Deutsche</strong>n <strong>Schmerz</strong>liga, betonte<br />

als Vertreterin der <strong>Schmerz</strong>patienten<br />

nachhaltig, dass das Solidaritätsprinzip unbedingt<br />

beibehalten werden muss. Für ebenso<br />

unersetzbar hält sie die sprechende Medizin:<br />

„Gespräche müssen wieder bezahlt werden,<br />

dies spart nachhaltig Kosten“, so Koch. Aus der<br />

Sicht der Krankenkassen, ergänzte Birgit Fischer,<br />

Vorsitzende der Barmer GEK, sind multimodale,<br />

sektorenübergreifende Versorgungskonzepte<br />

eine Gewähr für eine bessere Versorgung<br />

in der Zukunft. Es gibt bereits viele Modelle<br />

wie das Rückenschmerzkonzept und sie<br />

sollten endlich flächendeckend nutzbar gemacht<br />

werden.<br />

Einen weiteren Schwerpunkt sollte eine<br />

intensivere Versorgungsforschung darstellen.<br />

Eine qualitativ hochwertige Versorgung verlange<br />

auch eine Partnerschaft mit den Krankenkassen<br />

und mehr Transparenz im Gesundheitswesen.<br />

Die erforderlichen Informationen über<br />

die <strong>Therapie</strong>möglichkeiten könnten auch über<br />

die Krankenkassen den Betroffenen zur Verfügung<br />

gestellt werden. Dr. Werner Baumgärtner,<br />

Vorsitzender der MEDI Baden-Württemberg,<br />

forderte aus der Sicht der Vertragsärzte, dass<br />

es endlich mehr Planungssicherheit geben<br />

sollte. Hierfür müssten endlich feste Punktwerte<br />

beim Sozialgericht eingeklagt werden.<br />

Für die niedergelassenen Kollegen sollten<br />

Kollektivverträge eine feste Vergütung sichern,<br />

Selektivverträge seien eine zweite Möglichkeit<br />

für die Zukunft. Die Praxen sind zurzeit übervoll<br />

und die Versorgung der vielen <strong>Schmerz</strong>kranken<br />

könne langfristig nur über Kollektivverträge<br />

gesichert werden, auch wenn Selektivverträge<br />

sicher ebenso nötig seien.<br />

Der Münchener Arzt und Medizinjurist Prof.<br />

Dr. Dr. Alexander Ehlers erläuterte, woran es<br />

bei dem solidarisch finanzierten Gesundheitssystem<br />

hapert. Bis 1987 waren die Rahmenbedingungen<br />

bei Vollbeschäftigung günstig, nun<br />

sei die Finanzierung von Gesundheitsausgaben,<br />

Pflege und Rente über Arbeitnehmer und<br />

Arbeitgeber nicht mehr genügend sichergestellt.<br />

Obwohl ständig mehr Geld in das Gesundheitswesen<br />

geflossen sei, sei dies nicht<br />

bei den Ärzten angekommen. Die <strong>Schmerz</strong>therapeuten<br />

haben ihr Vertrauen und ihre Sicherheit<br />

verloren, kritisierte Müller-Schwefe.<br />

Obwohl der Anspruch auf eine gute medizinische<br />

Versorgung ein Grundrecht sei, werde<br />

es immer schwieriger, einen Partner zu finden.<br />

Immer weniger Ärzte sind dazu bereit, und<br />

<strong>Schmerz</strong>therapeuten werden immer seltener,<br />

sodass die flächendeckende Versorgung eine<br />

Illusion ist. Nachhaltig forderte Müller-Schwefe<br />

einen Paradigmenwechsel hin zu einer effizienteren<br />

<strong>Therapie</strong>, bei dem die Patienten nicht<br />

entmündigt, sondern mehr Verantwortung zugebilligt<br />

bekommen sollten.<br />

IVR ein Lichtblick<br />

Ein positives Beispiel sind die integrierten Rückenversorgungskonzepte,<br />

die sich für Ärzte<br />

und Patienten gleichermaßen lohnen. Während<br />

im bundesweiten Durchschnitt nur 33% der<br />

Rückenpatienten wieder arbeitsfähig würden,<br />

konnten 88% der Patienten, die in diesem integrierten<br />

Konzept behandelt wurden, wieder<br />

arbeiten. Eine effektive Versorgung sollte, so<br />

Müller-Schwefe, die ineffektiven <strong>Therapie</strong>n ersetzen.<br />

Wie das Zweitmeinungsverfahren zeigt,<br />

würden bislang viel zu oft riskante invasive<br />

<strong>Therapie</strong>n eingesetzt.<br />

Wichtig ist allerdings auch, dass die Ärzte<br />

mit den Krankenkassen eine Partnerschaft eingingen,<br />

da nur die Krankenkassen die Daten<br />

über die Arbeitsunfähigkeit ihrer Versicherten<br />

hätten, so Müller-Schwefe. Die Prüfverfahren<br />

über die pharmakologischen <strong>Therapie</strong>n sind<br />

zwar lästig, und der Kenntnisstand der Überprüfer<br />

ist leider oft unzureichend. Wer jedoch<br />

gut dokumentiert, warum er seine Verordnungen<br />

so getroffen hat, wird damit auch kein<br />

Problem haben. Ehlers bestätigte, dass die<br />

Krankenkassen als Treuhänder des Geldes<br />

ihrer Versicherten hier ihre originäre Aufgabe<br />

erfüllen müssten und dieses Nachfragen der<br />

Wirtschaftlichkeit legitim sei. Eine erfolgreiche<br />

multimodale Versorgung verlange eine Partnerschaft<br />

im gesamten Gesundheitswesen.<br />

StK ■<br />

SCHMERZTHERAPIE 2/<strong>2010</strong> (26. Jg.)


© Bildarchiv Göbel<br />

Spannungskopfschmerz:<br />

Wenn die Zeit zum Stress wird<br />

Kopfschmerz ist die Volkskrankheit: In Deutschland leiden rund 66, % der Frauen<br />

und 53,2% der Männer an Kopfschmerzen. Tägliche Kopfschmerzen treten bei rund<br />

5% der Bevölkerung auf. Der Kopfschmerz vom Spannungstyp ist „der Alltagskopfschmerz“<br />

und für mehr als 54% aller Kopfschmerzleiden verantwortlich. Über die<br />

Diagnostik und <strong>Therapie</strong> dieser Zivilisationserkrankung, die vor allem durch den<br />

Termindruck gefördert wird, informiert Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Hartmut Göbel,<br />

DGS-Leiter und Chefarzt der <strong>Schmerz</strong>klinik Kiel.<br />

K opfschmerz<br />

und Zeitverlauf sind eng miteinander<br />

verbunden. So werden die häufigsten<br />

Kopfschmerzformen direkt über den<br />

zeitlichen Ablauf klassifiziert. Dies gilt zum Beispiel<br />

für die Migräne mit akuter Aura, die chronische<br />

Migräne, den episodischen Kopfschmerz<br />

vom Spannungstyp, den chronischen<br />

Kopfschmerz vom Spannungstyp, den Clusterkopfschmerz,<br />

die chronisch paroxysmale Hemikranie<br />

und viele andere Formen. Darüber<br />

hinaus ist das Auftreten von Kopfschmerzen<br />

tageszeitlich gebunden. So tritt etwa die Migräne<br />

zumeist aus dem Schlaf heraus am frühen<br />

Morgen auf.<br />

Spannungskopfschmerz am Vormittag<br />

Die Spannungskopfschmerzen bilden sich insbesondere<br />

am Vormittag aus. Dagegen findet<br />

sich der Clusterkopfschmerz meist in den frühen<br />

Morgenstunden in der Nacht. Die Kopfschmerzempfindlichkeit<br />

variiert im Tagesverlauf.<br />

In einem experimentellen Kopfschmerzmodell<br />

für den Kopfschmerz vom Spannungs-<br />

SCHMERZTHERAPIE 2/<strong>2010</strong> (26. Jg.)<br />

typ zeigt sich eine besonders hohe <strong>Schmerz</strong>empfindlichkeit<br />

am Vormittag. Die geringste<br />

<strong>Schmerz</strong>empfindlichkeit besteht am Nachmittag<br />

und in den späten Abendstunden. Die<br />

<strong>Schmerz</strong>empfindlichkeit steigt dann in der<br />

Nacht auf ein hohes Niveau. Eine zeitliche Variation<br />

der <strong>Schmerz</strong>empfindlichkeit liegt ausgeprägt<br />

für mittelstarken und für sehr starken<br />

<strong>Schmerz</strong> vor. Dagegen wird die <strong>Schmerz</strong>empfindlichkeit<br />

für eben wahrnehmbaren <strong>Schmerz</strong>,<br />

die <strong>Schmerz</strong>schwelle, im Tagesverlauf nur wenig<br />

variiert.<br />

Sporadisch, häufig, chronisch?<br />

Der Kopfschmerz vom Spannungstyp als häufigste<br />

Kopfschmerzerkrankung charakterisiert<br />

sich durch das zeitliche Auftreten, spezifische<br />

Kopfschmerzmerkmale und spezifische Begleitsymptome.<br />

Die Kopfschmerzdauer beträgt beim<br />

episodischen Kopfschmerz 30 Minuten<br />

bis zu sieben Tage. Beim chronischen Kopfschmerz<br />

findet sich keine zeitliche Festlegung.<br />

Es werden drei Verlaufsformen unterschieden:<br />

Der <strong>Deutsche</strong> <strong>Schmerz</strong>- und Palliativtag <strong>2010</strong><br />

Hartmut Göbel,<br />

Kiel<br />

1. Die sporadische Verlaufsform tritt an weniger<br />

als zwölf Tagen pro Jahr auf.<br />

2. Der episodische Kopfschmerz vom Spannungstyp<br />

ist an bis zu 15 Tagen pro Monat<br />

präsent.<br />

3. Der chronische Kopfschmerz vom Spannungstyp<br />

tritt dagegen an mehr als 15 Tagen<br />

pro Monat auf und kann auch als Dauerkopfschmerz<br />

bestehen.<br />

Die <strong>Schmerz</strong>merkmale des Kopfschmerzes<br />

vom Spannungstyp sind beidseitiges Auftreten,<br />

ein drückender beengender Charakter, ein<br />

<strong>Schmerz</strong> von leichter bis mittlerer Intensität,<br />

der nicht durch körperliche Aktivität verstärkt<br />

wird. Übelkeit und Erbrechen treten nicht auf.<br />

Licht- oder Lärmempfindlichkeit können bestehen.<br />

Verstärker<br />

Der Kopfschmerz vom Spannungstyp hat eine<br />

Reihe von verstärkenden Faktoren. Dazu zählen<br />

insbesondere die oromandibuläre Dysfunktion,<br />

psychosozialer Stress, Angst, Depressi-<br />

Zeitdruck ist einer der Auslöser für Spannungskopfschmerz. Eine überlegte Zeitplanung wirkt präventiv und effektiver als nur Analgetika.


© Bildarchiv Urban & Vogel<br />

Der <strong>Deutsche</strong> <strong>Schmerz</strong>- und Palliativtag <strong>2010</strong><br />

on, muskulärer Stress, Medikamentenübergebrauch<br />

sowie weitere Faktoren. Aktuelle Studien<br />

zeigen, dass schwere lebensverändernde<br />

Ereignisse, insbesondere Stress und Traumata,<br />

bei der Entwicklung von chronischen Kopfschmerzen<br />

eine maßgebliche Rolle spielen.<br />

Zusätzliche Risikofaktoren sind Übergewicht,<br />

Kopf- und Nackenverletzungen, Koffeinübergebrauch<br />

sowie Schlafstörungen.<br />

Zu den chronobiologischen Faktoren zählen<br />

zu viel Schlaf, zu wenig Schlaf sowie ein unregelmäßiger<br />

Schlaf. Dazu werden insbesondere<br />

Einschlafstörungen, nächtliches Erwachen, zu<br />

frühes Aufwachen, unausgeruhtes Aufwachen,<br />

Tagesmüdigkeit, Schnarchen, Zuckungen im<br />

Schlaf sowie nächtliches Schwitzen gezählt.<br />

Umweltfaktoren, die den Kopfschmerz vom<br />

Spannungstyp mitbedingen sind helles Licht,<br />

Wetteränderungen sowie große Höhen. Diätetische<br />

Faktoren schließen Hunger und Alkohol<br />

ein. Spezielle Ankündigungssymptome können<br />

beim Kopfschmerz vom Spannungstyp<br />

ebenfalls auftreten. Diese schließen depressive<br />

Symptome, Unruhe, Lichtempfindlichkeit,<br />

Lärmempfindlichkeit, Nackenempfindlichkeit<br />

sowie Kältegefühle ein.<br />

Entstehung und Chronifizierung<br />

Die heutigen wissenschaftlichen Modelle zur<br />

Entstehung des Kopfschmerzes vom Spannungstyp<br />

schließen periphere Mechanismen<br />

und zentrale Mechanismen ein. Zu den peripheren<br />

Mechanismen, die außerhalb des zentralen<br />

Nervensystems entstehen, zählen insbesondere<br />

muskulärer Stress, Gelenkstress<br />

sowie Sehnenstress. Die Folge ist eine Freisetzung<br />

von <strong>Schmerz</strong>stoffen in den Gelenken,<br />

Muskeln und Sehnen der perikranialen Strukturen.<br />

Dies führt zu einer Sensibilisierung dieser<br />

Regionen mit erhöhter <strong>Schmerz</strong>empfind-<br />

lichkeit. Stress, Angst und Depression können<br />

zu einer zentralen Sensitivierung führen. Durch<br />

die Störung der Sinnesfilter aufgrund einer Veränderung<br />

der zirkadianen Rhythmen wird eine<br />

zusätzliche <strong>Schmerz</strong>sensibilisierung bedingt.<br />

Die Folge ist eine Erschöpfung der körpereigenen<br />

<strong>Schmerz</strong>abwehrsysteme. Dies führt zu<br />

einer weiteren zentralen Sensitivierung und<br />

einem sogenannten „Wind-up“.<br />

Im Nervensystem werden Gliazellen aktiviert,<br />

und es werden dort Prostaglandine freigesetzt.<br />

Die <strong>Schmerz</strong>entstehung führt zu einer weiteren<br />

zentralen und peripheren Sensitivierung. So<br />

bildet sich ein komplexes Entstehungsgefüge<br />

für episodischen und bei nicht effektiver Behandlung<br />

für chronischen Kopfschmerz vom<br />

Spannungstyp aus.<br />

Die <strong>Therapie</strong><br />

In der <strong>Therapie</strong> werden diese multiplen Mechanismen<br />

simultan adressiert. Es muss zunächst<br />

eine Selbstbeobachtung erfolgen und ein Kopfschmerztagebuch<br />

geführt werden. Das Schlafverhalten<br />

sowie die Aktivitäten sollten im Tagesverlauf<br />

protokolliert werden. Patienten, die<br />

an Kopfschmerzen vom Spannungstyp leiden,<br />

sollten möglichst keine Schichtarbeiten durchführen.<br />

Die Ernährung sollte regelmäßig gestaltet<br />

werden. Die Mahlzeiten sollten zu festen<br />

Zeiten eingenommen werden. Insbesondere<br />

sollte das Frühstück nicht ausgelassen werden.<br />

Eine kohlenhydratreiche Ernährung ist vorteilhaft.<br />

Langsames Essen und drei Liter pro Tag<br />

Trinken sollte angestrebt werden. Für die Tagesplanung<br />

sollte ein fester Stundenplan angefertigt<br />

und eingehalten werden. Dabei sollten<br />

auch feste Pausen eingeplant werden. Die<br />

wichtigste Regel ist die Regelmäßigkeit. Alles<br />

zu Schnelle, zu Plötzliche und Unvorhergesehene<br />

sollte möglichst vermieden werden.<br />

Regelmäßiger Ausdauersport wie<br />

Schwimmen und Jogging reduzieren<br />

die <strong>Schmerz</strong>empfindlichkeit.<br />

Gleichmäßiger Rhythmus<br />

Ein gleichmäßiger Tag-Nacht-Rhythmus führt<br />

dazu, dass die biologischen Rhythmen intakt<br />

bleiben und damit die körpereigene <strong>Schmerz</strong>abwehr<br />

stabilisiert wird. Ein Entspannungsverfahren<br />

führt ebenfalls zu einer Reduktion der<br />

<strong>Schmerz</strong>sensibilisierung und zur Entspannung<br />

als <strong>Therapie</strong>. Regelmäßiger Ausdauersport,<br />

insbesondere das Laufen, Schwimmen, Radfahren<br />

und Spazierengehen, führt zu einer verbesserten<br />

Sauerstoffversorgung des zentralen<br />

Nervensystems und einer Reduktion der<br />

<strong>Schmerz</strong>empfindlichkeit. Biofeedback kann Anspannung<br />

sichtbar machen und damit direkt<br />

therapeutisch beeinflussen. Gegen physikalische<br />

Einflüsse wie Lärm, Licht, Kälte und Wärme<br />

sollte man sich schützen. Stress sollte vermieden<br />

werden. Patienten sollten das Neinsagen<br />

lernen und übermäßige Arbeitsbelastung<br />

vermeiden. Dazu gehört auch, sich nicht unter<br />

Druck setzen zu lassen und den eigenen Rhythmus<br />

selbst zu bestimmen. Bei der Urlaubsplanung<br />

sollte man versuchen, nicht in den Urlaub<br />

zu hetzen und Vorurlaube einzuplanen. Fernreisen<br />

können selbst wiederum zu Stress und<br />

mangelnder Erholung führen. Regionale Urlaubsziele<br />

können dagegen direkt eine schnelle<br />

Entspannung ermöglichen. Kaffee sollte nur zu<br />

festen Zeiten und limitiert getrunken werden.<br />

Pharmakotherapie nur zeitlich begrenzt<br />

Um das zentrale Nervensystem vor <strong>Schmerz</strong> zu<br />

schützen, sollte bei episodischen <strong>Schmerz</strong>en<br />

ein <strong>Schmerz</strong>mittel eingesetzt werden. Um<br />

einem Kopfschmerz bei Medikamentenübergebrauch<br />

jedoch vorzubeugen, sollten <strong>Schmerz</strong>mittel<br />

maximal an zehn Tagen pro Monat verwendet<br />

werden. <strong>Schmerz</strong>mittelmischpräparate<br />

beinhalten ein erhöhtes Risiko der Chronifizierung<br />

durch Medikamentenübergebrauch und<br />

sollten daher vermieden werden. Geeignete<br />

Analgetika sind Acetylsalicylsäure, Ibuprofen<br />

und Paracetamol. Brausetabletten führen dabei<br />

zu einer schnelleren Resorption und verbesserten<br />

Effektivität. Eine ausreichende Dosierung<br />

sollte berücksichtigt werden. Die Wirkdauer<br />

von Analgetika beträgt typischerweise vier<br />

bis sechs Stunden. Sie können dann gegebenenfalls<br />

erneut eingesetzt werden. Bei unklarer<br />

<strong>Schmerz</strong>ursache und bei mangelnder <strong>Schmerz</strong>linderung<br />

sollte ein Arzt aufgesucht werden.<br />

Damit Zeit heilen kann<br />

Eine überlegte und effektive Zeitplanung ist zur<br />

Vorbeugung und Behandlung von Spannungskopfschmerzen<br />

wesentlich. Zeit nehmen, Zeit<br />

geben, Zeit lassen, in der Zeit leben und die<br />

Zeit heilen lassen sind dabei Kernelemente. ■<br />

Hartmut Göbel, Kiel<br />

SCHMERZTHERAPIE 2/<strong>2010</strong> (26. Jg.)


© Bildarchiv Nolte<br />

SCHMERZTHERAPIE 2/<strong>2010</strong> (26. Jg.)<br />

Der <strong>Deutsche</strong> <strong>Schmerz</strong>preis <strong>2010</strong><br />

Versorgungskonzepte in der <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong><br />

und Palliativmedizin<br />

„Wer sich kein Ziel setzt, wird nach den ersten Schritten müde aufgeben.“ Spätestens<br />

seit dem Jahr 2005 steht die <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong> in der ambulanten Versorgung in<br />

der Krise. Hektisch wechseln seitdem von Jahr zu Jahr die Reformen der Vergütungsstrukturen,<br />

inhaltliche Anpassungen an den veränderten Wissensstand finden nicht<br />

statt. Die Patienten rennen immer öfter zum Arzt, erhalten aber immer dürftigere<br />

Antworten auf ihre Fragen und Bedürfnisse. Einen Ausweg aus diesem Dilemma<br />

bieten die integrierten Versorgungskonzepte in der <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong> und Palliativmedizin,<br />

die Dr. med. Thomas Nolte, <strong>Schmerz</strong>preisträger <strong>2010</strong>, Wiesbaden, vorstellt.<br />

Abb. 1 Typische <strong>Schmerz</strong>verteilung beim Fibromyalgiesyndrom.<br />

S chmerzprobleme<br />

in ihrer bio-psycho-sozialen<br />

Komplexität werden in der Regelversorgung<br />

behandelt wie linear aufgefädelte<br />

Einzelprobleme, die im besten Fall nacheinander<br />

abgearbeitet werden. So verbringen<br />

<strong>Schmerz</strong>patienten oft Monate bis Jahre auf der<br />

Suche nach einer Lösung für ihre <strong>Schmerz</strong>probleme.<br />

Dabei wird das <strong>Schmerz</strong>problem<br />

zum Problem an sich; die Chronifizierung wird<br />

im Versorgungssystem vollendet. So gibt es bis<br />

heute keine koordinierte Behandlungsstrategie<br />

bei den inflationär zunehmenden Fibromyalgiesyndromen<br />

(Abb. 1), die zum Inbegriff der zu<br />

bewältigen Aufgaben in der <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong><br />

geworden sind.<br />

Auch die immer mehr zunehmenden operativen<br />

Eingriffe an der Wirbelsäule belegen,<br />

dass das System die Erbringung von einfachen,<br />

insbesondere technisch orientierten<br />

Leistungen favorisiert. Die Bildgebung leistete<br />

ihr Übriges, die einseitig somatische Orientierung<br />

zu zementieren.<br />

Ein Ausweg aus diesem Dilemma<br />

zeichnete sich im Jahr 2004 mit der Einführung<br />

der integrierten Versorgung<br />

§ 140 a–d SGB V als Experimentierfeld für neue,<br />

Thomas Nolte,<br />

Wiesbaden<br />

insbesondere komplex ausgerichtete Behandlungsstrategien<br />

ab.<br />

Integrierte<br />

Versorgung Rücken<br />

So erarbeitete der Qualitätszirkel <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong><br />

in Wiesbaden im Jahr 2004 ein Konzept<br />

zur integrierten Versorgung bei Rückenschmerzen<br />

(IVR), das dem Problem durch einen<br />

von vornherein interdisziplinären Ansatz<br />

aus <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong>, Physiotherapie und Psychotherapie<br />

gerecht wird: eine multimodale<br />

Teamleistungen als Antwort auf einen komplexes<br />

Problem! In den Verhandlungen mit den<br />

Krankenkassen spielten Kosteneffizienzgesichtspunkte<br />

zur Förderung der Akzeptanz<br />

eine wichtige Rolle: Die Mehrkosten des Behandlungskonzeptes<br />

sollten von vornherein mit<br />

den Einsparungen beim Krankengeldbezug<br />

verrechnet werden. Ob die Idee aufgehen würde,<br />

war zunächst nicht erkennbar, aber sie war<br />

ein Ausdruck des Selbstvertrauens in unserem<br />

Konzept. Anfang 2005 schloss die Techniker<br />

Krankenkasse einen Vertrag mit der GAV-IV,<br />

später dann IMC, über dieses integrierte Versorgungskonzept<br />

ab. In fünf Pilotregionen sollten<br />

Erkenntnisse über die Versorgungsqualität<br />

und Kosteneffizienz dieses Konzeptes gesammelt<br />

werden.<br />

Fundamental neu hierbei war, dass die<br />

Krankenkasse als Zusteuerer fungiert, um einen<br />

Behandlungsbeginn zu einem Zeitpunkt<br />

der drohenden Chronifizierung bei insgesamt<br />

noch guter Prognose zu gewährleisten. Da das<br />

interdisziplinäre Behandlungsteam in einem<br />

Screening die Erfolgsaussichten der Behandlung<br />

beurteilt, wird das Eintreffen der Prognose<br />

einer erfolgreichen Behandlung nach vier<br />

Wochen mit einem Bonus honoriert, wenn der<br />

Patient nach Abschluss der Behandlung über<br />

sechs Monate ununterbrochen arbeitsfähig<br />

bleibt. Im umgekehrten Fall wird ein nicht er-


Der <strong>Deutsche</strong> <strong>Schmerz</strong>preis <strong>2010</strong><br />

folgreicher Abschluss der Behandlung nach<br />

acht Wochen folgerichtig mit einem Malus belegt<br />

(Abb. 2).<br />

Unsere Vermutungen wurden in doppelter<br />

Hinsicht bestätigt. Zum einen sind die Ergebnisse<br />

mit über 80% Wiederherstellung der<br />

Arbeitsfähigkeit nach vier bis acht Wochen<br />

hervorragend und unterstreichen die Bedeutung<br />

des Konzeptes hinsichtlich Aufbau und<br />

Ergebnisqualität als wegweisend für künftige<br />

Strategien in der <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong>. Von den<br />

verschiedenen Parametern der Ergebnisqualität<br />

in der Auswertung seien hier nur exemplarisch<br />

die Auswirkungen der <strong>Therapie</strong> auf<br />

schmerzbedingte Beeinträchtigungen der Teilhabe<br />

an den Aktivitäten des täglichen Lebens<br />

Abb. 3: <strong>Schmerz</strong>bedingte Beeinträchtigungen der Teilhabe an den Aktivitäten des täglichen Lebens (mPDI)<br />

© Bildarchiv Nolte<br />

Relative Häufigkeit in Prozent<br />

45,0<br />

40,0<br />

35,0<br />

30,0<br />

25,0<br />

20,0<br />

15,0<br />

10,0<br />

5,0<br />

0,0<br />

Diagnostisches Screening<br />

Vier Wochen <strong>Therapie</strong><br />

14,2<br />

31,2<br />

36,2<br />

Geeignet<br />

Fünf bis acht Wochen <strong>Therapie</strong><br />

Wieder arbeitsfähig<br />

12,8<br />

21,7<br />

Nicht wieder arbeitsfähig<br />

Anhaltend arbeitsfähig Nicht anhaltend arbeitsfähig<br />

vorgestellt (Abb. 3). Frappierend ist, dass die<br />

Beeinträchtigungen vom Ende der Behandlungsphase<br />

bis zur Reevaluation nach sechs<br />

Monaten – also in einer Zeit, in der in der Regel<br />

keine <strong>Therapie</strong> stattfand – weiter deutlich<br />

abnahmen. Dies unterstreicht den edukatorischen<br />

und emanzipatorischen Ansatz mit<br />

einem nachwirkenden nach Abschluss der<br />

<strong>Therapie</strong>.<br />

Zum anderen wurde die Wirtschaftlichkeit<br />

des Projektes eindeutig dadurch bestätigt,<br />

dass die Reduzierung der Arbeitsunfähigkeitszeiten<br />

mit verringerten Krankengeldzahlungen<br />

ausreicht, um das Konzept zu finanzieren und<br />

der Krankenkasse noch eine Einsparung zu ermöglichen.<br />

So wurden im Schnitt die Patienten<br />

27,8 27,2<br />

Ungeeignet<br />

Wieder arbeitsfähig<br />

19,7<br />

Alternativer<br />

<strong>Therapie</strong>vorschlag<br />

Malus<br />

Nach 4 Wochen <strong>Therapie</strong><br />

über 6 Monate<br />

anhaltend arbeitsfähig<br />

© Bildarchiv Nolte Abb. 2: Konzept zur integrierten Versorgung bei Rückenschmerzen (IVR)<br />

Tab. 1: IV Rücken – Besonderheiten<br />

■ Zusteuerung nach Zeitkriterien durch die KK<br />

■ Konzeptuelle Einheit des <strong>Schmerz</strong>teams<br />

■ Gemeinsames Votum über die<br />

<strong>Therapie</strong>steuerung<br />

■ Lückenlose Dokumentation<br />

■ Ergebnisabhängige Vergütungsanteile<br />

■ Honorar als Komplexpauschale<br />

■ Benchmarking aller <strong>Schmerz</strong>zentren<br />

im IVR-Konzept 70 Tage früher als in der Vergleichsgruppe<br />

gesund.<br />

Dabei erlaubt die Vergütung als Komplexpauschale<br />

eine leistungsgerechte Honorierung<br />

der verschiedenen Berufsgruppen nach Qualifikation<br />

und jeweiligem individuellem Einsatz,<br />

der bei den Patienten durchaus variieren kann.<br />

Eine lückenlose patientenindividuelle Dokumentation<br />

erlaubt durch eine zeitnahe Auswertung<br />

gemeinsam mit dem Patienten während<br />

des <strong>Therapie</strong>programms die <strong>Therapie</strong><br />

anzupassen. Überregional bedeutet dieses<br />

Instrument über die Ergebnisauswertungen ein<br />

Benchmarking aller beteiligten Zentren (Abb.<br />

4, Tab. 1).<br />

Im August 2005 erhielt ich eine Einladung<br />

vom Bundesministerium für Gesundheit und<br />

Soziales zu einem runden Tisch „Qualitätsorientierung<br />

in der Medizin durch integrierte Versorgung“.<br />

Vor einem Kreis von Vertretern aus<br />

Gesundheitspolitik, Ökonomen und Krankenkassenvertretern<br />

hatte ich die Gelegenheit, neben<br />

dem IVR-Konzept auch ein weiteres integriertes<br />

Versorgungskonzept IVP – integrierte<br />

Versorgung für Schwerkranke am Lebensende<br />

– vorzustellen.<br />

5,7<br />

3,5<br />

6,3 0,5<br />

0,0<br />

3,2<br />

0–10 11–20 21–30 31–40 41–50 0–10 11–20 21–30 31–40 41–50 0–10 11–20 21–30 31–40 41–50 0–10 11–20 21–30 31–40 41–50<br />

Screening Nach Woche 4 Nach Woche 8 Nach Monat 6<br />

10 SCHMERZTHERAPIE 2/<strong>2010</strong> (26. Jg.)<br />

25,0<br />

29,7<br />

Bonus<br />

25,0<br />

14,1<br />

45,0<br />

40,0<br />

35,0<br />

30,0<br />

25,0<br />

20,0<br />

15,0<br />

10,0<br />

44,8<br />

23,2<br />

18,6<br />

10,2


© Bildarchiv Nolte<br />

Tab. 2: IV Palliativ – Besonderheiten<br />

■ Erfüllte alle Kriterien für AAPV und SAPV<br />

■ Kostenneutral zur Regelversorgung<br />

■ Tagessatzbasiertes Globalbudget (Capitation)<br />

als Komplexpauschale<br />

■ Sektorale Versorgung komplett aufgehoben<br />

■ Volle Budgetverantwortung<br />

■ Solidarische Leistungserbringung<br />

(Commitment)<br />

■ Keine Leistungsverschiebungen in andere<br />

Sektoren<br />

Integrierte Versorgung Palliativmedizin<br />

Als Ergebnis der Gesprächsrunde in Berlin<br />

nahm ich den Auftrag mit, in Wiesbaden ein<br />

integriertes Versorgungskonzept für Palliativpatienten<br />

zu entwickeln, das später dann auch<br />

in Fulda umgesetzt wurde. Nach nur sechs Monaten<br />

der Verhandlungen war das Konzept<br />

unterschriftsreif und wurde im Februar 2006 in<br />

einer Landespressekonferenz, angeführt von<br />

Frau Lautenschläger, der damaligen hessischen<br />

Sozialministerin, der Öffentlichkeit<br />

vorgestellt. Vertragspartner waren die Techniker<br />

Krankenkasse, der nur sechs Monate später<br />

der Landesverband der Betriebskrankenkassen<br />

beitrat.<br />

Der Grundgedanke des Palliativkonzeptes,<br />

der es für die Krankenkassen interessant<br />

machte, waren ähnlich zu IVR, Kosteneinsparungen<br />

beziehungsweise Kostenneutralität zur<br />

Behandlungsstatus<br />

Abb. 4 Gesamtübersicht über das IVR-Projekt (Ergebnisqualität).<br />

SCHMERZTHERAPIE 2/<strong>2010</strong> (26. Jg.)<br />

Tab. 3: SAPV – Besonderheiten in Hessen<br />

■ Alle Kassen sind eingebunden<br />

■ Bereits 18 Teams im Einsatz<br />

■ Teamleistung Palliative Care<br />

■ Tagessatzbasierte Komplexpauschale, keine<br />

Budgetverantwortung<br />

■ Solidarische Leistungserbringung<br />

(Commitment)<br />

■ Teaminterne Honorargerechtigkeit<br />

■ Benchmarking möglich<br />

■ Kostenneutral zur Regelversorgung?<br />

Regelversorgung mit einer Verbesserung der<br />

Versorgungssituation der betroffenen Patienten<br />

(Tab. 2). Das Konzept erfüllte von Anfang an alle<br />

Voraussetzungen zur allgemeinen wie auch<br />

speziellen ambulanten Palliativversorgung.<br />

Der Patient wurde mit Einschreibung unter<br />

Aufhebung aller sektoralen Beschränkungen<br />

in das palliative Versorgungsnetz aufgenommen.<br />

Finanzierungsgrundlage war eine tagesbasierte<br />

Komplexpauschale, auch ähnlich dem<br />

IVR-Programm, die alle Kosten wie die ambulante<br />

Versorgung, eventuell stationäre Behandlungen,<br />

alle Medikamente, Transporte und<br />

stationären Hospizbehandlungen beinhaltete.<br />

Diese volle Budgetverantwortung verpflichtete<br />

alle im palliativen Netzwerk agierenden Leistungserbringer<br />

zu einer solidarischen und effizienten<br />

Leistungserbringung. Die Ergebnisse<br />

waren beeindruckend: Über 90 % der Patienten<br />

S nur Screening, keine Aufnahme<br />

SO bisher nur Screening erfolgt<br />

A1 erfolgreicher Abschluss in Phase A<br />

A2 vorzeitiger Abbruch in Phase A<br />

B1 erfolgreicher Abschluss in Phase B<br />

B2 vorzeitiger Abbruch in Phase B<br />

B3 erfolgloser Abschluss in Phase B<br />

Der <strong>Deutsche</strong> <strong>Schmerz</strong>preis <strong>2010</strong><br />

starben ihren Vorstellungen gemäß zu Hause.<br />

Getragen von dem palliativen Netzwerk mit<br />

ständiger Ruf- und Einsatzbereitschaft stehen<br />

die Patienten und ihre Angehörigen im<br />

Mittelpunkt der Versorgung. Die Komplexpauschale,<br />

berechnet nach den Ausgaben in der<br />

Regelversorgung, gab der Krankenkasse die<br />

Gewissheit, mit bestmöglicher Qualität ihre<br />

Patienten optimal versorgt zu wissen: ein weiteres<br />

Beispiel für eine gelungene „Quadratur<br />

des Kreises“!<br />

Spezialisierte ambulante<br />

Palliativversorgung<br />

Die Erfahrungen aus dem Palliativprojekt IVP<br />

sind in die Verhandlungen mit den Krankenkassen<br />

in Hessen eingeflossen (Tab. 3). Es war uns<br />

gelungen, mit allen hessischen Palliativzentren<br />

eine Verhandlungsdelegation zu formieren, die<br />

geschlossen über sechs Monate mit klaren Vorstellungen<br />

die Verhandlungen führte. Wesentliche<br />

Elemente des IVP-Konzeptes flossen in<br />

die Ausgestaltung des SAPV-Vertrages ein.<br />

Wenn auch die Budgetverantwortung nicht<br />

durchsetzbar war, so konnten wir doch in den<br />

Verhandlungen erreichen, dass wir über eine<br />

berufsübergreifende Komplexpauschale, die<br />

die Koordination, die Teil- wie auch Vollversorgung<br />

beinhaltet, bezahlt werden. Dadurch waren<br />

die Honorargerechtigkeit, die im Team hergestellt<br />

wird, und die solidarische Leistungserbringung<br />

für eine bestmögliche Qualität und<br />

Kosteneffizienz weitgehend garantiert.<br />

C1 anhaltender Behandlungserfolg in Phase C<br />

C2 erneute Arbeitsunfähigkeit in Phase C<br />

C3 bonusfähig (A1 & C1)<br />

Patienten S S0 A–C A1 A2 B1 B2 B3 A2 & B2 A1 & B1 C1 & C2 C1 C2 C3<br />

n % n % 1 n % 1 n % 1 n % 4 n % 4 n % 4 n % 4 n % 4 n % 4 n % 4 n % 11 n % 12 n % 12 n % 13<br />

alle Zentren 2837 100,0 682 24,0 118 4,2 1 01 67,0 72 51,1 110 5,8 644 33, 51 2,7 124 6,5 161 8,5 1616 85,0 1005 62,2 847 84,3 158 15,7 533 86,8<br />

IV722 4 13 100,0 2 15,4 2 15,4 8 61,5 0 0,0 1 12,5 6 75,0 0 0,0 1 12,5 1 12,5 6 75,0 1 16,7 1 100,0 0 0,0 0 0,0<br />

IV 1621 8 100,0 0 0,0 0 0,0 6 75,0 2 33,3 0 0,0 1 16,7 0 0,0 3 50,0 0 0,0 3 50,0 3 100,0 1 33,3 2 66,7 1 50,0<br />

IV85 10 35 100,0 6 16,7 0 0,0 2 80,6 25 86,2 0 0,0 4 13,8 0 0,0 0 0,0 0 0,0 2 100,0 14 48,3 14 100,0 0 0,0 12 100,0<br />

IV8 808 14 100,0 5 35,7 0 0,0 7 50,0 3 42, 2 28,6 0 0,0 1 14,3 1 14,3 3 42, 3 42, 0 0,0 0 0,0 0 0,0 0 0,0<br />

IV6717 103 100,0 3 2, 6 5,8 0 87,4 56 62,2 4 4,4 1 21,1 2 2,2 10,0 6 6,7 75 83,3 47 62,7 43 1,5 4 8,5 32 88,<br />

IV38466 478 100,0 8 20,5 12 2,5 352 73,6 235 66,8 2,6 84 23, 2 0,6 22 6,3 11 3,1 31 0,6 247 77,4 203 82,2 44 17,8 145 81,1<br />

IV37 06 13 100,0 8 61,5 4 30,8 1 7,7 1 100,0 0 0,0 0 0,0 0 0,0 0 0,0 0 0,0 1 100,0 0 0,0 0 0,0 0 0,0 0 0,0<br />

IV2 672 5 100,0 3 60,0 0 0,0 1 20,0 0 0,0 0 0,0 1 100,0 0 0,0 0 0,0 0 0,0 1 100,0 0 0,0 0 0,0 0 0,0 0 0,0<br />

IV0101 1 100,0 0 0,0 1 100,0 0 0,0 0 0,0 0 0,0 0 0,0 0 0,0 0 0,0 0 0,0 0 0,0 0 0,0 0 0,0 0 0,0 0 0,0<br />

IV 0846 117 100,0 26 22,2 6 5,1 82 70,1 5 72,0 2 2,4 1 23,2 1 1,2 1 1,2 3 3,7 78 5,1 45 57,7 3 86,7 6 13,3 33 1,7<br />

IV58475 11 100,0 3 27,3 2 18,2 5 45,5 0 0,0 3 60,0 1 20,0 0 0,0 1 20,0 3 60,0 1 20,0 1 100,0 1 100,0 0 0,0 0 0,0<br />

IV171 8 8 100,0 2 25,0 0 0,0 6 75,0 1 16,7 0 0,0 3 50,0 0 0,0 2 33,3 0 0,0 4 66,7 0 0,0 0 0,0 0 0,0 0 0,0<br />

IV67521 46 100,0 13 28,3 2 4,3 32 6 ,6 20 62,5 3 ,4 5 15,5 3 ,4 1 3,1 6 18,8 25 78,1 1 76,0 18 4,7 1 5,3 14 3,3<br />

IV06223 115 100,0 22 1 ,1 6 5,2 82 71,3 48 58,5 2 2,4 28 34,1 0 0,0 4 4, 2 2,4 76 2,7 36 47,4 33 1,7 3 8,3 22 1,7<br />

IV84733 46 100,0 18 3 ,1 0 0,0 27 58,7 20 74,1 0 0,0 6 22,2 0 0,0 1 3,7 0 0,0 26 6,3 20 76, 1 5,0 1 5,0 16 4,1<br />

IV68802 130 100,0 31 23,8 1 0,8 7 74,6 33 34,0 1 1,0 61 62, 0 0,0 2 2,1 1 1,0 4 6, 86 1,5 74 86,0 12 14,0 30 6,8<br />

IV746 100 100,0 24 24,0 4 4,0 64 64,0 21 32,8 4 6,3 21 32,8 7 10, 11 17,2 11 17,2 42 65,6 12 28,6 75,0 3 25,0 4 80,0<br />

IV0 468 16 100,0 7 43,8 2 12,5 7 43,8 4 57,1 1 14,3 2 28,6 0 0,0 0 0,0 1 14,3 6 85,7 3 50,0 2 66,7 1 33,3 1 50,0<br />

IV842 3 100,0 1 11,1 1 11,1 7 77,8 5 71,4 0 0,0 2 28,6 0 0,0 0 0,0 0 0,0 7 100,0 3 42, 2 66,7 1 33,3 1 100,0<br />

IV2 244 32 100,0 1 3,1 2 6,3 26 81,3 15 57,7 0 0,0 11 42,3 0 0,0 0 0,0 0 0,0 26 100,0 1 3,8 1 100,0 0 0,0 1 100,0<br />

IV43118 131 100,0 11 8,4 4 3,1 111 84,7 66 5 ,5 4 3,6 36 32,4 0 0,0 5 4,5 4 3,6 102 1, 74 72,5 55 74,3 1 25,7 38 84,4<br />

IV51573 205 100,0 2 44, 3 1,5 110 53,7 43 3 ,1 6 5,5 53 48,2 2 1,8 6 5,5 8 7,3 6 87,3 73 76,0 55 75,3 18 24,7 27 84,4<br />

IV2562 250 100,0 32 12,8 10 4,0 143 57,2 76 53,1 12 8,4 42 2 ,4 5 3,5 8 5,6 17 11, 118 82,5 78 66,1 66 84,6 12 15,4 47 88,7<br />

IV58383 142 100,0 61 43,0 2 1,4 81 57,0 33 40,7 11,1 27 33,3 7 8,6 5 6,2 16 1 ,8 60 74,1 37 61,7 32 86,5 5 13,5 24 88,<br />

IV6 03 5 100,0 3 60,0 1 20,0 1 20,0 1 100,0 0 0,0 0 0,0 0 0,0 0 0,0 0 0,0 1 100,0 0 0,0 0 0,0 0 0,0 0 0,0<br />

11


Der <strong>Deutsche</strong> <strong>Schmerz</strong>preis <strong>2010</strong><br />

Es liegen jetzt die ersten Auswertungen<br />

vom Zentrum für ambulante Palliativversorgung<br />

aus Wiesbaden vor, die ich in einem<br />

eigenen Artikel in dieser Zeitschrift vorstelle<br />

(S. 24). In Zukunft ist es auch möglich, unter<br />

einheitlichen Auswertungskriterien einen Vergleich<br />

der verschiedenen Zentren in Hessen<br />

herzustellen.<br />

Ausblick<br />

Die demografischen Veränderungen bringen<br />

zunehmende finanzielle Belastungen für die<br />

Arbeitstätigen zur Finanzierung der Solidarsysteme<br />

mit sich. Dies erfordert eine Umorientierung<br />

der Gesundheitssysteme in Richtung<br />

einer maximalen Förderung, des Erhalts und<br />

der Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit.<br />

Das IVR-Konzept trägt dem Rechnung, weist<br />

aber durch die hervorragenden Ergebnisse<br />

auch auf die Defizite in der Regelversorgung<br />

hin.<br />

Die Palliativversorgung wird für die Kostenträger<br />

ihren Schrecken verlieren, wenn weitere<br />

Versorgungsdaten von Palliative-Care-Teams<br />

auch aus anderen Regionen vorliegen. Auch<br />

hier gelingt eine ethisch absolut notwendige<br />

und unverzichtbare Neuausrichtung unseres<br />

Gesundheitssystems durch Umorientierung<br />

der <strong>Therapie</strong> von einem teuren High-Tech-Ansatz<br />

zu einem intensiven High-Care-Ansatz,<br />

ganz im Sinne der Betroffenen!<br />

Dazu bedarf es allerdings einer Fortführung<br />

der bisher eingeleiteten Reformen. In der<br />

<strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong> warten wir seit 1994 auf die<br />

Einführung der allgemeinen <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong>.<br />

Wäre dieser Mangel behoben, würde sich die<br />

Basisversorgung von Patienten mit <strong>Schmerz</strong>en<br />

<strong>Deutsche</strong>r <strong>Schmerz</strong>preis <strong>2010</strong><br />

<strong>Deutsche</strong>r <strong>Schmerz</strong>preis für Dr. med.<br />

Thomas Nolte, Wiesbaden<br />

Dr. med. Thomas Nolte wurde auf dem<br />

<strong>Deutsche</strong>n <strong>Schmerz</strong>- und Palliativtag in Frankfurt/M.<br />

mit dem DEUTSCHEN SCHMERZPREIS –<br />

<strong>Deutsche</strong>r Förderpreis für <strong>Schmerz</strong>forschung und<br />

<strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong> <strong>2010</strong> ausgezeichnet.<br />

Der mit 10.000 Euro dotierte Preis wird jährlich an<br />

Persönlichkeiten oder Organisationen verliehen, die<br />

sich durch wissenschaftliche Arbeiten über Diagnostik<br />

und <strong>Therapie</strong> akuter und chronischer<br />

<strong>Schmerz</strong>zustände verdient gemacht oder die durch<br />

ihre Arbeit oder ihr öffentliches Wirken entscheidend<br />

zum Verständnis des Problemkreises <strong>Schmerz</strong><br />

und den davon betroffenen Personen beigetragen<br />

haben.<br />

Der wissenschaftliche Träger des <strong>Schmerz</strong>preises ist<br />

die <strong>Deutsche</strong> Gesellschaft für <strong>Schmerz</strong>therpie e.V.<br />

Tab. 4: Zukunftsfähige Versorgungskonzepte<br />

beinhalten<br />

■ Gewinn an Versorgungsqualität<br />

■ Mindestens kostenneutral zur Regel-<br />

versorgung<br />

■ Definierte Zusteuerungskriterien<br />

■ Zentrale Bedeutung des therapeutischen<br />

Teams<br />

■ Komplexpauschale<br />

■ Qualitäts- und ergebnisorientierte<br />

Honoraranteile<br />

■ Solidarische Leistungserbringung<br />

(Commitment)<br />

■ Benchmarking der <strong>Schmerz</strong>- und Palliativ-<br />

zentren<br />

deutlich verbessern. Durch definierte Zusteuerungskriterien<br />

in spezialisierte schmerztherapeutische<br />

Einrichtungen würden darüber hinaus<br />

unumkehrbare Chronifizierungsprozesse<br />

durch eine abgestufte zeitgerechte Versorgung<br />

von <strong>Schmerz</strong>patienten abgewendet.<br />

Die Fehler in der <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong> werden<br />

gerade in der Palliativmedizin wiederholt. Die<br />

Basisversorgung von Palliativpatienten in der<br />

Regelversorgung ist mit der Einführung der<br />

SAPV schlichtweg vergessen worden. Die<br />

Bemühungen um Nachbesserungen werden<br />

so lange nicht fruchten, wie die Zuständigkeit<br />

für die Finanzierung zwischen Krankenkassen<br />

und kassenärztlichen Vereinigungen nicht geklärt<br />

ist.<br />

Zusammenfassung<br />

In der <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong> und Palliativmedizin ist<br />

Gestiftet wird der Preis von der Firma<br />

Mundipharma GmbH & Co. KG,<br />

Limburg. Seit 1996 bemüht sich der<br />

langjährige Vizepräsident der<br />

<strong>Deutsche</strong>n Gesellschaft für <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong><br />

e.V. insbesondere um die interdisziplinäre<br />

Versorgung Schwerstkranker.<br />

In der Urkunde steht: „In<br />

dieser Zeit hat er nicht nur – lange<br />

bevor dies politischer Mainstream<br />

war – die palliativmedizinische Versorgung<br />

durch Netzwerkbildung<br />

bahnbrechend vorangebracht, gleichzeitig<br />

neue Versorgungsmodelle<br />

über integrierte Versorgungsverträge<br />

etabliert und durch seine Fortbildungsarbeit<br />

in diesem Bereich ein Curriculum Palliativmedizin<br />

und Hospizarbeit entwickelt.“ Darüber<br />

hinaus schuf Nolte den ersten multimodalen, um­<br />

Thomas Nolte erhält den<br />

<strong>Deutsche</strong>n <strong>Schmerz</strong>preis.<br />

die Priorisierungsdebatte so lange verfrüht,<br />

wie die Effizienzreserven (Verhältnis zwischen<br />

Aufwand und Nutzen) im System nicht ausgeschöpft<br />

sind! Die bis heute anhaltenden Debatten<br />

über die Einführung der SAPV in die Regelversorgung<br />

haben gezeigt, dass ethische Gesichtspunkte<br />

die Krankenkassenvertreter nicht<br />

beflügeln, Innovationen und therapeutische<br />

Notwendigkeiten in die Behandlung einzuführen.<br />

Nur durch den Druck der Gesundheitspolitik<br />

sind die Verhandlungen immer noch in<br />

Gang. Allein ökonomische Gesichtspunkte<br />

sind, insbesondere unter dem Eindruck des<br />

zunehmenden Wettbewerbs der Krankenkassen<br />

untereinander und den knapper werdenden<br />

finanziellen Ressourcen, bereits jetzt und noch<br />

mehr in der Zukunft für die Einführung neuer<br />

Konzepte entscheidend.<br />

Im Mittelpunkt der Konzepte für <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong><br />

und Palliativmedizin steht die Teamleistung<br />

aus <strong>Schmerz</strong>therapeuten, Palliativmedizinern,<br />

speziell geschulten Pflegekräften,<br />

Physiotherapeuten, Psychologen und Psychotherapeuten,<br />

egal ob im stationären oder ambulanten<br />

Bereich. Die Vergütung wird abgelöst<br />

durch eine Komplexpauschale und verpflichtet<br />

das therapeutische Team auf eine solidarische<br />

Leistungserbringung für eine bestmögliche Ergebnisqualität.<br />

Diese wird gefördert durch qualitäts-<br />

und ergebnisorientierte Honoraranteile.<br />

Ein Benchmarking erlaubt den verschiedenen<br />

Zentren eine Orientierung über ihre Ergebnisse<br />

und verschafft zusätzliche Motivation<br />

(Tab. 4).<br />

Die Zukunft hat schon begonnen, wir dürfen<br />

nur nicht auf dem langen Weg dorthin ermüden<br />

… ■<br />

fassenden Integrationsvertrag zur Versorgung von<br />

Rückenschmerzpatienten. Für dieses Konzept<br />

wurde er bereits 2008 von der Financial Times<br />

Deutschland zum Preisträger gekürt.<br />

12 SCHMERZTHERAPIE 2/<strong>2010</strong> (26. Jg.)<br />

© Photo Grysa


Implantation eines intrathekalen Portsystems<br />

zur palliativen <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong><br />

Versagt bei malignombedingten <strong>Schmerz</strong>en eine orale analgetische und koanalgetische<br />

<strong>Therapie</strong>, ist es sinnvoll, eine intrathekale Opioidtherapie zu testen, um eine<br />

suffiziente Analgesie zu erreichen und die Lebensqualität zu erhalten bzw. wiederherzustellen.<br />

Ambulant kann durch eine entsprechende Betreuung eine kontinuierliche<br />

Opioidinfusion auch mittels eines Portsystems mit externer Pumpe erfolgen,<br />

schildern Dr. med. Ute Mückshoff und Dr. med. Thomas Cegla aus der <strong>Schmerz</strong>ambulanz<br />

Wuppertal anhand einer Patientin mit Mammakarzinom.<br />

Anamnese und Befund<br />

Bei einer 67-jährigen Patientin wurde vor 23<br />

Jahren erstmals ein linksseitiges Mammakarzinom<br />

diagnostiziert und mittels Ablatio mammae<br />

und axillärer Lymphadenektomie behandelt.<br />

Nachfolgend sind Rezidive in der Axilla<br />

aufgetreten, die einmalig operativ, zweimalig<br />

mit Radiatio und zuletzt mit einer Chemotherapie<br />

therapiert wurden.<br />

Wann genau die Läsion des Nervenplexus<br />

auftrat, ließ sich retrospektiv nicht mehr exakt<br />

rekonstruieren. Die Patientin beschreibt bei<br />

der Aufnahme eine seit sechs Jahren bestehende<br />

intermittierende Taubheit des linken<br />

Armes, eine seit etwa sieben Monaten bestehende<br />

komplette Plegie des linken Armes mit<br />

Ödemneigung sowie einen Dauerschmerz mit<br />

<strong>Schmerz</strong>attacken. Der <strong>Schmerz</strong> zöge von der<br />

linken Schulter über den gesamten Arm in die<br />

Hand bis in alle Finger. Der Dauerschmerz<br />

wird bei der Aufnahme auf der numerischen<br />

Analogskala mit einer Intensität von NAS 6,<br />

der Attackenschmerz mit einer Intensität von<br />

NAS 10 angegeben. Die <strong>Schmerz</strong>qualität wird<br />

als brennend, stechend, klopfend „wie 1000<br />

Nägel“ empfunden.<br />

Medikamentös war die Patientin bereits gemäß<br />

WHO-Stufe 3 mit Bedarfsmedikation sowie<br />

mit hoch dosiertem Pregabalin, Duloxetin,<br />

Ketamin und Lorazepam eingestellt. Dadurch<br />

konnte der <strong>Schmerz</strong> jedoch nicht abgedeckt<br />

werden. Die Lebensqualität der Patientin<br />

wurde durch die dauerhaften <strong>Schmerz</strong>en und<br />

insbesondere durch extreme <strong>Schmerz</strong>attacken<br />

massivst eingeschränkt. Schlafen könne<br />

sie nur noch im Sitzen, das Gangbild ist stark<br />

vornübergebeugt. Stellatumblockaden und<br />

interskalenäre Plexus-brachialis-Blockaden,<br />

die in der Vergangenheit durchgeführt worden<br />

waren, konnten den <strong>Schmerz</strong> nicht wesentlich<br />

beeinflussen.<br />

SCHMERZTHERAPIE 2/<strong>2010</strong> (26. Jg.)<br />

Schwierige <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong><br />

Bei dieser Vorgeschichte gestaltete sich die<br />

<strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong> schwierig, zumal die Patientin<br />

bereits in einer auswärtigen <strong>Schmerz</strong>klinik<br />

behandelt wurde und linksseitige Stellatumblockaden<br />

sowie ein interskalenär angelegter<br />

Plexuskatheter mit Ropivacain-Dauerinfusion<br />

keine anhaltende <strong>Schmerz</strong>linderung erbrachten.<br />

Wir hielten Rückspache mit dem heimatnah<br />

behandelnden Onkologen. Dieser beschrieb<br />

eine palliative Situation, da im CT eine linksseitige<br />

axilläre Gewebevermehrung mit tendenzieller<br />

Größenzunahme Nervengewebe<br />

ummauere. Dabei sei von Tumorgewebe auszugehen.<br />

Eine Amputation des Armes sei der<br />

Patientin bereits angeraten.<br />

Nach neuerlicher Anlage eines interskalenären<br />

Plexuskatheters, der nur eine unbefriedigende<br />

Analgesie erzielte, entschieden wir<br />

uns zur intrathekalen Opioidgabe. In Kurznarkose<br />

wurden ein intrathekaler Katheter und –<br />

aufgrund der Palliativsituation – ein subkutaner<br />

Port implantiert. Über eine Portnadel erfolgte<br />

die Infusion von intrathekalem Morphin.<br />

Nach einigen Tagen der Dosisanpassung<br />

konnte eine stabile Situation mit NAS-Werten<br />

zwischen 0–4 geschaffen werden. Die<br />

Frequenz, die Intensität und die Dauer der<br />

<strong>Schmerz</strong>attacken konnte suffizient gemindert<br />

werden, die zuletzt maximal einmal täglich auftretende<br />

leichte <strong>Schmerz</strong>attacke konnte durch<br />

die Gabe von nicht retardiertem Morphin in<br />

flüssiger Form kupiert werden. Die Patientin<br />

selbst erfuhr durch diese Maßnahme eine erhebliche<br />

Steigerung der Lebensqualität.<br />

Über eine überregional tätige Apotheke<br />

konnte ein Pflegedienst zur Versorgung des<br />

intrathekalen Portsystems organisiert werden,<br />

die Kontaktaufnahme fand schon im Rahmen<br />

des stationären Aufenthaltes statt, sodass die<br />

Thomas Cegla,<br />

Wuppertal<br />

Der besondere Fall<br />

Ute Mückshoff,<br />

Wuppertal<br />

Überleitung in die häusliche Umgebung gut<br />

gelang. Nach der Entlassung wurde in Rücksprache<br />

mit unserer Klinik eine weitere Dosisanpassung<br />

erforderlich. Nachfolgend konnte<br />

eine stabile <strong>Schmerz</strong>situation bei guter Lebensqualität<br />

erreicht werden.<br />

Zusammenfassung und Diskussion<br />

Bei einer 67-jährigen Patientin mit Mammakarzinom<br />

traten Rezidive im Bereich der Axilla<br />

auf, die operativ, chemotherapeutisch und<br />

strahlentherapeutisch behandelt wurden. Im<br />

Verlauf entwickelte sich, vermutlich durch eine<br />

Größenzunahme der verbliebenen Tumormasse,<br />

eine Läsion des linken Plexus brachialis,<br />

die mit einer kompletten Parese des Armes<br />

und einem neuropathischem <strong>Schmerz</strong>syndrom<br />

einherging. Durch die anhaltenden<br />

<strong>Schmerz</strong>en und insbesondere durch die heftigen<br />

einschießenden <strong>Schmerz</strong>attacken wurde<br />

die Lebensqualität der Patientin massivst beeinträchtigt.<br />

Eine hoch dosierte medikamentöse<br />

<strong>Therapie</strong> WHO-Stufe III in Kombination<br />

mit hoch dosierten Koanalgetika und auch<br />

invasive Verfahren in Form von Nervenblockaden<br />

konnten keine zufriedenstellende Analgesiesituation<br />

herstellen. Durch die intrathekale<br />

Morphinapplikation konnte eine gute <strong>Schmerz</strong>beeinflussung<br />

erzielt werden. Sowohl der Dauerschmerz<br />

als auch die <strong>Schmerz</strong>attacken<br />

wurden gelindert, sodass die Lebensqualität<br />

der Patientin erheblich gesteigert werden<br />

konnte. Die begleitete Überleitung vom stationären<br />

Setting in die häusliche Umgebung mit<br />

einem entsprechend geschulten Pflegedienst<br />

war wichtig, um Ängste aufseiten der Patientin<br />

zu vermeiden und somit das Behandlungsergebnis<br />

zu erhalten. ■<br />

Thomas Cegla und Ute Mückshoff,<br />

Wuppertal<br />

13


© Virginie CASTOR/fotolia.com<br />

Biometrie<br />

Metaanalysen klinischer Studien –<br />

Stein der Weisen oder des Anstoßes?<br />

Metaanalysen können schnell missbräuchlich als pseudowissenschaftliches<br />

Instrument zur Rationalisierung angewendet werden und zu völlig irrationalen<br />

<strong>Therapie</strong>empfehlungen führen. Die Tücken dieser modernen Methode, die auch<br />

bei der LONTS-S3-Leitlinie zum Einsatz kam, erläutert Priv.-Doz. Dr. med. Michael<br />

A. Überall, Vizepräsident der DGS, Institut für Neurowissenschaften, Nürnberg,<br />

und appelliert an alle <strong>Schmerz</strong>therapeuten, diese Metaanalysen stets kritisch zu<br />

hinterfragen.<br />

1 976<br />

wurde von dem amerikanischen Psychologen<br />

Gene V. Glass in seinem Artikel<br />

„Primary, Secondary and Meta-Analysis of Research“<br />

ein neues methodologisches Prinzip<br />

zur Bewertung medizinischer Verfahren eingeführt,<br />

das sich im Rahmen der Bestrebungen<br />

zur Vereinheitlichung bzw. Normierung therapeutischer<br />

Verfahren innerhalb der evidenzbasierten<br />

Medizin (EbM) rasch weltweit etablierte<br />

und von denen, die es betrifft – die es jedoch<br />

in aller Regel nicht wirklich verstanden haben –<br />

mit erstaunlicher Naivität verherrlicht wird: die<br />

sogenannte Metaanalyse.<br />

Der Tanz um das goldene Kalb der<br />

Medizin<br />

Die Auswirkungen dieses neuen Götzen und<br />

seiner jüngsten Derivate (der sogenannten S3-<br />

Leitlinien) für die – meist erstattungsrelevante –<br />

Bewertung therapeutischer Verfahren sind fatal:<br />

Was in Metaanalysen nicht gut abschneidet,<br />

hat wenig Aussicht auf Erfolg. Was nicht<br />

die Voraussetzungen zur Berechnung einer<br />

Metaanalyse bietet, dem wird grundsätzlich<br />

eine fehlende Wirksamkeit bescheinigt. Wer<br />

erfolgreich verordnet, was in Metaanalysen<br />

nicht erfolgreich bewertet wird, dem werden<br />

Fehlverordnung und Unwirtschaftlichkeit unterstellt,<br />

dem drohen seitens der „hohen Priester<br />

der neuen EbM-Religion“ und ihrer ausführenden<br />

Organe öffentliche Diskreditierungen, Regresse<br />

und wirtschaftliche Restriktionen bis<br />

hin zum privaten finanziellen Ruin.<br />

Von Ketzern und Gläubigen<br />

Kein Wunder also, dass das Kollektiv derer, die<br />

angesichts derart harscher Methoden zwangsgläubig<br />

werden oder konvertieren, kontinuierlich<br />

ansteigt. Wer möchte schon auf dem Altar der<br />

neuen Glaubensrichtung geopfert werden, wenn<br />

es doch so einfach ist, sich zu dem neuen „EbM-<br />

Glauben“ zu bekennen? Und überhaupt: Was<br />

sollte denn an dieser neuen Glaubensrichtung<br />

falsch sein, wo sie doch so einfach ist und so<br />

Michael Überall,<br />

Nürnberg<br />

pragmatisch? Wo selbst die medizinisch Ahnungslosen<br />

auf der Grundlage von einigen<br />

wenigen Zahlen und ein paar übersichtlichen<br />

Diagrammen in die Lage versetzt werden, zwischen<br />

Gut und Böse, Richtig und Falsch zu<br />

unterscheiden.<br />

Und genau das ist der Fluch des Pragmatismus:<br />

diese verlockende Verführung, die machen,<br />

handeln und rechnen können mit sich<br />

bringt; ganz egal was das, was dabei rauskommt,<br />

bedeutet, ganz egal ob es begründet<br />

ist oder gerechtfertigt.<br />

Wie durch ein Wunder!<br />

Und plötzlich stehen dann irgendwie und irgendwann<br />

irgendwelche Zahlen im Raum, deren<br />

Herkunft nicht so ganz klar ist, die auch<br />

von niemandem mehr hinterfragt werden und<br />

die plötzlich ein ganz fatales Eigenleben entfalten.<br />

Ganz so, als ob die medizinische Versorgung<br />

unterschiedlichster Erkrankungen einem<br />

mathematischen Problem gleiche, für das es<br />

eine eindeutige Lösung geben muss, so wie es<br />

sie für mathematische Probleme eben immer<br />

gibt. Fast so, als ließen sich Krankheiten und<br />

<strong>Therapie</strong>n nach Art eines Heureka-Erlebnisses<br />

entschlüsseln, bei dem ein einzelner Zahlenwert<br />

einen erregenden Augenblick lang vor<br />

unserem geistigen Auge erscheint und alle<br />

Fragen zweifelsfrei beantwortet.<br />

42 – oder was?<br />

Ein wenig erinnert das Ganze an eine absurde<br />

Idee von Douglas Adams, der in seinem sarkastischen<br />

Science-Fiction-Roman „Per Anhalter<br />

durch die Galaxis“ unter anderem einen<br />

Computer namens Deep Thought beschreibt,<br />

der die letztgültige Antwort auf die Frage nach<br />

dem Universum errechnen soll, dafür siebeneinhalb<br />

Millionen Jahre braucht und schließlich<br />

als Antwort „42“ ausgibt, woraufhin ein<br />

noch größerer Computer gebaut werden muss,<br />

der herausfinden soll, was denn eigentlich die<br />

14 SCHMERZTHERAPIE 2/<strong>2010</strong> (26. Jg.)


Frage war. Amüsant an der „42“ von Deep<br />

Thought ist nicht nur die falsche Tiefgründigkeit<br />

der Antwort, amüsant ist vielmehr auch<br />

die absurde Vorstellung, dass nur die Antwort<br />

und nicht der ihr zugrunde liegende Entscheidungsprozess<br />

für die Bewohner der von<br />

Adams beschriebenen Galaxis eine Rolle<br />

spielen könnte – analog zu der Tatsache, dass<br />

die Ergebnisse medizinischer Metaanalysen<br />

von Ärzten in aller Regel willfährig hingenommen<br />

werden, ohne auch nur jemals kritisch<br />

hinterfragt zu werden.<br />

Fluch oder Segen?<br />

Metaanalysen haben zum Ziel, die empirischen<br />

Befunde mehrerer voneinander unabhängiger<br />

Untersuchungen zu einer bestimmten<br />

Problemstellung zu untersuchen, um Wissenschaftler<br />

bei der Informationsintegration<br />

und Praktiker bei der Entscheidungsfindung<br />

zu unterstützen. Dementsprechend sind Metaanalysen<br />

und die auf metaanalytischen Verfahren<br />

beruhenden S3-Leitlinien – so sie korrekt<br />

erstellt, interpretiert und genutzt werden –<br />

durchaus sinnvolle und für die praktische Arbeit<br />

am Patienten hilfreiche Instrumente. Zur<br />

Qual permutieren sie erst bei fehlerhafter Erstellung<br />

(weshalb auch jede noch so hochrangig<br />

publizierte Metaanalyse kritisch gelesen<br />

werden muss), durch missbräuchliche Anwendung<br />

als pseudowissenschaftliches Instrument<br />

zur Rationalisierung ökonomisch notwendig<br />

gewordener Kostensenkungsmaßnahmen<br />

(das gegenwärtig bevorzugte Anwendungsgebiet<br />

für Metaanalysen) oder aufgrund<br />

ihrer Menge. Denn mittlerweile entwickelt sich<br />

die Zahl der weltweit publizierten Metaanalysen<br />

analog zu den Primärdaten exponentiell.<br />

Dies hat zur Folge, dass es – wie bei den Nationalen<br />

Versorgungsleitlinien in Deutschland<br />

bereits beispielhaft realisiert – erste Meta-Metaanalysen<br />

von Metaanalysen gibt.<br />

Mit der Typhusimpfung ging es los!<br />

Um Chancen wie Risiken von Metaanalysen zu<br />

verstehen, ist es sinnvoll, sich noch einmal mit<br />

ihrer Entstehungsgeschichte auseinanderzusetzen.<br />

Eine Metaanalyse ist zunächst einmal<br />

nicht mehr (aber auch nicht weniger) als eine<br />

Zusammenfassung der Ergebnisse von Primäruntersuchungen<br />

zu sog. Metadaten unter<br />

Verwendung quantitativer, statistischer Verfahren.<br />

Der Begriff Metaanalyse wurde erstmalig<br />

1976 eingeführt. Die zugehörigen methodischen<br />

Verfahren wurden aber bereits 1904<br />

von dem britischen Mathematiker Karl Pearson<br />

erstmalig angewandt, um die Teststärke (Power)<br />

von Untersuchungen mit wenigen Probanden<br />

durch Zusammenfassen zu erhöhen (womit<br />

– ganz nebenbei – das zweite sinnvolle<br />

SCHMERZTHERAPIE 2/<strong>2010</strong> (26. Jg.)<br />

Anwendungsgebiet metaanalytischer Verfahren<br />

beschrieben wurde) und letztlich zweifelsfrei<br />

zu klären, ob die damals in Großbritannien<br />

neu eingeführte Impfung gegen Typhus nun<br />

hilft oder nicht.<br />

Eminenz- vs. evidenzbasierte Medizin<br />

Der schnelle Zuwachs wissenschaftlicher Erkenntnisse<br />

in der Medizin macht es selbst für<br />

die engagiertesten Ärzte unmöglich, ihr gesamtes<br />

Fachgebiet anhand von Originalliteratur<br />

zu überblicken. Eine umfassende und ausgewogene<br />

Zusammenfassung medizinischen Wissens<br />

ist daher eine wesentliche Voraussetzung,<br />

um den aktuellen medizinischen Kenntnisstand<br />

für Patienten nutzbar zu machen. In der Vergangenheit<br />

wurde die Zusammenfassung des medizinischen<br />

Kenntnisstandes vom klassischen<br />

narrativen Review übernommen.<br />

Ein solches Review wurde in der Regel von anerkannten<br />

klinischen Autoritäten geschrieben,<br />

die in ihre Übersichtsartikel nicht selten nur diejenigen<br />

Erkenntnisse und Studien selektiv einfließen<br />

ließen, die ihrer eigenen subjektiven<br />

Sichtweise entsprachen, in aller Regel – wenn<br />

überhaupt – unzulässige statistische Verfahren<br />

zur quantitativen Integration der zitierten Studienergebnisse<br />

anwendeten und deren Schlussfolgerungen<br />

für den Leser häufig nicht oder nur<br />

mit Mühe nachvollziehbar waren. Konsekutiv<br />

entwickelten sich – in Abhängigkeit von den<br />

verschiedenen subjektiven Bewertungen wissenschaftlicher<br />

Erkenntnisse im klassischen<br />

Review – divergente klinische Schulen mit zum<br />

Teil unterschiedlichen Behandlungskonzepten<br />

für ein und dasselbe Krankheitsbild (sog. eminenzbasierte<br />

Medizin).<br />

Im Rahmen der Bemühungen, den klassischen<br />

narrativen Review durch objektivere<br />

und für den Leser quantitativ nachvollziehbarere<br />

Methoden zu ersetzen, kommt Metaanalysen<br />

eine zentrale Rolle zu. Diese haben<br />

zum Ziel, die Ergebnisse unabhängiger Studien<br />

zum gleichen Thema quantitativ zu integrieren.<br />

Im Gegensatz zum klassischen Review sollten<br />

Biometrie<br />

sie sämtliche Studien berücksichtigen, die klar<br />

definierte Einschlusskriterien erfüllen und nicht<br />

nur die, die der Intention des Autors entsprechen<br />

– womit die Grundlagen der evidenzbasierten<br />

Medizin gelegt wurden (Tab. 1).<br />

Das Prinzip der Metaanalyse<br />

Die Durchführung einer Metaanalyse lässt sich<br />

vereinfacht auch mit anderen bekannten Untersuchungsformen<br />

der empirischen Forschung<br />

vergleichen wie beispielsweise mit der Befragung<br />

von Personen. Bei der Metaanalyse stellen<br />

jedoch eine Studie bzw. die Untersuchungsergebnisse<br />

dieser Studie die Untersuchungsobjekte<br />

dar. Diese werden durch instruierte<br />

Codierungsspezialisten hinsichtlich relevanter<br />

Eigenschaften „interviewt“ und die ermittelten<br />

Ergebnisse dann anhand definierter biometrischer<br />

Methoden analysiert. Eine metaanalytische<br />

Untersuchung operiert also nach<br />

ähnlichen Prinzipien wie die Primäruntersuchungen,<br />

auf deren Untersuchungsergebnissen<br />

sie aufbaut. Aus diesem Grund sind auch<br />

die Vorgehensweise und der Ablauf einer Metaanalyse<br />

mit der Vorgehensweise von Einzeluntersuchungen<br />

vergleichbar: Auch hier wird ein<br />

Problem formuliert, werden Daten gesammelt,<br />

codiert, bewertet, analysiert und schließlich<br />

präsentiert und interpretiert.<br />

Komplexe Prozeduren ersparen nicht<br />

kritisches Lesen!<br />

Das <strong>Deutsche</strong> Cochrane Zentrum definiert Metaanalysen<br />

als statistische Verfahren mit dem<br />

Ziel, die Ergebnisse mehrerer Studien zu einer<br />

identischen Fragestellung zu einem Gesamtergebnis<br />

zusammenzufassen, um auf diese Weise<br />

die Aussagekraft (Power) bzw. die Genauigkeit<br />

der Effekteinschätzung im Vergleich zu den<br />

Einzelstudien maximal zu erhöhen. Dementsprechend<br />

wird Metaanalysen – insbesondere<br />

wenn es um die Erforschung und Bewertung<br />

medizinischer <strong>Therapie</strong>verfahren geht – eine<br />

sehr hohe Aussagekraft unterstellt. Dabei wird<br />

jedoch außer Acht gelassen, dass sie sich –<br />

Tab. 1: Unterschiede zwischen dem klassischen narrativen Review und der<br />

Metaanalyse hinsichtlich der Zusammenfassung medizinischen Wissens<br />

Klassischer narrativer Review Metaanalyse<br />

I.d.R. geschrieben von klinischen Autoritäten Kann auch von „Nichtklinikern“ geschrieben werden<br />

Selektiver Einschluss von Studien, die den Klare Definition der Einschlusskriterien, (mehr oder<br />

Autor (und seine Aussagen) unterstützen weniger) objektiver Einschluss<br />

Oft unklar, wie Schlussfolgerungen aus den Ableitung der Schlussfolgerungen aus den Daten ist<br />

Daten abgeleitet werden formal nachvollziehbar<br />

Keine oder inkorrekte Methoden der Reproduzierbare, statistisch nachvollziehbare<br />

Datenintegration Datenintegration<br />

Fördert „Schulen“ mit divergenter Zielt auf eine einheitliche, „evidenzbasierte“<br />

Behandlungspraxis Behandlungspraxis<br />

15


© Gina Sanders/fotolia.com<br />

Biometrie<br />

wie narrative Reviews auch – durchaus in eine<br />

bestimmte Richtung hin „formen“ lassen, um<br />

bestimmt Aussagen zu unterstützen oder zu<br />

widerlegen. Aus diesem Grund ist es unabdingbar,<br />

dass die methodischen Kriterien, unter<br />

denen Metaanalysen und S3-Leitlinien erstellt<br />

wurden, mindestens ebenso kritisch gelesen<br />

und hinterfragt werden wie die Ergebnisse<br />

selbst.<br />

Sieben Probleme sollten im Auge<br />

behalten werden<br />

Bei einem derartigen Methodenreview sollten<br />

dem Leser grundsätzlich die folgenden Probleme<br />

jeder Metaanalyse bewusst sein und<br />

geprüft werden, ob und wie die für die Durchführung<br />

der Metaanalyse verantwortlichen Personen<br />

diesen Problemen gerecht wurden.<br />

1. Das Apfel-Birnen-(Uniformitäts-)Problem:<br />

Durch Metaanalysen werden eigentlich nicht<br />

vergleichbare Studien, d.h. Untersuchungen<br />

mit unterschiedlichen Operationalisierungsvarianten<br />

zusammengefasst. Grundsätzlich<br />

wird von Methodenkritikern gefordert, dass vor<br />

allem in Bezug auf die abhängige Variable (z.B.<br />

das Ausmaß der <strong>Schmerz</strong>linderung) homogene<br />

Operationalisierungen vorliegen müssen,<br />

da sie alle Indikatoren für das gleiche Konstrukt<br />

sein sollen. Andernfalls beziehen sich die<br />

Primäruntersuchungen und die durch diese<br />

erhaltenen Ergebnisse auf unterschiedliche<br />

Kriterien, wodurch sich eine Zusammenfassung<br />

verbieten würde.<br />

Deutlich wird das Uniformitätsproblem beim<br />

Vergleich von zwei Studien, deren Ergebnisse<br />

in einer aktuellen S3-Leitlinie u.a. herangezogen<br />

wurden, um nachzuweisen, dass die<br />

Effektgröße (im vorliegenden Fall der Grad<br />

der <strong>Schmerz</strong>linderung bei chronischen nicht<br />

tumorbedingten <strong>Schmerz</strong>en im Rahmen einer<br />

Osteoarthrose von Hüft- oder Kniegelenk) unter<br />

Paracetamol und Fentanyl vergleichbar ist<br />

und sich deshalb „eine Empfehlung zur bevorzugten<br />

Anwendung von Analgetika einer der<br />

Wirkstoffklassen WHO I, WHO II oder WHO III<br />

bei Patienten mit chronischen nicht tumorbedingten<br />

<strong>Schmerz</strong>syndromen nicht mit einer<br />

besseren analgetischen Wirkung begründen<br />

lässt“ (offizielle Antwort der S3-Leitlinie LONTS<br />

– Langzeitanwendung von Opioiden bei nicht<br />

tumorbedingten <strong>Schmerz</strong>en – auf die Schlüsselfrage<br />

#4: „Unterscheiden sich Opioide von<br />

nicht opioidhaltigen Analgetika in ihrer analgetischen<br />

Wirkung?“).<br />

Wesentlicher Unterschied – und damit Ursprung<br />

des Uniformitätsproblems – zwischen<br />

den beiden Studien ist die Patientenselektion.<br />

Während in die von Altman et al. 2007 publizierte<br />

Studie (Altman RD, Zinsenheim JR, Temple AR,<br />

Schweinle JR. Three-month efficacy and safety<br />

of acetaminophen extended-release for osteoarthritis<br />

pain of the hip or knee: a randomized,<br />

double-blind, placebo-controlled study. Osteoarthritis<br />

and Cartilage 2007;15:454–461) nur<br />

solche Patienten aufgenommen werden durften,<br />

von denen bekannt war, dass sie im Fall<br />

einer akuten Exazerbation ihrer schmerzhaften<br />

Beschwerden gut auf Paracetamol ansprechen<br />

(„patients must have had a history of positive<br />

therapeutic benefit with acetaminophen use for<br />

OA pain“; sogenannte Positivselektion), durften<br />

in die von Langford et al. 2006 veröffentlichte<br />

Studie (Langford R, McKenna F, Ratcliffe S,<br />

Vojtassák, Richarz U. Transdermal fentanyl for<br />

improvement of pain and functioning in osteoarthritis:<br />

a randomized, placebo-controlled trial.<br />

Arthritis Rheum 2006;54(6):1829–1837) nur<br />

solche Patienten aufgenommen werden, die<br />

bislang weder mit Analgetika der WHO-Stufen<br />

I und/oder II zufriedenstellend behandelt werden<br />

konnten („The cohort comprised patients<br />

… with moderate-to-severe pain that had been<br />

inadequately controlled by weak opioids.“; sogenannte<br />

Negativselektion). Ob angesichts<br />

derart unterschiedlicher Ausgangssituationen<br />

die letztlich in der Metaanalyse beschriebenen<br />

numerischen Effektstärken von –4,3 (95%-Vertrauensbereich<br />

(KI): –10,00 bis 1,70) für Paracetamol<br />

bzw. –5,9 (95%-KI: –13,29 bis 1,45)<br />

für Fentanyl wirklich vergleichbar sind, muss<br />

somit ebenso ernsthaft bezweifelt werden, wie<br />

die sich darauf begründende Aussage, dass<br />

bei chronischen nicht tumorbedingten <strong>Schmerz</strong>en<br />

keine Wirksamkeitsunterschiede zwischen<br />

Analgetika der WHO-Stufen I und III gefunden<br />

werden konnten.<br />

2. Das „Garbage-in, Garbage-out“-Problem:<br />

Bei Metaanalysen werden beliebige Untersuchungen<br />

– methodisch gute wie methodisch<br />

schlechte – gleichermaßen berücksichtigt und<br />

die mit ihnen verbundenen unterschiedlichen<br />

Ergebnisse durch den biometrischen Prozess<br />

der Effektgrößenberechnung gemittelt, bis u.U.<br />

nichts mehr herauskommt. Zwar kann der Einfluss<br />

der methodischen Qualität einer Untersuchungen<br />

auf das Ergebnis der Metaanalyse<br />

kontrolliert werden, indem Bewertungskriterien<br />

entwickelt werden, anhand derer die Ergebnisse<br />

einer Untersuchung bewertet und ihre<br />

Effektgröße damit gewichtet werden kann, doch<br />

öffnen diese Kriterienkataloge subjektiven Einflussnahmen<br />

Tür und Tor (siehe Punkt 6).<br />

3. Das Selektions-(file drawer)-Problem: Das<br />

Ergebnis einer Metaanalyse ist abhängig von<br />

der Auswahl der Primärstudien, weshalb eine<br />

möglichst vollständige Erfassung aller thematisch<br />

einschlägigen Arbeiten – und nicht nur die<br />

der überwiegend mit signifikanten Ergebnissen<br />

publizierten Studien – Voraussetzung ist. Zusätzlich<br />

wird nicht selten die Studienselektion<br />

durch sogenannte Qualitätskriterien, d.h. durch<br />

von der mit der Metaanalyse beschäftigten Studiengruppe<br />

definierte Mindestanforderungen,<br />

beeinflusst, durch die – mehr oder weniger gezielt<br />

– das Ergebnis der Metaanalyse beeinflusst<br />

werden kann (siehe hierzu auch Punkt 6).<br />

4. Das Problem abhängiger Daten: Dieses<br />

Problem tritt auf, wenn verschiedene (abhängige)<br />

Teilergebnisse an der gleichen Stichprobe<br />

erhoben und ggf. auch getrennt voneinander<br />

publiziert worden sind. Da Untersuchungseinheiten<br />

von Metaanalysen aber Einzelstudien<br />

und nicht Teilstichproben sind, darf immer nur<br />

ein Ergebnis einer Untersuchung in die Meta-<br />

16 SCHMERZTHERAPIE 2/<strong>2010</strong> (26. Jg.)


analyse mit eingehen, da andernfalls diese Untersuchung<br />

ein größeres Gewicht erhalten würde<br />

als eine Untersuchung, die nur mit einem<br />

Ergebnis in die Metaanalyse eingeht.<br />

5. Das Problem nicht signifikanter Studiendaten:<br />

Studien, bei denen zwischen Verum<br />

und aktiver oder passiver Kontrolle (Placebo)<br />

keine Unterschiede nachgewiesen werden<br />

konnten, werden häufig als „negativ“ diskreditiert,<br />

obwohl verfahrenstechnisch damit eigentlich<br />

nur nachgewiesen wurde, dass es keinen<br />

Hinweis auf einen Unterschied gibt und nicht,<br />

dass es keinen Unterschied gibt („the absence<br />

of evidence is not the evidence of absence“).<br />

6. Das Problem der fehlenden Objektivität:<br />

Obwohl Metaanalysen seitens ihrer Befürworter<br />

stets als objektiv beschrieben und gepriesen<br />

werden, sind es in Wahrheit doch ausgesprochen<br />

subjektive Verfahren, wenngleich das Ausmaß<br />

der Subjektivität als kritische Einflussgröße<br />

durch den Umstand gemindert wird, dass sie<br />

von den am Erstellungsprozess beteiligten Personen<br />

geteilt wird (sog. shared subjectivity).<br />

Bei einer metaanalytisch entwickelten<br />

Leitlinie handelt es sich um den nach einem<br />

definierten, (mehr oder weniger) transparent<br />

nachvollziehbaren Vorgehen erzielten Konsens<br />

einer multidisziplinären Expertengruppe zu einer<br />

bestimmten Vorgehensweise oder einem<br />

bestimmten Problem in der Medizin. Durch eine<br />

zielgerichtete Selektion des inhaltlich verantwortlichen<br />

Personenkreises besteht grundsätzlich<br />

die Möglichkeit, die Ergebnisse einer Metaanalyse<br />

bereits im Vorfeld so zu beeinflussen,<br />

dass es selbst dem Experten beim Lesen der<br />

zugehörigen Methodenberichte schwerfällt zu<br />

erkennen, ob, wo, wann bzw. wie – mehr oder<br />

weniger, in den meisten Fällen jedoch gestalterisch<br />

– Einfluss genommen wurde.<br />

Mitunter dominiert bei Metaanalysen auch<br />

– abhängig von deren Überzeugungskraft und<br />

Durchsetzungsvermögen – der Einfluss einzelner<br />

Experten das Votum der Expertengruppe,<br />

was letztlich dazu führt, dass die eine oder andere<br />

– durchaus auch hochwertig publizierte<br />

– Leitlinie dann doch wieder einem subjektiv<br />

geprägten narrativen Review entspricht.<br />

7. Das Problem unzureichend deklarierter<br />

Interessenkonflikte: Interessen und Ziele leiten<br />

und bestimmen auch das Tun und Wirken<br />

der Experten, die für die Ausführung, Interpretation<br />

und Publikation metaanalytischer Verfahren<br />

verantwortlich zeichnen. In der Medizin<br />

können Ärzte nicht nur durch Unterstützung<br />

von Unternehmen der pharmazeutischen Industrie<br />

oder Medizintechnik in Interessenskonflikte<br />

gelangen, sondern auch durch Regie-<br />

SCHMERZTHERAPIE 2/<strong>2010</strong> (26. Jg.)<br />

rungsbehörden, Krankenkassen und zahlreiche<br />

andere Einrichtungen, weshalb aus Transparenzgründen<br />

alle entsprechenden Interessenskonflikte<br />

entsprechend den Richtlinien des International<br />

Committee of Medical Journal Editors<br />

angegeben werden sollten.<br />

Fehlen – warum auch immer – derartige<br />

Stellungnahmen seitens eines nennenswerten<br />

Teils des für die Metaanalyse verantwortlichen<br />

Expertenkreises, so ist vom Vorliegen kritischer<br />

Konflikte auszugehen und die Aussage<br />

der entsprechenden Leitlinie mit Vorsicht zu<br />

bewerten. Dies gilt insbesondere auch dann,<br />

wenn diesbezüglich auf Nachfrage lapidar verkündet<br />

wird, dass das Fehlen dieser Angaben<br />

bei der Berichterstellung übersehen wurde,<br />

da unterstellt werden muss, dass die für die<br />

Durchführung einer Metaanalyse grundsätzlich<br />

gebotene Sorgfalt auch an anderer Stelle etwas<br />

lockerer als notwendig gehandhabt wurde.<br />

Leitlinien oder Richtlinien?<br />

Rechtlich sind medizinische Leitlinien – anders<br />

als Richtlinien – nicht bindend, sondern geben<br />

nur den konsensualen Wissensstand hinsichtlich<br />

des fachlichen Entwicklungsstandes in Form<br />

praxisorientierter Handlungsempfehlungen wieder.<br />

Ihr Hauptzweck ist es, Ärzten Orientierungshilfen<br />

im Sinne von Entscheidungs- und Handlungsoptionen<br />

zu bieten. Die Umsetzung, d.h.<br />

die im Einzelfall konkret realisierte <strong>Therapie</strong>, liegt<br />

bei der fallspezifischen Betrachtung im Ermessensspielraum<br />

des Behandlers; ebenso sind im<br />

Einzelfall die individuellen Erfahrungen und die<br />

Präferenzen der Patienten in die Entscheidungsfindung<br />

mit einzubeziehen. Metaanalytisch gewonnene<br />

Leitlinienempfehlungen müssen also<br />

stets an den Einzelfall angepasst und nicht umgekehrt<br />

die <strong>Therapie</strong>auswahl für das Individuum<br />

an den Ergebnissen der Metaanalyse ausgerichtet<br />

werden!<br />

Damit ist klar, dass kein Arzt gezwungen ist<br />

entsprechend den Aussagen einer Leitlinie zu<br />

therapieren. Er muss sich nur ggf. fragen lassen,<br />

warum er von dem leitlinienformulierten<br />

Konsensus seiner Profession abgewichen ist,<br />

was unter Umständen mit erheblichen Aufwendungen<br />

verbunden sein kann. Voraussetzung<br />

für eine erfolgreiche Begründung wäre, dass<br />

die <strong>Therapie</strong>entscheidungen rational nachvollzogen,<br />

d.h. sachlich begründet werden können.<br />

Und genau da liegt der Hund begraben,<br />

denn nicht selten lassen sich die in der Praxis<br />

vollzogenen Maßnahmen nicht wirklich rational<br />

begründen, sondern sind eher Ausdruck<br />

etablierter Traditionen oder lieb gewonnener<br />

Manierismen. Damit soll per se nicht konstatiert<br />

werden, dass die mitunter in der Praxis<br />

getroffenen nicht leitlinienkonformen <strong>Therapie</strong>entscheidungen<br />

nicht sinnvoll oder nicht<br />

Biometrie<br />

zielführend sind. Es würde einen gewissen<br />

zeitlichen und logistischen Aufwand erfordern,<br />

ihre Sinnhaftigkeit für jeden Einzelfall zu begründen,<br />

was letztlich – angesichts knapper<br />

Ressourcen – dann doch dazu führt, dass<br />

Leitlinien in der Praxis von Handlungsempfehlungen<br />

zu mehr oder weniger justiziablen<br />

Richtlinien permutieren.<br />

Diesbezüglich problematisch ist der Umstand,<br />

dass Metaanalysen hochkomplexe Systeme mit<br />

ihren zahlreichen Variablen und unüberschaubaren<br />

Wechselwirkungen nur ungenügend abbilden<br />

(können) und letztlich alles monokausal<br />

auf einen einzigen Effizienzparameter reduzieren.<br />

Damit gewinnt die zunächst etwas absurd<br />

erscheinende Idee der „42“ von Douglas Adams<br />

eine erschreckend reale Bedeutung!<br />

Fazit für die Praxis<br />

Durch die kontinuierlich steigenden Zahlen wissenschaftlicher<br />

Veröffentlichungen wird es nicht<br />

nur für niedergelassene Ärzte, sondern auch für<br />

Kliniker und Wissenschaftler zunehmend<br />

schwieriger, sich über das für sie jeweils relevante<br />

medizinische Themengebiet umfassend<br />

und aktuell zu informieren. Metaanalysen stellen<br />

diesbezüglich eine – und bei sachgerechter und<br />

objektiver Durchführung derzeit wohl auch die<br />

beste – Alternative dar, um mit einem angemessenen<br />

Aufwand auf dem aktuellen Kenntnisstand<br />

der medizinischen Forschung zu bleiben<br />

und seinen Patienten die bestmögliche medizinische<br />

Versorgung zukommen zu lassen. Dabei<br />

sollten Metaanalysen grundsätzlich kritisch gelesen<br />

werden, denn sie sind nicht gefeit gegen<br />

un-/bewusste Einflussnahmen durch versteckte<br />

Interessenkonflikte und ermöglichen methodisch<br />

allen Beteiligten durch selektive Fragestellungen,<br />

zielgerichtet formulierte Kriterien und<br />

Blickrichtungen genau das zu finden, was sie<br />

suchen, vermuten und letztlich dann auch für<br />

real halten.<br />

David Sackett, einer der Pioniere der EbM,<br />

der 1967 an der McMaster University in Kanada<br />

das erste Institut für klinische Epidemiologie<br />

und später das Oxford Centre for Evidence-based<br />

Medicine gründete, beschrieb evidenzbasierte<br />

Medizin einmal als „integration of best<br />

research evidence with clinical expertise and<br />

patient values“. Diesem Grundsatz folgend<br />

können methodisch einwandfrei durchgeführte<br />

Metaanalysen im Praxisalltag eine wesentliche<br />

Bereicherung darstellen und die medizinische<br />

Versorgung in vielen Einzelfällen erleichtern.<br />

Sie können jedoch weder die individuelle <strong>Therapie</strong>entscheidung<br />

noch die kritische Auseinandersetzung<br />

mit jedem speziellen Behandlungsfall<br />

ersetzen! ■<br />

Michael Überall, Nürnberg<br />

17


Zertifizierte Fortbildung<br />

Neuropathischer <strong>Schmerz</strong><br />

Ob kurz oder dauerhaft, brennend oder messerscharf: Neuopathische <strong>Schmerz</strong>en können sich ganz unterschiedlich<br />

äußern. Ebenso vielfältig sehen die Auslöser dieser komplexen <strong>Schmerz</strong>form aus. Dr. med.<br />

Thomas Cegla, Vizepräsident der DGS, Wuppertal, schildert in seiner Übersicht die pathophysiologischen<br />

Zusammenhänge und das breite Spektrum an <strong>Therapie</strong>optionen.<br />

S chädigungen<br />

des peripheren und/oder<br />

zentralen Nervensystems können zu einer<br />

fehlerhaften <strong>Schmerz</strong>weiterleitung und<br />

-verarbeitung und zu chronischen neuropathischen<br />

<strong>Schmerz</strong>en führen. Aus diesem Grund<br />

ist auch bei dieser <strong>Schmerz</strong>form eine frühzeitige<br />

effektive <strong>Therapie</strong> angezeigt, da nur eine<br />

rechtzeitige Behandlung den chronischen neuropathischen<br />

<strong>Schmerz</strong> verhindert. Neuropathische<br />

<strong>Schmerz</strong>en können einen Anteil einer<br />

kombinierten <strong>Schmerz</strong>symptomatik darstellen.<br />

Als Mixed Pain oder gemischtes <strong>Schmerz</strong>phänomen<br />

wird ein <strong>Schmerz</strong> bezeichnet, der durch<br />

mechanische, thermische, chemische oder<br />

elektrische Reizung der <strong>Schmerz</strong>nozizeptoren<br />

sowie zusätzlich durch Schädigungen des peripheren<br />

und/oder zentralen Nervensystems<br />

hervorgerufen wird.<br />

Epidemiologie und Kausalität<br />

Nervenschmerzen sind eine Herausforderung<br />

in der täglichen schmerztherapeutischen Versorgung,<br />

da etwa ein Viertel aller <strong>Schmerz</strong>patienten<br />

darunter leiden. Ein direkter Nervenschaden,<br />

aber auch ein traumatischer Reiz<br />

können als <strong>Schmerz</strong> wahrgenommen werden.<br />

Mononeuropathien betreffen einzelne, Polyneuropathien<br />

mehrere Nerven. Lassen sich<br />

<strong>Schmerz</strong>en dem Versorgungsgebiet eines bestimmten<br />

Nervs zuordnen, werden diese als<br />

Neuralgien bezeichnet.<br />

Verschiedene Ursachen können zu schmerzhaften<br />

fokalen peripheren Neuropathien führen:<br />

■ Traumen,<br />

■ mechanische Einengung,<br />

■ Infekte,<br />

■ metabolische Störungen,<br />

■ Durchblutungsstörungen,<br />

■ Malignome,<br />

■ <strong>Therapie</strong>nebenwirkungen.<br />

Ursachen für Polyneuropathien sind<br />

■ metabolische Störungen,<br />

■ Arzneimittelnebenwirkungen,<br />

■ Gifte,<br />

■ Stoffwechselerkrankungen,<br />

■ Malignome,<br />

■ Infekte.<br />

© Michael Kößling/panthermedia.net<br />

Durchblutungsstörungen, insbesondere Infarkte,<br />

Blutungen, Traumen, Malignome und<br />

Parkinsonsyndrome, können aber, wenn sie<br />

das zentrale Nervensystem betreffen, zu zentralen<br />

neuropathischen <strong>Schmerz</strong>en führen.<br />

Sensorische Symptome<br />

Neuropathische <strong>Schmerz</strong>en können plötzlich<br />

und heftig auftreten, aber auch dauerhaft vorhanden<br />

sein. Sie können als brennend wahrgenommener<br />

Dauerschmerz, aber auch als einschießend,<br />

kurz und attackenförmig mit einer<br />

Qualität, die mit den Adjektiven messerscharf<br />

oder brennend beschrieben wird, empfunden<br />

werden. Unterschiedliche <strong>Schmerz</strong>auslöser<br />

sind mit neuropathischen <strong>Schmerz</strong>en verbunden.<br />

Löst ein normalerweise nicht schmerzhafter<br />

Reiz <strong>Schmerz</strong> aus, spricht man von Allodynie,<br />

fehlt die <strong>Schmerz</strong>empfindung auf normalerweise<br />

schmerzhafte Reize von Analgesie. Regio-<br />

Tab. 1: Pathophysiologische<br />

Veränderungen<br />

Neuronal:<br />

Thomas Cegla,<br />

Wuppertal<br />

■ Pathologische Aktivität in<br />

Nozizeptoren nach einem Nerventrauma<br />

■ C-Faser-Untergang<br />

■ Reorganisation des Hinterhorns<br />

■ Ektope Aktivität<br />

■ Erhöhte Aktivität des sympathischen<br />

Nervensystems<br />

■ Wind-up auf spinaler Ebene<br />

■ Periphere Allodynie und Hyperalgesie<br />

■ Parästhesie und Dysästhesie<br />

Molekular:<br />

■ Expression neuer Na-Kanäle<br />

■ Erhöhte Aktivität des NMDA-Rezeptors<br />

■ Abnahme der gabaergen Hemmung<br />

■ Veränderungen des Kalziumeinstroms in die<br />

Zelle<br />

18 SCHMERZTHERAPIE 2/<strong>2010</strong> (26. Jg.)<br />

SCHMERZTHERAPIE


nale <strong>Schmerz</strong>en nach einer Nervenläsion in einer<br />

sonst gefühllosen Körperregion bezeichnet<br />

man als Anaesthesia dolorosa, spontan auftretende<br />

oder provozierte unangenehme und<br />

abnorme Empfindungen als Dysästhesie. Eine<br />

allgemein herabgesetzte Empfindungsstärke<br />

ist eine Hypästhesie, eine verstärkte Empfindung<br />

auf schmerzhafte und nicht schmerzhafte<br />

Reize eine Hyperästhesie. Hypalgesie ist eine<br />

allgemein herabgesetzte, Hyperalgesie eine<br />

verstärkte <strong>Schmerz</strong>empfindung. Hyperpathie<br />

ist eine verstärkte Reaktion auf einen schmerzhaften<br />

oder nicht schmerzhaften Reiz besonders<br />

als Antwort auf wiederholte Reize, und<br />

Parästhesie bezeichnet eine abnorme Gefühlssensation<br />

ohne unangenehmen Charakter.<br />

Zusätzlich zu den sensorischen Veränderungen<br />

können Veränderungen im autonomen<br />

Nervensystem zu Durchblutungsstörungen<br />

und trophischen Störungen führen. Die Motorik<br />

kann ebenfalls beeinträchtigt sein.<br />

Genese<br />

Werden nozizeptive Neurone geschädigt, erhöht<br />

dies die Spontanaktivität. Die Schwelle für<br />

die Reizweiterleitung sinkt bei gleichzeitig gesteigerter<br />

Reizantwort. Natrium- und Kalziumkanäle,<br />

aber auch Capsacainrezeptoren sind<br />

an diesem Prozess beteiligt. Wird das sympathische<br />

Nervensystem durch Neubildung noradrenerger<br />

Rezeptoren einbezogen, wird die<br />

zentrale Sensibilisierung und somit die Chronifizierung<br />

verstärkt. Zentrale Neurone reagieren<br />

auf eine anhaltende Aktivität nozizeptiver Neurone<br />

im Sinne eines Wind-up mit einer verstärkten<br />

Reizantwort bei oft gleichzeitiger Abnahme<br />

der <strong>Schmerz</strong>hemmung.<br />

Allen Störungen gemeinsam ist zwar die<br />

Schädigung nervaler Strukturen, hinter denen<br />

sich allerdings die unterschiedlichsten pathophysiologischen<br />

Veränderungen auf neuronaler und<br />

molekulärer Basis verbergen (Tab. 1, Abb. 1).<br />

Diagnose<br />

Anamnese und Untersuchung weisen den Weg.<br />

Der <strong>Deutsche</strong> <strong>Schmerz</strong>fragebogen sowie die<br />

<strong>Schmerz</strong>tagebücher sind wichtige Dokumentationsmittel.<br />

Hinweise liefern auch bestehende<br />

Erkrankungen, die mit einer Neuropathie einhergehen<br />

können. Auch <strong>Schmerz</strong>qualität, <strong>Schmerz</strong>dauer<br />

und Lokalisation geben Anhaltspunkte.<br />

Wichtige Merkmale sind typische sensorische<br />

und motorische Störungen sowie solche des<br />

autonomen Nervensystems. Die Untersuchung<br />

sollte das Bestreichen mit Pinsel oder Watteträgern,<br />

den Fingerdruck, die Berührung mit Pin-<br />

Prick oder einer Akupunkturnadel, die Berührung<br />

mit kalten sowie mit warmen Gegenständen<br />

beinhalten. Diagnostische Sympathikusblockaden<br />

zeigen den Anteil der sympathischen<br />

SCHMERZTHERAPIE 2/<strong>2010</strong> (26. Jg.)<br />

Aktivität an der gesamten <strong>Schmerz</strong>erkrankung.<br />

Laboruntersuchungen (z.B. Blutzuckerwerte,<br />

Borrelientiter, Entzündungsparameter etc.) und<br />

elektrophysiologische Untersuchungen (Nervenleitgeschwindigkeit,<br />

Elektromyogramm, somatosensorisch<br />

evozierte Potenziale) können<br />

weitere Diagnostikbestandteile sein, wie auch<br />

bildgebende Verfahren oder weitergehende Untersuchungsmethoden.<br />

<strong>Therapie</strong><br />

Liegt eine Grunderkrankung vor, ist diese zu<br />

behandeln. Bei einem Diabetes mellitus sollte<br />

A<br />

Zertifizierte Fortbildung<br />

eine stabile Stoffwechselsituation angestrebt<br />

werden. Engpässe sollten, wenn möglich, beseitigt<br />

werden. Die <strong>Schmerz</strong>symptomatik führt<br />

zur Auswahl des für die individuelle Situation<br />

am ehesten wirksamen Medikamentes (Abb. 2).<br />

Retardpräparate sind für das ideale Verhältnis<br />

von Wirkung und Nebenwirkung günstiger. Die<br />

Wirksamkeit lässt sich erst nach zwei bis vier<br />

Wochen beurteilen. Darüber ist der Patient zu<br />

informieren. Ist die Wirkung einer Monotherapie<br />

nicht ausreichend, können Kombinationstherapien<br />

mit niedrigen Tagesdosen sinnvoll<br />

werden. Wichtig ist die Einbeziehung und Auf-<br />

B C<br />

D<br />

<strong>Schmerz</strong> <strong>Schmerz</strong> <strong>Schmerz</strong><br />

C A C A/Aδ C A<br />

C<br />

Mod. nach Baron Abb. 1: Entstehungsmechanismen neuropathischer <strong>Schmerz</strong>en<br />

Das Oval stellt das Rückenmark dar.<br />

A: Normale Verhältnisse. Zentrale Projektionen unmyelinisierter C-Afferenzen enden im<br />

Hinterhorn und werden hier auf sekundäre nozizeptive Neurone umgeschaltet. A-Berührungsafferenzen<br />

projizieren beim Menschen ohne Umschaltung in die Hinterstränge (nicht<br />

eingezeichnet) und enden ebenfalls an afferenten Hinterhornneuronen.<br />

B: Periphere Sensibilisierung und zentrale Sensibilisierung. Partiell geschädigte primär afferente<br />

C-Nozizeptoren können ektope Nervenimpulse generieren oder chronisch sensibilisiert<br />

werden (Stern an der C-Faser). Diese pathologische Ruheaktivität in afferenten C-Nozizeptoren<br />

führt zu einer zentralen Sensibilisierung der sekundären afferenten Hinterhornneurone<br />

(Stern, zentral) und so zu einer Umwandlung der funktionell wirksamen synaptischen Strukturen<br />

im Hinterhorn. Dadurch können Impulse aus niederschwelligen A- und Aδ-Berührungsafferenzen<br />

jetzt zentrale nozizeptive Neurone aktivieren.<br />

C: Synaptische Reorganisation im zentralen Nervensystem infolge Degeneration primär afferenter<br />

C-Nozizeptoren. Periphere Nervenläsionen können unter besonderen Umständen auch<br />

einen erheblichen Untergang an C-Faser-Neuronen verursachen. Dementsprechend sind die<br />

synaptischen Kontakte an zentralen nozizeptiven Neuronen des Hinterhorns reduziert. Zentrale<br />

Endigungen noch intakter dicker myelinisierter Fasern können daraufhin auswachsen<br />

und neue synaptische Kontakte mit den nunmehr „freien“ zentralen nozizeptiven Neuronen<br />

ausbilden. Dadurch können ebenfalls Impulse aus niederschwelligen A-Berührungsafferenzen<br />

zentrale nozizeptive Neurone aktivieren.<br />

D: Degeneration hemmender Neuronensysteme. Absteigende Bahnen aus dem Hirnstamm<br />

(z.B. aus dem periaquäduktalen Grau) hemmen mit den Transmittern Noradrenalin und<br />

Serotonin die Aktivität in nozizeptiven Hinterhornneuronen. GABAerge Interneurone üben<br />

eine tonische Inhibition im Hinterhorn aus. Chronische nozizeptive Aktivität kann einen<br />

Funktionsverlust und sogar eine Degeneration dieser inhibitorischen Systeme bewirken,<br />

was zu einer unbeeinträchtigten Transmission nozieptiver Impulse führt.<br />

19


Zertifizierte Fortbildung<br />

Zerebrum<br />

Rückenmark<br />

Haut<br />

Metamizol<br />

Opioidanalgetika<br />

GABA<br />

Baclofen<br />

Amitriptylin<br />

Capsaicin<br />

LA<br />

ASS<br />

Mod. nach Baron Abb. 2: <strong>Therapie</strong>ansätze bei neuropathischen <strong>Schmerz</strong>en<br />

klärung des Patienten über die Genese und<br />

den Verlauf seiner Erkrankung. Die gemeinsamen<br />

<strong>Therapie</strong>ziele müssen realistisch sein<br />

und können z.B. in der <strong>Schmerz</strong>linderung, dem<br />

Erhalten oder Wiederherstellen der Arbeitsfähigkeit<br />

oder im Beheben von Schlafstörungen<br />

bestehen.<br />

Pharmakotherapie<br />

Antidepressiva: Trizyklische Antidepressiva<br />

wie das Amitriptylin bewirken eine Hemmung<br />

der präsynaptischen Noradrenalin-Wiederaufnahme,<br />

blockieren gleichzeitig spannungsabhängige<br />

Natriumkanäle und sind sympathikolytisch,<br />

antidepressiv und anxiolytisch. Wichtige<br />

Nebenwirkungen sind Antriebshemmung, Müdigkeit,<br />

Schwindel und Gewichtszunahme.<br />

Kontraindikationen sind Herzinsuffizienz, Herzrhythmusstörungen<br />

und Prostatahypertrophie.<br />

Bei ähnlichem Nebenwirkungsspektrum wirken<br />

tri- oder tetrazyklische Antidepressiva (z.B.<br />

Desipramin) nur über die Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmung<br />

und die Verstärkung der<br />

zentralen deszendierenden Hemmung.<br />

Carbamazepin, Gabapentin<br />

NMDA-Antagonisten<br />

Opioidanalgetika<br />

Nicht-Opiod-Analgetika<br />

Das untere Oval stellt das Rückenmark dar, die oberen Ovale symbolisieren den Hirnstamm<br />

und das Großhirn. Zentrale Projektionen unmyelinisierter C-Afferenzen enden im Hinterhorn<br />

und werden hier auf sekundäre nozizeptive Neurone umgeschaltet. A-Berührungsafferenzen<br />

projizieren beim Menschen ohne Umschaltung in die Hinterstränge (nicht eingezeichnet)<br />

und enden ebenfalls an afferenten Hinterhornneuronen. Sekundäre Hinterhornneurone<br />

projizieren zum Hirnstamm, Thalamus und Cortex. Deszendiere hemmende Bahnsysteme mit<br />

den Überträgersubstanzen Serotonin (5-HT) und Noradrenalin (NA) projizieren zum Rückenmark.<br />

Hemmende GABAerge (GABA) Interneurone wirken ebenfalls auf die nozizeptiven Hinterhornneurone.<br />

Die theoretischen Ansatzpunkte der verschiedenen Pharmaka sind durch<br />

Pfeile gekennzeichnet. ASS: Azetylsalizylsäure; LA: Lokalanästhetika.<br />

C<br />

A<br />

Selektive Serotonin-Noradrenalin-Reuptake-Inhibitoren<br />

wie Duloxetin verstärken die<br />

zentrale deszendierende Hemmung. Sie führen<br />

eher zu einer Appetitabnahme, gelegentlich zu<br />

Übelkeit und Schwindel. Sie dürfen nicht gleichzeitig<br />

mit MAO-Hemmern eingesetzt werden<br />

und können Wechselwirkungen mit Antikoagulanzien<br />

und Antipsychotika haben.<br />

Antikonvulsiva: Carbamazepin, Oxcarbazepin,<br />

Lamotrigin sind Antikonvulsiva, die über<br />

die Blockade von spannungsgeladenen Natriumkanälen<br />

auf sensibilisierten nozizeptiven<br />

Neuronen wirken. Die ektope Erregungsausbreitung<br />

im peripheren und zentralen Nervensystem<br />

wird reduziert. Lamotrigin hemmt zusätzlich<br />

NMDA-Rezeptoren.<br />

Gabapentin und Pregabalin wirken über<br />

Kalziumkanäle durch Ligandenbildung an<br />

spannungsabhängigen neuronalen Kalziumkanälen<br />

und reduzieren so den Kalziumeinstrom<br />

im peripheren und zentralen Nervensystem.<br />

Zentrale Nebenwirkungen in der<br />

Titrationsphase wie Schwindel, Müdigkeit, Ataxie<br />

etc. können auftreten. Unter Gabapentin<br />

kann es zu Beinödemen und einer Erhöhung<br />

der Pankreasenzyme kommen, weshalb eine<br />

Pankreatitis eine Kontraindikation für dieses<br />

Medikament darstellt. Die Bioverfügbarkeit<br />

wird durch magnesium- oder aluminiumhaltige<br />

Antazida beim Gabapentin reduziert. Beide<br />

Medikamente können bei Niereninsuffizienz<br />

kumulieren.<br />

Opioide: Tramadol ist ein -Rezeptoragonist,<br />

aber auch ein Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer,<br />

was bei neuropathischen <strong>Schmerz</strong>en<br />

einen Vorteil darstellt. Die dosisabhängigen<br />

Nebenwirkungen sind die der Gruppe der<br />

Opiate. Im Vergleich zu diesem niedrigpotenten<br />

Opiat ist Oxycodon ein hochpotenter -Rezeptoragonist<br />

der zusätzlich entzündungshemmend<br />

am Kappa-Rezeptor wirkt.<br />

Weitere Medikamente: Cannabinoide, Myotonolytika<br />

haben ebenfalls eine Wirkung bei neuropathischen<br />

<strong>Schmerz</strong>en. Topisch wirken Capsacain<br />

als Agonist am Vanilloid-Rezeptor mit<br />

reversiblem Funktionsverlust und Degeneration<br />

nozizeptiver Neurone sowie Lidocain über<br />

die Blockade von Natriumkanälen afferenter<br />

Neurone.<br />

Nicht empfohlen werden Nicht-Opioid-<br />

Analgetika, selektive Serotonin-Reuptake-<br />

Hemmer, Oxcarbazepin, Phenytoin, Topiramat<br />

und Alpha-Liponsäure.<br />

Nicht medikamentöse <strong>Therapie</strong><br />

Der Patient mit neuropathischen <strong>Schmerz</strong>en ist<br />

ein <strong>Schmerz</strong>patient. Die Pharmakotherapie<br />

kann nur ein Baustein des <strong>Therapie</strong>gebäudes<br />

sein. Weitere Behandlungsoptionen sind<br />

■ physikalische <strong>Therapie</strong> und Ergotherapie, um<br />

Belastung und Koordination zu erhalten oder<br />

zu steigern,<br />

■ Psychotherapie mit Einsatz von Coping-Stra-<br />

20 SCHMERZTHERAPIE 2/<strong>2010</strong> (26. Jg.)<br />

tegien,<br />

■ transkutane Nervenstimulation (TENS) als<br />

ein vom Patienten selbst zu steuerndes Verfahren,<br />

bei dem die <strong>Schmerz</strong>hemmung durch<br />

die Stimulation von A-Fasern erfolgt,<br />

■ Spinal-Cord-Stimulation (SCS) durch die<br />

Stimulation von zentral deszendierenden<br />

Fasern im Bereich der Hinterstränge des<br />

Rückenmarks (ebenfalls durch den Patienten<br />

selbst steuerbar) und<br />

■ neurodestruktive Verfahren als Ultima Ratio.<br />

Multimodale <strong>Therapie</strong><br />

Wirken medikamentöse Monotherapien nicht,<br />

ist eine Kombination von Opioiden mit Antikonvulsiva<br />

und Antidepressiva sinnvoll. Eine topische<br />

Anwendung entweder von Lidocain<br />

oder Capsacain, beides auch als transdermales<br />

Pflaster, ist eine mögliche Ergänzung.<br />

TENS, interventionelle Verfahren, Psychotherapie<br />

und Physiotherapie sind weitere Thera-


© Hans Schulz, Bergkamen<br />

Abb. 3: <strong>Schmerz</strong>en bei Herpes zoster können akut oder verzögert auftreten.<br />

piebestandteile. Sind die <strong>Therapie</strong>erfolge unzureichend,<br />

sind neuromodulative Verfahren eine<br />

mögliche Option. Intrathekales Morphin oder<br />

Ziconotidegabe oder auch eine Spinal-Cord-<br />

Stimulation kommen infrage.<br />

<strong>Therapie</strong>beispiel Herpes zoster<br />

Eine akute Zosterneuralgie kann schon vor<br />

und während der Hautsymptomatik auftreten<br />

(Abb. 3). Im Anschluss an die Hautveränderung<br />

kann eine subakute Zosterneuralgie nach<br />

Tab. 2: <strong>Therapie</strong> des chronisch neuropathischen<br />

<strong>Schmerz</strong>es nach Herpes zoster<br />

Neuronal:<br />

■ Opioidanalgetika (entzündungshemmende<br />

Medikamente wirken nicht bei neuropathischen<br />

<strong>Schmerz</strong>en)<br />

■ Amitriptylin<br />

■ Gabapentin<br />

■ Pregabalin<br />

■ Physikalische Maßnahmen<br />

■ Aciclovir oral 800 mg 5 x 1 für 39 Tage<br />

oder<br />

■ Valaciclovir oral 1000 mg 3 x 1 für 30 Tage<br />

oder<br />

■ Famciclovir oral 500 mg 3 x 1 für 63 Tage<br />

Lokal:<br />

■ Capsaicin-Salbe<br />

■ Lidocain-Gel 2%<br />

■ Lidocainpflaster<br />

Bei einschießenden <strong>Schmerz</strong>en:<br />

■ Carbamazepin 400 mg bis 1-0-2 Tbl.<br />

■ Clonazepam 3 x 1mg<br />

■ TENS<br />

■ Sympathikusblockaden<br />

■ Spinal-Cord-Stimulation<br />

SCHMERZTHERAPIE 2/<strong>2010</strong> (26. Jg.)<br />

drei Monaten zur postzosterischen Neuralgie<br />

werden.<br />

Die <strong>Therapie</strong> des chronisch neuropathischen<br />

<strong>Schmerz</strong>es nach Herpes zoster kann<br />

wie in Tabelle 2 dargestellt aussehen.<br />

Wie sich der neuropathische <strong>Schmerz</strong> im<br />

Praxisalltag äußern kann und wie er in den<br />

Griff zu bekommen ist, sollen abschließend die<br />

folgenden beiden Fallbeispiele vermitteln.<br />

Fall 1: Akuter Bandscheibenprolaps<br />

Anamnese: Ein 52-jähriger Patient berichtet<br />

nach einer Fehlbewegung über eine Missempfindung<br />

im Bereich der Oberschenkelaußen-<br />

und -vorderseite, die mit einschießenden,<br />

messerstichartig empfundenen <strong>Schmerz</strong>en<br />

verbunden ist. Die <strong>Schmerz</strong>stärke schätzt er<br />

auf der numerischen Analogskala mit NAS 8<br />

ein. Es bestehen bei dem Patienten keine<br />

sonstigen Vorerkrankungen oder Auffälligkeiten.<br />

Untersuchung: Bei der Untersuchung fällt<br />

eine Hyperästhesie auf, die dem Verlauf des<br />

N. cutaneus femoris lateralis entspricht; sonst<br />

liegen keine Defizite vor. Im weiteren Verlauf<br />

lässt sich ein Bandscheibenvorfall bei L4/5<br />

diagnostizieren, der konservativ weiterbehandelt<br />

wird.<br />

<strong>Therapie</strong>: Neben der Basistherapie mit Oxycodon/Naloxon<br />

in einer Dosierung von 2 x 10/5<br />

mg erhält der Patient aufgrund der noch weiterhin<br />

bestehenden einschießenden <strong>Schmerz</strong>attacken<br />

Pregabalin in einer Dosierung von anfangs<br />

2 x 75 mg, später 2 x 150 mg pro Tag.<br />

Während der gesamten medikamentösen <strong>Therapie</strong><br />

werden physiotherapeutische Maßnahmen<br />

durchgeführt.<br />

Verlauf: Nach sechs Wochen kommt es zu einer<br />

deutlichen <strong>Schmerz</strong>linderung, sodass die<br />

Zertifizierte Fortbildung<br />

Medikamente stufenweise ausgeschlichen<br />

werden und dem Patienten aufgrund der sofort<br />

durchgeführten <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong> eine weitere<br />

Chronifizierung erspart werden konnte.<br />

Fall 2: Postzosterneuralgie<br />

Anamnese: Eine 75-jährige Patientin stellt<br />

sich mit <strong>Schmerz</strong>en vor, die nach einem Herpes<br />

zoster im Bereich des Brustkorbes aufgetreten<br />

sind und sich entlang des Interkostalraumes<br />

7/8 rechtsseitig vom Rücken nach<br />

vorne bis zur Mittellinie ausbreiten. Die<br />

<strong>Schmerz</strong>en bestehen seit drei Jahren, werden<br />

überwiegend als brennend empfunden. Das<br />

Berühren der Kleidung führt zu stärkeren<br />

<strong>Schmerz</strong>en, die insgesamt auf der numerischen<br />

Analogskala zwischen 7 und 9 angegeben<br />

werden.<br />

Eine <strong>Therapie</strong> mit nicht steroidalen Antirheumatika<br />

in Kombination mit Tramadol in<br />

nicht retardierter Form bringt nur eine ungenügende<br />

Linderung.<br />

Untersuchung: In einem umschriebenen Areal<br />

im oben bezeichneten Interkostalraum liegt<br />

eine mechanische Allodynie vor.<br />

<strong>Therapie</strong>: Das Tramadol, das gut vertragen<br />

wurde, wird auf Tramadol 200 mg retard zweimal<br />

täglich gegeben umgesetzt. Nicht steroidale<br />

Antirheumatika werden abgesetzt. Die<br />

Patientin wird diesbezüglich aufgeklärt, auch<br />

über die Notwendigkeit der regelmäßigen und<br />

nicht bedarfsmäßigen Einnahme von <strong>Schmerz</strong>mitteln.<br />

Da es unter der <strong>Therapie</strong> mit Tramadol<br />

nun zu einer verstärkten Übelkeit kommt und<br />

die Patientin zunehmend unter einer Obstipation<br />

leidet, wird die <strong>Therapie</strong> auf Oxycodon/<br />

Naloxon in einer Dosierung von 10/5 mg zweimal<br />

täglich umgestellt. Darunter reduzieren<br />

sich die <strong>Schmerz</strong>en auf NAS 4–5. Zusätzlich<br />

wird aufgrund der noch als unzureichend empfundenen<br />

Wirkung sowie einer Störung des<br />

Nachtschlafes Pregabalin auftitriert, welches<br />

bei einer Dosierung von 2 x 75 mg schon eine<br />

deutliche Verbesserung des Nachtschlafes<br />

bringt. Zusätzlich wird ein transdermales Lidocainpflaster<br />

angewendet, welches über zwölf<br />

Stunden in der Nacht aufgeklebt bleibt und danach<br />

entfernt wird.<br />

Verlauf: Es wird eine deutliche Linderung erreicht.<br />

Die empfundenen <strong>Schmerz</strong>en liegen im<br />

Mittel bei NAS 2–3, und auch die Lebensqualität<br />

der Patientin hat sich verbessert.<br />

Ausblick: Sollten im weiteren Verlauf wieder<br />

stärkere <strong>Schmerz</strong>en auftreten, besteht eine<br />

<strong>Therapie</strong>option im Capsaicin, welches zurzeit<br />

nur als Tinktur erhältlich ist. Ab Oktober dieses<br />

Jahres wird auch ein transdermales System<br />

mit Capsaicin zur Verfügung stehen. ■<br />

Thomas Cegla, Wuppertal<br />

21


Zertifizierte Fortbildung<br />

Neuropathischer <strong>Schmerz</strong><br />

Hier können Sie CME-Punkte sammeln a) für die Pflichtfortbildung aller Vertragsärzte und<br />

b) für freiwillige Fortbildungszertifikate, die viele Landesärztekammern anbieten. Die Multiple-<br />

Choice-Fragen beziehen sich auf den vorangegangenen Fortbildungsbeitrag (S. 18–21). Die<br />

Antworten ergeben sich aus dem Text. Wenn Sie mindestens 70% der Fragen richtig beantworten,<br />

erhalten Sie 2 Punkte, bei 100% 3 CME-Punkte. Es wird jeweils nur eine richtige Antwort<br />

gesucht. Teilnehmen können Sie nur via Internet über www.cme-punkt.de (Einzelheiten<br />

siehe unten). Einsendeschluss ist der 15.12.<strong>2010</strong>.<br />

1. Welche Aussage ist falsch? Polyneuropathien<br />

können als Folge folgender Erkrankungen auftreten:<br />

A Metabolische Störungen<br />

B Arzneimittelnebenwirkungen<br />

C Adipositas<br />

D Malignome<br />

E Infekte<br />

2. Welche Aussage ist nicht richtig?<br />

A Als Mixed Pain oder gemischtes <strong>Schmerz</strong>phänomen<br />

wird ein <strong>Schmerz</strong> aus mono- sowie polyneuropathischen<br />

Anteilen bezeichnet.<br />

B Durchblutungsstörungen, insbesondere Infarkte,<br />

Blutungen, Traumen, Malignome und Parkinsonsyndrome,<br />

können, wenn sie das zentrale Nervensystem<br />

betreffen, zu zentralen neuropathischen<br />

<strong>Schmerz</strong>en führen.<br />

C Lassen sich <strong>Schmerz</strong>en dem Versorgungsgebiet<br />

eines bestimmten Nerven zuordnen, werden diese<br />

als Neuralgien bezeichnet.<br />

D Mononeuropathien betreffen einzelne, Polyneuropathien<br />

mehrere Nerven.<br />

E Zur <strong>Schmerz</strong>messung können nummerische Analogskalen<br />

verwendet werden.<br />

3. Als Allodynie wird bezeichnet:<br />

A Wenn ein normalerweise nicht schmerzhafter Reiz<br />

<strong>Schmerz</strong> auslöst.<br />

B Eine fehlende <strong>Schmerz</strong>empfindung auf normalerweise<br />

schmerzhafte Reize.<br />

C Regionale <strong>Schmerz</strong>en nach einer Nervenläsion in<br />

einer sonst gefühllosen Körperregion.<br />

D Spontan auftretende oder provozierte unangenehme<br />

und abnorme Empfindungen.<br />

E Eine allgemein herabgesetzte Empfindungsstärke.<br />

4. Welche Aussage ist nicht richtig? An der Entstehung<br />

neuropathischer <strong>Schmerz</strong>en sind beteiligt:<br />

A Nozizeptive Neurone<br />

B Na-Kanäle<br />

C Ca-Kanäle<br />

D Capsacain-Rezeptoren<br />

E Motorische Endplatte<br />

5. Welche Aussage ist nicht richtig? Zur Diagnostik<br />

neuropathischer <strong>Schmerz</strong>en können die folgenden<br />

Maßnahmen eingesetzt werden:<br />

A Sympathikusblockaden<br />

B Borrelientiter<br />

C Elektromyogramm<br />

D Somatosensorisch evozierte Potenziale<br />

E EKG<br />

6. Welche Aussage ist nicht richtig? Generell ist<br />

in der Behandlung neuropathischer <strong>Schmerz</strong>en zu<br />

beachten:<br />

A Liegt eine Grunderkrankung vor, ist diese zu behandeln.<br />

B Retardpräparate sind für das ideale Verhältnis von<br />

Wirkung und Nebenwirkung günstiger.<br />

C Die Wirksamkeit lässt sich erst nach einigen<br />

Wochen (2–4) beurteilen.<br />

D Eine Monotherapie ist in jedem Fall anzustreben.<br />

E Der Patient sollte über die Genese und den Verlauf<br />

seiner Erkrankung aufgeklärt sein.<br />

7. In der medikamentösen <strong>Therapie</strong> der Polyneuropathie<br />

hat keinen Stellenwert:<br />

A Oxycodon<br />

B Duloxetin<br />

C Pregabalin<br />

CME-Herausgeber- und Review-Board:<br />

Dr. Uwe Junker, Remscheid, Dr. Gerhard Müller-<br />

Schwefe, Göppingen; Dr. Thomas Nolte, Wiesbaden;<br />

Priv.-Doz. Dr. Michael Überall, Nürnberg<br />

D Gabapentin<br />

E Triamteren<br />

In Zusammenarbeit mit der<br />

Bayerischen Landesärztekammer<br />

und der <strong>Deutsche</strong>n Gesellschaft<br />

für <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong> e.V. – DGS<br />

8. In der <strong>Therapie</strong> der Polyneuropathie hat keinen<br />

Stellenwert:<br />

A Topisches Capsacain<br />

B Topisches Lidocain<br />

C Ibuprofen<br />

D Coping-Strategien<br />

E TENS<br />

9. Welche Aussage ist nicht richtig? In der<br />

<strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong> mit Oxycodon ist zu beachten:<br />

A Oxycodon ist ein hochpotenter -Rezeptor-<br />

Agonist.<br />

B Oxycodon wirkt zusätzlich entzündungshemmend<br />

am Kappa-Rezeptor.<br />

C Es besteht eine sichere Tachyphylaxie für die<br />

opiatbedingte Obstipation.<br />

D Retardpräparate sind für das ideale Verhältnis von<br />

Wirkung und Nebenwirkung günstiger.<br />

E Oxycodon ist ein BTM-pflichtiges Medikament.<br />

10. Welche Aussage ist nicht richtig? Die nicht medikamentöse<br />

<strong>Therapie</strong> neuropathischer <strong>Schmerz</strong>en …<br />

A ... sollte multimodal sein.<br />

B ... sollte Bestandteile aus physikalischer <strong>Therapie</strong><br />

und Ergotherapie beinhalten.<br />

C ... kann auch in einer Spinal-Cord-Stimulation<br />

(SCS) bestehen.<br />

D ... sollte auch psychosomatische, psychologische<br />

oder psychiatrische Gesichtspunkte berücksichtigen.<br />

E ... besteht in der elektrischen Hemmung von<br />

Aα-Fasern.<br />

So kommen Sie zu Ihren Punkten:<br />

Die Teilnahme ist nur möglich via Internet unter www.cme-punkt.de. Dort melden Sie sich als Arzt an und finden<br />

unter dem Kopf der Zeitschrift SCHMERZTHERAPIE die derzeit aktive zertifizierte Fortbildung. Damit der Fragebogen<br />

für die Zertifizierung ausgewertet werden kann, benötigen wir von Ihnen die Einheitliche Fortbildungsnummer EFN.<br />

Sie erhalten via Internet unmittelbar Rückmeldung darüber, ob Sie die Fragen richtig beantwortet haben oder nicht,<br />

und können die Bescheinigung sofort ausdrucken. Wir empfehlen, die Bescheinigungen gesammelt bei Ihrer Landesärztekammer<br />

einzureichen. Wir führen auf dieser Seite auch ein elektronisches Punktekonto für Sie. Bei erfolgreicher<br />

Teilnahme werden Ihre Daten an den Einheitlichen Informationsverteiler (EIV) der Ärztekammern<br />

weitergegeben. Nähere Hinweise hierzu unter: www.cme-punkt.de/faq.html.<br />

Teilnahmeschluss ist der 15.12.<strong>2010</strong>. Viel Glück beim Punktesammeln!<br />

22 SCHMERZTHERAPIE 2/<strong>2010</strong> (26. Jg.)<br />

SCHMERZTHERAPIE


Pflegestützpunkte als Basis der ambulanten<br />

<strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong><br />

Die ambulante <strong>Therapie</strong> sollte durch eine weitergebildete Pflegekraft, die <strong>Schmerz</strong>managerIn,<br />

koordiniert bzw. in Teilen durchgeführt werden. Mit einer rechtzeitig<br />

begonnenen sowie einer konsequent durchgeführten <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong> kann bei vielen<br />

<strong>Schmerz</strong>patienten eine Chronifizierung vermieden werden. Durch die finanzielle<br />

Unterstützung dieses Konzeptes ergibt sich damit auch eine positive Kosten-Nutzen-<br />

Rechnung für die Krankenkassen. In diesem Artikel stellt Elke Geyer, Pflegewissenschaftlerin<br />

BA und algesiologische Fachassistentin, Wuppertal, einen konkreten<br />

Entwurf zur Verbesserung der ambulanten <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong> dar.<br />

H eute<br />

ist es nicht mehr nötig, dass jemand<br />

an chronischen <strong>Schmerz</strong>en übermäßig<br />

leiden muss. Manchmal sind die Maßnahmen,<br />

die dazu erforderlich sind, recht einfach, allerdings<br />

nicht jedem bekannt. Nach diesem Konzeptentwurf<br />

wäre es jedem Versicherten möglich,<br />

die/den <strong>Schmerz</strong>managerIn kostenlos aufzusuchen<br />

und eine individuelle <strong>Schmerz</strong>beratung<br />

zu erhalten. Eine Pflegefachkraft mit einer<br />

algesiologischen Weiterbildung und Beratungskompetenzen<br />

(Wahlweise: systemische Beratung)<br />

kann zum einen den Bedarf einer medikamentösen<br />

<strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong> erkennen, zum anderen<br />

den Erfolg überwachen und Nebenwirkungen<br />

vorbeugen und erfassen. Das bedeutet,<br />

sie kann die Qualität verbessern und der Chronifizierung<br />

vorbeugen. Eine weitere Art, Chronifizierungen<br />

vorzubeugen, besteht in der nicht<br />

medikamentösen <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong>, welche ein<br />

großes Feld von Möglichkeiten eröffnet. Der/<br />

dem <strong>Schmerz</strong>managerIn ist es hier möglich,<br />

neben individuellen Beratungen auch selbst<br />

Schulungen anzubieten sowie andere Berufsgruppen<br />

gezielt und individuell zu involvieren.<br />

Die besten <strong>Therapie</strong>erfolge werden erzielt, wenn<br />

medikamentöse und nicht medikamentöse <strong>Therapie</strong>verfahren<br />

kombiniert werden.<br />

Rechtliche Grundlagen<br />

Rechtlich basiert dieser Konzeptentwurf einerseits<br />

auf § 27 Abs.1 Satz 1 des SGB V: „Versicherte<br />

haben Anspruch auf Krankenbehandlung,<br />

wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu<br />

erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu<br />

verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern.“<br />

Demnach ist gesetzlich verankert, dass für<br />

Krankenversicherte der Anspruch auf Behandlung<br />

nicht nur zum Heilen einer Erkrankung, sondern<br />

bereits zum Verhüten und zur Linderung von<br />

Krankheitsbeschwerden besteht. Somit steht<br />

einem <strong>Schmerz</strong>patienten der Anspruch auf die<br />

Behandlung seiner <strong>Schmerz</strong>en gesetzlich zu.<br />

SCHMERZTHERAPIE 2/<strong>2010</strong> (26. Jg.)<br />

Andererseits basiert das Konzept auf der<br />

aktuellen Diskussion der Pflegestützpunkte,<br />

welche in den meisten Teilen der Bundesrepublik<br />

bis 2011 etabliert sein sollen. Die Diskussion<br />

dreht sich hauptsächlich um § 92c<br />

SGB XI, eingefügt durch das Pflege-Weiterentwicklungsgesetz<br />

von 2008. In diesem Paragrafen<br />

wird nicht nur die zukünftige Vernetzung<br />

pflegerischer und sozialer Versorgungs- und<br />

Betreuungsangebote in den Pflegestützpunkten<br />

beschrieben, sondern auch klar formuliert,<br />

dass durch die Pflegestützpunkte eine wohnortnahe<br />

Beratung, Versorgung und Betreuung<br />

der Krankenversicherten stattfinden soll, um<br />

so gesundheitsfördernde, präventive, kurative,<br />

rehabilitative und sonstige medizinische, pflegerische<br />

und soziale Unterstützungsangebote<br />

für den Versicherten zu koordinieren.<br />

<strong>Schmerz</strong>managerIn im Pflegestützpunkt<br />

Die Ausgangssituation ist ein bereits bestehender<br />

Pflegestützpunkt, der mit einer zusätzlichen Pflegefachkraft,<br />

der/dem <strong>Schmerz</strong>managerIn, besetzt<br />

wird. Die Niederlassung eines Pflege-<strong>Schmerz</strong>managers<br />

in einem Pflegestützpunkt sollte sogleich<br />

den umliegenden Arztpraxen und Apotheken<br />

des Ortsteils sowie der nächstgelegenen algesiologischen<br />

Klinik mitgeteilt werden. Ebenfalls<br />

sollte eine Übersicht über entsprechende Öffnungszeiten,<br />

Schulungen und weitere Angebote<br />

des Pflegestützpunktes den Kliniken, Arztpraxen<br />

und Apotheken zugesendet werden, um eine<br />

gute Zusammenarbeit und lückenlose Weiterführung<br />

der <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong> zu gewährleisten.<br />

Wie kann man Klient einer <strong>Schmerz</strong>managerIn<br />

werden?<br />

1. Chronische <strong>Schmerz</strong>patienten, welche aus der<br />

algesiologischen Klinik entlassen werden, können<br />

vom Algesiologen an die/den <strong>Schmerz</strong>managerIn<br />

„überwiesen“ werden, um so wohnortnah<br />

die Qualität der bereits laufenden <strong>Schmerz</strong>thera-<br />

Algesiologische Fachassistenz<br />

pie zu beobachten und<br />

zu sichern und, soweit<br />

erwünscht, andere Berufsgruppen<br />

in die <strong>Therapie</strong><br />

zu integrieren.<br />

2. Die Fachärzte und<br />

Hausärzte können die<br />

<strong>Schmerz</strong>patienten zur<br />

kontinuierlichen Betreuung<br />

und Beratung<br />

sowie zur eigenen Ent-<br />

Elke Geyer,<br />

Wuppertal<br />

lastung zur/zum <strong>Schmerz</strong>managerIn schicken.<br />

Dadurch kann nicht nur eine <strong>Therapie</strong> gesichert,<br />

sondern auch frühzeitig einer Chronifizierung<br />

vorgebeugt werden.<br />

3. Versicherte, die unter <strong>Schmerz</strong>en leiden,<br />

können selbstständig und ohne über einen Arzt<br />

geschickt zu werden einen Beratungstermin<br />

mit der/dem <strong>Schmerz</strong>managerIn vereinbaren.<br />

Dadurch kann frühzeitig einer Chronifizierung<br />

vorgebeugt werden, und wenn nötig können<br />

auch andere Berufsgruppen in die Behandlung<br />

integriert werden.<br />

Leistungsangebote<br />

Verschiedene Leistungen werden von der/dem<br />

<strong>Schmerz</strong>managerIn im Pflegestützpunkt angeboten:<br />

■ Case-Management von <strong>Schmerz</strong>patienten<br />

(Qualitätssicherung)<br />

■ Psycho-soziale und psycho-sozial-pflegerische<br />

Beratung<br />

■ <strong>Schmerz</strong>patienten informieren und individuell<br />

schulen, um ihnen einen Weg der <strong>Schmerz</strong>bewältigung<br />

aufzuzeigen (Hilfe zur Selbsthilfe)<br />

■ Regelmäßige Patienten- und Angehörigenschulungen<br />

■ Offene <strong>Schmerz</strong>sprechstunden für Versicherte<br />

oder Angehörige, um Informationen und<br />

Beratung auch zeitnah ohne Terminabsprache<br />

zu erhalten (wenn der <strong>Schmerz</strong> am größten<br />

ist).<br />

■ Individuelle <strong>Therapie</strong>möglichkeiten möglichst<br />

kostengünstig aufzeigen<br />

■ Gründung von Selbsthilfegruppen anregen<br />

und diese unterstützen<br />

■ Kontakt herstellen zu anderen Berufsgruppen<br />

(algesiologische Klinik, individueller Hausarzt,<br />

Facharzt, Physiotherapeut, Psychotherapeut,<br />

Homöopath, Heilpraktiker, Akupunkteur,<br />

Tai-Chi-Lehrer, Yoga-Lehrer, Rückenschule,<br />

Sportverein, Fitnessstudio u.v.m.). ■<br />

Elke Geyer, Wuppertal<br />

23


Palliativmedizin<br />

SAPV rechnet sich – hätten Sie<br />

das gedacht?<br />

Mithilfe der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung (SAPV) lassen sich<br />

Krankenhausbehandlungen und Medikamentenkosten am Ende des Lebens sparen.<br />

Somit ist nach einer aktuellen Auswertung des Wiesbadener Palliativzentrums der<br />

Widerstand der Krankenkassen in der Umsetzung der SAPV völlig irrational, da keine<br />

Mehrkosten entstehen, erklärt Dr. med. Thomas Nolte, Leiter des Zentrums für ambulante<br />

Palliativversorgung und DGS-Leiter, Wiesbaden.<br />

S eit<br />

der Einführung der spezialisierten ambulanten<br />

Palliativversorgung (SAPV) zum<br />

1. April 2007 als verpflichtendes Versorgungsangebot<br />

der Krankenkassen in das Sozialgesetzbuch<br />

toben im Hintergrund die Diskussionen zwischen<br />

den Krankenkassen und den potenziellen<br />

SAPV-Teams mit Palliative-Care-Qualifikation.<br />

Bald sind drei Jahre vergangen, ohne dass ein<br />

flächendeckendes Versorgungsangebot bereitgestellt<br />

werden konnte, da sich die Verhandlungspartner<br />

nicht einigen können. Die meisten Kran-<br />

Tab. 1: Kostenrechnung<br />

kenkassen spielen auf Zeit, um die vermeintlich<br />

teurere Versorgung durch Hinhaltetaktik zu verzögern!<br />

„Vieles deutet darauf hin, dass insbesondere<br />

von Kassenseite immer noch Bremser, Blockierer<br />

und Bedenkenträger unterwegs sind, denen an<br />

SAPV-Verträgen wenig gelegen ist“ (Zitat Christoph<br />

Fuhr, Ärzte Zeitung, 16.02.<strong>2010</strong>).<br />

Sind es die Kosten?<br />

Aus den Verhandlungen im Jahr 2005 über einen<br />

Palliativvertrag zur integrierten Versorgung<br />

Kosten je Versicherten mit einer Karzinomerkrankung in den letzten drei Lebensmonaten<br />

bei 6280 Versicherten im Jahr 2004<br />

Durchschnittskosten ambulante Versorgung (Arzt/Pflege/Transport etc.)? 1.500,00 D?<br />

Durchschnittskosten Krankenhaus 9.482,62 D<br />

Durchschnittskosten Apotheke 3.009,67 D<br />

Durchschnittskosten gesamt aus Krankenhauskosten und Medikamenten 12.492,29 D<br />

Hochgerechnete Durchschnittskosten in drei Monaten 14.000,00 J<br />

Tab. 2: Fallpauschalen der Ersatzkassen in Hessen<br />

Pauschale Versorgungsdauer Fallpauschale<br />

PV1 bis 10 Tage 1.500 D<br />

PV2 11.–56. Tag – täglich 120 D<br />

PV3 > 57 Tage – täglich 80 D<br />

Tab. 3: Fallpauschalen der Primärkassen in Hessen<br />

Pauschale Versorgungsdauer Fallpauschale<br />

PA1<br />

PA2<br />

PA3<br />

PA4<br />

PA5<br />

PA6<br />

PA7<br />

PA8<br />

<<br />

– 10 Tage<br />

<<br />

– 20 Tage<br />

<<br />

– 30 Tage<br />

<<br />

– 40 Tage<br />

<<br />

– 50 Tage<br />

<<br />

– 60 Tage<br />

<<br />

– 75 Tage<br />

<<br />

– 90 Tage<br />

1.500 D<br />

2.350 D<br />

3.350 D<br />

4.550 D<br />

5.850 D<br />

7.000 D<br />

8.000 D<br />

9.150 D<br />

mit der Techniker Krankenkasse<br />

und dem<br />

ZAPV-Zentrum für ambulantePalliativversorgung<br />

Wiesbaden<br />

liegt eine Auswertung<br />

der Krankenkasse aus<br />

dem Jahr 2004 vor, die<br />

damals Grundlage für<br />

die Berechnungen der<br />

Fallpauschalen für die<br />

IV-Vergütung waren.<br />

Thomas Nolte,<br />

Wiesbaden<br />

Berücksichtigt wurden 6280 Versicherte der<br />

Techniker Krankenkasse, die im Jahr 2004 an<br />

einer Tumordiagnose verstorben waren (Tab. 1).<br />

Erhoben wurden die dabei entstandenen Versorgungskosten<br />

in den letzten drei Lebensmonaten<br />

im Krankenhaus (9.482 1) und die Kosten<br />

durch die verordneten Medikamente (3.009 1).<br />

Die Kosten der ambulanten Versorgung konnten<br />

durch die sektoralen Strukturen nur geschätzt<br />

werden. Sie setzen sich aus der ärztlichen und<br />

pflegerischen Versorgung sowie den Transportkosten<br />

zusammen und wurden pauschal mit<br />

1.500 1 angesetzt. Die durchschnittlichen Versorgungskosten<br />

beliefen sich somit auf 14.000 1<br />

für die letzten drei Lebensmonate.<br />

Schauen wir jetzt auf die Fallpauschalen,<br />

die nach den in Hessen gültigen SAPV-Verträgen<br />

von den Ersatzkassen (Tab. 2) und den<br />

Primärkassen (Tab. 3) bezahlt werden. Die<br />

Fallpauschalen berücksichtigen, dass der Versorgungsaufwand<br />

am Anfang der SAPV höher<br />

ist. Die zum Vergleich herangezogenen realen<br />

Versorgungskosten aus dem Jahr 2004 sind<br />

analog zu den Fallpauschalen der SAPV nach<br />

einer Graduierung in 45, 35 und 20% für die<br />

drei Monate rückwirkend vom Todeszeitpunkt<br />

aufgeteilt worden, da die Versorgungsdichte<br />

und damit die Kosten zum Lebensende zunehmen.<br />

Daraus ergibt sich die Gegenüberstellung<br />

in Tab. 4. Es fehlen hier allerdings die Krankenhaus-<br />

und Medikamentenkosten in der SAPV,<br />

die bereits in den gesamten Versorgungskosten<br />

aus dem Jahr 2004 enthalten sind.<br />

Aktuelle Auswertung<br />

Es liegen nun die ersten konkreten Versorgungsdaten<br />

aus Hessen vor, wo seit dem<br />

1. April 2009 nach zwei Jahren zähen Verhandelns<br />

ein landesweiter Vertrag mit allen Krankenkassen<br />

zur SAPV abgeschlossen wurde.<br />

Die Erfahrungen aus der integrierten Versorgung,<br />

die hessische Palliativ-Teams bereits<br />

seit 2006 sammeln konnten, und die Geschlossenheit<br />

der hessischen Palliative-Care-Teams<br />

hatten den Umsetzungsprozess beschleunigt!<br />

Das Zentrum für ambulante Palliativversorgung<br />

(ZAPV) in Wiesbaden ist seit April 2009<br />

eines der aktuell 19 Palliative-Care-Teams in<br />

24 SCHMERZTHERAPIE 2/<strong>2010</strong> (26. Jg.)


© Bildarchiv Nolte<br />

Hessen, die an der SAPV teilnehmen. Das<br />

ZAPV hat die Ergebnisse aus dem Jahr 2009<br />

unter ökonomischen Gesichtspunkten ausgewertet.<br />

Im Jahr 2009 wurden genau 250 Patienten<br />

von dem ZAPV-Palliative-Care-Team in<br />

der SAPV versorgt.<br />

Versorgungstage: Demnach wurden 250 Patienten<br />

an 6.989 Tagen (im Durschnitt 28 Tage)<br />

versorgt (Abb. 1)! Die Versorgung erfolgte zu 69%<br />

zu Hause, zu 28% im Hospiz und 3,5% der Tage<br />

im Krankenhaus. Das bekannte Verhältnis aus der<br />

Regelversorgung – mehr als 50% der Patienten<br />

sterben im Krankenhaus – ist hier eindrucksvoll in<br />

das Gegenteil verkehrt worden. Zusätzliche Kosten<br />

fielen an 245 Tagen durch Krankenhausbehandlungen<br />

an. Bei hochgeschätzten 800 1 pro<br />

stationärem Behandlungstag entstanden zusätzliche<br />

Kosten von 200.000 1; dies entspricht pro<br />

Patient 780 1 in der SAPV. Die Kosten für die<br />

stationäre Hospizbehandlung bei 1949 Versorgungstagen<br />

im Hospiz beliefen sich auf<br />

292.000 1, wenn man einen Tagessatz von 150<br />

1 zugrunde legt. Die SAPV-Kosten reduzieren<br />

sich jedoch noch um die um 50% reduzierte<br />

SAPV-Pauschale bei Hospizpatienten. Der Tagessatz<br />

im Hospiz wird zur Vereinfachung um<br />

die reduzierte SAPV-Pauschale auf 100 1 gekürzt.<br />

Dies reduziert die Kosten auf etwa<br />

200.000 1, entsprechend 800 1 pro Patient.<br />

Sterbeorte: Die Sterbeorte der 232 Patienten<br />

waren bei 130 Patienten (56 %) zu Hause, bei<br />

92 Patienten (40%) im Hospiz und bei zehn im<br />

Krankenhaus (4%). 18% der Patienten sind aus<br />

der SAPV stabilisiert wieder ausgeschieden<br />

(Abb. 2). Eines der Qualitätsmerkmale der<br />

SAPV – ein Sterben in der häuslichen Umge- Placebo<br />

bung –, ist auch hier verwirklicht worden.<br />

Medikamentenkosten: Die Ausgaben für Medikamente<br />

bei den 250 Patienten in der SAPV<br />

Abb. 1: Versorgungzeiträume (VT) in der SAPV in Tagen<br />

6000<br />

5000<br />

4000<br />

3000<br />

2000<br />

1000<br />

4795<br />

SCHMERZTHERAPIE 2/<strong>2010</strong> (26. Jg.)<br />

Durchschnitt 26,98 VT<br />

1949<br />

0<br />

1<br />

Daten: 250 Patienten im Zeitraum 01.04.–31.12.2009<br />

Tab. 4: Vergleich mit den Versorgungskosten aus dem Jahr 2004<br />

lagen bei 140.750 1, demnach bei 563 1 pro<br />

Patient.<br />

Zusammenfassung<br />

Wenn wir die Kosten im Jahr 2004 denen im Jahr<br />

2009 in der SAPV gegenüberstellen, ergibt sich<br />

das Bild in Tab. 5. Die Berechnungen enthalten<br />

sicher noch einige Unschärfen, die einerseits auf<br />

gestiegene Versorgungskosten in der Regelversorgung<br />

seit 2004 (heute eher noch teurere und<br />

komplexere <strong>Therapie</strong>strategien) beruhen, andererseits<br />

auf nicht erfassten Kosten durch palliative<br />

chemo- und strahlentherapeutische Maßnahmen<br />

parallel zur SAPV. Allerdings trifft dies nur auf eine<br />

kleine Zahl von Patienten zu.<br />

Fazit<br />

Bereits ohne die Berücksichtigung der SAPV-<br />

Fördergelder aus dem Gesetz zur Stärkung<br />

des Wettbewerbs in der gesetzlichen Kranken-<br />

Palliativmedizin<br />

Behandlungsdauer 2004 SAPV VdEK und BKK SAPV Primärkassen<br />

Bis 30 Tage 6.300 D 3.900 D 3.350 D<br />

31 bis 60 Tage 4.200 D 3.600 D 3.650 D<br />

61 bis 90 Tage 3.500 D 2.400 D 2.150 D<br />

Insgesamt 14.000 J 9.900 J 9.150 J<br />

Tab. 5: Kosten im Jahr 2004 im Vergleich zum Jahr 2009<br />

Behandlungsdauer 2004 SAPV VdEK und BKK SAPV Primärkassen<br />

Bis 30 Tage 6.300 D 3.900 D 3.350 D<br />

31 bis 60 Tage 4.200 D 3.600 D 3.650 D<br />

61 bis 90 Tage 3.500 D 2.400 D 2.150 D<br />

Krankenhauskosten inklusive (9.482 D) 780 D 780 D<br />

Medikamentenkosten inklusive (3.009 D) 563 D 563 D<br />

Hospizkosten inklusive 800 D 800 D<br />

Gesamtkosten 14.000 J 12.413 J 11.663 J<br />

Versorgungszeiträume<br />

VT zu Hause<br />

VT im Hospiz<br />

KH Tage<br />

245<br />

© Bildarchiv Nolte<br />

140<br />

120<br />

100<br />

80<br />

60<br />

40<br />

20<br />

0<br />

130<br />

versicherung GKV-WSG versorgte das ZAPV<br />

schwerkranke Menschen am Lebensende im<br />

Jahr 2009 kostengünstiger, als das im Vergleichsjahr<br />

2004 in der Regelversorgung ohne<br />

SAPV der Fall war.<br />

Durch die Reduzierung von Krankenhausbehandlungs-<br />

und Medikamentenkosten durch<br />

die palliative Neuorientierung in der Patientenversorgung<br />

kann die SAPV mehr als kostenneutral<br />

in der Regelversorgung verankert<br />

werden. Der Widerstand der Krankenkassen in<br />

der Umsetzung der SAPV ist nicht rational begründet,<br />

da keine Mehrkosten entstehen. Die<br />

Erfahrungen aus der integrierten Versorgung<br />

bestätigen hier, dass eine qualitative Verbesserung<br />

der Versorgung durch komplexe und<br />

damit primär aufwendige Konzepte (SAPV)<br />

nicht mit mehr Kosten erkauft werden muss. ■<br />

Abb. 2: Sterbeorte der Patienten in der SAPV<br />

Daten: 250 Patienten im Zeitraum 01.04.–31.12.2009<br />

92<br />

10<br />

Thomas Nolte, Wiesbaden<br />

Sterbeorte<br />

zu Hause<br />

im Hospiz<br />

im Krankenhaus<br />

unbekannt<br />

18<br />

25


Pharmakotherapie<br />

Opioidinduzierte Hyperalgesie:<br />

keine Rarität und therapiebedürftig<br />

Lange Zeit galt das Phänomen „opioidinduzierte Hyperalgesie“ (OIH) als etwas Exotisches und wurde<br />

nahezu ausschließlich mit aktiven Metaboliten des Morphins in Verbindung gebracht. Anhand zweier<br />

Kasuistiken illustriert Dr. med. Uwe Junker, Remscheid, dass es sich um einen ernst zu nehmenden und<br />

unbedingt therapiebedürftigen Symptomenkomplex handelt, der nicht nur unter <strong>Therapie</strong> mit Morphin<br />

auftreten kann und von der Opioidtoleranz abgegrenzt werden muss.<br />

Fallbeispiel 1<br />

Der Hausarzt bittet uns um Unterstützung bei<br />

der Betreuung eines 13-jährigen Jungen, der<br />

an einem weit fortgeschrittenen Pankreaskarzinom<br />

erkrankt ist. Unter neoadjuvanter Chemotherapie<br />

ist der Primärtumor zwar deutlich<br />

kleiner geworden, doch leider ist eine diffuse<br />

Metastasierung in Lunge und Leber aufgetreten.<br />

Auf weitere palliative Chemotherapie wird<br />

im Einvernehmen mit Kind und Eltern verzichtet,<br />

der Junge soll sein letztes Weihnachtsfest<br />

im Kreise der Familie verleben. Er selbst hat<br />

außerdem den dringenden Wunsch, noch einmal<br />

mit seinen Eltern und seiner jüngeren<br />

Schwester an die dänische Küste zu reisen, wo<br />

die Familie meist ihre Ferien verbrachte.<br />

Der Junge ist mit einer intravenösen Analgesie<br />

in Form einer <strong>Schmerz</strong>pumpe mit einer<br />

Tagesdosis von 5 g Metamizol und zuletzt 150<br />

mg Hydromorphon versorgt. Das Konzept mit<br />

einem Nichtopioid, das bei viszeralen <strong>Schmerz</strong>en<br />

nicht zuletzt wegen seiner spasmolytischen<br />

Komponente effektiv ist, und einem Opioid,<br />

das sich durch seine im Vergleich zu Morphin<br />

etwa achtfach höhere analgetische Potenz bei<br />

gleichzeitig sehr geringem Interaktionsrisiko<br />

auszeichnet, ist gut durchdacht. Die Pumpe<br />

verfügt über eine PCA-Funktion zur Kupierung<br />

von Durchbruchschmerzen. In den letzten Tagen<br />

seien die <strong>Schmerz</strong>en fast dauerhaft viel<br />

intensiver geworden. Das Kind ist über seine<br />

begrenzte Lebenserwartung vollends im Bilde,<br />

akute Ängste scheiden daher als alleinige<br />

Ursache der starken <strong>Schmerz</strong>en aus. Beim<br />

gemeinsamen Hausbesuch mit dem Hausarzt<br />

empfängt uns das deutlich sediert wirkende<br />

und gangunsichere Kind mit den Worten: „Ihr<br />

müsst mir den Bolus höher stellen, ich habe<br />

überall <strong>Schmerz</strong>en.“ Den Versuch, einen Arm<br />

um seine Schultern zu legen, wehrt der Junge<br />

mit den Worten ab: „Bitte nicht anfassen, tut<br />

zu weh.“<br />

Bei der Durchsicht des vom Vater sorgfältig<br />

geführten <strong>Schmerz</strong>tagebuches fällt auf, dass<br />

<strong>Schmerz</strong>zunahme und vermehrte Müdigkeit in<br />

© Bildarchiv Junker<br />

Abb. 1 Kernspintomografie des Patienten<br />

mit Metastasen an der BWS (Fallbeispiel 2).<br />

zeitlichem Zusammenhang mit der Erhöhung<br />

der Hydromorphon-Tagesdosis auf 150 mg<br />

stehen.<br />

Fallbeispiel 2<br />

Ein 62-jähriger Mann, der unter einem fortgeschrittenen<br />

Prostatakarzinom mit intensiver<br />

Metastasierung in seine Wirbelsäule leidet,<br />

wird aus einer onkologischen Praxis auf unsere<br />

Palliativstation eingewiesen. Der Patient<br />

klagt trotz einer hoch dosierten <strong>Therapie</strong> mit<br />

300 µg transdermalem Fentanyl über stärkste<br />

<strong>Schmerz</strong>en; man käme einfach nicht mehr weiter.<br />

Außerdem erhält er noch 4 x 30 Tropfen<br />

Metamizol am Tag.<br />

Bei der stationären Aufnahme sehen wir einen<br />

stark somnolenten Patienten, der dennoch<br />

bei jeder Berührung stärkste <strong>Schmerz</strong>en angibt<br />

und nicht lagerungsfähig ist. Eine aktuelle<br />

Kernspintomografie der Wirbelsäule (Abb. 1)<br />

zeigt sowohl osteoblastische als auch osteoklastische<br />

Metastasen.<br />

Im Vergleich zum ersten Fall wurde hier ein<br />

undifferenziertes, wenig am <strong>Schmerz</strong>mechanismus<br />

orientiertes <strong>Therapie</strong>konzept gewählt: Nicht<br />

jeder <strong>Schmerz</strong> ist vollständig opioidsensitiv, die<br />

<strong>Schmerz</strong>…<br />

Uwe Junker,<br />

Remscheid<br />

…„immer da“<br />

…„anders als vorher“<br />

…„überall, am ganzen Körper“<br />

…„macht mich verrückt“<br />

Abb. 2 Patientensicht.<br />

befallenen Wirbelkörper können nozizeptive und<br />

neuropathische <strong>Schmerz</strong>en verursachen. Metamizol<br />

wirkt bei Knochenschmerzen nicht so gut<br />

wie tNSAR oder Coxibe. Retrospektiv betrachtet<br />

wäre bei diesem Patienten sicher ein <strong>Therapie</strong>regime<br />

effektiver gewesen, welches ein Opioid<br />

sowohl mit einer antinozizeptiv als auch mit<br />

einer antineuropathisch wirksamen Substanz<br />

kombiniert hätte, z.B. Fentanyl in niedrigerer<br />

Dosierung mit Celecoxib und Pregabalin.<br />

Diskussion<br />

Mögen beide Kasuistiken auf den ersten Blick<br />

auch völlig unterschiedlich anmuten, so zeigen<br />

sie doch im Kontext „opioidinduzierte Hyperalgesie“<br />

wichtige Gemeinsamkeiten:<br />

■ Zunahme der <strong>Schmerz</strong>en ohne aktuellen<br />

Krankheitsprogress<br />

■ Wechsel von lokalisierbarem zu diffusem<br />

Ganzkörperschmerz<br />

■ <strong>Schmerz</strong>charakter weniger eindeutig<br />

■ Erhöhung der Opioiddosis ohne Effekt.<br />

Bei diesen Symptomen, die Patienten mit ihren<br />

eigenen Worten oft recht gut beschreiben (Abb.<br />

2), sollte die mögliche Diagnose Opioid-Hyperalgesie<br />

bedacht werden.<br />

26 SCHMERZTHERAPIE 2/<strong>2010</strong> (26. Jg.)<br />

© Ivan Isak/Fotolia.com


Pathophysiologie<br />

Pathophysiologisch spielen eine Aktivierung des<br />

NMDA-Rezeptors, eine Steigerung der spinalen<br />

Dynorphinkonzentration mit Freisetzung erregender<br />

Neurotransmitter, Einflüsse absteigender<br />

aktivierender Bahnen und eine jüngst nachgewiesene<br />

synaptische Langzeitpotenzierung in<br />

C-Fasern eine Rolle. Letztere wird durch einen<br />

Anstieg der Kalziumionenkonzentration in spinalen<br />

Nervenzellen verursacht und führt schließlich<br />

zum Phänomen der „Pronozizeption“ im<br />

Sinne eines <strong>Schmerz</strong>gedächtnisses. Differenzialdiagnostisch<br />

müssen eine Exazerbation vorbestehender<br />

<strong>Schmerz</strong>en, die Entwicklung einer<br />

Opioidtoleranz oder auch Einflüsse von Komorbiditäten<br />

wie Angst und/oder Depression bedacht<br />

werden. Einen Diagnosealgorithmus, der diese<br />

Aspekte berücksichtigt, zeigt Abbildung 3.<br />

Gezielt behandeln<br />

Das therapeutische Management des opioidinduzierten<br />

Hyperalgesiesyndroms kombiniert<br />

verschiedene Ansätze. Wichtig ist die rasche<br />

Dosisreduktion des verwendeten Opioids um<br />

ca. 25% und die am <strong>Schmerz</strong>mechanismus<br />

orientierte Kombination mit Nichtopioid- und/<br />

oder Koanalgetika. Bei Bedarf kann auf ein<br />

Opioid mit niedrigerem OIH-Potenzial gewechselt<br />

werden, z.B. Fentanyl > Morphin > Methadon<br />

> Buprenorphin. Unter Berücksichtigung<br />

der geschilderten pathophysiologischen Zusammenhänge<br />

und der Tatsache, dass OIH ein<br />

Phänomen darstellt, das sich nach heutigem<br />

Kenntnisstand ganz überwiegend am µ-Opioid-<br />

Rezeptor abspielt, spielen Methadon als<br />

NMDA-Antagonist und Buprenorphin als partieller<br />

µ-Rezeptor-Antagonist eine wichtige Rolle.<br />

Die vielfältigen Behandlungsmöglichkeiten<br />

fasst Abbildung 4 zusammen.<br />

Auch unsere beiden geschilderten Fälle behandelten<br />

wir gemäß diesem Algorithmus. Bei<br />

beiden Patienten reduzierten wir die Opioiddosis<br />

deutlich: Hydromorphon von 150 auf etwas<br />

mehr als 70 mg Tagesdosis in Fall 1, Fentanyl<br />

auf 100 µg pro 72 Stunden im Fall des Patienten<br />

mit Prostatakarzinom. Beide Patienten und ihre<br />

Angehörigen wünschten, eine Behandlung in<br />

der Klinik möglichst zu vermeiden bzw. so kurz<br />

und effektiv wie möglich zu gestalten.<br />

Differenzialtherapie<br />

Im Fall des 13-jährigen Jungen boten wir die<br />

Anlage eines Epiduralkatheters an, die dieser<br />

aber ablehnte, da er nicht „noch einen weiteren<br />

Schlauch in seinem Körper stecken“ haben<br />

wollte. Im Rahmen eines eintägigen Klinikaufenthaltes<br />

führten wir unter Analgosedierung<br />

einmalig eine Zöliakusneurolyse mit 90% Alkohol<br />

durch, wohl wissend, dass diese Maßnahme<br />

bei bereits stattgehabter abdomineller Me-<br />

SCHMERZTHERAPIE 2/<strong>2010</strong> (26. Jg.)<br />

Mod. nach Junker U et al. The Pain Clinic 2007;19(3):109–111<br />

Sachverhalt prüfen<br />

Hilft das?<br />

Ja<br />

Mod. nach Junker U, Wirz S, Pain Medicine <strong>2010</strong>, eingereicht Abb. 3: Diagnostisches Prozedere bei OIH<br />

tastasierung allein nicht ausreichen würde.<br />

Daher kombinierten wir intravenöses Hydromorphon<br />

mit dem NMDA-Antagonisten Ketamin<br />

in Form von S-Ketamin wegen seiner im<br />

Vergleich zum Racemat geringeren zentralnervösen<br />

Nebenwirkungen. Die Pumpe wurde so<br />

befüllt, dass der Junge durchschnittlich 3 mg<br />

Hydromorphon und 20 mg S-Ketamin stündlich<br />

erhielt. Auf Metamizol konnte bei diesem Kon-<br />

Abb. 4: Stufenplan der <strong>Therapie</strong> bei<br />

opioidinduzierter Hyperalgesie<br />

Opioide<br />

+<br />

S-Ketamin<br />

Regionale<br />

Verfahren<br />

Parecoxib<br />

Paracetamol i.v.<br />

Metamizol, NSARs<br />

Opioidrotation<br />

Ja<br />

Echte OIH wahrscheinlich<br />

Nein<br />

Ja<br />

Echte Opioidtoleranz<br />

wahrscheinlich<br />

Pharmakotherapie<br />

Keine adäquate Analgesie trotz Opioidgabe<br />

(scheinbare Opioidtoleranz)<br />

Fortschreiten des<br />

schmerzverursachenden Prozesses?<br />

Nein<br />

Psychische Faktoren relevant?<br />

Nein<br />

Echte Opioidtoleranz oder OIH?<br />

Klinische Symptome einer OIH?<br />

Nein<br />

Ja Weitere Opioidsteigerung hilft?<br />

Nein<br />

Ja<br />

zept verzichtet werden. Die von ihm gewünschte<br />

Reise nach Dänemark und den Besuch<br />

seiner Großeltern in Schleswig-Holstein konnte<br />

die Familie noch gemeinsam erleben. Das<br />

Kind blieb bis zu seinem Tod zu Hause im Kreis<br />

seiner Angehörigen gut schmerzgelindert.<br />

Der 62-jährige Patient mit Prostatakarzinom<br />

klarte nach der Reduktion der Fentanyldosis<br />

zunehmend auf und willigte in die Anlage eines<br />

untertunnelten Periduralkatheters ein, den wir<br />

kontinuierlich mit 0,2% Ropivacain beschickten.<br />

Er lebte mit diesem Konzept bei guter<br />

<strong>Schmerz</strong>kontrolle noch drei Wochen und starb<br />

ebenfalls friedlich im häuslichen Umfeld.<br />

Fazit<br />

Die opioidinduzierte Hyperalgesie ist Realität.<br />

Die erste und wohl wichtigste diagnostische<br />

Maßnahme besteht darin, an dieses Symptom<br />

zu denken. Immer noch werden durchschnittlich<br />

mindestens fünf Tage bis zur Diagnosestellung<br />

benötigt – für den betroffenen Patienten<br />

eine quälend lange Zeit. Die beste Prophylaxe<br />

ist eine individuelle, am <strong>Schmerz</strong>mechanismus<br />

orientierte analgetische Kombinationstherapie,<br />

bei der immer die niedrigstmögliche effektive<br />

Opioiddosis angestrebt werden sollte. ■<br />

Uwe Junker, Remscheid<br />

27


Integrierte Versorgung<br />

„IVZ“ mit dem Innovationspreis der<br />

Financial Times Deutschland ausgezeichnet<br />

Die Financial Times Deutschland zeichnete am 12. April <strong>2010</strong> in Berlin im<br />

Rahmen einer festlichen Abendveranstaltung das von der Integrative Managed<br />

Care GmbH (IMC) mit Mitgliedern der <strong>Deutsche</strong>n Gesellschaft für <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong><br />

(DGS) und der Techniker Krankenkasse (TK) entwickelte integrierte<br />

Versorgungsprojekt „IVZ“ mit dem „Innovationspreis des Ideenparks<br />

Gesundheitswirtschaft <strong>2010</strong>“ aus.<br />

B ereits<br />

zum fünften Mal waren Unternehmen,<br />

Institutionen und Einzelpersonen<br />

aufgerufen, ihre innovativen Ideen, Projekte<br />

und Geschäftsmodelle einzureichen. Eine<br />

hochkarätig besetzte Expertenrunde sichtete<br />

die über 50 eingereichten Vorschläge und prämierte<br />

anschließend die jeweils innovativsten<br />

Konzepte. Maßgeblich für<br />

die Preisverleihung waren<br />

dabei neben dem Innovationsgrad<br />

(gibt es vergleichbare<br />

Projekte im In- oder<br />

Ausland?) insbesondere die<br />

Versorgungsrelevanz (wie groß ist der Veränderungsbedarf?),<br />

die Projekteffizienz (lassen<br />

sich Versorgungsqualität und Versorgungskosten<br />

optimieren?), die Durchsetzbarkeit (lässt<br />

sich das Konzept finanziell und politisch umsetzen?)<br />

und die Reichweite (entfaltet das Projekt<br />

strukturelle Wirkung auf das Gesundheitssystem?).<br />

In Anwesenheit von Frau MdB Annette Wiedmann-Mauz,<br />

der parlamentarischen Staatssekretärin<br />

im Bundesministerium für Gesundheit,<br />

Berlin, nahmen Herr Dr. Michael A. Überall und<br />

Herr Harry Kletzko stellvertretend für die mit<br />

der Realisation dieses Konzeptes verantwortliche<br />

Integrative Managed Care (IMC) GmbH<br />

und Techniker Krankenkasse den Preis für das<br />

erste bundesweite Angebot zur „Einholung einer<br />

qualifizierten Zweitmeinung vor Durchführung<br />

operativer Eingriffe an der Wirbelsäule – IVZ“<br />

entgegen.<br />

Nach dem bereits 2008 von der Financial<br />

Times Deutschland ausgezeichneten „IVR-Konzept<br />

zur integrierten Versorgung von Patienten<br />

mit akuten und chronischen Rückenschmerzen“<br />

wurde damit bereits zum zweiten Mal ein bundesweit<br />

realisiertes Konzept zur Verbesserung<br />

der integrierten Versorgung chronisch schmerzkranker<br />

Menschen ausgezeichnet, welches von<br />

der IMC GmbH mit Mitgliedern der <strong>Deutsche</strong>n<br />

Gesellschaft für <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong> (DGS) auf<br />

„Patienten sollten die Chance<br />

erhalten, das Für und Wider eines<br />

Eingriffs sorgfältig abzuwägen.“<br />

der Grundlage langjähriger Erfahrungen in Klinik<br />

und Praxis entwickelt wurde und seit Januar<br />

<strong>2010</strong> zusammen mit der Techniker Krankenkasse<br />

(TK) realisiert wird.<br />

Zunehmend häufiger werden in Deutschland<br />

Patienten wegen schmerzhafter Rückenbeschwerden<br />

einer Operation unterzogen, aktuell<br />

rund 230 000 – das<br />

entspricht der Einwohnerzahl<br />

einer Stadt wie<br />

Braunschweig –, und die<br />

Anzahl operativer Interventionen<br />

stieg im Laufe<br />

der vergangenen Jahre kontinuierlich an. Doch<br />

bei vielen Betroffenen bleibt der erhoffte Erfolg<br />

nach der Operation aus, nicht selten entwickelten<br />

sich im Anschluss sogar deutlich stärkere<br />

<strong>Schmerz</strong>en.<br />

Viele Patienten werden operiert, weil sie<br />

radiologisch bestimmte strukturelle bzw. morphologische<br />

Auffälligkeiten aufweisen – z.B.<br />

Michael Überall,<br />

Nürnberg<br />

Harry Kletzko,<br />

Oberursel<br />

eine Einengung des Wirbelkanals oder eine<br />

Bandscheibendegeneration –, die fälschlicherweise<br />

als Ursache der gleichzeitig bestehenden<br />

schmerzhaften Beschwerden identifiziert<br />

wird, obwohl mittlerweile zahlreiche Querschnittsuntersuchungen<br />

zeigen konnten, dass<br />

derartige Befunde auch bei vielen klinisch<br />

völlig beschwerdefreien Menschen nachgewiesen<br />

werden können. Gleichzeitig weisen<br />

zahlreiche Patienten mit klinisch absolut identisch<br />

erscheinenden Rückenschmerzen genau<br />

diese Strukturanomalien nicht auf, sodass<br />

unterstellt werden muss, dass die Koinzidenz<br />

(d.h. das zufällige Zusammentreffen von Erscheinungen)<br />

hier nicht selten zur Kausalität<br />

erklärt und zum Anlass genommen wird, den<br />

Einsatz hochpreisiger operativer Verfahren zu<br />

rechtfertigen.<br />

Aktuelle Analysen der Vertragspartner belegen<br />

bei der operativen Behandlung von Patienten<br />

mit Rückenschmerzen „ein komplexes<br />

Muster von Über-, Unter- und Fehlversorgung“.<br />

Aus diesem Grund bietet die Techniker Krankenkasse<br />

(TK) erstmalig seit dem 1. Januar<br />

<strong>2010</strong> ihren Versicherten das von der Managementgesellschaft<br />

Integrative Managed<br />

Care GmbH (IMC) und der <strong>Deutsche</strong>n Gesellschaft<br />

für <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong> (DGS) entwickelte<br />

Zweitmeinungsangebot bundesweit an. Wer<br />

unsicher ist, ob eine geplante Rückenoperation<br />

im persönlichen Fall sinnvoll ist, kann sich<br />

bei einem Expertenteam eine qualifizierte<br />

zweite Meinung einholen. Vorfeldanalysen<br />

haben ergeben, dass sich – bei zumindest<br />

gleichem Erfolg, jedoch deutlich geringerem<br />

Risiko – in vier von fünf Fällen eine Operation<br />

durch konservative Methoden wie eine an den<br />

individuellen Bedürfnissen Betroffener ausgerichtete<br />

multimodale und interdisziplinäre<br />

<strong>Therapie</strong> (z.B. entsprechend dem integrierten<br />

Versorgungsprojekt Rückenschmerz – IVR)<br />

28 SCHMERZTHERAPIE 2/<strong>2010</strong> (26. Jg.)


© Bildarchiv Überall/Kletzko<br />

Dr. Michael Überall und Harry Kletzko nahmen den Innovationspreis stellvertretend<br />

entgegen.<br />

vermeiden lässt. Erste Ergebnisse des IVZ-<br />

Projekts bestätigen diese Daten. So wurde bei<br />

den 54 Patienten, die sich in den ersten beiden<br />

Monaten dieses Jahres vor einer bereits fest<br />

terminierten „Rückenoperation“ in den IMC-<br />

Vertragszentren nach den Kriterien des IVZ<br />

untersuchen ließen, nur in neun Fällen die<br />

Operationsindikation bestätigt! In den übrigen<br />

45 Fällen wurden seitens des Kompetenzteams<br />

multimodale <strong>Therapie</strong>alternativen als sinnvoller<br />

und im Interesse des Patienten zielführender<br />

angesehen und die Betroffenen entsprechend<br />

versorgt.<br />

„Innovationen – wie die von uns entwickelten<br />

integrierten Angebote IVR und IVZ – sind der<br />

Motor für den medizinischen Fortschritt. Getreu<br />

dieser Devise haben es sich die <strong>Deutsche</strong><br />

Gesellschaft für <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong> (DGS) und<br />

die Integrative Managed Care (IMC) GmbH zur<br />

Aufgabe gemacht, zusammen mit kreativen<br />

Partnern – wie z.B. der Techniker Krankenkasse<br />

– innovative Versorgungskonzepte für schmerzkranke<br />

Menschen zu entwickeln, die nicht nur<br />

den aktuellen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse<br />

widerspiegeln, sondern sich auch<br />

an den individuellen Bedürfnissen Betroffener<br />

orientieren, um eine wirklich nachhaltige Verbesserung<br />

zu erzielen“, erklärt Privatdozent<br />

Dr. med. Michael A. Überall, Vizepräsident der<br />

<strong>Deutsche</strong>n Gesellschaft für <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong>.<br />

„Mit unseren Konzepten verabschieden wir<br />

uns von den klassischen „Pay for procedure“-<br />

SCHMERZTHERAPIE 2/<strong>2010</strong> (26. Jg.)<br />

Standards der aktuellen Versorgungsrealität,<br />

bei der erbrachte Leistungen unabhängig von<br />

deren Erfolg vergütet werden, und setzen auf<br />

das „Pay for performance“-Modell, bei dem<br />

sich die Leistungsvergütung am messbaren<br />

Behandlungserfolg für den Patienten orientiert“,<br />

so Überall weiter.<br />

„Wir verstehen uns dabei als aktive Gestalter<br />

und Impulsgeber, wenn es darum geht, neuartige<br />

schmerztherapeutische Versorgungskonzepte<br />

ins Leben zu rufen und zu realisieren.<br />

Mit dem „Ideenpark Gesundheitswirtschaft“<br />

bietet die Financial Times Deutschland einen<br />

wertvollen Gradmesser, welche Versorgungskonzepte<br />

unser Gesundheitssystem in den<br />

kommenden Jahren tatsächlich voranbringen<br />

und Perspektiven für eine innovative Gestaltung<br />

der kommenden Jahre und Jahrzehnte geben<br />

können. Dass bereits zwei unserer Projekte mit<br />

einem Innovationspreis ausgezeichnet wurden,<br />

zeigt, dass wir uns auf dem richtigen Weg befinden“,<br />

ergänzt Harry Kletzko, Geschäftsführer<br />

der Integrative Managed Care (IMC) GmbH. ■<br />

Michael Überall, Nürnberg<br />

Harry Kletzko, Oberursel<br />

Integrierte Versorgung/Impressum<br />

Impressum<br />

Organ der <strong>Deutsche</strong>n Gesellschaft für<br />

<strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong><br />

Herausgeber<br />

Gerhard H. H. Müller­Schwefe,<br />

Schillerplatz 8/1, D-73033<br />

Göppingen; Tel. 07161/976476, Fax 07161/976477<br />

E-Mail: gp@dgschmerztherapie.de<br />

Schriftleitung<br />

Thomas Cegla, Wuppertal; Oliver Emrich, Ludwigshafen;<br />

Klaus Johannes Horlemann, Kevelaer; Uwe Junker, Remscheid;<br />

Stephanie Kraus (verantw.), Stephanskirchen,<br />

Tel.: 08036/1031; Michael Überall, Nürnberg<br />

Beirat<br />

Christoph Baerwald, Leipzig; Wolfgang Bartel, Halberstadt;<br />

Heinz­Dieter Basler, Marburg; Günter Baust, Halle/<br />

Saale; Klaus Borchert, Greifswald; Burkhard Bromm,<br />

Hamburg; Ingunde Fischer, Halle; Gideon Franck,<br />

Fulda; Gerd Geisslinger, Frankfurt; Hartmut Göbel, Kiel;<br />

Olaf Günther, Magdeburg; Winfried Hoerster, Gießen;<br />

Stein Husebø, Bergen; Uwe Kern, Wiesbaden; Edwin<br />

Klaus, Würzburg; Eberhard Klaschik, Bonn; Lothar<br />

Klimpel, Speyer; Bruno Kniesel, Hamburg; Marianne<br />

Koch, Tutzing; Bernd Koßmann, Wangen; Michael Küster,<br />

Bad Godesberg­Bonn; Klaus Längler, Erkelenz; Peter Lotz,<br />

Bad Lippspringe; Eberhard A. Lux, Lünen; Christoph Müller­Busch,<br />

Berlin; Joachim Nadstawek, Bonn; Thomas<br />

Nolte, Wiesbaden; Robert Reining, Passau; Robert F.<br />

Schmidt, Würzburg; Günter Schütze, Iserlohn; Harald<br />

Schweim, Bonn; Hanne Seemann, Heidelberg; Ralph<br />

Spintge, Lüdenscheid; Birgit Steinhauer, Limburg;<br />

Roland Wörz, Bad Schönborn; Walter Zieglgänsberger,<br />

München; Manfred Zimmermann, Heidelberg<br />

In Zusammenarbeit mit: <strong>Deutsche</strong> Gesellschaft für<br />

Algesiologie – <strong>Deutsche</strong> Gesellschaft für <strong>Schmerz</strong>forschung<br />

und <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong>; <strong>Deutsche</strong> Akademie<br />

für Algesiologie – Institut für schmerztherapeutische<br />

Fort­ und Weiterbildung; <strong>Deutsche</strong> Gesellschaft für<br />

interdisziplinäre Palliativversorgung e. V.; <strong>Deutsche</strong><br />

<strong>Schmerz</strong>liga e.V. (DSL); Gesellschaft für algesiologische<br />

Fortbildung mbH (gaf mbH); Gesamtdeutsche Gesellschaft<br />

für Manuelle Medizin e.V. (GGMM); Institut für<br />

Qualitätssicherung in <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong> und Palliativmedizin<br />

(IQUISP); Berufsverband der <strong>Schmerz</strong>therapeuten<br />

in Deutschland e.V. (BVSD).<br />

Mit der Annahme eines Beitrags zur Veröffentlichung<br />

erwirbt der Verlag vom Autor alle Rechte, insbesondere<br />

das Recht der weiteren Vervielfältigung zu gewerblichen<br />

Zwecken mithilfe fotomechanischer oder anderer<br />

Verfahren. Die Zeitschrift sowie alle in ihr enthaltenen<br />

einzelnen Beiträge und Abbildungen sind urheberrechtlich<br />

geschützt.<br />

Hinweis: Die in dieser Zeitschrift angegebenen Dosierungen<br />

– vor allem von Neuzulassungen – sollten<br />

in jedem Fall mit dem Beipackzettel der verwendeten<br />

Medikamente verglichen werden.<br />

Bezugspreis: Einzelheft 12,– Euro; Abonnement für<br />

4 Ausgaben pro Jahr 40,– Euro (zzgl. Versand, inkl.<br />

MwSt.). Der Mitgliedsbeitrag der DGS schließt den Bezugspreis<br />

der Zeitschrift mit ein. Die Zeitschrift<br />

erscheint im 26. Jahrgang.<br />

Verlag: Springer Medizin © Urban & Vogel GmbH,<br />

München, Juni <strong>2010</strong><br />

Leitung Corporate Publishing München:<br />

Dr. Ulrike Fortmüller (verantw.)<br />

Redaktion: Dr. Elke Thomazo<br />

Herstellung/Layout: Maren Krapp<br />

Druck: Stürtz GmbH, Würzburg<br />

Titelbild: © Darren Baker – Fotolia.com<br />

29


Medizin und Recht<br />

Fragen aus der schmerztherapeutischen<br />

Vertragsarztpraxis<br />

Auch diesmal nutzten zahlreiche Mitglieder der DGS die Möglichkeit einer juristischen<br />

Beratung auf dem <strong>Deutsche</strong>n <strong>Schmerz</strong>- und Palliativtag <strong>2010</strong>. Was tun bei Regressen?<br />

Welche Möglichkeiten bleiben mir, wenn ich einen Angestelltensitz nicht nachbesetzen<br />

kann? Was bringt die Honorarreform <strong>2010</strong>? Antworten auf diese sich im Praxisalltag<br />

stellenden rechtlichen Probleme, die viele <strong>Schmerz</strong>therapeuten beschäftigen, gibt<br />

Dr. Ralf Clement, Rechtsanwälte Ratajczak & Partner, Sindelfingen.<br />

Richtgrößenprüfungen<br />

Ende 2009 wurden seitens der Prüfstellen wieder<br />

die Richtgrößenprüfbescheide – diesmal<br />

für das Jahr 2007 – verschickt. Und wie in den<br />

Jahren zuvor sahen sich insbesondere ausschließlich<br />

bzw. weit überwiegend schmerztherapeutisch<br />

tätige Vertragsärzte mit erheblichen<br />

Regressforderungen konfrontiert. Während die<br />

Richtgrößenprüfbescheide der vergangenen<br />

Jahre oft bereits wegen formeller Fehler, z.B.<br />

wegen einer verspäteten Vereinbarung und<br />

Veröffentlichung der Richtgrößen, anfechtbar<br />

waren, haben die Vertragspartner nach § 84<br />

Abs. 1 SGB V und Prüfungsstellen mittlerweile<br />

dazugelernt. Trotzdem sind die Regressforderungen<br />

in vielen Fällen nicht gerechtfertigt und<br />

sollten keinesfalls widerspruchslos hingenommen<br />

werden; allzu oft leiden die Bescheide<br />

bereits an einer fehlerhaften Datengrundlage<br />

und berücksichtigen die schmerztherapeutische<br />

Tätigkeit wenn überhaupt nur unzureichend.<br />

Widerspruch lohnt sich<br />

Bei der Überprüfung der Richtgrößenprüfbescheide<br />

empfiehlt es sich daher zunächst, die<br />

der Prüfung zugrunde liegenden Verordnungskosten<br />

auf ihre Plausibilität und gegebenenfalls<br />

Richtigkeit hin zu überprüfen. In der Praxis<br />

zeigt sich immer wieder, dass hier mit erheblichen<br />

Fehlerquoten – nicht selten im Bereich<br />

von zehn und mehr Prozent – gerechnet<br />

werden muss. Die Prüfungsstellen dürfen zulasten<br />

des verordnenden Arztes nur solche<br />

Verordnungskosten berücksichtigen, die dem<br />

Arzt und dem behandelten Patienten eindeutig<br />

zugeordnet werden können. Verordnungskosten,<br />

bei denen bereits an der Versichertennummer<br />

erkennbar ist, dass dies nicht der<br />

Fall ist – etwa weil es sich um eine Pseudo-<br />

oder Sammelnummer handelt –, müssen von<br />

vornherein von den Verordnungskosten abgezogen<br />

werden.<br />

Fehler über 5%?<br />

Zwar kommt den, den Prüfungsstellen von den<br />

Krankenkassen übermittelten Verordnungsdaten<br />

nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts<br />

im Sinne eines Anscheinsbeweises<br />

die Vermutung der Richtigkeit zu. Dieser<br />

wird jedoch erschüttert, wenn der Arzt substanziiert<br />

darlegen kann, dass die der Prüfung<br />

zugrunde liegenden Daten in nicht unerheblichem<br />

Umfang fehlerhaft sind. Dafür reicht es<br />

in der Regel aus, dass die Fehler mehr als 5%<br />

der elektronisch erfassten Verordnungskosten<br />

ausmachen (vgl. BSG, Urteil vom 02.11.2005<br />

– B 6 KA 63/04 R –). Ist dies der Fall, bedarf es<br />

einer individuellen („manuellen“) Auswertung<br />

sämtlicher Verordnungsblätter bzw. Print-<br />

Images, die spätestens jetzt von den Prüfgremien<br />

beigezogen werden müssen. Noch weigern<br />

sich einige Prüfgremien unrechtmäßigerweise,<br />

die Prüfdaten in maschinenlesbarer<br />

Form herauszugeben. Dem Arzt wird hierdurch<br />

Ralf Clement,<br />

Sindelfingen<br />

die Überprüfung und insbesondere ein Abgleich<br />

mit der Praxis-EDV erschwert.<br />

Praxisbesonderheiten berücksichtigt?<br />

<strong>Schmerz</strong>therapeuten sehen sich zumeist vor<br />

dem Problem, dass sie unmittelbar mit der Verordnungsweise<br />

aller anderen Kollegen ihrer<br />

Fachgruppe verglichen werden, ohne dass den<br />

sich aus der schmerztherapeutischen Behandlung<br />

ergebenden Praxisbesonderheiten<br />

ausreichend Rechnung getragen wird. Die<br />

durchschnittlichen Verordnungskosten eines<br />

<strong>Schmerz</strong>patienten sind in der Regel um ein<br />

Vielfaches höher als die durchschnittlichen<br />

Verordnungskosten der Fachgruppe. Leider<br />

kommen die Prüfungsstellen ihrer insoweit bestehenden<br />

Pflicht zur Amtsermittlung nicht<br />

ausreichend nach; in vielen Fällen werden aufgrund<br />

der verspätet eingeleiteten Prüfverfahren<br />

und der zum Ende des Jahres jeweils drohenden<br />

Verjährung im Rahmen der Regress-<br />

30 SCHMERZTHERAPIE 2/<strong>2010</strong> (26. Jg.)<br />

© Jörg Röse-Öberreich/shutterstock.com


escheide nicht einmal die von den geprüften<br />

Ärzten im Vorfeld geltend gemachten Praxisbesonderheiten<br />

berücksichtigt. Die Prüfung erfolgt<br />

zunächst in der Regel rein schematisch.<br />

Es ist daher zumeist erforderlich, dass der Arzt<br />

im Widerspruchsverfahren die aufgrund der<br />

speziellen <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong> entstehenden Verordnungskosten<br />

und gegebenenfalls weitere<br />

Praxisbesonderheiten substanziiert darlegt<br />

und soweit dies möglich ist, den darauf entfallenden<br />

Mehrbedarf beziffert.<br />

Es empfiehlt sich, z.B. die durchschnittlichen<br />

Verordnungskosten aller <strong>Schmerz</strong>patienten<br />

der Praxis zu ermitteln und den durchschnittlichen<br />

Verordnungskosten der Fachgruppe gegenüberzustellen.<br />

Dies sollte mit einem vertretbaren<br />

Aufwand möglich sein, da die Patienten<br />

anhand der Ziff. 30700 ff. EBM leicht zu identifizieren<br />

sind.<br />

Verordnungskosten von 300 w pro<br />

<strong>Schmerz</strong>patient<br />

Unsere Erfahrungen zeigen, dass durchschnittliche<br />

Verordnungskosten in Höhe von 300 F<br />

pro <strong>Schmerz</strong>patient durchaus im Rahmen liegen.<br />

Die Prüfgremien sind oft bereit, Kosten in<br />

entsprechender Höhe als Mehrbedarf zu akzeptieren.<br />

Erst in einem zweiten Schritt sollte<br />

– soweit dies im Einzelfall erforderlich ist – zum<br />

Einsatz einzelner Medikamente insbesondere<br />

zu deren Wirtschaftlichkeit und medizinischer<br />

Notwendigkeit vorgetragen werden, da diese<br />

Fragen in der Regel von Sachverständigen entschieden<br />

werden müssen.<br />

Wichtig sowohl für den Einwand fehlerhafter<br />

Verordnungsdaten als auch für die Darlegung<br />

von Praxisbesonderheiten ist es, diese bereits<br />

im Rahmen des Widerspruchsverfahrens<br />

substanziiert und nachvollziehbar darzulegen.<br />

Im sozialgerichtlichen Verfahren kann ein entsprechender<br />

Sachvortrag nicht mehr nachgeholt<br />

werden.<br />

Nachbesetzung von angestellten<br />

Vertragsarztsitzen<br />

Angesichts des zunehmenden Ärztemangels<br />

sehen sich immer mehr Vertragsärzte und Betreiber<br />

von Medizinischen Versorgungszentren<br />

(MVZ) mit dem Problem konfrontiert, dass sie<br />

Vertragsarztsitze, die mit angestellten Ärzten<br />

besetzt sind, nicht nachbesetzen können. In<br />

gesperrten Planungsbereichen droht in diesen<br />

Fällen nach spätestens sechsmonatiger Vakanz<br />

der Verlust des Vertragsarztsitzes. Mangels<br />

einer entsprechenden gesetzlichen Regelung<br />

weigern sich die Zulassungsausschüsse<br />

derzeit noch, diese Sitze zu reaktivieren,<br />

d.h. als selbstständigen Vertragsarztsitz im<br />

Wege der Nachbesetzung auf einen anderen<br />

Vertragsarzt bzw. ein MVZ zu übertragen. Für<br />

SCHMERZTHERAPIE 2/<strong>2010</strong> (26. Jg.)<br />

© Erik Liebermann<br />

MVZ verschärft sich die Situation, wenn der<br />

wegzufallen drohende Vertragsarztsitz für den<br />

Fachübergriff des MVZ zwingend erforderlich<br />

ist.<br />

Ausschreibungspflicht?<br />

Das Hessische Landessozialgericht hat nun in<br />

seiner Entscheidung vom 10.02.<strong>2010</strong> (L 4 KA<br />

33/09) die Auffassung vertreten, dass die allgemeine<br />

Nachbesetzungsvorschrift des § 103<br />

Abs. 4 SGB V aufgrund des eigentumsrechtlich<br />

geschützten Verwertungsinteresses auf diejenigen<br />

Fälle entsprechend anzuwenden sei, in<br />

denen ein MVZ auf seine Zulassung im ganzen<br />

verzichtet und aufgelöst werden soll. Man darf<br />

dies als ersten Lichtblick am Ende des Tunnels<br />

werten.<br />

Die Frage, ob und inwieweit eine entsprechende<br />

Anwendung von § 103 Abs. 4 SGB V<br />

bei Verzicht auf nur eine Arztstelle in Betracht<br />

kommt, hat das LSG aber ausdrücklich offen<br />

gelassen. Man wird § 103 Abs. 4 SGB V auch<br />

auf diese Fälle anwenden können. Erforderlich<br />

ist allerdings, dass eigentumsrechtlich geschützte<br />

Werte im Sinne einer „fortführungsfähigen“<br />

Praxis übertragen werden sollen. Die<br />

Zulassung allein ist nicht übertragbar und weder<br />

vom Schutzzweck des § 103 Abs. 4 Satz<br />

1 SGB V noch vom Schutzbereich der Eigentumsgarantie<br />

des Art. 14 GG umfasst, da es<br />

sich nicht um eine öffentlich-rechtliche Rechtsposition<br />

handelt, die auf Eigenleistungen des<br />

Berechtigten beruht. Eine Übertragung nach<br />

§ 103 Abs. 4a bzw. Abs. 4b SGB V unter Umgehung<br />

des Nachbesetzungsverfahrens wurde<br />

vom LSG Hessen ausdrücklich abgelehnt. Die<br />

Vertragsarztsitze sind daher in jedem Fall zur<br />

Nachbesetzung gemäß § 103 Abs. 4 SGB V<br />

auszuschreiben. Soweit sich die Zulassungsausschüsse<br />

dem künftig verweigern, kommt<br />

gegebenenfalls ein einstweiliges Rechtsschutzverfahren<br />

in Betracht. Die Entscheidung<br />

des LSG Hessen ist freilich noch nicht rechts-<br />

Medizin und Recht<br />

kräftig; die Revision ist unter dem Aktenzeichen<br />

B 6 KA 8/10 R beim Bundessozialgericht<br />

anhängig.<br />

Honorarreform: Das ändert sich zum<br />

01.07.<strong>2010</strong><br />

Zahlreiche Fragen beschäftigten sich mit der<br />

jüngsten Honorarreform, insbesondere den<br />

Regelleistungsvolumina. Die Kassenärztliche<br />

Bundesvereinigung und der GKV-Spitzenverband<br />

haben sich am 26.03.<strong>2010</strong> im Bewertungsausschuss<br />

nun erneut auf Änderungen<br />

der Honorarverteilung zum 01.07.<strong>2010</strong> geeinigt,<br />

die in erster Linie dazu beitragen sollen,<br />

die Regelleistungsvolumina (RLV) zu stabilisieren.<br />

Zur Mengensteuerung der bislang unbudgetierten<br />

„freien Leistungen“ werden zum<br />

01.07.<strong>2010</strong> arztgruppenspezifische qualifikationsgebundene<br />

Zusatzvolumen eingeführt,<br />

kurz QZV genannt. Jeder Arzt erhält künftig<br />

neben seinem RLV bei Vorliegen der entsprechenden<br />

Voraussetzungen ein QZV.<br />

QZV: unter 75% <strong>Schmerz</strong>patienten<br />

In erster Linie betrifft das die nicht ausschließlich<br />

bzw. weit überwiegend schmerztherapeutisch<br />

tätigen Kollegen, deren Anteil an<br />

<strong>Schmerz</strong>patienten unter 75% liegt. Diese erhalten<br />

künftig ein QZV für die schmerztherapeutische<br />

spezielle Versorgung, das die Ziff.<br />

30700, 30702, 30704, 30706 und 30708 umfasst,<br />

sowie ein QZV für die spezielle schmerztherapeutische<br />

Behandlung mit den Ziffern<br />

30710, 30712, 30720 bis 30724, 30730, 30731,<br />

30740, 30750, 30751 und 30760. Ein weiteres<br />

QZV wird für die Akupunktur Ziff. 30790 und<br />

30791 gebildet. Für ausschließlich bzw. überwiegend<br />

schmerztherapeutisch tätige Ärzte<br />

sind keine QZV vorgesehen; d.h. im Umkehrschluss,<br />

dass künftig alle der morbiditätsbedingten<br />

Gesamtvergütung unterfallenden Leistungen<br />

innerhalb der RLV berücksichtigt werden<br />

müssen. Insbesondere Ärzte, die seit der<br />

Einführung der RLV zum 1. Quartal 2009 ihre<br />

Umsätze auf der Basis „freier Leistungen“ steigern<br />

konnten, müssen aufgrund der Neuregelung<br />

mit Honorarverlusten rechnen. Einzelheiten<br />

und weiterführende Hinweise finden Sie<br />

auf der Homepage der KBV unter dem Link<br />

http://www.kbv.de/26245.html. ■<br />

Dr. Ralf Clement, Sindelfingen<br />

31


Internationale Presse<br />

INFO-Telegramm<br />

Mit Radikalfängern gegen<br />

chemotherapieinduzierte Neuropathie?<br />

Die Gabe eines freien Radikalfängers wie Phenyl-N-tert-Butylnitron<br />

als Einzeldosis oder mehrfach<br />

intraperitoneal appliziert vermochte im<br />

Tierexperiment eine durch intraperitoneal appliziertes<br />

Paclitaxel ausgelöste, mechanische Allodynie<br />

signifikant zu reduzieren und die durch<br />

diese Chemotherapie induzierten Neuropathieschmerzen<br />

zu verhüten. Aufgrund dieser ermutigenden<br />

tierexperimentellen Befunde sollte der<br />

Einsatz von freien Radikalenfängern laut H. K.<br />

Kim et al. nun klinisch erprobt werden (Anesthesiology<br />

<strong>2010</strong>;112(2):432–9).<br />

Akupunkturnebenwirkungen unbekannt?<br />

Obwohl die Akupunktur sehr häufig zur <strong>Schmerz</strong>reduktion<br />

eingesetzt wird, werden die Risiken<br />

und Nebenwirkungen dieser Methode in den<br />

Studien kaum erfasst. Aufgrund dieses Mankos<br />

werden möglicherweise die Risiken unterschätzt.<br />

Bei künftigen Studien ist daher eine Beurteilung<br />

nach den Richtlinien der CONSORT (Consolidated<br />

Standards of Reporting Trials) sinnvoll, fordern<br />

Capili B., Anastasi JK und Geiger JN (Clin J Pain.<br />

<strong>2010</strong>;26(1):43–8).<br />

Paracetamol verbessert intravenöse<br />

Regionalanästhesie mit Lidocain<br />

Die zusätzliche Gabe von 300 mg Paracetamol<br />

verbessert bei handchirurgischen Regionalanästhesien<br />

mit Lidocain die Anästhesiequalität<br />

und reduziert den postoperativen <strong>Schmerz</strong>mittelbedarf.<br />

Dies ergab eine randomisierte Studie mit<br />

60 Patienten von H. Sen et al. (Anesth. Analg.<br />

2009;109:1327–1330).<br />

Mit Oxycodon gegen viszeralen <strong>Schmerz</strong><br />

<strong>Schmerz</strong>en nach einer laparoskopischen Hysterektomie<br />

lassen sich postoperativ besser mit Oxycodon<br />

als mit Morphin lindern. Dies ergab eine<br />

Studie mit 91 Frauen von H. Lenz et al., die postoperativ<br />

mittels PCA entweder Morphin oder<br />

Oxycodon für 24 Stunden bekamen. Unter Oxycodon<br />

waren die erforderlichen Dosen mit 13,3<br />

mg versus 22 mg geringer, die VAS-Werte niedriger<br />

und die postoperative Sedierung geringer<br />

ausgeprägt, sodass Oxycodon bei viszeralem<br />

<strong>Schmerz</strong> potenter scheint als Morphin (Anesth.<br />

Analg 2009;109:1279–1283).<br />

SCS nutzlos?<br />

Beim Failed-Back-Surgery-Syndrom ist der Einsatz<br />

einer spinalen Cord-Stimulation wenig hilfreich;<br />

eine mutimodale <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong> ist<br />

mindestens gleichwertig. Dies ergab eine prospektive<br />

Studie, in der 51 Patienten mit SCS, 39<br />

Patienten stationär multidisziplinär an einer<br />

<strong>Schmerz</strong>klinik und weitere 68 ohne diese aufwendigen<br />

<strong>Therapie</strong>n versorgt wurden (Pain<br />

<strong>2010</strong>;148:14–25).<br />

Mit Akupunktur gegen das Karpaltunnelsyndrom<br />

Eine kurzfristige Akupunkturtherapie<br />

ist bei mildem bis<br />

mäßigem Karpaltunnelsyndrom<br />

ebenso effektiv wie<br />

eine kurzzeitige Kortisonbehandlung.<br />

Beides stellt bei<br />

Patienten, die eine Kontraindikation<br />

für den operativen<br />

Eingriff haben, eine vergleichbare<br />

Alternative dar.<br />

Dies ergab eine Studie, in<br />

der 77 konsekutive Patienten<br />

prospektiv randomisiert<br />

den verschiedenen <strong>Therapie</strong>n unterzogen<br />

wurden. Das Karpaltunnelsyndrom wurde mit der<br />

Veränderung der Nervenleitgeschwindigkeit und<br />

den subjektiven Beschwerden diagnostiziert. Die<br />

Kortisongruppe mit 39 Patienten wurde zwei Wochen<br />

mit 20 mg Prednisolon täglich und danach<br />

zwei Wochen mit 10 mg Prednisolon täglich be-<br />

Können Nortriptylin oder TENS die sensorischen<br />

<strong>Schmerz</strong>en an der oberen Extremität bei multipler<br />

Sklerose lindern? Diese Frage versuchten A. Chitsaz<br />

et al. mit einer randomisierten klinischen Studie an 59<br />

Patienten im Alter zwischen 15 und 50 Jahren zu<br />

klären. Für acht Wochen erhielten 30 Patienten Nortriptylin<br />

(angefangen mit 10 mg täglich bis zu 50 mg<br />

nach einer Woche), die Vergleichsgruppe mit 29 Patienten<br />

führte selbstständig TENS-Behandlungen<br />

durch. Unter der Medikation nahmen die VAS-Werte<br />

der sensorischen Beschwerden von 4,9 auf 3,3 ab.<br />

Vergleichbar verbesserten sich auch die TENS-Pati-<br />

Was löst ein chirurgischer Hautschnitt bei Gesunden<br />

aus? Dies untersuchte die Münsteraner Arbeitsgruppe<br />

von Prof. Esther Pogatzki-Zahn mithilfe der funktionalen<br />

Magnetresoanztomografie an 30 Probanden<br />

mit einem Hautschnitt im Vergleich zu 14 Freiwilligen<br />

mit einer Scheinbehandlung (Sham). Bei dieser aufwendigen<br />

Studie wurden Magnetresonanzbilder vor,<br />

während und 2–4,5, 4,5–10, 24–29 und 44–49<br />

Minuten nach dem Eingriff aufgenommen. Die Haut<br />

wurde am rechten Unterarm für 4 mm eingeschnitten.<br />

Parallel dazu wurden die Probanden nach ihren<br />

<strong>Schmerz</strong>en mithilfe der NRS-Skala befragt. Die funktionalen<br />

Magnetresonanzbilder zeigten ein temporales<br />

Aktivitätsprofil in spezifischen Hirnregionen während<br />

und nach der Verletzung. Eine Lateralisation<br />

fand sich kontralateral zum Einschnitt mit einer er-<br />

handelt. Die Akupunkturgruppe<br />

mit 38 Patienten erhielt über vier<br />

Wochen insgesamt acht Sitzungen.<br />

Der <strong>Therapie</strong>erfolg wurde<br />

mit dem Rückgang der Beschwerden<br />

(<strong>Schmerz</strong>, Taubheit,<br />

Parästhesien, Schwäche, nächtliches<br />

Aufwachen) evaluiert. In<br />

beiden Gruppen kam es zum<br />

signifikanten Rückgang der Beschwerden,<br />

der in allen Parametern<br />

statistisch vergleichbar war.<br />

Nur beim nächtlichen Erwachen<br />

war die Akupunktur signifikant überlegen. Da die<br />

Akupunktur kaum Nebenwirkungen besitzt, sollte<br />

sie, so das Fazit der Autoren, bei inoperablen Patienten<br />

als Alternative zum Einsatz kommen. StK<br />

CP Yang et al.: Acupuncture in patients with<br />

carpal tunnel syndrome: A randomized controlled<br />

trial. Clin. J Pain 2009;25:327–333.<br />

Was lindert <strong>Schmerz</strong>en bei multipler Sklerose?<br />

Inzisionsschmerzen im Magnetresonanzbild<br />

enten von 5,3 auf 2,8. Die beiden Gruppen unterschieden<br />

sich nach acht Wochen nicht signifikant. In<br />

Anbetracht des ungünstigeren Nebenwirkungsprofils<br />

von Nortriptylin könnte TENS allerdings überlegen<br />

sein. Insgesamt ist jedoch mit beiden <strong>Therapie</strong>verfahren<br />

nach Ansicht der Autoren bei der multiplen Sklerose<br />

Zurückhaltung geboten, da die VAS-Reduktion<br />

bei beiden Maßnahmen begrenzt war. StK<br />

A. Chitsaz et al.: Sensory complaints of the upper<br />

extremities in multiple sclerosis: relative efficacy<br />

of nortriptyline and transcutaneous electrical nerve<br />

stimulation. Clin J Pain 2009;25:281–285.<br />

höhten Hirnaktivität des somatosensorischen Cortex,<br />

des frontalen Cortex und im limbischen System. Die<br />

Spitze der Hirnaktivität trat bereits nach zwei Minuten<br />

ein und nahm dann allmählich ab. Die <strong>Schmerz</strong>einstufung<br />

korrelierte vor allem mit der Hirnaktivität im<br />

anterioren cingulären Cortex, im Insularcortex, Thalamus,<br />

frontalen Cortex und somatosensorischen<br />

Cortex. Die <strong>Schmerz</strong>sensitivität beeinflusst nach diesen<br />

Befunden auch das Aktivitätsprofil im ZNS und<br />

dies könnte auch bei der <strong>Therapie</strong> von Ruheschmerzen<br />

bei postoperativen Patienten eine klinisch<br />

relevante Rolle spielen. StK<br />

Pogatzki-Zahn, EM: Coding of Incisional Pain in<br />

the Brain: A Functional Magnetic Resonance Imaging<br />

Study in Human Volunteers. Anesthesiology<br />

<strong>2010</strong>;112(2):406–17.<br />

32 SCHMERZTHERAPIE 2/<strong>2010</strong> (26. Jg.)<br />

© Bildarchiv Urban & Vogel


DGS-Veranstaltungen<br />

Weitere Informationen zu den Seminaren erhalten Sie über die<br />

Geschäftsstelle des DGS Oberursel: Tel.: 06171/286060,<br />

Fax: 06171/286069, E-Mail: info@dgschmerztherapie.de.<br />

Die aktuellsten Informationen zu den Veranstaltungen und den<br />

Details finden Sie im Internet unter www.dgschmerztherapie.de<br />

mit der Möglichkeit der Onlineanmeldung.<br />

Juni <strong>2010</strong><br />

Unerwartete und lehrreiche Verläufe bei psychosomatischen<br />

<strong>Schmerz</strong>syndromen<br />

02.06.<strong>2010</strong> in Duisburg; Regionales <strong>Schmerz</strong>zentrum<br />

DGS – Duisburg<br />

Multiprofessioneller Gesprächskreis – Qualitätszirkel<br />

– Palliativversorgung Siegen – Wittgenstein – Olpe<br />

02.06.<strong>2010</strong> in Siegen; Regionales <strong>Schmerz</strong>zentrum<br />

DGS – Siegen<br />

HWS / Schulter – Manualtherapeutische Diagnostik<br />

und <strong>Therapie</strong><br />

04.06.–06.06.<strong>2010</strong> in Bonn-Bad Godesberg; Regionales<br />

<strong>Schmerz</strong>zentrum DGS – Bonn-Bad Godesberg<br />

CME – Update <strong>Schmerz</strong>: Regressprophylaxe und<br />

haftungsrechtliche Fragen (z.B. Fahrtüchtigkeit unter<br />

Opioiden)<br />

07.06.<strong>2010</strong> in Ludwigshafen-Gartenstadt; Regionales<br />

<strong>Schmerz</strong>zentrum DGS – Ludwigshafen<br />

CRPS – <strong>Therapie</strong><br />

10.06.<strong>2010</strong> in Miltenberg; Regionales <strong>Schmerz</strong>zentrum<br />

DGS – Miltenberg<br />

TENS – <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong> – Theorie und Workshop<br />

12.06.<strong>2010</strong> in München; Regionales <strong>Schmerz</strong>zentrum<br />

DGS – München<br />

Black Box Rückenschmerz – Myofasziale<br />

Verkettungen und Triggersyndrome<br />

11.06.–13.06.<strong>2010</strong> in Göppingen; Regionales<br />

<strong>Schmerz</strong>zentrum DGS – Göppingen<br />

Sommerakademie Palliativmedizin – Fallseminare<br />

und Supervision Teil 1<br />

12.06.–16.06.<strong>2010</strong> in Dierhagen (Ostsee); Regionales<br />

<strong>Schmerz</strong>zentrum DGS – Lünen<br />

SCHMERZTHERAPIE 2/<strong>2010</strong> (26. Jg.)<br />

Interdisziplinäres <strong>Schmerz</strong>forum Siegen – ISS<br />

15.06.<strong>2010</strong> in Siegen; Regionales <strong>Schmerz</strong>zentrum<br />

DGS – Siegen<br />

Das Fibromyalgiesyndrom – neue Aspekte und<br />

Bedeutung für die Praxis<br />

16.06.<strong>2010</strong> in Buxtehude; Regionales <strong>Schmerz</strong>zentrum<br />

DGS – Stade<br />

Sommerakademie Palliativmedizin – Fallseminare<br />

und Supervision Teil 2<br />

17.06.–21.06.<strong>2010</strong> in Dierhagen (Ostsee); Regionales<br />

<strong>Schmerz</strong>zentrum DGS – Lünen<br />

Psychosomatik 6<br />

17.06.<strong>2010</strong> in Bad Säckingen; Regionales <strong>Schmerz</strong>zentrum<br />

DGS – Bad Säckingen<br />

Besonderheiten der <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong> bei<br />

Organinsuffizienzen<br />

23.06.<strong>2010</strong> in Gießen-Kleinlinden; Regionales<br />

<strong>Schmerz</strong>zentrum DGS – Gießen<br />

Postnucleotomiesyndrom – Welche Rolle spielen die<br />

Muskeln<br />

23.06.<strong>2010</strong> in Köln; Regionales <strong>Schmerz</strong>zentrum<br />

DGS – Köln<br />

Innovative interventionelle Verfahren zur<br />

Rückenschmerztherapie<br />

23.06.<strong>2010</strong> in Sankt Josef Wuppertal; Regionales<br />

<strong>Schmerz</strong>zentrum DGS – Wuppertal<br />

Curriculum Chirotherapie – Muskelkurs (Kursreihe<br />

<strong>2010</strong>/2011)<br />

26.06.–27.06.<strong>2010</strong> in Bad Dürkheim; Regionales<br />

<strong>Schmerz</strong>zentrum DGS – Ludwigshafen<br />

Rheuma und <strong>Schmerz</strong><br />

30.06.<strong>2010</strong> in Halle; Regionales <strong>Schmerz</strong>zentrum DGS<br />

– Halle (Saale)<br />

Juli <strong>2010</strong><br />

Indikation zur Bandscheibenoperation – ein Update<br />

08.07.<strong>2010</strong> in Miltenberg; Regionales <strong>Schmerz</strong>zentrum<br />

DGS – Miltenberg<br />

Funktionelle Medizin 1<br />

15.07.<strong>2010</strong> in Bad Säckingen; Regionales <strong>Schmerz</strong>zentrum<br />

DGS – Bad Säckingen<br />

DGS Termine / Nachrichten<br />

Myofasziale <strong>Schmerz</strong>zustände<br />

31.07.<strong>2010</strong> in Wuppertal; Regionales <strong>Schmerz</strong>zentrum<br />

DGS – Wuppertal<br />

August <strong>2010</strong><br />

Palliativmedizinischer Themenabend: Neues aus der<br />

<strong>Therapie</strong> – Aktuelle Informationen aus der Region<br />

18.08.<strong>2010</strong> in Leipzig; Regionales <strong>Schmerz</strong>zentrum<br />

DGS – Leipzig<br />

Matrixregeneration<br />

25.08.<strong>2010</strong> in Halle; Regionales <strong>Schmerz</strong>zentrum DGS<br />

– Halle (Saale)<br />

<strong>Schmerz</strong> und Schlaf<br />

28.08.<strong>2010</strong> in Lüdenscheid; Regionales <strong>Schmerz</strong>zentrum<br />

DGS – Lüdenscheid<br />

„SPAS – <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong><br />

– Politik –<br />

Abrechnung –<br />

Strategie“<br />

Erster Kongress des BVSD<br />

– Berufsverband der<br />

<strong>Schmerz</strong>therapeuten in<br />

Deutschland e.V. in<br />

Potsdam 11. und<br />

12. Juni <strong>2010</strong><br />

Neue DGS-Leiter<br />

DGS – Zentrum Neunkirchen<br />

Wir begrüßen Herbert<br />

Schmitt, Facharzt für Allgemeinmedizin,<br />

Zusatzbezeichnungen:<br />

· Manuelle <strong>Therapie</strong>/<br />

Chirotherapie<br />

· Sportmedizin<br />

· Spezielle<br />

<strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong> Herbert Schmitt,<br />

Neunkirchen<br />

als neuen DGS-Leiter des<br />

<strong>Schmerz</strong>zentrums Neunkirchen. Schwerpunkte:<br />

Rückenschmerzen, Gelenkschmerzen,<br />

Migräne und Kopfschmerzen.<br />

Angewandte therapeutische Verfahren der<br />

Praxis: therapeutische Lokalanästhesie, plexus-<br />

und rückenmarksnahe Anästhesien,<br />

psychosomatische Grundversorgung, Pharmakotherapie,<br />

TENS, physikalische <strong>Therapie</strong>/<br />

Krankengymnastik, Infusionstherapie.<br />

33


34<br />

Bücherecke<br />

Was tun bei Kopfweh?<br />

û Verständlich und informativ erklärt der bekannte <strong>Schmerz</strong>forscher Prof.<br />

Hartmut Göbel, DGS-Leiter Kiel, den Betroffenen, was aktuell über Entstehung<br />

und <strong>Therapie</strong> von Kopfschmerzen und Migräne bekannt ist. Die 5. Auflage<br />

wurde um aktuelle <strong>Therapie</strong>verfahren und Forschungsergebnisse<br />

ergänzt und erweitert. Das Buch wendet sich an Menschen, die unter Kopfschmerzen<br />

und Migräne leiden, und gibt ihnen Checklisten, einen Fragebogen<br />

und einen Kopfschmerzkalender zur Dokumentation an die Hand. So<br />

können Betroffene die <strong>Schmerz</strong>auslöser rechtzeitig erkennen und gezielt<br />

vermeiden. Abgerundet wird der Ratgeber mit einem Serviceteil über hilfreiche<br />

Medikamente, Informationen und Adressen. StK<br />

Göbel, Hartmut: Erfolgreich gegen Kopfschmerzen und Migräne. 5. aktualisierte Aufl., <strong>2010</strong>, X, 350 S., 106<br />

Abb., Softcover, EUR 22,95. ISBN: 978-3-642-01264-8. Springer Verlag, Heidelberg.<br />

Multidisziplinäre Diagnostik in der Geriatrie<br />

û In keinem Fach der Medizin ist die multidimensionale und interdisziplinäre<br />

Diagnostik und <strong>Therapie</strong> so wichtig wie in der Geriatrie. Daher<br />

wurde von der Arbeitsgruppe für geriatrisches Assessment (AGAST) ein<br />

standardisiertes Prozedere entwickelt, das innerhalb von vier Tagen bei<br />

Aufnahme und innerhalb der letzten vier Tage vor Entlassung aus der Geriatrie<br />

eine gezielte <strong>Therapie</strong>planung, <strong>Therapie</strong>überwachung und die Kontrolle<br />

des <strong>Therapie</strong>erfolgs ermöglicht. Dr. Henning Freund, Eisleben, hat mit<br />

diesem Buch einen praxisrelevanten Leitfaden für die Geriatrie erarbeitet,<br />

in dem zuerst das geriatrische Assessment detailliert vorgestellt wird. Ärzte<br />

müssen das Screening nach Lachs erheben. Die Pflegetherapeuten den<br />

Barthel-Index, die Physiotherapeuten den Timed Up and Go Test für die Mobilität und den Tinetti-Test<br />

zur Erfassung der Sturzgefahr. Geldzähltest, Handkraftmessung, Uhrentest und Mini-Mental-Status-Test<br />

sind Aufgaben für die Ergotherapie, die Depressionsskala sollte ein Psychologe erheben. Für den Sozialstatus<br />

ist der teamintegrierte Sozialdienst zuständig. Erst mithilfe dieses geriatrischen Assessments<br />

kann dann ein umfangreicher Behandlungs- und Betreuungsplan entwickelt werden. Behandlungspfade<br />

für Altersleiden wie Apoplex, Demenz oder Hüftfrakturen werden praxisnah im zweiten Teil geschildert<br />

und an Fallbeispielen illustriert. Formen der geriatrischen Behandlung, rechtliche Aspekte, Qualitätssicherung<br />

und Begriffsbestimmung und häufige Problemkonstellation in der Geriatrie sind weitere Kapitel,<br />

die dieses Buch abrunden und einen Einstieg in das Gebiet der Altersmedizin ermöglichen. StK<br />

Henning Freund: Geriatrisches Assessment und Testverfahren. Grundbegriffe – Anleitungen – Behandlungspfade.<br />

2009, 199 S., 26 Abb., 32 Tab., kt., EUR 38,00. ISBN 3-17-020880-3. W. Kohlhammer Verlag, Stuttgart.<br />

Gut leben trotz <strong>Schmerz</strong> und Krankheit<br />

û Vidyamala Burch, die Autorin dieses Buches, leidet selbst seit Jahrzehnten<br />

an schwersten Rückenschmerzen und widmet es allen <strong>Schmerz</strong>kranken,<br />

die nach neuen Möglichkeiten suchen, mit ihrem Leiden zu leben.<br />

Die britische Expertin zeigt darin die Prinzipien ihrer Methode „Breathworks“<br />

auf, die versucht, mithilfe eines Achtsamkeitstrainings ein neues<br />

Verhältnis zum <strong>Schmerz</strong> aufzubauen. Nach der Darlegung der Prinzipien<br />

werden im praktischen Teil zuerst das Atemgewahrsein geschult, danach<br />

die buddhistische Meditation in Theorie und Praxis dargestellt. Im letzten<br />

Teil zeigt Burch, wie man im Alltag achtsam sein kann. Begleitend zum<br />

Buch können die CDS von Breathworks für die geführten Meditationen verwendet<br />

werden, die über die deutsche Internetseite www.breathworks.de bestellt werden können. Das<br />

Buch wendet sich in erster Linie an Patienten mit körperlichen <strong>Schmerz</strong>en, aber die vorgestellten Achtsamkeitstechniken<br />

können auch bei psychischen und emotionalen Problemen wie Stress und Depressionen<br />

hilfreich sein. StK<br />

Vidyamala Burch: Gut leben trotz <strong>Schmerz</strong> und Krankheit. Der achtsame Weg, sich vom Leid zu befreien.<br />

2009, gebundenes Buch, Klappenbroschüre, 320 Seiten,13,5 x 21,5 cm, 60 s/w Abb., EUR 19,95. ISBN: 978-<br />

3-442-33849-8. Goldmann Arkana.<br />

SCHMERZTHERAPIE 2/<strong>2010</strong> (26. Jg.)


<strong>Schmerz</strong>en bei degenerativer<br />

Wirbelsäulenerkrankung<br />

Rückenschmerzen bei betagten und hochbetagten<br />

Patienten sind oft Ausdruck von degenerativen Veränderungen<br />

der Wirbelsäule, bei zunehmender Inaktivität auch<br />

von Osteoporosen. <strong>Therapie</strong>ziel ist es, die körperliche<br />

Aktivität dieser Patienten zu verbessern, um damit die<br />

wirksamste <strong>Therapie</strong> für Osteoporose zu ermöglichen.<br />

Gerade bei älteren Patienten müssen Langzeittherapien<br />

wirksam und verträglich sein. Die Kombination von<br />

Oxycodon mit Naloxon (Targin ® ) erfüllt diese Voraussetzungen<br />

in hohem Maße, schildert Dr. med. Gerhard<br />

Füeßl<br />

H. H. Müller­Schwefe, Göppingen. ©<br />

Der Praxisfall<br />

Die 62-jährige Patientin stellt sich im <strong>Schmerz</strong>zentrum<br />

Göppingen mit starken Rückenschmerzen<br />

vor. Sie kommt in gebeugter Haltung<br />

mühsam schlurfend mit einem Rollator. Bis vor<br />

drei Jahren konnte sie ihren Haushalt selbstständig<br />

führen, war körperlich aktiv und ging<br />

zweimal wöchentlich zum Schwimmen.<br />

Vortherapie und Befund<br />

Vor drei Jahren plötzlich auftretende Rückenschmerzen<br />

im Bereich der Lendenwirbelsäule<br />

mit Ausstrahlung auf beide Seiten, ohne einschießende<br />

<strong>Schmerz</strong>en in die Beine. In den<br />

folgenden sechs Monaten zunehmend <strong>Schmerz</strong>en,<br />

insbesondere im Stehen und Gehen, in<br />

Ruhe weitgehend beschwerdefrei. Innerhalb<br />

von sechs Monaten massive Zunahme der<br />

<strong>Schmerz</strong>en, jetzt auch in Ruhe. <strong>Schmerz</strong>ausbreitung<br />

nicht nur auf die untere Lendenwirbelsäule<br />

und unteren Rücken beschränkt, sondern<br />

zusätzlich auf Brustwirbelsäule bis zum Unterrand<br />

der Schulterblätter. <strong>Schmerz</strong>charakter<br />

beschrieben als dumpf-drückend, die maximale<br />

<strong>Schmerz</strong>intensität auf der VAS 100 bei 85, individuelles<br />

Behandlungsziel 20.<br />

Auf den Rat des Hausarztes Einnahme von<br />

nicht steroidalen und entzündungshemmenden<br />

<strong>Schmerz</strong>mitteln, primär Paracetamol, dann<br />

Ibuprofen 2 x 600 mg/d, danach Diclofenac 2 x<br />

75 mg/d. Unter dieser <strong>Therapie</strong> florides Ulkus<br />

mit Magenblutung und Teerstühlen, stationäre<br />

Aufnahme, Endoskopie und <strong>Therapie</strong> mit PPI.<br />

Nach Besserung der gastrointestinalen Situation<br />

wurde im Rahmen der stationären Behandlung<br />

ein intensives physiotherapeutisches<br />

Übungsprogramm zur Mobilisierung begonnen.<br />

Dies war wegen der bestehenden <strong>Schmerz</strong>en<br />

nur sehr eingeschränkt möglich. Patientin wur-<br />

SCHMERZTHERAPIE 2/<strong>2010</strong> (26. Jg.)<br />

de mit Rollator entlassen und angehalten, sich<br />

möglichst viel zu bewegen. Zum Zeitpunkt der<br />

Erstvorstellung keine <strong>Schmerz</strong>medikation aufgrund<br />

der gastrointestinalen Vorgeschichte.<br />

Untersuchungsbefund<br />

Deutlich ernährungsreduzierte 62-jährige Patientin,<br />

ausgeprägte Kyphosierung der Lenden-<br />

und der Brustwirbelsäule. Körperaufrichtende<br />

Muskulatur ist massiv verschmächtigt und verkürzt.<br />

Ausgeprägte Triggerpunkte vor allem im<br />

Bereich des Musculus quadratus lumborum<br />

und piriformis beidseits. Neurologisch keinerlei<br />

Hinweise auf eine Wurzelkompression. Die<br />

Funktion der gesamten Wirbelsäule zeigt jedoch<br />

eine deutliche Einschränkung der Seitneigung<br />

beidseits, die nahezu aufgehoben ist, wie<br />

auch der Inklination und Reklination. Neu angefertigte<br />

Röntgenaufnahmen zeigen eine Sinterung<br />

der Lendenwirbelsäule im Bereich L2, L3,<br />

L4 mit deutlicher Höhenminderung der ventralen<br />

Wirbelkante, aber auch Sklerosierungsreaktionen<br />

als Hinweis auf eine zurückliegende<br />

Sinterung. Darüber hinaus thorakale Sinterung<br />

der Wirbelkörper im Bereich D6, D7, D8.<br />

<strong>Therapie</strong>ziel musste es sein, für diese<br />

Patientin mit ausgeprägter Osteoporose und<br />

bereits pathologischen Sinterungen eine ausreichende<br />

und schnelle <strong>Schmerz</strong>reduktion zu<br />

erzielen, sodass eine körperliche Übungsfähigkeit<br />

zur Prävention weiterer osteoporotischer<br />

Frakturen möglich wurde. Aufgrund der Vorgeschichte<br />

schieden entzündungshemmende<br />

Analgetika komplett aus.<br />

<strong>Therapie</strong> und Verlauf<br />

Wir stellten die Patientin deshalb mit Oxycodon<br />

5 mg/Naloxon 2,5 mg (Targin ® 5/2,5) 2 x täglich<br />

ein. Nach einer Woche bei guter Verträglichkeit<br />

Der <strong>Schmerz</strong>fall aus der Praxis<br />

Dosissteigerung auf 2 x 10 mg. Unter dieser<br />

<strong>Therapie</strong> stellte sich schnell eine starke<br />

<strong>Schmerz</strong>reduktion ein, sodass die <strong>Schmerz</strong>intensität<br />

auf der visuellen Analogskala VAS 100<br />

nun nur noch bei 35 lag, individuelles Behandlungsziel<br />

bei 20.<br />

Entscheidend bei diesem <strong>Therapie</strong>konzept<br />

war es, die <strong>Schmerz</strong>reduktion für intensives<br />

physiotherapeutisches Training, insbesondere<br />

Krafttraining, dann auch Ausdauertraining, zu<br />

nutzen. Dies wurde anfangs unter intensiver<br />

Anleitung durchgeführt, dann zunehmend<br />

selbstständig von der Patientin. Neben einem<br />

postisometrischen Relaxationsprogramm<br />

stand vor allem die Aktivität der Muskulatur<br />

zur Verbesserung der Stabilität und der Knochenversorgung<br />

im Vordergrund. Besonders<br />

gut bewährten sich hier dynamisch vibrierende<br />

Systeme, die über eine wechselnde Aktivität<br />

der Muskulatur sowohl die Muskelstabilität<br />

als auch die Versorgung der osteoporotischen<br />

Muskeln verbessert. Dies trägt wesentlich zu<br />

einer besseren Stand- und Gangsicherheit wie<br />

auch zur Verminderung der Osteoporose bei.<br />

Neben der analgetischen <strong>Therapie</strong> erfolgte<br />

eine Gabe von Alendronsäure und Alphacalzidol.<br />

Unter dieser <strong>Therapie</strong> konnte die Patientin<br />

innerhalb von vier Monaten eine so gute<br />

Stabilität erzielen, dass sie sich wieder ohne<br />

Rollator bewegen konnte. Ein Auslassversuch<br />

von Oxycodon/Naloxin nach drei Monaten hatte<br />

noch keine ausreichende <strong>Schmerz</strong>stabilität<br />

gezeigt, sodass die <strong>Therapie</strong> mit 10 mg Targin<br />

® 2 x täglich weitergeführt wurde. Auch nach<br />

einem halben Jahr zeigte ein Auslassversuch,<br />

dass die Patientin weiterhin von dieser (relativ<br />

niedrigen) Targin-Dosis profitiert und nur hierunter<br />

ihr aktives Übungsprogramm weiterhin<br />

beibehalten kann. Mit der körperlichen Aktivität<br />

unter Targin weiterhin Reduktion der <strong>Schmerz</strong>intensität,<br />

jetzt auf VAS 15 und damit im Bereich<br />

des individuellen Behandlungsziels.<br />

Diskussion<br />

Eine <strong>Schmerz</strong>reduktion konnte bei der Patientin<br />

mit Oxycodon/Naloxon in einschleichender Dosierung<br />

mit einer Enddosis von 2 x 10 mg Oxycodon/5<br />

mg Naloxon hervorragend erzielt werden.<br />

Bemerkenswert an der gesamten <strong>Therapie</strong><br />

ist das völlige Fehlen irgendwelcher Nebenwirkungen.<br />

So kam es weder zu gastrointestinaler<br />

Symptomatik wie Übelkeit oder Aufstoßen noch<br />

zu einer sonst unter allen anderen Opiaten üblichen<br />

Darmfunktionsstörungen. Dies war Voraussetzung<br />

für die hohe <strong>Therapie</strong>treue, die bei<br />

dieser Patientin erforderlich war, um eine Langzeittherapie<br />

mit einem retardierten Opioid zu<br />

ermöglichen als Voraussetzung für die weitere<br />

Aktivität und Beweglichkeit unserer Patientin. ■<br />

Gerhard H. H. Müller-Schwefe<br />

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