Schmerztherapie 2 / 2010 - Schmerz Therapie Deutsche ...
Schmerztherapie 2 / 2010 - Schmerz Therapie Deutsche ...
Schmerztherapie 2 / 2010 - Schmerz Therapie Deutsche ...
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
ISSN 1613-9968<br />
26. Jahrgang <strong>2010</strong> Ehemals StK<br />
Opioide und die S3-Leitlinie LONTS<br />
<strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong> in rauer See<br />
2I <strong>2010</strong><br />
Editorial<br />
LONTS – Kommentierung dringend<br />
erforderlich __________________________2<br />
<strong>Deutsche</strong>r <strong>Schmerz</strong>- und<br />
Palliativtag <strong>2010</strong><br />
Versorgung in der Breite sichern _______3<br />
Spannungskopfschmerz: Wenn<br />
die Zeit zum Stress wird ______________7<br />
Der <strong>Deutsche</strong> <strong>Schmerz</strong>preis<br />
Versorgungskonzepte in der<br />
<strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong> und Palliativmedizin ___9<br />
Der besondere Fall<br />
Implantation eines intrathekalen<br />
Portsystems _________________________13<br />
Biometrie<br />
Metaanalysen klinischer Studien ________14<br />
Zertifizierte Fortbildung<br />
Neuropathischer <strong>Schmerz</strong> _____________18<br />
SCHMERZTHERAPIE<br />
Algesiologische Fachassistenz<br />
Pflegestützpunkte als Basis der<br />
ambulanten <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong> __________23<br />
Palliativmedizin<br />
SAPV rechnet sich ___________________24<br />
Pharmakotherapie<br />
Opioidinduzierte Hyperalgesie: keine<br />
Rarität und therapiebedürftig __________26<br />
Integrierte Versorgung<br />
„IVZ“ mit dem Innovationspreis<br />
ausgezeichnet _______________________28<br />
Medizin und Recht<br />
Fragen aus der schmerztherapeutischen<br />
Vertragsarztpraxis ____________________30<br />
DGS-Veranstaltungen/Interna ________33<br />
Kasuistik<br />
<strong>Schmerz</strong>en bei degenerativer Wirbelsäulenerkrankung<br />
_____________________35<br />
www.dgschmerztherapie.de
Editorial<br />
LONTS –<br />
Kommentierung<br />
dringend erforderlich<br />
Liebe Kolleginnen und Kollegen,<br />
„Ohne Morphium möchte ich kein Arzt sein“, sagte Albert Schweitzer, und<br />
Thomas Sydenham hatte bereits im 17. Jahrhundert den Stellenwert von Opium<br />
in der Medizin für sich eindeutig definiert.<br />
D iese<br />
fast euphorische Bewertung von Opioiden hat in<br />
der jüngsten Zeit einen erheblichen Dämpfer erhalten.<br />
Unter dem Schirm der <strong>Deutsche</strong>n Gesellschaft zum Studium<br />
des <strong>Schmerz</strong>es und unter der Federführung von Prof. Hardo<br />
Sorgatz, Professor für Psychologie an der Technischen Universität<br />
Darmstadt, haben Vertreter von 14 wissenschaftlichen<br />
Fachgesellschaften die Leitlinie LONTS – Langzeitanwendung<br />
von Opioiden bei nicht tumorbedingten <strong>Schmerz</strong>en – am<br />
25.06. 2009 auf der Homepage der Arbeitsgemeinschaft der<br />
wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften AWMF<br />
ins Netz gestellt. Diese – anfangs wenig von der medizinischen<br />
Öffentlichkeit beachtete – S3-Leitlinie hat inzwischen<br />
zu zahlreichen Diskussionen und kontroversen Kommentaren<br />
geführt. Nur drei Zitate sollen die in der Leitlinie selbst widersprüchlich<br />
erscheinenden Äußerungen unterstreichen:<br />
„Zur Verbesserung der Lebensqualität von <strong>Schmerz</strong>patienten<br />
wird eine Behandlung mit Opioiden nicht empfohlen,<br />
da aufgrund uneinheitlicher Studienbefunde keine zuverlässige<br />
Wirksamkeit der Opioide bestätigt werden kann ...“<br />
III. Empfehlung ↑↑ (A), uneinheitliche Studienlage ↔ (D)<br />
„Opioidhaltigen Analgetika ist aufgrund ihrer geringeren<br />
organtoxischen Wirkung gegenüber anderen Analgetika<br />
bei einer medikamentösen NTSLangzeittherapie der<br />
Vorzug zu geben….“<br />
III. Empfehlung ↑↑ (A), Kein primäres Untersuchungsziel<br />
Gerhard H. H. Müller-<br />
Schwefe, Göppingen<br />
„Wie bei der Kurzzeitanwendung von Analgetika (bis ca.<br />
drei Wochen) sollte auch bei der Langzeitanwendung opioidhaltiger<br />
Analgetika überwiegend mit NonRespondern<br />
gerechnet werden …“ Offene Empfehlung ↔ (KQ 36)<br />
Bereits diese wenigen Zitate belegen, dass in diesen Leitlinien<br />
reichlich Zündstoff für Diskussionen und widersprüchliche<br />
Betrachtensweisen, aber auch für Fehlinterpretationen<br />
steckt.<br />
Metaanalysen – der Stein der Weisen?<br />
Da klinischen Studien einzeln betrachtet der Nimbus anhaftet,<br />
durch immanente Fehler wie Beschränkung der Patientenrekrutierung,<br />
zu geringe Fallzahlen und Ähnliches wenig Aussagekraft<br />
zu haben, haben Metaanalysen, in denen zahlreiche<br />
Studien zusammengefasst werden, schon allein durch die<br />
schiere Zahl der dann erfassten Patienten in der öffentlichen<br />
Wahrnehmung eine wesentlich bessere Aussagefähigkeit.<br />
Dies gewinnt besonders Bedeutung, da die meisten Leitlinien,<br />
insbesondere auf hoher Evidenz basierende wie S3-Leitlinien<br />
– wie auch die Leitlinie LONTS – auf Metaanalysen zurückzuführen<br />
sind.<br />
Wie sehr Metaanalysen selbst äußeren Einflüssen unterliegen<br />
und wie limitiert unter Umständen ihre Aussage sein<br />
kann zeigt Michael Überall in seinem Beitrag „Metaanalysen<br />
klinischer Studien – Stein der Weisen oder des Anstoßes?“<br />
(S. 14).<br />
Nur wer Studien und Metaanalysen richtig lesen kann, hat<br />
eine Chance, hieraus abgeleitete Handlungsanweisungen<br />
oder Leitlinien auch kompetent zu hinterfragen.<br />
Kommentierung erforderlich<br />
Weil die Leitlinie LONTS und die daraus abgeleiteten Handlungsempfehlungen<br />
so widersprüchlich sind und damit einer<br />
missbräuchlichen Interpretation und Anwendung Tür und Tor<br />
öffnen, ist eine Kommentierung für den Praxisgebrauch dringend<br />
erforderlich. Aus diesem Grund hat die <strong>Deutsche</strong> Gesellschaft<br />
für <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong> im Januar bereits zu einer<br />
Themenkonferenz der beteiligten Experten und Fachgesellschaften<br />
eingeladen. Eine Fortsetzung der Expertenrunde hat<br />
das Ziel, eine für die Praxis taugliche Kommentierung dieser<br />
Leitlinie zu erarbeiten, um ihre wichtigen und richtigen<br />
Schlussfolgerungen herauszuarbeiten, aber auch ihre missverständlichen<br />
Aussagen und die Grenzen der Aussagefähig-<br />
SCHMERZTHERAPIE 2/<strong>2010</strong> (26. Jg.)
keit in einem Kommentar zu erarbeiten und für den Praxisgebrauch<br />
zur Verfügung zu stellen. Hierzu werde ich sicher in<br />
meinem nächsten Editorial Näheres berichten können.<br />
Neues vom <strong>Deutsche</strong>n <strong>Schmerz</strong>tag<br />
Seit Jahren werden am <strong>Deutsche</strong>n <strong>Schmerz</strong>- und Palliativtag,<br />
der großen Jahrestagung der <strong>Deutsche</strong>n Gesellschaft für<br />
<strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong> und der mit ihr verbundenen Fachgesellschaften<br />
und Patientenorganisationen, die neuesten Forschungsergebnisse<br />
der <strong>Schmerz</strong>grundlagenforschung und<br />
der hieraus resultierenden aktuellsten <strong>Therapie</strong>konzepte in<br />
Symposien, Workshops und Seminaren vorgestellt und diskutiert.<br />
Für diejenigen, die nicht dabei sein konnten, bietet<br />
dieses Heft einen breiten Überblick über wichtige Highlights<br />
des <strong>Deutsche</strong>n <strong>Schmerz</strong>- und Palliativtages <strong>2010</strong>.<br />
Neue Versorgungskonzepte<br />
Gerade das heftige Ringen der neuen Bundesregierung um<br />
bessere Versorgungskonzepte in einer älter werdenden Gesellschaft<br />
macht deutlich, wie wichtig sektorenübergreifende<br />
Versorgung und komplexe <strong>Therapie</strong>ansätze in einer effizienten<br />
und dennoch kostengünstigen Medizin sein müssen.<br />
Thomas Nolte, der diesjährige Träger des <strong>Deutsche</strong>n<br />
<strong>Schmerz</strong>preises, hat diesen Gedanken in vielen Jahren zum<br />
Zentrum seiner Arbeit gemacht und berichtet ab Seite 9 über<br />
die vielfältigen inhaltlichen, aber auch wirtschaftlichen Aspekte<br />
innovativer Versorgungskonzepte in <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong><br />
und Palliativmedizin.<br />
Die <strong>Deutsche</strong> Gesellschaft für <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong> bringt<br />
sich in diese Diskussionen intensiv ein, unter anderem durch<br />
Gespräche mit dem Gesundheitspolitischen Arbeitskreis des<br />
<strong>Deutsche</strong>n Bundestages, mit der Bundesärztekammer und<br />
mit Gesundheitspolitikern auf allen Ebenen wie dem Bundesgesundheitsministerium,<br />
um die Versorgung von <strong>Schmerz</strong>patienten<br />
auch in Zukunft qualitätsgesichert zu ermöglichen.<br />
SCHMERZTHERAPIE 2/<strong>2010</strong> (26. Jg.)<br />
Editorial<br />
Neue Vergütungsregelungen ab Juli <strong>2010</strong><br />
Die Neuregelung der ärztlichen ambulanten Vergütung durch<br />
die Kassenärztliche Bundesvereinigung wird auch diesmal<br />
Einfluss auf die <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong> haben, da viele der bisher<br />
„freien Leistungen der <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong>“ jetzt in qualitätsgebundene<br />
Zusatzvolumina eingepackt werden, mithin budgetiert<br />
sind und die in der <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong> ohnedies meist<br />
geringen Regelleistungsvolumina mit einem festen Betrag<br />
vergütet werden.<br />
Insgesamt erweckt die immer hektischer werdende Veränderung<br />
der Vergütungsregelungen bei gleichzeitig gleichbleibender<br />
Gesamtvergütung den Eindruck eines Kartenspielers,<br />
der 32 Karten immer neu mischt und neu verteilt,<br />
ohne dass zusätzliche Joker ins Spiel gekommen sind.<br />
Die Verteilung wird anders, aber es gibt nicht mehr, es<br />
treten immer wieder erneut Verwerfungen auf, die es hinterher<br />
(meist hektisch) zu glätten gilt. Insofern glaube ich, sollten<br />
wir von der veränderten Vergütung ab 1. Juli <strong>2010</strong> nicht<br />
allzu viel erwarten, allenfalls sehr schnell reagieren und sich<br />
abzeichnende Verwerfungen, die zu einer Verschlechterung<br />
der schmerztherapeutischen Versorgung führen, kommunizieren<br />
und auch öffentlich artikulieren.<br />
In all diesen Bemühungen wird Sie Ihre <strong>Deutsche</strong> Gesellschaft<br />
für <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong> auch weiterhin intensiv unterstützen!<br />
Für die bevorstehende Ferienzeit wünsche ich Ihnen sonnige<br />
und erholsame Tage und grüße Sie herzlich<br />
Ihr<br />
Dr. med. Gerhard H. H. Müller-Schwefe<br />
Präsident<br />
<strong>Deutsche</strong> Gesellschaft für <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong> e. V.<br />
Versorgung in der Breite sichern<br />
Beim <strong>Deutsche</strong>n <strong>Schmerz</strong>- und Palliativtag 010 wurden neben den neuesten Erkenntnissen<br />
der Grundlagenforschung auch die hieraus resultierenden Versorgungskonzepte<br />
intensiv diskutiert. Von Stammzellenforschung, Hyperalgesie bis zu den<br />
integrativen Versorgungskonzepten spannte sich der breite Themenbogen, der mit<br />
einem gesundheitspolitischen Forum abschloss. Über 00 Teilnehmer konnten von<br />
den Kongresstagen viel Nützliches für ihre tägliche Arbeit mitnehmen.<br />
O pioide<br />
können nicht nur <strong>Schmerz</strong>en lindern,<br />
sondern ihrerseits auch die Empfindlichkeit<br />
auf <strong>Schmerz</strong>reize erhöhen und dadurch<br />
<strong>Schmerz</strong>en intensivieren. Einen synaptischen<br />
Mechanismus, der hinter dieser sogenannten<br />
opioidinduzierten Hyperalgesie (OIH)<br />
steckt, klärte die Wiener Arbeitsgruppe von<br />
Prof. Jürgen Sandkühler* auf. μ-Opioide besitzen<br />
eine direkte hemmende Wirkung auf die<br />
synaptische Übertragung zwischen Aδ- bzw.<br />
C-Fasern und den Nervenzellen im Hinterhorn<br />
des Rückenmarks. Dieser Effekt erklärt, warum<br />
Opioide den Nozizeptorschmerz hervorragend<br />
lindern, während sie die durch A-Fasern ver-<br />
<strong>Deutsche</strong>r <strong>Schmerz</strong>-<br />
und Palliativtag <strong>2010</strong><br />
in Frankfurt a. Main<br />
mittelte dynamische mechanische Allodynie<br />
weitaus weniger unterdrücken. Kommt es zu<br />
anhaltenden <strong>Schmerz</strong>en, z.B nach Traumen<br />
oder Entzündungen, entsteht ein <strong>Schmerz</strong>gedächtnis<br />
durch die Potenzierung der synaptischen<br />
Übertragung an den nozizeptiven C-<br />
Fasern, die sog. synaptische Langzeitpotenzierung<br />
(LTP). Diese kann laut Sandkühler durch<br />
eine frühzeitige präventive Analgesie durch<br />
Opioide verhindert werden.<br />
* Symposium „<strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong> am Puls der Zeit:<br />
von Grundlagen bis Wirtschaftlichkeit“, 9. . 010<br />
in Frankfurt/M. Veranstalter: Mundipharma GmbH
Der <strong>Deutsche</strong> <strong>Schmerz</strong>- und Palliativtag 010<br />
Hyperalgesie durch <strong>Schmerz</strong>mittel<br />
Werden Opioide kontinuierlich appliziert und<br />
abrupt abgesetzt, kommt es aber zu einem<br />
Anstieg der Kalziumionen in den Nervenzellen<br />
des Rückenmarks, die von den C-Fasern erregt<br />
werden. Dieser Kalziumanstieg führt wie<br />
beim <strong>Schmerz</strong>gedächtnis zu einer Langzeitpotenzierung<br />
an C-Fasern und zur verstärkten<br />
Nozizeption. Um dieses Entzugsphänomen zu<br />
vermeiden, empfiehlt Sandkühler, eine Opioidtherapie<br />
stets langsam auszuschleichen. Nach<br />
den Experimenten der Wiener Arbeitsgruppe<br />
lässt sich die opioidinduzierte Hyperalgesie<br />
auch durch die Zugabe eines NMDA-Rezeptorantagonisten<br />
verhindern. Möglicherweise verursachen<br />
auch starke Schwankungen des<br />
Opioidspiegels während der <strong>Therapie</strong> eine Hyperalgesie.<br />
„Darum ist der Einsatz retardierter<br />
Darreichungsformen, die den Wirkstoff gleichmäßig<br />
über einen längeren Zeitraum abgeben,<br />
besonders wichtig“, so Sandkühler.<br />
Neben diesem Entstehungsmechanismus<br />
wird auch die Downregulation der Opioidrezeptoren<br />
über die zentrale Sensibilisierung<br />
bis hin zur Zellapoptose von GABA-Neuronen<br />
als weiterer Mechanismus diskutiert,<br />
ergänzte Dr. Uwe Junker, Remscheid. Klinisch<br />
bedeutsam ist, dass eine opioidinduzierte<br />
Hyperalgesie keineswegs nur unter<br />
Morphin, sondern ebenso bei transdermalem<br />
Fentanyl entstehen kann. Jeder diffuse<br />
<strong>Schmerz</strong> wechselnden Charakters, der sich<br />
auf Erhöhung der Opioidddosis nicht bessert<br />
sondern verschlimmert, sollte an diese<br />
Diagnose denken lassen. Um diese Komplikation<br />
zu vermeiden, empfiehlt der Algesiologe,<br />
stets Opioide in der niedrigstmöglichen Dosis<br />
einzusetzen und je nach Situation mit Regionalverfahren,<br />
Koanalgetika und auch Ketamin<br />
zu kombinieren. Als Beispiel für eine derartige<br />
Behandlung schilderte Junker den Fall einer<br />
49-jährigen Patientin mit einem neuroektodermalen<br />
Tumor mit schwersten stechendbohrenden<br />
gemischten <strong>Schmerz</strong>en, die nozizeptiv<br />
durch den destruierenden Tumor und<br />
neuropathisch durch die Kompression nervaler<br />
Strukturen waren. Dieses komplexe <strong>Schmerz</strong>bild<br />
konnte mit der Fixkombination Oxycodon/<br />
Naloxon in einer Dosis von 40/20–20/10 mg<br />
in Kombination mit Naproxen und Pregabalin<br />
und der Bedarfsmedikation mit 5 mg unretardiertem<br />
Oxycodon beherrscht werden. Oxycodon<br />
besitzt eine hohe Affinität zu Kappa-<br />
Opioidrezeptoren, eignet sich besonders für<br />
neuropathische <strong>Schmerz</strong>en und reduziert die<br />
Dosis des Koanalgetikums wie Pregabalin, bei<br />
dem in diesem Fall nur 75 mg morgens und<br />
150 mg abends nötig waren.<br />
Ansätze aus der Stammzellforschung<br />
Neue Perspektiven für die <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong><br />
eröffnet die Stammzellforschung, die Prof. Dr.<br />
Jürgen Hescheler skizzierte. Humane Fibroblasten<br />
in Kultur können über die Übertragung<br />
von vier Genen, den sog. Pluripotenzfakto-<br />
ren, mithilfe von Lentiviren zu pluripotenten<br />
Stammzellen zurückverwandelt werden. Je<br />
nach <strong>Therapie</strong>zweck können daraus Herzmuskelzellen<br />
oder auch Neurone gezüchtet werden,<br />
die dann in den Spender zurückimplantiert<br />
werden. Pluripotente Stammzellen ermöglichen<br />
erstmals eine Forschung ohne das<br />
ethische Problem der Embryonalzellen. Die<br />
Kölner Arbeitsgruppe konnte so z.B. hochspe-<br />
Ehrenpreis des <strong>Deutsche</strong>n <strong>Schmerz</strong>preises <strong>2010</strong><br />
Dr. rer. nat. Ruth Drdla, Mag. rer. nat.<br />
Matthias Gassner und Prof. Dr. med. Jürgen<br />
Sandkühler wurden auf dem <strong>Deutsche</strong>n<br />
<strong>Schmerz</strong>- und Palliativtag in Frankfurt/Main mit<br />
dem Ehrenpreis des <strong>Deutsche</strong>n <strong>Schmerz</strong>preises<br />
010 – <strong>Deutsche</strong>r Förderpreis 010 für <strong>Schmerz</strong>forschung<br />
und <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong> ausgezeichnet.<br />
Die Arbeitsgruppe um Prof. Sandkühler, dem<br />
Leiter des Zentrums für Hirnforschung an der<br />
Medizinischen Universität Wien, lieferte grundlegend<br />
neue Erkenntnisse über die durch Opioide<br />
vermittelte <strong>Schmerz</strong>überempfindlichkeit.<br />
Die Biologin und Anthropologin Dr. rer. nat. Ruth<br />
Drdla absolvierte bei Prof. Sandkühler ihre Doktorarbeit<br />
und forscht seit 2008 in Sandkühlers Labor.<br />
Der Biologe und Zoologe Mag. rer. nat. Matthias<br />
Gassner schrieb Diplom und Doktorarbeit am<br />
Zentrum für Hirnforschung der Medizinischen Universität<br />
Wien und forscht seit 2007 in Sandkühlers<br />
Arbeitsgruppe. Der Preis wird<br />
jährlich an Persönlichkeiten verliehen,<br />
die sich durch wissenschaftliche<br />
Arbeiten über Diagnostik<br />
und <strong>Therapie</strong> akuter und chronischer<br />
<strong>Schmerz</strong>zustände verdient<br />
gemacht oder die durch ihre Arbeit<br />
oder ihr öffentliches Wirken<br />
entscheidend zum Verständnis des<br />
Problemkreises <strong>Schmerz</strong> und der<br />
davon betroffenen Personen<br />
beigetragen haben. Der wissenschaftliche<br />
Träger des Ehrenpreises<br />
ist die <strong>Deutsche</strong> Gesellschaft für <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong><br />
e.V. Gestiftet wird der mit 3.000 Euro dotierte<br />
Preis von der Firma AWD.pharma GmbH, Dresden.<br />
In der Urkunde heißt es: „Mit ihren bahnbrechenden<br />
Arbeiten über die synaptischen Wirkungen der<br />
Opioide in <strong>Schmerz</strong>bahnen hat die Arbeitsgruppe<br />
Übergabe des Ehrenpreises <strong>2010</strong><br />
an die Wiener Preisträger<br />
zifische Herzmuskelzellen produzieren. Diese<br />
Technik eröffnet damit große Hoffnungen für<br />
Patienten mit Herzinfarkt oder für Patienten<br />
mit Diabetes mellitus, bei denen die Inselzellen<br />
ersetzt werden könnten. Neurologische<br />
Erkrankungen wie die Huntington-Erkrankung,<br />
Morbus Parkinson, Multiple Sklerose ebenso<br />
wie Rückenmarksverletzungen könnten Indikationen<br />
für eine regenerative <strong>Therapie</strong> mit<br />
Stammzellen darstellen. Denkbar wäre auch,<br />
dass aus den Stammzellen Neurone gezüchtet<br />
würden, die große Mengen Endorphine<br />
produzieren und dann ähnlich einer Medikamentenpumpe<br />
gezielt in das Hinterhorn des<br />
Rückenmarks injiziert würden, um dort über<br />
die Endorphine <strong>Schmerz</strong>en zu reduzieren.<br />
Erste Experimente bei ischämischen Hirnläsionen<br />
haben bereits gezeigt, dass Nervenzellen<br />
in den Neuronenverbund durch synaptische<br />
Verbindungen integriert werden und<br />
dort spezifische Reparaturprozesse einleiten<br />
können. Auch wenn diese Möglichkeiten derzeit<br />
noch reines Forschungsgebiet sind, erwartet<br />
Hescheler von dieser regenerativen<br />
Technik einen wertvollen Beitrag, um die Lebensqualität<br />
lange erhalten zu können.<br />
S3Leitlinie ein Flop?<br />
Ein Risiko für die medikamentöse <strong>Therapie</strong> von<br />
chronisch <strong>Schmerz</strong>kranken stellt die neue S3-<br />
Leitlinie zur Langzeitanwendung von Opioiden<br />
(LONTS) bei nicht tumorbedingten <strong>Schmerz</strong>en<br />
dar, warnte Priv.-Doz. Dr. med. Michael Überall,<br />
Nürnberg. Massive methodische Schwächen<br />
bei der Analyse wissenschaftlicher Studien<br />
und ein Mangel an Langzeitstudien haben hier<br />
zu falschen Schlussfolgerungen geführt. Evi-<br />
das Verständnis über die opioidinduzierte Hyperalgesie<br />
grundlegend revolutioniert. Dies hat weitreichende<br />
Konsequenzen für die praktische <strong>Therapie</strong><br />
mit Opioiden und das Verständnis für die Entwicklung<br />
von Hyperalgesie bei Patienten unter Opioidtherapie.<br />
Gleichzeitig eröffnet es Perspektiven<br />
für eine bessere <strong>Therapie</strong>.“<br />
© Photo Grysa<br />
SCHMERZTHERAPIE 2/<strong>2010</strong> (26. Jg.)
denzbasierte Medizin darf nicht bedeuten,<br />
dass wir unser Gehirn ausschalten, warnte<br />
Überall (s. S. 14). Wie vorgefertigt die Meinung<br />
der Autoren sei, zeige sich daran, dass sie psychologischen<br />
Verfahren mit einer fünfprozentigen<br />
Wirkstärke eine gesicherte Wirksamkeit<br />
bestätigen, Opioiden trotz einer zehnprozentigen<br />
Wirkstärke diese aber absprechen. Unverständlich<br />
ist es, dass erste Institutionen wie<br />
kassenärztliche Vereinigungen diese Leitlinien<br />
so interpretieren, dass eine <strong>Therapie</strong> nach drei<br />
Monaten abgesetzt werden müsse. Dies ist laut<br />
Dr. med. Gerhard H. H. Müller-Schwefe, Göppingen<br />
eine absurde Fehlentwicklung. Innerhalb<br />
der nächsten drei bis fünf Jahre müssen<br />
valide Daten regeneriert werden, forderte<br />
Überall. Derzeit ist LONTS „Schrott“ und erfordere<br />
eine kritische Stellungnahme.<br />
Lebensqualität ist kein Luxus<br />
Eine adäquate frühzeitige <strong>Therapie</strong> mit einem<br />
Opioidanalgetikum wie der Fixkombination<br />
Oxycodon/Naloxon bei chronischen Rückenschmerzen<br />
verbessert die Lebensqualität und<br />
verhindert die <strong>Schmerz</strong>chronifizierung. Die innovative<br />
<strong>Therapie</strong> mit dem retardierten Oxycodon/Naloxon<br />
verursacht zudem weniger direkte<br />
und indirekte Kosten als eine <strong>Therapie</strong> mit anderen<br />
starken Opioiden (WHO Stufe III), berichtete<br />
Prof. Dr. Dr. Rychlik, Institut für Empirische<br />
Gesundheitsökonomie Burscheid.<br />
Dies zeigte eine prospektive multizentrische<br />
Versorgungstudie mit 1095 Patienten, von der<br />
eine Zwischenauswertung nach sechs Monaten<br />
<strong>Therapie</strong> eine erste Trendbeschreibung<br />
erlaubt: 669 Patienten mit chronischen Rückenschmerzen<br />
erhielten ein halbes Jahr die<br />
Fixkombination oder ein alternatives stark<br />
wirksames Opioidanalgetikum. Neben den<br />
medizinischen Eckpunkten wurde die gesundheitsbezogene<br />
Lebensqualität mithilfe<br />
von krankheitsspezifischen (BPI-SF, Summenscore<br />
aus vier Einzelparametern [<strong>Schmerz</strong>],<br />
Summenscore aus sieben Einzelparametern<br />
[schmerzbedingte Beeinträchtigung; Lebensqualität])<br />
und krankheitsübergreifenden (SF-<br />
36) Instrumenten erhoben und den entstandenen<br />
<strong>Therapie</strong>kosten gegenübergestellt.<br />
Zu Beginn der <strong>Therapie</strong> litten die Patienten<br />
an einer mittleren <strong>Schmerz</strong>intensität von 23,4<br />
Punkten (auf einer Skala von 0 = kein bis 40<br />
= stärkster <strong>Schmerz</strong>, BPI-SF), 24,3 Punkte in<br />
der Targingruppe und 21,8 Punkte in der Gruppe<br />
mit anderen starken Opioiden. Ihre durchschnittliche<br />
Beeinträchtigung der täglichen<br />
Lebensführung lag im Mittel bei knapp 40 (70<br />
Punkte stärkste Beeinträchtigung, BPI-SF):<br />
41,3 (OXN) und 36,8 (andere starke Opioide),<br />
sodass die Ausgangsbefunde der Targin-Gruppe<br />
sogar etwas ungünstiger waren.<br />
SCHMERZTHERAPIE 2/<strong>2010</strong> (26. Jg.)<br />
Die drei Gewinner des Posterpreises von<br />
links nach rechts: Sven Gottschling, Homburg,<br />
Claudia Sommer, Lübeck, und Hans<br />
Bernd Sittig, Geesthacht.<br />
Unter der Fixkombination mit Oxycodon/<br />
Naloxon nahm die <strong>Schmerz</strong>intensität um<br />
37,4% und die damit verbundene Beeinträchtigung<br />
im Alltag um 25,7% ab, unter den alternativen<br />
stark wirksamen Opioiden nahm<br />
die Intensität dagegen nur um 15,6% und die<br />
Beeinträchtigung des Alltags um 13,6% ab.<br />
Die direkten <strong>Therapie</strong>kosten betrugen in den<br />
ersten sechs Monaten 1128 Euro im Durchschnitt,<br />
65% entfielen davon auf die Arzneimitteltherapie<br />
(60% unter Targin, 67% WHO<br />
III). Targin verursachte mit 1027 Euro deutlich<br />
geringere Kosten, verglichen mit den anderen<br />
starken Opioiden, die Kosten von 1327 Euro<br />
mit sich brachten.<br />
Die indirekten Kosten für Arbeitsunfähigkeit<br />
und Erwerbsminderung bezogen auf den Anteil<br />
der Patienten im berufsfähigen Alter waren in<br />
diesem Zeitraum dreimal so hoch. Sie betrugen<br />
3254 Euro für die Fixkombinationsgruppe und<br />
4499 für die Gruppe unter alternativen starken<br />
Opioiden. Aufgrund der Zwischenauswertung<br />
folgert Rychlik, dass eine suffiziente <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong><br />
bei chronischen Rückenschmerzen die<br />
Lebensqualität signifikant verbessert und das<br />
Voranschreiten der <strong>Schmerz</strong>chronifizierung<br />
verhindern kann. Die nebenwirkungsarme <strong>Therapie</strong><br />
mit einem innovativen Fixpräparat wirkt<br />
nicht nur besser, sondern verursacht auch weniger<br />
direkte und indirekte <strong>Therapie</strong>kosten.<br />
Dronabinol in der Pädiatrie<br />
Der erste Preis für ein Poster ging an Priv.-Doz.<br />
Dr. Sven Gottschling, Homburg/Saar, der den<br />
Stellenwert der Cannabinoide an acht Kindern<br />
(2 bis 17 Jahre alt) mit schwersten Mehrfachbehinderungen<br />
mit therapieresistenter Spastik<br />
und <strong>Schmerz</strong>en untersuchte. Alle Kinder hatten<br />
eine baclofenresistente Spastik, drei Kinder<br />
erhielten zusätzlich Opioide und Nonopioide,<br />
Der <strong>Deutsche</strong> <strong>Schmerz</strong>- und Palliativtag 010<br />
© Photo Grysa<br />
zwei nur Nonopioide. Unter der <strong>Therapie</strong> mit<br />
zweimal täglich mindestens 1 mg Dronabinol<br />
bis höchsten zweimal 5 mg zeigte das Cannabinoid<br />
in einer mittleren Dosierung von 0,25<br />
mg/kg/d einen antispastischen und analgetischen<br />
Effekt und verbesserte zudem das<br />
Schlafverhalten. Die <strong>Therapie</strong> wurde von ihnen<br />
ohne Nebenwirkungen toleriert, Opioide konnten<br />
darunter eingespart werden, und auch in<br />
der Langzeittherapie kam es bei den Kindern<br />
nicht zur Dosiseskalation. Inzwischen dauert<br />
die <strong>Therapie</strong> bereits im Median zwei Jahre und<br />
drei Monate an. Fünf der acht Kinder leben<br />
noch. Die <strong>Therapie</strong> mit Dronabinol, so das Fazit<br />
des Homburger Pädiaters, wird auch von Kindern<br />
gut toleriert und sollte in prospektiven<br />
randomisierten Doppelblindstudien bei Kindern<br />
überprüft werden.<br />
Ibandronat gegen Knochenmetastasen<br />
Den zweiten Posterpreis erhielt Dr. med. Hans-<br />
Bernd Sittig, Geesthacht, der die analgetischen<br />
Effekte einer hoch dosierten Ibandronattherapie<br />
bei therapieresistenten Knochenschmerzen<br />
untersucht hatte. Behandelt wurden neun Patientinnen<br />
mit Brustkrebs und ossären Metastasen<br />
im Endstadium, die sich im Hospiz befanden.<br />
Trotz einer Vorbehandlung mit Opioiden,<br />
Nichtopioiden und Koanalgetika litten die Betroffenen<br />
an schwersten, fast unerträglichen<br />
<strong>Schmerz</strong>en und kämpften mit opioidbedingten<br />
Nebenwirkungen wie Obstipation, Nausea und<br />
Müdigkeit.<br />
Mit einer <strong>Therapie</strong> von 6 mg Ibandronat als<br />
Kurzinfusion jeweils über 15 min intravenös<br />
an drei aufeinanderfolgenden Tagen ließen<br />
sich die <strong>Schmerz</strong>en deutlich reduzieren: Der<br />
vor <strong>Therapie</strong>beginn ermittelte VAS-Wert der<br />
maximalen <strong>Schmerz</strong>intensität ging von 9,5 auf<br />
4,0 zurück, im Durchschnitt sanken die VAS-<br />
Werte von 9,3 auf 2,1 VAS-Punkte. Parallel<br />
dazu konnte die Rescue-Medikation gesenkt<br />
werden. Nebenwirkungen traten unter der hoch<br />
dosierten Ibandronattherapie nicht auf. Sittig<br />
folgert, dass die Ibandronat-Loading-Dose eine<br />
hocheffektive analgetische Wirkung bei therapierefraktären<br />
Knochenmetastasen besitzt und<br />
gut verträglich ist.<br />
<strong>Schmerz</strong> bei Auszubildenden<br />
Mit dem dritten Preis der Postersession wurde<br />
eine epidemiologische Untersuchungen von<br />
Claudia Schwager ausgezeichnet. Mit dem Lübecker-<strong>Schmerz</strong>screening-Fragebogenbefragte<br />
sie 7158 Auszubildende (15 bis 25 Jahre)<br />
an einer Berufsschule. 6175 Bögen wurden<br />
beantwortet, davon waren 94,1% auswertbar.<br />
90% litten an <strong>Schmerz</strong>en innerhalb der letzten<br />
drei Monate, 72% an Kopfschmerzen, 60% an<br />
Rückenschmerzen, 38% an Halsschmerzen,
© Photo Grysa<br />
Der <strong>Deutsche</strong> <strong>Schmerz</strong>- und Palliativtag 010<br />
Teilnehmer der gesundheitspolitischen Diskussion: von links nach rechts Alexander Ehlers,<br />
Marianne Koch, Gerhard H.H. Müller-Schwefe, Brigitte Fischer und Werner Baumgärtner.<br />
37% an Bauchschmerzen und 35% an Arm-<br />
und Beinschmerzen. Jeder Fünfte nahm bereits<br />
häufig oder immer wegen seiner <strong>Schmerz</strong>en<br />
Medikamente ein und konsultierte häufig<br />
oder immer einen Arzt. Aufgrund dieser Befunde<br />
folgert Schwager, dass <strong>Schmerz</strong>en bereits<br />
bei Auszubildenden häufig sind und schon<br />
in der Adoleszenz ein erwachsenentypisches<br />
Muster aufweisen. Fast die Hälfte der Betroffenen<br />
klagt bereits über anhaltende <strong>Schmerz</strong>en,<br />
die über zwölf Monate andauern. In einer<br />
zweiten Analyse wurde bei 4207 Auszubildenden<br />
untersucht, inwieweit die <strong>Schmerz</strong>en tätigkeitsspezifische<br />
und geschlechtsspezifische<br />
Charakteristika aufweisen. Dabei zeigte sich,<br />
dass Frauen im Büro signifikant häufiger an<br />
Kopfschmerzen, anhaltenden Kopfschmerzen<br />
und Rückenschmerzen leiden als Frauen im<br />
Tätigkeitsbereich Handwerk. Männer in beiden<br />
Tätigkeitsbereichen unterscheiden sich dagegen<br />
nicht in der <strong>Schmerz</strong>prävalenz. Aufgrund<br />
dieser Studie folgern die Lübecker Experten,<br />
dass künftig auch geschlechtsspezifische Präventionsstrategien<br />
nötig sind, um <strong>Schmerz</strong>en<br />
und ihre frühzeitige Chronifizierung effizient zu<br />
verhindern.<br />
<strong>Schmerz</strong>enswunsch und Tipps<br />
Beim <strong>Deutsche</strong>n <strong>Schmerz</strong>tag überreichte die<br />
Firma Mundipharma eine Spende von 3274<br />
Euro an die <strong>Deutsche</strong> <strong>Schmerz</strong>liga, mit der sie<br />
zur Verbesserung der Lebensqualität von Menschen<br />
mit chronischen <strong>Schmerz</strong>en beitragen<br />
möchte. Mit je einem Euro unterstützte Mundipharma<br />
nämlich die Aktion <strong>Schmerz</strong>enswunsch.<br />
Die 3274 Einsendungen zeigten klar,<br />
dass Lebensqualität der <strong>Schmerz</strong>enswunsch<br />
Nr. 1 ist. Gleichzeitig wurde von der „Initiative<br />
<strong>Schmerz</strong> messen“ beim <strong>Deutsche</strong>n <strong>Schmerz</strong>tag<br />
die Aktion „Tipps bei <strong>Schmerz</strong>en gesucht“<br />
gestartet. Dabei werden <strong>Schmerz</strong>patienten<br />
aufgerufen, ihren Leidensgenossen Tipps zu<br />
geben, wie sie den Alltag besser bewältigen<br />
können. Auch bei dieser Aktion spendet Mundipharma<br />
für jeden eingeschickten Tipp einen<br />
Euro an die <strong>Deutsche</strong> <strong>Schmerz</strong>liga. Bis zum<br />
31.10. <strong>2010</strong> können <strong>Schmerz</strong>patienten mitmachen<br />
und sollen auf einer Postkarte ihren Tipp<br />
an die „Initiative <strong>Schmerz</strong> messen“ c/o <strong>Deutsche</strong><br />
<strong>Schmerz</strong>liga e.V., Adenauerstr. 18, 61440<br />
Oberursel schicken (oder per E-Mail an: tipp@<br />
schmerzmessen.de)<br />
Gesundheitspolitisches Forum<br />
Zum Ausklang des 21. <strong>Deutsche</strong>n <strong>Schmerz</strong>-<br />
und Palliativtages <strong>2010</strong> diskutierten Patienten<br />
und Ärzte gemeinsam mit Juristen und Vertretern<br />
der Krankenkassen die Zukunft der<br />
<strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong>. Dr. med. Marianne Koch,<br />
Präsidentin der <strong>Deutsche</strong>n <strong>Schmerz</strong>liga, betonte<br />
als Vertreterin der <strong>Schmerz</strong>patienten<br />
nachhaltig, dass das Solidaritätsprinzip unbedingt<br />
beibehalten werden muss. Für ebenso<br />
unersetzbar hält sie die sprechende Medizin:<br />
„Gespräche müssen wieder bezahlt werden,<br />
dies spart nachhaltig Kosten“, so Koch. Aus der<br />
Sicht der Krankenkassen, ergänzte Birgit Fischer,<br />
Vorsitzende der Barmer GEK, sind multimodale,<br />
sektorenübergreifende Versorgungskonzepte<br />
eine Gewähr für eine bessere Versorgung<br />
in der Zukunft. Es gibt bereits viele Modelle<br />
wie das Rückenschmerzkonzept und sie<br />
sollten endlich flächendeckend nutzbar gemacht<br />
werden.<br />
Einen weiteren Schwerpunkt sollte eine<br />
intensivere Versorgungsforschung darstellen.<br />
Eine qualitativ hochwertige Versorgung verlange<br />
auch eine Partnerschaft mit den Krankenkassen<br />
und mehr Transparenz im Gesundheitswesen.<br />
Die erforderlichen Informationen über<br />
die <strong>Therapie</strong>möglichkeiten könnten auch über<br />
die Krankenkassen den Betroffenen zur Verfügung<br />
gestellt werden. Dr. Werner Baumgärtner,<br />
Vorsitzender der MEDI Baden-Württemberg,<br />
forderte aus der Sicht der Vertragsärzte, dass<br />
es endlich mehr Planungssicherheit geben<br />
sollte. Hierfür müssten endlich feste Punktwerte<br />
beim Sozialgericht eingeklagt werden.<br />
Für die niedergelassenen Kollegen sollten<br />
Kollektivverträge eine feste Vergütung sichern,<br />
Selektivverträge seien eine zweite Möglichkeit<br />
für die Zukunft. Die Praxen sind zurzeit übervoll<br />
und die Versorgung der vielen <strong>Schmerz</strong>kranken<br />
könne langfristig nur über Kollektivverträge<br />
gesichert werden, auch wenn Selektivverträge<br />
sicher ebenso nötig seien.<br />
Der Münchener Arzt und Medizinjurist Prof.<br />
Dr. Dr. Alexander Ehlers erläuterte, woran es<br />
bei dem solidarisch finanzierten Gesundheitssystem<br />
hapert. Bis 1987 waren die Rahmenbedingungen<br />
bei Vollbeschäftigung günstig, nun<br />
sei die Finanzierung von Gesundheitsausgaben,<br />
Pflege und Rente über Arbeitnehmer und<br />
Arbeitgeber nicht mehr genügend sichergestellt.<br />
Obwohl ständig mehr Geld in das Gesundheitswesen<br />
geflossen sei, sei dies nicht<br />
bei den Ärzten angekommen. Die <strong>Schmerz</strong>therapeuten<br />
haben ihr Vertrauen und ihre Sicherheit<br />
verloren, kritisierte Müller-Schwefe.<br />
Obwohl der Anspruch auf eine gute medizinische<br />
Versorgung ein Grundrecht sei, werde<br />
es immer schwieriger, einen Partner zu finden.<br />
Immer weniger Ärzte sind dazu bereit, und<br />
<strong>Schmerz</strong>therapeuten werden immer seltener,<br />
sodass die flächendeckende Versorgung eine<br />
Illusion ist. Nachhaltig forderte Müller-Schwefe<br />
einen Paradigmenwechsel hin zu einer effizienteren<br />
<strong>Therapie</strong>, bei dem die Patienten nicht<br />
entmündigt, sondern mehr Verantwortung zugebilligt<br />
bekommen sollten.<br />
IVR ein Lichtblick<br />
Ein positives Beispiel sind die integrierten Rückenversorgungskonzepte,<br />
die sich für Ärzte<br />
und Patienten gleichermaßen lohnen. Während<br />
im bundesweiten Durchschnitt nur 33% der<br />
Rückenpatienten wieder arbeitsfähig würden,<br />
konnten 88% der Patienten, die in diesem integrierten<br />
Konzept behandelt wurden, wieder<br />
arbeiten. Eine effektive Versorgung sollte, so<br />
Müller-Schwefe, die ineffektiven <strong>Therapie</strong>n ersetzen.<br />
Wie das Zweitmeinungsverfahren zeigt,<br />
würden bislang viel zu oft riskante invasive<br />
<strong>Therapie</strong>n eingesetzt.<br />
Wichtig ist allerdings auch, dass die Ärzte<br />
mit den Krankenkassen eine Partnerschaft eingingen,<br />
da nur die Krankenkassen die Daten<br />
über die Arbeitsunfähigkeit ihrer Versicherten<br />
hätten, so Müller-Schwefe. Die Prüfverfahren<br />
über die pharmakologischen <strong>Therapie</strong>n sind<br />
zwar lästig, und der Kenntnisstand der Überprüfer<br />
ist leider oft unzureichend. Wer jedoch<br />
gut dokumentiert, warum er seine Verordnungen<br />
so getroffen hat, wird damit auch kein<br />
Problem haben. Ehlers bestätigte, dass die<br />
Krankenkassen als Treuhänder des Geldes<br />
ihrer Versicherten hier ihre originäre Aufgabe<br />
erfüllen müssten und dieses Nachfragen der<br />
Wirtschaftlichkeit legitim sei. Eine erfolgreiche<br />
multimodale Versorgung verlange eine Partnerschaft<br />
im gesamten Gesundheitswesen.<br />
StK ■<br />
SCHMERZTHERAPIE 2/<strong>2010</strong> (26. Jg.)
© Bildarchiv Göbel<br />
Spannungskopfschmerz:<br />
Wenn die Zeit zum Stress wird<br />
Kopfschmerz ist die Volkskrankheit: In Deutschland leiden rund 66, % der Frauen<br />
und 53,2% der Männer an Kopfschmerzen. Tägliche Kopfschmerzen treten bei rund<br />
5% der Bevölkerung auf. Der Kopfschmerz vom Spannungstyp ist „der Alltagskopfschmerz“<br />
und für mehr als 54% aller Kopfschmerzleiden verantwortlich. Über die<br />
Diagnostik und <strong>Therapie</strong> dieser Zivilisationserkrankung, die vor allem durch den<br />
Termindruck gefördert wird, informiert Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Hartmut Göbel,<br />
DGS-Leiter und Chefarzt der <strong>Schmerz</strong>klinik Kiel.<br />
K opfschmerz<br />
und Zeitverlauf sind eng miteinander<br />
verbunden. So werden die häufigsten<br />
Kopfschmerzformen direkt über den<br />
zeitlichen Ablauf klassifiziert. Dies gilt zum Beispiel<br />
für die Migräne mit akuter Aura, die chronische<br />
Migräne, den episodischen Kopfschmerz<br />
vom Spannungstyp, den chronischen<br />
Kopfschmerz vom Spannungstyp, den Clusterkopfschmerz,<br />
die chronisch paroxysmale Hemikranie<br />
und viele andere Formen. Darüber<br />
hinaus ist das Auftreten von Kopfschmerzen<br />
tageszeitlich gebunden. So tritt etwa die Migräne<br />
zumeist aus dem Schlaf heraus am frühen<br />
Morgen auf.<br />
Spannungskopfschmerz am Vormittag<br />
Die Spannungskopfschmerzen bilden sich insbesondere<br />
am Vormittag aus. Dagegen findet<br />
sich der Clusterkopfschmerz meist in den frühen<br />
Morgenstunden in der Nacht. Die Kopfschmerzempfindlichkeit<br />
variiert im Tagesverlauf.<br />
In einem experimentellen Kopfschmerzmodell<br />
für den Kopfschmerz vom Spannungs-<br />
SCHMERZTHERAPIE 2/<strong>2010</strong> (26. Jg.)<br />
typ zeigt sich eine besonders hohe <strong>Schmerz</strong>empfindlichkeit<br />
am Vormittag. Die geringste<br />
<strong>Schmerz</strong>empfindlichkeit besteht am Nachmittag<br />
und in den späten Abendstunden. Die<br />
<strong>Schmerz</strong>empfindlichkeit steigt dann in der<br />
Nacht auf ein hohes Niveau. Eine zeitliche Variation<br />
der <strong>Schmerz</strong>empfindlichkeit liegt ausgeprägt<br />
für mittelstarken und für sehr starken<br />
<strong>Schmerz</strong> vor. Dagegen wird die <strong>Schmerz</strong>empfindlichkeit<br />
für eben wahrnehmbaren <strong>Schmerz</strong>,<br />
die <strong>Schmerz</strong>schwelle, im Tagesverlauf nur wenig<br />
variiert.<br />
Sporadisch, häufig, chronisch?<br />
Der Kopfschmerz vom Spannungstyp als häufigste<br />
Kopfschmerzerkrankung charakterisiert<br />
sich durch das zeitliche Auftreten, spezifische<br />
Kopfschmerzmerkmale und spezifische Begleitsymptome.<br />
Die Kopfschmerzdauer beträgt beim<br />
episodischen Kopfschmerz 30 Minuten<br />
bis zu sieben Tage. Beim chronischen Kopfschmerz<br />
findet sich keine zeitliche Festlegung.<br />
Es werden drei Verlaufsformen unterschieden:<br />
Der <strong>Deutsche</strong> <strong>Schmerz</strong>- und Palliativtag <strong>2010</strong><br />
Hartmut Göbel,<br />
Kiel<br />
1. Die sporadische Verlaufsform tritt an weniger<br />
als zwölf Tagen pro Jahr auf.<br />
2. Der episodische Kopfschmerz vom Spannungstyp<br />
ist an bis zu 15 Tagen pro Monat<br />
präsent.<br />
3. Der chronische Kopfschmerz vom Spannungstyp<br />
tritt dagegen an mehr als 15 Tagen<br />
pro Monat auf und kann auch als Dauerkopfschmerz<br />
bestehen.<br />
Die <strong>Schmerz</strong>merkmale des Kopfschmerzes<br />
vom Spannungstyp sind beidseitiges Auftreten,<br />
ein drückender beengender Charakter, ein<br />
<strong>Schmerz</strong> von leichter bis mittlerer Intensität,<br />
der nicht durch körperliche Aktivität verstärkt<br />
wird. Übelkeit und Erbrechen treten nicht auf.<br />
Licht- oder Lärmempfindlichkeit können bestehen.<br />
Verstärker<br />
Der Kopfschmerz vom Spannungstyp hat eine<br />
Reihe von verstärkenden Faktoren. Dazu zählen<br />
insbesondere die oromandibuläre Dysfunktion,<br />
psychosozialer Stress, Angst, Depressi-<br />
Zeitdruck ist einer der Auslöser für Spannungskopfschmerz. Eine überlegte Zeitplanung wirkt präventiv und effektiver als nur Analgetika.
© Bildarchiv Urban & Vogel<br />
Der <strong>Deutsche</strong> <strong>Schmerz</strong>- und Palliativtag <strong>2010</strong><br />
on, muskulärer Stress, Medikamentenübergebrauch<br />
sowie weitere Faktoren. Aktuelle Studien<br />
zeigen, dass schwere lebensverändernde<br />
Ereignisse, insbesondere Stress und Traumata,<br />
bei der Entwicklung von chronischen Kopfschmerzen<br />
eine maßgebliche Rolle spielen.<br />
Zusätzliche Risikofaktoren sind Übergewicht,<br />
Kopf- und Nackenverletzungen, Koffeinübergebrauch<br />
sowie Schlafstörungen.<br />
Zu den chronobiologischen Faktoren zählen<br />
zu viel Schlaf, zu wenig Schlaf sowie ein unregelmäßiger<br />
Schlaf. Dazu werden insbesondere<br />
Einschlafstörungen, nächtliches Erwachen, zu<br />
frühes Aufwachen, unausgeruhtes Aufwachen,<br />
Tagesmüdigkeit, Schnarchen, Zuckungen im<br />
Schlaf sowie nächtliches Schwitzen gezählt.<br />
Umweltfaktoren, die den Kopfschmerz vom<br />
Spannungstyp mitbedingen sind helles Licht,<br />
Wetteränderungen sowie große Höhen. Diätetische<br />
Faktoren schließen Hunger und Alkohol<br />
ein. Spezielle Ankündigungssymptome können<br />
beim Kopfschmerz vom Spannungstyp<br />
ebenfalls auftreten. Diese schließen depressive<br />
Symptome, Unruhe, Lichtempfindlichkeit,<br />
Lärmempfindlichkeit, Nackenempfindlichkeit<br />
sowie Kältegefühle ein.<br />
Entstehung und Chronifizierung<br />
Die heutigen wissenschaftlichen Modelle zur<br />
Entstehung des Kopfschmerzes vom Spannungstyp<br />
schließen periphere Mechanismen<br />
und zentrale Mechanismen ein. Zu den peripheren<br />
Mechanismen, die außerhalb des zentralen<br />
Nervensystems entstehen, zählen insbesondere<br />
muskulärer Stress, Gelenkstress<br />
sowie Sehnenstress. Die Folge ist eine Freisetzung<br />
von <strong>Schmerz</strong>stoffen in den Gelenken,<br />
Muskeln und Sehnen der perikranialen Strukturen.<br />
Dies führt zu einer Sensibilisierung dieser<br />
Regionen mit erhöhter <strong>Schmerz</strong>empfind-<br />
lichkeit. Stress, Angst und Depression können<br />
zu einer zentralen Sensitivierung führen. Durch<br />
die Störung der Sinnesfilter aufgrund einer Veränderung<br />
der zirkadianen Rhythmen wird eine<br />
zusätzliche <strong>Schmerz</strong>sensibilisierung bedingt.<br />
Die Folge ist eine Erschöpfung der körpereigenen<br />
<strong>Schmerz</strong>abwehrsysteme. Dies führt zu<br />
einer weiteren zentralen Sensitivierung und<br />
einem sogenannten „Wind-up“.<br />
Im Nervensystem werden Gliazellen aktiviert,<br />
und es werden dort Prostaglandine freigesetzt.<br />
Die <strong>Schmerz</strong>entstehung führt zu einer weiteren<br />
zentralen und peripheren Sensitivierung. So<br />
bildet sich ein komplexes Entstehungsgefüge<br />
für episodischen und bei nicht effektiver Behandlung<br />
für chronischen Kopfschmerz vom<br />
Spannungstyp aus.<br />
Die <strong>Therapie</strong><br />
In der <strong>Therapie</strong> werden diese multiplen Mechanismen<br />
simultan adressiert. Es muss zunächst<br />
eine Selbstbeobachtung erfolgen und ein Kopfschmerztagebuch<br />
geführt werden. Das Schlafverhalten<br />
sowie die Aktivitäten sollten im Tagesverlauf<br />
protokolliert werden. Patienten, die<br />
an Kopfschmerzen vom Spannungstyp leiden,<br />
sollten möglichst keine Schichtarbeiten durchführen.<br />
Die Ernährung sollte regelmäßig gestaltet<br />
werden. Die Mahlzeiten sollten zu festen<br />
Zeiten eingenommen werden. Insbesondere<br />
sollte das Frühstück nicht ausgelassen werden.<br />
Eine kohlenhydratreiche Ernährung ist vorteilhaft.<br />
Langsames Essen und drei Liter pro Tag<br />
Trinken sollte angestrebt werden. Für die Tagesplanung<br />
sollte ein fester Stundenplan angefertigt<br />
und eingehalten werden. Dabei sollten<br />
auch feste Pausen eingeplant werden. Die<br />
wichtigste Regel ist die Regelmäßigkeit. Alles<br />
zu Schnelle, zu Plötzliche und Unvorhergesehene<br />
sollte möglichst vermieden werden.<br />
Regelmäßiger Ausdauersport wie<br />
Schwimmen und Jogging reduzieren<br />
die <strong>Schmerz</strong>empfindlichkeit.<br />
Gleichmäßiger Rhythmus<br />
Ein gleichmäßiger Tag-Nacht-Rhythmus führt<br />
dazu, dass die biologischen Rhythmen intakt<br />
bleiben und damit die körpereigene <strong>Schmerz</strong>abwehr<br />
stabilisiert wird. Ein Entspannungsverfahren<br />
führt ebenfalls zu einer Reduktion der<br />
<strong>Schmerz</strong>sensibilisierung und zur Entspannung<br />
als <strong>Therapie</strong>. Regelmäßiger Ausdauersport,<br />
insbesondere das Laufen, Schwimmen, Radfahren<br />
und Spazierengehen, führt zu einer verbesserten<br />
Sauerstoffversorgung des zentralen<br />
Nervensystems und einer Reduktion der<br />
<strong>Schmerz</strong>empfindlichkeit. Biofeedback kann Anspannung<br />
sichtbar machen und damit direkt<br />
therapeutisch beeinflussen. Gegen physikalische<br />
Einflüsse wie Lärm, Licht, Kälte und Wärme<br />
sollte man sich schützen. Stress sollte vermieden<br />
werden. Patienten sollten das Neinsagen<br />
lernen und übermäßige Arbeitsbelastung<br />
vermeiden. Dazu gehört auch, sich nicht unter<br />
Druck setzen zu lassen und den eigenen Rhythmus<br />
selbst zu bestimmen. Bei der Urlaubsplanung<br />
sollte man versuchen, nicht in den Urlaub<br />
zu hetzen und Vorurlaube einzuplanen. Fernreisen<br />
können selbst wiederum zu Stress und<br />
mangelnder Erholung führen. Regionale Urlaubsziele<br />
können dagegen direkt eine schnelle<br />
Entspannung ermöglichen. Kaffee sollte nur zu<br />
festen Zeiten und limitiert getrunken werden.<br />
Pharmakotherapie nur zeitlich begrenzt<br />
Um das zentrale Nervensystem vor <strong>Schmerz</strong> zu<br />
schützen, sollte bei episodischen <strong>Schmerz</strong>en<br />
ein <strong>Schmerz</strong>mittel eingesetzt werden. Um<br />
einem Kopfschmerz bei Medikamentenübergebrauch<br />
jedoch vorzubeugen, sollten <strong>Schmerz</strong>mittel<br />
maximal an zehn Tagen pro Monat verwendet<br />
werden. <strong>Schmerz</strong>mittelmischpräparate<br />
beinhalten ein erhöhtes Risiko der Chronifizierung<br />
durch Medikamentenübergebrauch und<br />
sollten daher vermieden werden. Geeignete<br />
Analgetika sind Acetylsalicylsäure, Ibuprofen<br />
und Paracetamol. Brausetabletten führen dabei<br />
zu einer schnelleren Resorption und verbesserten<br />
Effektivität. Eine ausreichende Dosierung<br />
sollte berücksichtigt werden. Die Wirkdauer<br />
von Analgetika beträgt typischerweise vier<br />
bis sechs Stunden. Sie können dann gegebenenfalls<br />
erneut eingesetzt werden. Bei unklarer<br />
<strong>Schmerz</strong>ursache und bei mangelnder <strong>Schmerz</strong>linderung<br />
sollte ein Arzt aufgesucht werden.<br />
Damit Zeit heilen kann<br />
Eine überlegte und effektive Zeitplanung ist zur<br />
Vorbeugung und Behandlung von Spannungskopfschmerzen<br />
wesentlich. Zeit nehmen, Zeit<br />
geben, Zeit lassen, in der Zeit leben und die<br />
Zeit heilen lassen sind dabei Kernelemente. ■<br />
Hartmut Göbel, Kiel<br />
SCHMERZTHERAPIE 2/<strong>2010</strong> (26. Jg.)
© Bildarchiv Nolte<br />
SCHMERZTHERAPIE 2/<strong>2010</strong> (26. Jg.)<br />
Der <strong>Deutsche</strong> <strong>Schmerz</strong>preis <strong>2010</strong><br />
Versorgungskonzepte in der <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong><br />
und Palliativmedizin<br />
„Wer sich kein Ziel setzt, wird nach den ersten Schritten müde aufgeben.“ Spätestens<br />
seit dem Jahr 2005 steht die <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong> in der ambulanten Versorgung in<br />
der Krise. Hektisch wechseln seitdem von Jahr zu Jahr die Reformen der Vergütungsstrukturen,<br />
inhaltliche Anpassungen an den veränderten Wissensstand finden nicht<br />
statt. Die Patienten rennen immer öfter zum Arzt, erhalten aber immer dürftigere<br />
Antworten auf ihre Fragen und Bedürfnisse. Einen Ausweg aus diesem Dilemma<br />
bieten die integrierten Versorgungskonzepte in der <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong> und Palliativmedizin,<br />
die Dr. med. Thomas Nolte, <strong>Schmerz</strong>preisträger <strong>2010</strong>, Wiesbaden, vorstellt.<br />
Abb. 1 Typische <strong>Schmerz</strong>verteilung beim Fibromyalgiesyndrom.<br />
S chmerzprobleme<br />
in ihrer bio-psycho-sozialen<br />
Komplexität werden in der Regelversorgung<br />
behandelt wie linear aufgefädelte<br />
Einzelprobleme, die im besten Fall nacheinander<br />
abgearbeitet werden. So verbringen<br />
<strong>Schmerz</strong>patienten oft Monate bis Jahre auf der<br />
Suche nach einer Lösung für ihre <strong>Schmerz</strong>probleme.<br />
Dabei wird das <strong>Schmerz</strong>problem<br />
zum Problem an sich; die Chronifizierung wird<br />
im Versorgungssystem vollendet. So gibt es bis<br />
heute keine koordinierte Behandlungsstrategie<br />
bei den inflationär zunehmenden Fibromyalgiesyndromen<br />
(Abb. 1), die zum Inbegriff der zu<br />
bewältigen Aufgaben in der <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong><br />
geworden sind.<br />
Auch die immer mehr zunehmenden operativen<br />
Eingriffe an der Wirbelsäule belegen,<br />
dass das System die Erbringung von einfachen,<br />
insbesondere technisch orientierten<br />
Leistungen favorisiert. Die Bildgebung leistete<br />
ihr Übriges, die einseitig somatische Orientierung<br />
zu zementieren.<br />
Ein Ausweg aus diesem Dilemma<br />
zeichnete sich im Jahr 2004 mit der Einführung<br />
der integrierten Versorgung<br />
§ 140 a–d SGB V als Experimentierfeld für neue,<br />
Thomas Nolte,<br />
Wiesbaden<br />
insbesondere komplex ausgerichtete Behandlungsstrategien<br />
ab.<br />
Integrierte<br />
Versorgung Rücken<br />
So erarbeitete der Qualitätszirkel <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong><br />
in Wiesbaden im Jahr 2004 ein Konzept<br />
zur integrierten Versorgung bei Rückenschmerzen<br />
(IVR), das dem Problem durch einen<br />
von vornherein interdisziplinären Ansatz<br />
aus <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong>, Physiotherapie und Psychotherapie<br />
gerecht wird: eine multimodale<br />
Teamleistungen als Antwort auf einen komplexes<br />
Problem! In den Verhandlungen mit den<br />
Krankenkassen spielten Kosteneffizienzgesichtspunkte<br />
zur Förderung der Akzeptanz<br />
eine wichtige Rolle: Die Mehrkosten des Behandlungskonzeptes<br />
sollten von vornherein mit<br />
den Einsparungen beim Krankengeldbezug<br />
verrechnet werden. Ob die Idee aufgehen würde,<br />
war zunächst nicht erkennbar, aber sie war<br />
ein Ausdruck des Selbstvertrauens in unserem<br />
Konzept. Anfang 2005 schloss die Techniker<br />
Krankenkasse einen Vertrag mit der GAV-IV,<br />
später dann IMC, über dieses integrierte Versorgungskonzept<br />
ab. In fünf Pilotregionen sollten<br />
Erkenntnisse über die Versorgungsqualität<br />
und Kosteneffizienz dieses Konzeptes gesammelt<br />
werden.<br />
Fundamental neu hierbei war, dass die<br />
Krankenkasse als Zusteuerer fungiert, um einen<br />
Behandlungsbeginn zu einem Zeitpunkt<br />
der drohenden Chronifizierung bei insgesamt<br />
noch guter Prognose zu gewährleisten. Da das<br />
interdisziplinäre Behandlungsteam in einem<br />
Screening die Erfolgsaussichten der Behandlung<br />
beurteilt, wird das Eintreffen der Prognose<br />
einer erfolgreichen Behandlung nach vier<br />
Wochen mit einem Bonus honoriert, wenn der<br />
Patient nach Abschluss der Behandlung über<br />
sechs Monate ununterbrochen arbeitsfähig<br />
bleibt. Im umgekehrten Fall wird ein nicht er-
Der <strong>Deutsche</strong> <strong>Schmerz</strong>preis <strong>2010</strong><br />
folgreicher Abschluss der Behandlung nach<br />
acht Wochen folgerichtig mit einem Malus belegt<br />
(Abb. 2).<br />
Unsere Vermutungen wurden in doppelter<br />
Hinsicht bestätigt. Zum einen sind die Ergebnisse<br />
mit über 80% Wiederherstellung der<br />
Arbeitsfähigkeit nach vier bis acht Wochen<br />
hervorragend und unterstreichen die Bedeutung<br />
des Konzeptes hinsichtlich Aufbau und<br />
Ergebnisqualität als wegweisend für künftige<br />
Strategien in der <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong>. Von den<br />
verschiedenen Parametern der Ergebnisqualität<br />
in der Auswertung seien hier nur exemplarisch<br />
die Auswirkungen der <strong>Therapie</strong> auf<br />
schmerzbedingte Beeinträchtigungen der Teilhabe<br />
an den Aktivitäten des täglichen Lebens<br />
Abb. 3: <strong>Schmerz</strong>bedingte Beeinträchtigungen der Teilhabe an den Aktivitäten des täglichen Lebens (mPDI)<br />
© Bildarchiv Nolte<br />
Relative Häufigkeit in Prozent<br />
45,0<br />
40,0<br />
35,0<br />
30,0<br />
25,0<br />
20,0<br />
15,0<br />
10,0<br />
5,0<br />
0,0<br />
Diagnostisches Screening<br />
Vier Wochen <strong>Therapie</strong><br />
14,2<br />
31,2<br />
36,2<br />
Geeignet<br />
Fünf bis acht Wochen <strong>Therapie</strong><br />
Wieder arbeitsfähig<br />
12,8<br />
21,7<br />
Nicht wieder arbeitsfähig<br />
Anhaltend arbeitsfähig Nicht anhaltend arbeitsfähig<br />
vorgestellt (Abb. 3). Frappierend ist, dass die<br />
Beeinträchtigungen vom Ende der Behandlungsphase<br />
bis zur Reevaluation nach sechs<br />
Monaten – also in einer Zeit, in der in der Regel<br />
keine <strong>Therapie</strong> stattfand – weiter deutlich<br />
abnahmen. Dies unterstreicht den edukatorischen<br />
und emanzipatorischen Ansatz mit<br />
einem nachwirkenden nach Abschluss der<br />
<strong>Therapie</strong>.<br />
Zum anderen wurde die Wirtschaftlichkeit<br />
des Projektes eindeutig dadurch bestätigt,<br />
dass die Reduzierung der Arbeitsunfähigkeitszeiten<br />
mit verringerten Krankengeldzahlungen<br />
ausreicht, um das Konzept zu finanzieren und<br />
der Krankenkasse noch eine Einsparung zu ermöglichen.<br />
So wurden im Schnitt die Patienten<br />
27,8 27,2<br />
Ungeeignet<br />
Wieder arbeitsfähig<br />
19,7<br />
Alternativer<br />
<strong>Therapie</strong>vorschlag<br />
Malus<br />
Nach 4 Wochen <strong>Therapie</strong><br />
über 6 Monate<br />
anhaltend arbeitsfähig<br />
© Bildarchiv Nolte Abb. 2: Konzept zur integrierten Versorgung bei Rückenschmerzen (IVR)<br />
Tab. 1: IV Rücken – Besonderheiten<br />
■ Zusteuerung nach Zeitkriterien durch die KK<br />
■ Konzeptuelle Einheit des <strong>Schmerz</strong>teams<br />
■ Gemeinsames Votum über die<br />
<strong>Therapie</strong>steuerung<br />
■ Lückenlose Dokumentation<br />
■ Ergebnisabhängige Vergütungsanteile<br />
■ Honorar als Komplexpauschale<br />
■ Benchmarking aller <strong>Schmerz</strong>zentren<br />
im IVR-Konzept 70 Tage früher als in der Vergleichsgruppe<br />
gesund.<br />
Dabei erlaubt die Vergütung als Komplexpauschale<br />
eine leistungsgerechte Honorierung<br />
der verschiedenen Berufsgruppen nach Qualifikation<br />
und jeweiligem individuellem Einsatz,<br />
der bei den Patienten durchaus variieren kann.<br />
Eine lückenlose patientenindividuelle Dokumentation<br />
erlaubt durch eine zeitnahe Auswertung<br />
gemeinsam mit dem Patienten während<br />
des <strong>Therapie</strong>programms die <strong>Therapie</strong><br />
anzupassen. Überregional bedeutet dieses<br />
Instrument über die Ergebnisauswertungen ein<br />
Benchmarking aller beteiligten Zentren (Abb.<br />
4, Tab. 1).<br />
Im August 2005 erhielt ich eine Einladung<br />
vom Bundesministerium für Gesundheit und<br />
Soziales zu einem runden Tisch „Qualitätsorientierung<br />
in der Medizin durch integrierte Versorgung“.<br />
Vor einem Kreis von Vertretern aus<br />
Gesundheitspolitik, Ökonomen und Krankenkassenvertretern<br />
hatte ich die Gelegenheit, neben<br />
dem IVR-Konzept auch ein weiteres integriertes<br />
Versorgungskonzept IVP – integrierte<br />
Versorgung für Schwerkranke am Lebensende<br />
– vorzustellen.<br />
5,7<br />
3,5<br />
6,3 0,5<br />
0,0<br />
3,2<br />
0–10 11–20 21–30 31–40 41–50 0–10 11–20 21–30 31–40 41–50 0–10 11–20 21–30 31–40 41–50 0–10 11–20 21–30 31–40 41–50<br />
Screening Nach Woche 4 Nach Woche 8 Nach Monat 6<br />
10 SCHMERZTHERAPIE 2/<strong>2010</strong> (26. Jg.)<br />
25,0<br />
29,7<br />
Bonus<br />
25,0<br />
14,1<br />
45,0<br />
40,0<br />
35,0<br />
30,0<br />
25,0<br />
20,0<br />
15,0<br />
10,0<br />
44,8<br />
23,2<br />
18,6<br />
10,2
© Bildarchiv Nolte<br />
Tab. 2: IV Palliativ – Besonderheiten<br />
■ Erfüllte alle Kriterien für AAPV und SAPV<br />
■ Kostenneutral zur Regelversorgung<br />
■ Tagessatzbasiertes Globalbudget (Capitation)<br />
als Komplexpauschale<br />
■ Sektorale Versorgung komplett aufgehoben<br />
■ Volle Budgetverantwortung<br />
■ Solidarische Leistungserbringung<br />
(Commitment)<br />
■ Keine Leistungsverschiebungen in andere<br />
Sektoren<br />
Integrierte Versorgung Palliativmedizin<br />
Als Ergebnis der Gesprächsrunde in Berlin<br />
nahm ich den Auftrag mit, in Wiesbaden ein<br />
integriertes Versorgungskonzept für Palliativpatienten<br />
zu entwickeln, das später dann auch<br />
in Fulda umgesetzt wurde. Nach nur sechs Monaten<br />
der Verhandlungen war das Konzept<br />
unterschriftsreif und wurde im Februar 2006 in<br />
einer Landespressekonferenz, angeführt von<br />
Frau Lautenschläger, der damaligen hessischen<br />
Sozialministerin, der Öffentlichkeit<br />
vorgestellt. Vertragspartner waren die Techniker<br />
Krankenkasse, der nur sechs Monate später<br />
der Landesverband der Betriebskrankenkassen<br />
beitrat.<br />
Der Grundgedanke des Palliativkonzeptes,<br />
der es für die Krankenkassen interessant<br />
machte, waren ähnlich zu IVR, Kosteneinsparungen<br />
beziehungsweise Kostenneutralität zur<br />
Behandlungsstatus<br />
Abb. 4 Gesamtübersicht über das IVR-Projekt (Ergebnisqualität).<br />
SCHMERZTHERAPIE 2/<strong>2010</strong> (26. Jg.)<br />
Tab. 3: SAPV – Besonderheiten in Hessen<br />
■ Alle Kassen sind eingebunden<br />
■ Bereits 18 Teams im Einsatz<br />
■ Teamleistung Palliative Care<br />
■ Tagessatzbasierte Komplexpauschale, keine<br />
Budgetverantwortung<br />
■ Solidarische Leistungserbringung<br />
(Commitment)<br />
■ Teaminterne Honorargerechtigkeit<br />
■ Benchmarking möglich<br />
■ Kostenneutral zur Regelversorgung?<br />
Regelversorgung mit einer Verbesserung der<br />
Versorgungssituation der betroffenen Patienten<br />
(Tab. 2). Das Konzept erfüllte von Anfang an alle<br />
Voraussetzungen zur allgemeinen wie auch<br />
speziellen ambulanten Palliativversorgung.<br />
Der Patient wurde mit Einschreibung unter<br />
Aufhebung aller sektoralen Beschränkungen<br />
in das palliative Versorgungsnetz aufgenommen.<br />
Finanzierungsgrundlage war eine tagesbasierte<br />
Komplexpauschale, auch ähnlich dem<br />
IVR-Programm, die alle Kosten wie die ambulante<br />
Versorgung, eventuell stationäre Behandlungen,<br />
alle Medikamente, Transporte und<br />
stationären Hospizbehandlungen beinhaltete.<br />
Diese volle Budgetverantwortung verpflichtete<br />
alle im palliativen Netzwerk agierenden Leistungserbringer<br />
zu einer solidarischen und effizienten<br />
Leistungserbringung. Die Ergebnisse<br />
waren beeindruckend: Über 90 % der Patienten<br />
S nur Screening, keine Aufnahme<br />
SO bisher nur Screening erfolgt<br />
A1 erfolgreicher Abschluss in Phase A<br />
A2 vorzeitiger Abbruch in Phase A<br />
B1 erfolgreicher Abschluss in Phase B<br />
B2 vorzeitiger Abbruch in Phase B<br />
B3 erfolgloser Abschluss in Phase B<br />
Der <strong>Deutsche</strong> <strong>Schmerz</strong>preis <strong>2010</strong><br />
starben ihren Vorstellungen gemäß zu Hause.<br />
Getragen von dem palliativen Netzwerk mit<br />
ständiger Ruf- und Einsatzbereitschaft stehen<br />
die Patienten und ihre Angehörigen im<br />
Mittelpunkt der Versorgung. Die Komplexpauschale,<br />
berechnet nach den Ausgaben in der<br />
Regelversorgung, gab der Krankenkasse die<br />
Gewissheit, mit bestmöglicher Qualität ihre<br />
Patienten optimal versorgt zu wissen: ein weiteres<br />
Beispiel für eine gelungene „Quadratur<br />
des Kreises“!<br />
Spezialisierte ambulante<br />
Palliativversorgung<br />
Die Erfahrungen aus dem Palliativprojekt IVP<br />
sind in die Verhandlungen mit den Krankenkassen<br />
in Hessen eingeflossen (Tab. 3). Es war uns<br />
gelungen, mit allen hessischen Palliativzentren<br />
eine Verhandlungsdelegation zu formieren, die<br />
geschlossen über sechs Monate mit klaren Vorstellungen<br />
die Verhandlungen führte. Wesentliche<br />
Elemente des IVP-Konzeptes flossen in<br />
die Ausgestaltung des SAPV-Vertrages ein.<br />
Wenn auch die Budgetverantwortung nicht<br />
durchsetzbar war, so konnten wir doch in den<br />
Verhandlungen erreichen, dass wir über eine<br />
berufsübergreifende Komplexpauschale, die<br />
die Koordination, die Teil- wie auch Vollversorgung<br />
beinhaltet, bezahlt werden. Dadurch waren<br />
die Honorargerechtigkeit, die im Team hergestellt<br />
wird, und die solidarische Leistungserbringung<br />
für eine bestmögliche Qualität und<br />
Kosteneffizienz weitgehend garantiert.<br />
C1 anhaltender Behandlungserfolg in Phase C<br />
C2 erneute Arbeitsunfähigkeit in Phase C<br />
C3 bonusfähig (A1 & C1)<br />
Patienten S S0 A–C A1 A2 B1 B2 B3 A2 & B2 A1 & B1 C1 & C2 C1 C2 C3<br />
n % n % 1 n % 1 n % 1 n % 4 n % 4 n % 4 n % 4 n % 4 n % 4 n % 4 n % 11 n % 12 n % 12 n % 13<br />
alle Zentren 2837 100,0 682 24,0 118 4,2 1 01 67,0 72 51,1 110 5,8 644 33, 51 2,7 124 6,5 161 8,5 1616 85,0 1005 62,2 847 84,3 158 15,7 533 86,8<br />
IV722 4 13 100,0 2 15,4 2 15,4 8 61,5 0 0,0 1 12,5 6 75,0 0 0,0 1 12,5 1 12,5 6 75,0 1 16,7 1 100,0 0 0,0 0 0,0<br />
IV 1621 8 100,0 0 0,0 0 0,0 6 75,0 2 33,3 0 0,0 1 16,7 0 0,0 3 50,0 0 0,0 3 50,0 3 100,0 1 33,3 2 66,7 1 50,0<br />
IV85 10 35 100,0 6 16,7 0 0,0 2 80,6 25 86,2 0 0,0 4 13,8 0 0,0 0 0,0 0 0,0 2 100,0 14 48,3 14 100,0 0 0,0 12 100,0<br />
IV8 808 14 100,0 5 35,7 0 0,0 7 50,0 3 42, 2 28,6 0 0,0 1 14,3 1 14,3 3 42, 3 42, 0 0,0 0 0,0 0 0,0 0 0,0<br />
IV6717 103 100,0 3 2, 6 5,8 0 87,4 56 62,2 4 4,4 1 21,1 2 2,2 10,0 6 6,7 75 83,3 47 62,7 43 1,5 4 8,5 32 88,<br />
IV38466 478 100,0 8 20,5 12 2,5 352 73,6 235 66,8 2,6 84 23, 2 0,6 22 6,3 11 3,1 31 0,6 247 77,4 203 82,2 44 17,8 145 81,1<br />
IV37 06 13 100,0 8 61,5 4 30,8 1 7,7 1 100,0 0 0,0 0 0,0 0 0,0 0 0,0 0 0,0 1 100,0 0 0,0 0 0,0 0 0,0 0 0,0<br />
IV2 672 5 100,0 3 60,0 0 0,0 1 20,0 0 0,0 0 0,0 1 100,0 0 0,0 0 0,0 0 0,0 1 100,0 0 0,0 0 0,0 0 0,0 0 0,0<br />
IV0101 1 100,0 0 0,0 1 100,0 0 0,0 0 0,0 0 0,0 0 0,0 0 0,0 0 0,0 0 0,0 0 0,0 0 0,0 0 0,0 0 0,0 0 0,0<br />
IV 0846 117 100,0 26 22,2 6 5,1 82 70,1 5 72,0 2 2,4 1 23,2 1 1,2 1 1,2 3 3,7 78 5,1 45 57,7 3 86,7 6 13,3 33 1,7<br />
IV58475 11 100,0 3 27,3 2 18,2 5 45,5 0 0,0 3 60,0 1 20,0 0 0,0 1 20,0 3 60,0 1 20,0 1 100,0 1 100,0 0 0,0 0 0,0<br />
IV171 8 8 100,0 2 25,0 0 0,0 6 75,0 1 16,7 0 0,0 3 50,0 0 0,0 2 33,3 0 0,0 4 66,7 0 0,0 0 0,0 0 0,0 0 0,0<br />
IV67521 46 100,0 13 28,3 2 4,3 32 6 ,6 20 62,5 3 ,4 5 15,5 3 ,4 1 3,1 6 18,8 25 78,1 1 76,0 18 4,7 1 5,3 14 3,3<br />
IV06223 115 100,0 22 1 ,1 6 5,2 82 71,3 48 58,5 2 2,4 28 34,1 0 0,0 4 4, 2 2,4 76 2,7 36 47,4 33 1,7 3 8,3 22 1,7<br />
IV84733 46 100,0 18 3 ,1 0 0,0 27 58,7 20 74,1 0 0,0 6 22,2 0 0,0 1 3,7 0 0,0 26 6,3 20 76, 1 5,0 1 5,0 16 4,1<br />
IV68802 130 100,0 31 23,8 1 0,8 7 74,6 33 34,0 1 1,0 61 62, 0 0,0 2 2,1 1 1,0 4 6, 86 1,5 74 86,0 12 14,0 30 6,8<br />
IV746 100 100,0 24 24,0 4 4,0 64 64,0 21 32,8 4 6,3 21 32,8 7 10, 11 17,2 11 17,2 42 65,6 12 28,6 75,0 3 25,0 4 80,0<br />
IV0 468 16 100,0 7 43,8 2 12,5 7 43,8 4 57,1 1 14,3 2 28,6 0 0,0 0 0,0 1 14,3 6 85,7 3 50,0 2 66,7 1 33,3 1 50,0<br />
IV842 3 100,0 1 11,1 1 11,1 7 77,8 5 71,4 0 0,0 2 28,6 0 0,0 0 0,0 0 0,0 7 100,0 3 42, 2 66,7 1 33,3 1 100,0<br />
IV2 244 32 100,0 1 3,1 2 6,3 26 81,3 15 57,7 0 0,0 11 42,3 0 0,0 0 0,0 0 0,0 26 100,0 1 3,8 1 100,0 0 0,0 1 100,0<br />
IV43118 131 100,0 11 8,4 4 3,1 111 84,7 66 5 ,5 4 3,6 36 32,4 0 0,0 5 4,5 4 3,6 102 1, 74 72,5 55 74,3 1 25,7 38 84,4<br />
IV51573 205 100,0 2 44, 3 1,5 110 53,7 43 3 ,1 6 5,5 53 48,2 2 1,8 6 5,5 8 7,3 6 87,3 73 76,0 55 75,3 18 24,7 27 84,4<br />
IV2562 250 100,0 32 12,8 10 4,0 143 57,2 76 53,1 12 8,4 42 2 ,4 5 3,5 8 5,6 17 11, 118 82,5 78 66,1 66 84,6 12 15,4 47 88,7<br />
IV58383 142 100,0 61 43,0 2 1,4 81 57,0 33 40,7 11,1 27 33,3 7 8,6 5 6,2 16 1 ,8 60 74,1 37 61,7 32 86,5 5 13,5 24 88,<br />
IV6 03 5 100,0 3 60,0 1 20,0 1 20,0 1 100,0 0 0,0 0 0,0 0 0,0 0 0,0 0 0,0 1 100,0 0 0,0 0 0,0 0 0,0 0 0,0<br />
11
Der <strong>Deutsche</strong> <strong>Schmerz</strong>preis <strong>2010</strong><br />
Es liegen jetzt die ersten Auswertungen<br />
vom Zentrum für ambulante Palliativversorgung<br />
aus Wiesbaden vor, die ich in einem<br />
eigenen Artikel in dieser Zeitschrift vorstelle<br />
(S. 24). In Zukunft ist es auch möglich, unter<br />
einheitlichen Auswertungskriterien einen Vergleich<br />
der verschiedenen Zentren in Hessen<br />
herzustellen.<br />
Ausblick<br />
Die demografischen Veränderungen bringen<br />
zunehmende finanzielle Belastungen für die<br />
Arbeitstätigen zur Finanzierung der Solidarsysteme<br />
mit sich. Dies erfordert eine Umorientierung<br />
der Gesundheitssysteme in Richtung<br />
einer maximalen Förderung, des Erhalts und<br />
der Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit.<br />
Das IVR-Konzept trägt dem Rechnung, weist<br />
aber durch die hervorragenden Ergebnisse<br />
auch auf die Defizite in der Regelversorgung<br />
hin.<br />
Die Palliativversorgung wird für die Kostenträger<br />
ihren Schrecken verlieren, wenn weitere<br />
Versorgungsdaten von Palliative-Care-Teams<br />
auch aus anderen Regionen vorliegen. Auch<br />
hier gelingt eine ethisch absolut notwendige<br />
und unverzichtbare Neuausrichtung unseres<br />
Gesundheitssystems durch Umorientierung<br />
der <strong>Therapie</strong> von einem teuren High-Tech-Ansatz<br />
zu einem intensiven High-Care-Ansatz,<br />
ganz im Sinne der Betroffenen!<br />
Dazu bedarf es allerdings einer Fortführung<br />
der bisher eingeleiteten Reformen. In der<br />
<strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong> warten wir seit 1994 auf die<br />
Einführung der allgemeinen <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong>.<br />
Wäre dieser Mangel behoben, würde sich die<br />
Basisversorgung von Patienten mit <strong>Schmerz</strong>en<br />
<strong>Deutsche</strong>r <strong>Schmerz</strong>preis <strong>2010</strong><br />
<strong>Deutsche</strong>r <strong>Schmerz</strong>preis für Dr. med.<br />
Thomas Nolte, Wiesbaden<br />
Dr. med. Thomas Nolte wurde auf dem<br />
<strong>Deutsche</strong>n <strong>Schmerz</strong>- und Palliativtag in Frankfurt/M.<br />
mit dem DEUTSCHEN SCHMERZPREIS –<br />
<strong>Deutsche</strong>r Förderpreis für <strong>Schmerz</strong>forschung und<br />
<strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong> <strong>2010</strong> ausgezeichnet.<br />
Der mit 10.000 Euro dotierte Preis wird jährlich an<br />
Persönlichkeiten oder Organisationen verliehen, die<br />
sich durch wissenschaftliche Arbeiten über Diagnostik<br />
und <strong>Therapie</strong> akuter und chronischer<br />
<strong>Schmerz</strong>zustände verdient gemacht oder die durch<br />
ihre Arbeit oder ihr öffentliches Wirken entscheidend<br />
zum Verständnis des Problemkreises <strong>Schmerz</strong><br />
und den davon betroffenen Personen beigetragen<br />
haben.<br />
Der wissenschaftliche Träger des <strong>Schmerz</strong>preises ist<br />
die <strong>Deutsche</strong> Gesellschaft für <strong>Schmerz</strong>therpie e.V.<br />
Tab. 4: Zukunftsfähige Versorgungskonzepte<br />
beinhalten<br />
■ Gewinn an Versorgungsqualität<br />
■ Mindestens kostenneutral zur Regel-<br />
versorgung<br />
■ Definierte Zusteuerungskriterien<br />
■ Zentrale Bedeutung des therapeutischen<br />
Teams<br />
■ Komplexpauschale<br />
■ Qualitäts- und ergebnisorientierte<br />
Honoraranteile<br />
■ Solidarische Leistungserbringung<br />
(Commitment)<br />
■ Benchmarking der <strong>Schmerz</strong>- und Palliativ-<br />
zentren<br />
deutlich verbessern. Durch definierte Zusteuerungskriterien<br />
in spezialisierte schmerztherapeutische<br />
Einrichtungen würden darüber hinaus<br />
unumkehrbare Chronifizierungsprozesse<br />
durch eine abgestufte zeitgerechte Versorgung<br />
von <strong>Schmerz</strong>patienten abgewendet.<br />
Die Fehler in der <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong> werden<br />
gerade in der Palliativmedizin wiederholt. Die<br />
Basisversorgung von Palliativpatienten in der<br />
Regelversorgung ist mit der Einführung der<br />
SAPV schlichtweg vergessen worden. Die<br />
Bemühungen um Nachbesserungen werden<br />
so lange nicht fruchten, wie die Zuständigkeit<br />
für die Finanzierung zwischen Krankenkassen<br />
und kassenärztlichen Vereinigungen nicht geklärt<br />
ist.<br />
Zusammenfassung<br />
In der <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong> und Palliativmedizin ist<br />
Gestiftet wird der Preis von der Firma<br />
Mundipharma GmbH & Co. KG,<br />
Limburg. Seit 1996 bemüht sich der<br />
langjährige Vizepräsident der<br />
<strong>Deutsche</strong>n Gesellschaft für <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong><br />
e.V. insbesondere um die interdisziplinäre<br />
Versorgung Schwerstkranker.<br />
In der Urkunde steht: „In<br />
dieser Zeit hat er nicht nur – lange<br />
bevor dies politischer Mainstream<br />
war – die palliativmedizinische Versorgung<br />
durch Netzwerkbildung<br />
bahnbrechend vorangebracht, gleichzeitig<br />
neue Versorgungsmodelle<br />
über integrierte Versorgungsverträge<br />
etabliert und durch seine Fortbildungsarbeit<br />
in diesem Bereich ein Curriculum Palliativmedizin<br />
und Hospizarbeit entwickelt.“ Darüber<br />
hinaus schuf Nolte den ersten multimodalen, um<br />
Thomas Nolte erhält den<br />
<strong>Deutsche</strong>n <strong>Schmerz</strong>preis.<br />
die Priorisierungsdebatte so lange verfrüht,<br />
wie die Effizienzreserven (Verhältnis zwischen<br />
Aufwand und Nutzen) im System nicht ausgeschöpft<br />
sind! Die bis heute anhaltenden Debatten<br />
über die Einführung der SAPV in die Regelversorgung<br />
haben gezeigt, dass ethische Gesichtspunkte<br />
die Krankenkassenvertreter nicht<br />
beflügeln, Innovationen und therapeutische<br />
Notwendigkeiten in die Behandlung einzuführen.<br />
Nur durch den Druck der Gesundheitspolitik<br />
sind die Verhandlungen immer noch in<br />
Gang. Allein ökonomische Gesichtspunkte<br />
sind, insbesondere unter dem Eindruck des<br />
zunehmenden Wettbewerbs der Krankenkassen<br />
untereinander und den knapper werdenden<br />
finanziellen Ressourcen, bereits jetzt und noch<br />
mehr in der Zukunft für die Einführung neuer<br />
Konzepte entscheidend.<br />
Im Mittelpunkt der Konzepte für <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong><br />
und Palliativmedizin steht die Teamleistung<br />
aus <strong>Schmerz</strong>therapeuten, Palliativmedizinern,<br />
speziell geschulten Pflegekräften,<br />
Physiotherapeuten, Psychologen und Psychotherapeuten,<br />
egal ob im stationären oder ambulanten<br />
Bereich. Die Vergütung wird abgelöst<br />
durch eine Komplexpauschale und verpflichtet<br />
das therapeutische Team auf eine solidarische<br />
Leistungserbringung für eine bestmögliche Ergebnisqualität.<br />
Diese wird gefördert durch qualitäts-<br />
und ergebnisorientierte Honoraranteile.<br />
Ein Benchmarking erlaubt den verschiedenen<br />
Zentren eine Orientierung über ihre Ergebnisse<br />
und verschafft zusätzliche Motivation<br />
(Tab. 4).<br />
Die Zukunft hat schon begonnen, wir dürfen<br />
nur nicht auf dem langen Weg dorthin ermüden<br />
… ■<br />
fassenden Integrationsvertrag zur Versorgung von<br />
Rückenschmerzpatienten. Für dieses Konzept<br />
wurde er bereits 2008 von der Financial Times<br />
Deutschland zum Preisträger gekürt.<br />
12 SCHMERZTHERAPIE 2/<strong>2010</strong> (26. Jg.)<br />
© Photo Grysa
Implantation eines intrathekalen Portsystems<br />
zur palliativen <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong><br />
Versagt bei malignombedingten <strong>Schmerz</strong>en eine orale analgetische und koanalgetische<br />
<strong>Therapie</strong>, ist es sinnvoll, eine intrathekale Opioidtherapie zu testen, um eine<br />
suffiziente Analgesie zu erreichen und die Lebensqualität zu erhalten bzw. wiederherzustellen.<br />
Ambulant kann durch eine entsprechende Betreuung eine kontinuierliche<br />
Opioidinfusion auch mittels eines Portsystems mit externer Pumpe erfolgen,<br />
schildern Dr. med. Ute Mückshoff und Dr. med. Thomas Cegla aus der <strong>Schmerz</strong>ambulanz<br />
Wuppertal anhand einer Patientin mit Mammakarzinom.<br />
Anamnese und Befund<br />
Bei einer 67-jährigen Patientin wurde vor 23<br />
Jahren erstmals ein linksseitiges Mammakarzinom<br />
diagnostiziert und mittels Ablatio mammae<br />
und axillärer Lymphadenektomie behandelt.<br />
Nachfolgend sind Rezidive in der Axilla<br />
aufgetreten, die einmalig operativ, zweimalig<br />
mit Radiatio und zuletzt mit einer Chemotherapie<br />
therapiert wurden.<br />
Wann genau die Läsion des Nervenplexus<br />
auftrat, ließ sich retrospektiv nicht mehr exakt<br />
rekonstruieren. Die Patientin beschreibt bei<br />
der Aufnahme eine seit sechs Jahren bestehende<br />
intermittierende Taubheit des linken<br />
Armes, eine seit etwa sieben Monaten bestehende<br />
komplette Plegie des linken Armes mit<br />
Ödemneigung sowie einen Dauerschmerz mit<br />
<strong>Schmerz</strong>attacken. Der <strong>Schmerz</strong> zöge von der<br />
linken Schulter über den gesamten Arm in die<br />
Hand bis in alle Finger. Der Dauerschmerz<br />
wird bei der Aufnahme auf der numerischen<br />
Analogskala mit einer Intensität von NAS 6,<br />
der Attackenschmerz mit einer Intensität von<br />
NAS 10 angegeben. Die <strong>Schmerz</strong>qualität wird<br />
als brennend, stechend, klopfend „wie 1000<br />
Nägel“ empfunden.<br />
Medikamentös war die Patientin bereits gemäß<br />
WHO-Stufe 3 mit Bedarfsmedikation sowie<br />
mit hoch dosiertem Pregabalin, Duloxetin,<br />
Ketamin und Lorazepam eingestellt. Dadurch<br />
konnte der <strong>Schmerz</strong> jedoch nicht abgedeckt<br />
werden. Die Lebensqualität der Patientin<br />
wurde durch die dauerhaften <strong>Schmerz</strong>en und<br />
insbesondere durch extreme <strong>Schmerz</strong>attacken<br />
massivst eingeschränkt. Schlafen könne<br />
sie nur noch im Sitzen, das Gangbild ist stark<br />
vornübergebeugt. Stellatumblockaden und<br />
interskalenäre Plexus-brachialis-Blockaden,<br />
die in der Vergangenheit durchgeführt worden<br />
waren, konnten den <strong>Schmerz</strong> nicht wesentlich<br />
beeinflussen.<br />
SCHMERZTHERAPIE 2/<strong>2010</strong> (26. Jg.)<br />
Schwierige <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong><br />
Bei dieser Vorgeschichte gestaltete sich die<br />
<strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong> schwierig, zumal die Patientin<br />
bereits in einer auswärtigen <strong>Schmerz</strong>klinik<br />
behandelt wurde und linksseitige Stellatumblockaden<br />
sowie ein interskalenär angelegter<br />
Plexuskatheter mit Ropivacain-Dauerinfusion<br />
keine anhaltende <strong>Schmerz</strong>linderung erbrachten.<br />
Wir hielten Rückspache mit dem heimatnah<br />
behandelnden Onkologen. Dieser beschrieb<br />
eine palliative Situation, da im CT eine linksseitige<br />
axilläre Gewebevermehrung mit tendenzieller<br />
Größenzunahme Nervengewebe<br />
ummauere. Dabei sei von Tumorgewebe auszugehen.<br />
Eine Amputation des Armes sei der<br />
Patientin bereits angeraten.<br />
Nach neuerlicher Anlage eines interskalenären<br />
Plexuskatheters, der nur eine unbefriedigende<br />
Analgesie erzielte, entschieden wir<br />
uns zur intrathekalen Opioidgabe. In Kurznarkose<br />
wurden ein intrathekaler Katheter und –<br />
aufgrund der Palliativsituation – ein subkutaner<br />
Port implantiert. Über eine Portnadel erfolgte<br />
die Infusion von intrathekalem Morphin.<br />
Nach einigen Tagen der Dosisanpassung<br />
konnte eine stabile Situation mit NAS-Werten<br />
zwischen 0–4 geschaffen werden. Die<br />
Frequenz, die Intensität und die Dauer der<br />
<strong>Schmerz</strong>attacken konnte suffizient gemindert<br />
werden, die zuletzt maximal einmal täglich auftretende<br />
leichte <strong>Schmerz</strong>attacke konnte durch<br />
die Gabe von nicht retardiertem Morphin in<br />
flüssiger Form kupiert werden. Die Patientin<br />
selbst erfuhr durch diese Maßnahme eine erhebliche<br />
Steigerung der Lebensqualität.<br />
Über eine überregional tätige Apotheke<br />
konnte ein Pflegedienst zur Versorgung des<br />
intrathekalen Portsystems organisiert werden,<br />
die Kontaktaufnahme fand schon im Rahmen<br />
des stationären Aufenthaltes statt, sodass die<br />
Thomas Cegla,<br />
Wuppertal<br />
Der besondere Fall<br />
Ute Mückshoff,<br />
Wuppertal<br />
Überleitung in die häusliche Umgebung gut<br />
gelang. Nach der Entlassung wurde in Rücksprache<br />
mit unserer Klinik eine weitere Dosisanpassung<br />
erforderlich. Nachfolgend konnte<br />
eine stabile <strong>Schmerz</strong>situation bei guter Lebensqualität<br />
erreicht werden.<br />
Zusammenfassung und Diskussion<br />
Bei einer 67-jährigen Patientin mit Mammakarzinom<br />
traten Rezidive im Bereich der Axilla<br />
auf, die operativ, chemotherapeutisch und<br />
strahlentherapeutisch behandelt wurden. Im<br />
Verlauf entwickelte sich, vermutlich durch eine<br />
Größenzunahme der verbliebenen Tumormasse,<br />
eine Läsion des linken Plexus brachialis,<br />
die mit einer kompletten Parese des Armes<br />
und einem neuropathischem <strong>Schmerz</strong>syndrom<br />
einherging. Durch die anhaltenden<br />
<strong>Schmerz</strong>en und insbesondere durch die heftigen<br />
einschießenden <strong>Schmerz</strong>attacken wurde<br />
die Lebensqualität der Patientin massivst beeinträchtigt.<br />
Eine hoch dosierte medikamentöse<br />
<strong>Therapie</strong> WHO-Stufe III in Kombination<br />
mit hoch dosierten Koanalgetika und auch<br />
invasive Verfahren in Form von Nervenblockaden<br />
konnten keine zufriedenstellende Analgesiesituation<br />
herstellen. Durch die intrathekale<br />
Morphinapplikation konnte eine gute <strong>Schmerz</strong>beeinflussung<br />
erzielt werden. Sowohl der Dauerschmerz<br />
als auch die <strong>Schmerz</strong>attacken<br />
wurden gelindert, sodass die Lebensqualität<br />
der Patientin erheblich gesteigert werden<br />
konnte. Die begleitete Überleitung vom stationären<br />
Setting in die häusliche Umgebung mit<br />
einem entsprechend geschulten Pflegedienst<br />
war wichtig, um Ängste aufseiten der Patientin<br />
zu vermeiden und somit das Behandlungsergebnis<br />
zu erhalten. ■<br />
Thomas Cegla und Ute Mückshoff,<br />
Wuppertal<br />
13
© Virginie CASTOR/fotolia.com<br />
Biometrie<br />
Metaanalysen klinischer Studien –<br />
Stein der Weisen oder des Anstoßes?<br />
Metaanalysen können schnell missbräuchlich als pseudowissenschaftliches<br />
Instrument zur Rationalisierung angewendet werden und zu völlig irrationalen<br />
<strong>Therapie</strong>empfehlungen führen. Die Tücken dieser modernen Methode, die auch<br />
bei der LONTS-S3-Leitlinie zum Einsatz kam, erläutert Priv.-Doz. Dr. med. Michael<br />
A. Überall, Vizepräsident der DGS, Institut für Neurowissenschaften, Nürnberg,<br />
und appelliert an alle <strong>Schmerz</strong>therapeuten, diese Metaanalysen stets kritisch zu<br />
hinterfragen.<br />
1 976<br />
wurde von dem amerikanischen Psychologen<br />
Gene V. Glass in seinem Artikel<br />
„Primary, Secondary and Meta-Analysis of Research“<br />
ein neues methodologisches Prinzip<br />
zur Bewertung medizinischer Verfahren eingeführt,<br />
das sich im Rahmen der Bestrebungen<br />
zur Vereinheitlichung bzw. Normierung therapeutischer<br />
Verfahren innerhalb der evidenzbasierten<br />
Medizin (EbM) rasch weltweit etablierte<br />
und von denen, die es betrifft – die es jedoch<br />
in aller Regel nicht wirklich verstanden haben –<br />
mit erstaunlicher Naivität verherrlicht wird: die<br />
sogenannte Metaanalyse.<br />
Der Tanz um das goldene Kalb der<br />
Medizin<br />
Die Auswirkungen dieses neuen Götzen und<br />
seiner jüngsten Derivate (der sogenannten S3-<br />
Leitlinien) für die – meist erstattungsrelevante –<br />
Bewertung therapeutischer Verfahren sind fatal:<br />
Was in Metaanalysen nicht gut abschneidet,<br />
hat wenig Aussicht auf Erfolg. Was nicht<br />
die Voraussetzungen zur Berechnung einer<br />
Metaanalyse bietet, dem wird grundsätzlich<br />
eine fehlende Wirksamkeit bescheinigt. Wer<br />
erfolgreich verordnet, was in Metaanalysen<br />
nicht erfolgreich bewertet wird, dem werden<br />
Fehlverordnung und Unwirtschaftlichkeit unterstellt,<br />
dem drohen seitens der „hohen Priester<br />
der neuen EbM-Religion“ und ihrer ausführenden<br />
Organe öffentliche Diskreditierungen, Regresse<br />
und wirtschaftliche Restriktionen bis<br />
hin zum privaten finanziellen Ruin.<br />
Von Ketzern und Gläubigen<br />
Kein Wunder also, dass das Kollektiv derer, die<br />
angesichts derart harscher Methoden zwangsgläubig<br />
werden oder konvertieren, kontinuierlich<br />
ansteigt. Wer möchte schon auf dem Altar der<br />
neuen Glaubensrichtung geopfert werden, wenn<br />
es doch so einfach ist, sich zu dem neuen „EbM-<br />
Glauben“ zu bekennen? Und überhaupt: Was<br />
sollte denn an dieser neuen Glaubensrichtung<br />
falsch sein, wo sie doch so einfach ist und so<br />
Michael Überall,<br />
Nürnberg<br />
pragmatisch? Wo selbst die medizinisch Ahnungslosen<br />
auf der Grundlage von einigen<br />
wenigen Zahlen und ein paar übersichtlichen<br />
Diagrammen in die Lage versetzt werden, zwischen<br />
Gut und Böse, Richtig und Falsch zu<br />
unterscheiden.<br />
Und genau das ist der Fluch des Pragmatismus:<br />
diese verlockende Verführung, die machen,<br />
handeln und rechnen können mit sich<br />
bringt; ganz egal was das, was dabei rauskommt,<br />
bedeutet, ganz egal ob es begründet<br />
ist oder gerechtfertigt.<br />
Wie durch ein Wunder!<br />
Und plötzlich stehen dann irgendwie und irgendwann<br />
irgendwelche Zahlen im Raum, deren<br />
Herkunft nicht so ganz klar ist, die auch<br />
von niemandem mehr hinterfragt werden und<br />
die plötzlich ein ganz fatales Eigenleben entfalten.<br />
Ganz so, als ob die medizinische Versorgung<br />
unterschiedlichster Erkrankungen einem<br />
mathematischen Problem gleiche, für das es<br />
eine eindeutige Lösung geben muss, so wie es<br />
sie für mathematische Probleme eben immer<br />
gibt. Fast so, als ließen sich Krankheiten und<br />
<strong>Therapie</strong>n nach Art eines Heureka-Erlebnisses<br />
entschlüsseln, bei dem ein einzelner Zahlenwert<br />
einen erregenden Augenblick lang vor<br />
unserem geistigen Auge erscheint und alle<br />
Fragen zweifelsfrei beantwortet.<br />
42 – oder was?<br />
Ein wenig erinnert das Ganze an eine absurde<br />
Idee von Douglas Adams, der in seinem sarkastischen<br />
Science-Fiction-Roman „Per Anhalter<br />
durch die Galaxis“ unter anderem einen<br />
Computer namens Deep Thought beschreibt,<br />
der die letztgültige Antwort auf die Frage nach<br />
dem Universum errechnen soll, dafür siebeneinhalb<br />
Millionen Jahre braucht und schließlich<br />
als Antwort „42“ ausgibt, woraufhin ein<br />
noch größerer Computer gebaut werden muss,<br />
der herausfinden soll, was denn eigentlich die<br />
14 SCHMERZTHERAPIE 2/<strong>2010</strong> (26. Jg.)
Frage war. Amüsant an der „42“ von Deep<br />
Thought ist nicht nur die falsche Tiefgründigkeit<br />
der Antwort, amüsant ist vielmehr auch<br />
die absurde Vorstellung, dass nur die Antwort<br />
und nicht der ihr zugrunde liegende Entscheidungsprozess<br />
für die Bewohner der von<br />
Adams beschriebenen Galaxis eine Rolle<br />
spielen könnte – analog zu der Tatsache, dass<br />
die Ergebnisse medizinischer Metaanalysen<br />
von Ärzten in aller Regel willfährig hingenommen<br />
werden, ohne auch nur jemals kritisch<br />
hinterfragt zu werden.<br />
Fluch oder Segen?<br />
Metaanalysen haben zum Ziel, die empirischen<br />
Befunde mehrerer voneinander unabhängiger<br />
Untersuchungen zu einer bestimmten<br />
Problemstellung zu untersuchen, um Wissenschaftler<br />
bei der Informationsintegration<br />
und Praktiker bei der Entscheidungsfindung<br />
zu unterstützen. Dementsprechend sind Metaanalysen<br />
und die auf metaanalytischen Verfahren<br />
beruhenden S3-Leitlinien – so sie korrekt<br />
erstellt, interpretiert und genutzt werden –<br />
durchaus sinnvolle und für die praktische Arbeit<br />
am Patienten hilfreiche Instrumente. Zur<br />
Qual permutieren sie erst bei fehlerhafter Erstellung<br />
(weshalb auch jede noch so hochrangig<br />
publizierte Metaanalyse kritisch gelesen<br />
werden muss), durch missbräuchliche Anwendung<br />
als pseudowissenschaftliches Instrument<br />
zur Rationalisierung ökonomisch notwendig<br />
gewordener Kostensenkungsmaßnahmen<br />
(das gegenwärtig bevorzugte Anwendungsgebiet<br />
für Metaanalysen) oder aufgrund<br />
ihrer Menge. Denn mittlerweile entwickelt sich<br />
die Zahl der weltweit publizierten Metaanalysen<br />
analog zu den Primärdaten exponentiell.<br />
Dies hat zur Folge, dass es – wie bei den Nationalen<br />
Versorgungsleitlinien in Deutschland<br />
bereits beispielhaft realisiert – erste Meta-Metaanalysen<br />
von Metaanalysen gibt.<br />
Mit der Typhusimpfung ging es los!<br />
Um Chancen wie Risiken von Metaanalysen zu<br />
verstehen, ist es sinnvoll, sich noch einmal mit<br />
ihrer Entstehungsgeschichte auseinanderzusetzen.<br />
Eine Metaanalyse ist zunächst einmal<br />
nicht mehr (aber auch nicht weniger) als eine<br />
Zusammenfassung der Ergebnisse von Primäruntersuchungen<br />
zu sog. Metadaten unter<br />
Verwendung quantitativer, statistischer Verfahren.<br />
Der Begriff Metaanalyse wurde erstmalig<br />
1976 eingeführt. Die zugehörigen methodischen<br />
Verfahren wurden aber bereits 1904<br />
von dem britischen Mathematiker Karl Pearson<br />
erstmalig angewandt, um die Teststärke (Power)<br />
von Untersuchungen mit wenigen Probanden<br />
durch Zusammenfassen zu erhöhen (womit<br />
– ganz nebenbei – das zweite sinnvolle<br />
SCHMERZTHERAPIE 2/<strong>2010</strong> (26. Jg.)<br />
Anwendungsgebiet metaanalytischer Verfahren<br />
beschrieben wurde) und letztlich zweifelsfrei<br />
zu klären, ob die damals in Großbritannien<br />
neu eingeführte Impfung gegen Typhus nun<br />
hilft oder nicht.<br />
Eminenz- vs. evidenzbasierte Medizin<br />
Der schnelle Zuwachs wissenschaftlicher Erkenntnisse<br />
in der Medizin macht es selbst für<br />
die engagiertesten Ärzte unmöglich, ihr gesamtes<br />
Fachgebiet anhand von Originalliteratur<br />
zu überblicken. Eine umfassende und ausgewogene<br />
Zusammenfassung medizinischen Wissens<br />
ist daher eine wesentliche Voraussetzung,<br />
um den aktuellen medizinischen Kenntnisstand<br />
für Patienten nutzbar zu machen. In der Vergangenheit<br />
wurde die Zusammenfassung des medizinischen<br />
Kenntnisstandes vom klassischen<br />
narrativen Review übernommen.<br />
Ein solches Review wurde in der Regel von anerkannten<br />
klinischen Autoritäten geschrieben,<br />
die in ihre Übersichtsartikel nicht selten nur diejenigen<br />
Erkenntnisse und Studien selektiv einfließen<br />
ließen, die ihrer eigenen subjektiven<br />
Sichtweise entsprachen, in aller Regel – wenn<br />
überhaupt – unzulässige statistische Verfahren<br />
zur quantitativen Integration der zitierten Studienergebnisse<br />
anwendeten und deren Schlussfolgerungen<br />
für den Leser häufig nicht oder nur<br />
mit Mühe nachvollziehbar waren. Konsekutiv<br />
entwickelten sich – in Abhängigkeit von den<br />
verschiedenen subjektiven Bewertungen wissenschaftlicher<br />
Erkenntnisse im klassischen<br />
Review – divergente klinische Schulen mit zum<br />
Teil unterschiedlichen Behandlungskonzepten<br />
für ein und dasselbe Krankheitsbild (sog. eminenzbasierte<br />
Medizin).<br />
Im Rahmen der Bemühungen, den klassischen<br />
narrativen Review durch objektivere<br />
und für den Leser quantitativ nachvollziehbarere<br />
Methoden zu ersetzen, kommt Metaanalysen<br />
eine zentrale Rolle zu. Diese haben<br />
zum Ziel, die Ergebnisse unabhängiger Studien<br />
zum gleichen Thema quantitativ zu integrieren.<br />
Im Gegensatz zum klassischen Review sollten<br />
Biometrie<br />
sie sämtliche Studien berücksichtigen, die klar<br />
definierte Einschlusskriterien erfüllen und nicht<br />
nur die, die der Intention des Autors entsprechen<br />
– womit die Grundlagen der evidenzbasierten<br />
Medizin gelegt wurden (Tab. 1).<br />
Das Prinzip der Metaanalyse<br />
Die Durchführung einer Metaanalyse lässt sich<br />
vereinfacht auch mit anderen bekannten Untersuchungsformen<br />
der empirischen Forschung<br />
vergleichen wie beispielsweise mit der Befragung<br />
von Personen. Bei der Metaanalyse stellen<br />
jedoch eine Studie bzw. die Untersuchungsergebnisse<br />
dieser Studie die Untersuchungsobjekte<br />
dar. Diese werden durch instruierte<br />
Codierungsspezialisten hinsichtlich relevanter<br />
Eigenschaften „interviewt“ und die ermittelten<br />
Ergebnisse dann anhand definierter biometrischer<br />
Methoden analysiert. Eine metaanalytische<br />
Untersuchung operiert also nach<br />
ähnlichen Prinzipien wie die Primäruntersuchungen,<br />
auf deren Untersuchungsergebnissen<br />
sie aufbaut. Aus diesem Grund sind auch<br />
die Vorgehensweise und der Ablauf einer Metaanalyse<br />
mit der Vorgehensweise von Einzeluntersuchungen<br />
vergleichbar: Auch hier wird ein<br />
Problem formuliert, werden Daten gesammelt,<br />
codiert, bewertet, analysiert und schließlich<br />
präsentiert und interpretiert.<br />
Komplexe Prozeduren ersparen nicht<br />
kritisches Lesen!<br />
Das <strong>Deutsche</strong> Cochrane Zentrum definiert Metaanalysen<br />
als statistische Verfahren mit dem<br />
Ziel, die Ergebnisse mehrerer Studien zu einer<br />
identischen Fragestellung zu einem Gesamtergebnis<br />
zusammenzufassen, um auf diese Weise<br />
die Aussagekraft (Power) bzw. die Genauigkeit<br />
der Effekteinschätzung im Vergleich zu den<br />
Einzelstudien maximal zu erhöhen. Dementsprechend<br />
wird Metaanalysen – insbesondere<br />
wenn es um die Erforschung und Bewertung<br />
medizinischer <strong>Therapie</strong>verfahren geht – eine<br />
sehr hohe Aussagekraft unterstellt. Dabei wird<br />
jedoch außer Acht gelassen, dass sie sich –<br />
Tab. 1: Unterschiede zwischen dem klassischen narrativen Review und der<br />
Metaanalyse hinsichtlich der Zusammenfassung medizinischen Wissens<br />
Klassischer narrativer Review Metaanalyse<br />
I.d.R. geschrieben von klinischen Autoritäten Kann auch von „Nichtklinikern“ geschrieben werden<br />
Selektiver Einschluss von Studien, die den Klare Definition der Einschlusskriterien, (mehr oder<br />
Autor (und seine Aussagen) unterstützen weniger) objektiver Einschluss<br />
Oft unklar, wie Schlussfolgerungen aus den Ableitung der Schlussfolgerungen aus den Daten ist<br />
Daten abgeleitet werden formal nachvollziehbar<br />
Keine oder inkorrekte Methoden der Reproduzierbare, statistisch nachvollziehbare<br />
Datenintegration Datenintegration<br />
Fördert „Schulen“ mit divergenter Zielt auf eine einheitliche, „evidenzbasierte“<br />
Behandlungspraxis Behandlungspraxis<br />
15
© Gina Sanders/fotolia.com<br />
Biometrie<br />
wie narrative Reviews auch – durchaus in eine<br />
bestimmte Richtung hin „formen“ lassen, um<br />
bestimmt Aussagen zu unterstützen oder zu<br />
widerlegen. Aus diesem Grund ist es unabdingbar,<br />
dass die methodischen Kriterien, unter<br />
denen Metaanalysen und S3-Leitlinien erstellt<br />
wurden, mindestens ebenso kritisch gelesen<br />
und hinterfragt werden wie die Ergebnisse<br />
selbst.<br />
Sieben Probleme sollten im Auge<br />
behalten werden<br />
Bei einem derartigen Methodenreview sollten<br />
dem Leser grundsätzlich die folgenden Probleme<br />
jeder Metaanalyse bewusst sein und<br />
geprüft werden, ob und wie die für die Durchführung<br />
der Metaanalyse verantwortlichen Personen<br />
diesen Problemen gerecht wurden.<br />
1. Das Apfel-Birnen-(Uniformitäts-)Problem:<br />
Durch Metaanalysen werden eigentlich nicht<br />
vergleichbare Studien, d.h. Untersuchungen<br />
mit unterschiedlichen Operationalisierungsvarianten<br />
zusammengefasst. Grundsätzlich<br />
wird von Methodenkritikern gefordert, dass vor<br />
allem in Bezug auf die abhängige Variable (z.B.<br />
das Ausmaß der <strong>Schmerz</strong>linderung) homogene<br />
Operationalisierungen vorliegen müssen,<br />
da sie alle Indikatoren für das gleiche Konstrukt<br />
sein sollen. Andernfalls beziehen sich die<br />
Primäruntersuchungen und die durch diese<br />
erhaltenen Ergebnisse auf unterschiedliche<br />
Kriterien, wodurch sich eine Zusammenfassung<br />
verbieten würde.<br />
Deutlich wird das Uniformitätsproblem beim<br />
Vergleich von zwei Studien, deren Ergebnisse<br />
in einer aktuellen S3-Leitlinie u.a. herangezogen<br />
wurden, um nachzuweisen, dass die<br />
Effektgröße (im vorliegenden Fall der Grad<br />
der <strong>Schmerz</strong>linderung bei chronischen nicht<br />
tumorbedingten <strong>Schmerz</strong>en im Rahmen einer<br />
Osteoarthrose von Hüft- oder Kniegelenk) unter<br />
Paracetamol und Fentanyl vergleichbar ist<br />
und sich deshalb „eine Empfehlung zur bevorzugten<br />
Anwendung von Analgetika einer der<br />
Wirkstoffklassen WHO I, WHO II oder WHO III<br />
bei Patienten mit chronischen nicht tumorbedingten<br />
<strong>Schmerz</strong>syndromen nicht mit einer<br />
besseren analgetischen Wirkung begründen<br />
lässt“ (offizielle Antwort der S3-Leitlinie LONTS<br />
– Langzeitanwendung von Opioiden bei nicht<br />
tumorbedingten <strong>Schmerz</strong>en – auf die Schlüsselfrage<br />
#4: „Unterscheiden sich Opioide von<br />
nicht opioidhaltigen Analgetika in ihrer analgetischen<br />
Wirkung?“).<br />
Wesentlicher Unterschied – und damit Ursprung<br />
des Uniformitätsproblems – zwischen<br />
den beiden Studien ist die Patientenselektion.<br />
Während in die von Altman et al. 2007 publizierte<br />
Studie (Altman RD, Zinsenheim JR, Temple AR,<br />
Schweinle JR. Three-month efficacy and safety<br />
of acetaminophen extended-release for osteoarthritis<br />
pain of the hip or knee: a randomized,<br />
double-blind, placebo-controlled study. Osteoarthritis<br />
and Cartilage 2007;15:454–461) nur<br />
solche Patienten aufgenommen werden durften,<br />
von denen bekannt war, dass sie im Fall<br />
einer akuten Exazerbation ihrer schmerzhaften<br />
Beschwerden gut auf Paracetamol ansprechen<br />
(„patients must have had a history of positive<br />
therapeutic benefit with acetaminophen use for<br />
OA pain“; sogenannte Positivselektion), durften<br />
in die von Langford et al. 2006 veröffentlichte<br />
Studie (Langford R, McKenna F, Ratcliffe S,<br />
Vojtassák, Richarz U. Transdermal fentanyl for<br />
improvement of pain and functioning in osteoarthritis:<br />
a randomized, placebo-controlled trial.<br />
Arthritis Rheum 2006;54(6):1829–1837) nur<br />
solche Patienten aufgenommen werden, die<br />
bislang weder mit Analgetika der WHO-Stufen<br />
I und/oder II zufriedenstellend behandelt werden<br />
konnten („The cohort comprised patients<br />
… with moderate-to-severe pain that had been<br />
inadequately controlled by weak opioids.“; sogenannte<br />
Negativselektion). Ob angesichts<br />
derart unterschiedlicher Ausgangssituationen<br />
die letztlich in der Metaanalyse beschriebenen<br />
numerischen Effektstärken von –4,3 (95%-Vertrauensbereich<br />
(KI): –10,00 bis 1,70) für Paracetamol<br />
bzw. –5,9 (95%-KI: –13,29 bis 1,45)<br />
für Fentanyl wirklich vergleichbar sind, muss<br />
somit ebenso ernsthaft bezweifelt werden, wie<br />
die sich darauf begründende Aussage, dass<br />
bei chronischen nicht tumorbedingten <strong>Schmerz</strong>en<br />
keine Wirksamkeitsunterschiede zwischen<br />
Analgetika der WHO-Stufen I und III gefunden<br />
werden konnten.<br />
2. Das „Garbage-in, Garbage-out“-Problem:<br />
Bei Metaanalysen werden beliebige Untersuchungen<br />
– methodisch gute wie methodisch<br />
schlechte – gleichermaßen berücksichtigt und<br />
die mit ihnen verbundenen unterschiedlichen<br />
Ergebnisse durch den biometrischen Prozess<br />
der Effektgrößenberechnung gemittelt, bis u.U.<br />
nichts mehr herauskommt. Zwar kann der Einfluss<br />
der methodischen Qualität einer Untersuchungen<br />
auf das Ergebnis der Metaanalyse<br />
kontrolliert werden, indem Bewertungskriterien<br />
entwickelt werden, anhand derer die Ergebnisse<br />
einer Untersuchung bewertet und ihre<br />
Effektgröße damit gewichtet werden kann, doch<br />
öffnen diese Kriterienkataloge subjektiven Einflussnahmen<br />
Tür und Tor (siehe Punkt 6).<br />
3. Das Selektions-(file drawer)-Problem: Das<br />
Ergebnis einer Metaanalyse ist abhängig von<br />
der Auswahl der Primärstudien, weshalb eine<br />
möglichst vollständige Erfassung aller thematisch<br />
einschlägigen Arbeiten – und nicht nur die<br />
der überwiegend mit signifikanten Ergebnissen<br />
publizierten Studien – Voraussetzung ist. Zusätzlich<br />
wird nicht selten die Studienselektion<br />
durch sogenannte Qualitätskriterien, d.h. durch<br />
von der mit der Metaanalyse beschäftigten Studiengruppe<br />
definierte Mindestanforderungen,<br />
beeinflusst, durch die – mehr oder weniger gezielt<br />
– das Ergebnis der Metaanalyse beeinflusst<br />
werden kann (siehe hierzu auch Punkt 6).<br />
4. Das Problem abhängiger Daten: Dieses<br />
Problem tritt auf, wenn verschiedene (abhängige)<br />
Teilergebnisse an der gleichen Stichprobe<br />
erhoben und ggf. auch getrennt voneinander<br />
publiziert worden sind. Da Untersuchungseinheiten<br />
von Metaanalysen aber Einzelstudien<br />
und nicht Teilstichproben sind, darf immer nur<br />
ein Ergebnis einer Untersuchung in die Meta-<br />
16 SCHMERZTHERAPIE 2/<strong>2010</strong> (26. Jg.)
analyse mit eingehen, da andernfalls diese Untersuchung<br />
ein größeres Gewicht erhalten würde<br />
als eine Untersuchung, die nur mit einem<br />
Ergebnis in die Metaanalyse eingeht.<br />
5. Das Problem nicht signifikanter Studiendaten:<br />
Studien, bei denen zwischen Verum<br />
und aktiver oder passiver Kontrolle (Placebo)<br />
keine Unterschiede nachgewiesen werden<br />
konnten, werden häufig als „negativ“ diskreditiert,<br />
obwohl verfahrenstechnisch damit eigentlich<br />
nur nachgewiesen wurde, dass es keinen<br />
Hinweis auf einen Unterschied gibt und nicht,<br />
dass es keinen Unterschied gibt („the absence<br />
of evidence is not the evidence of absence“).<br />
6. Das Problem der fehlenden Objektivität:<br />
Obwohl Metaanalysen seitens ihrer Befürworter<br />
stets als objektiv beschrieben und gepriesen<br />
werden, sind es in Wahrheit doch ausgesprochen<br />
subjektive Verfahren, wenngleich das Ausmaß<br />
der Subjektivität als kritische Einflussgröße<br />
durch den Umstand gemindert wird, dass sie<br />
von den am Erstellungsprozess beteiligten Personen<br />
geteilt wird (sog. shared subjectivity).<br />
Bei einer metaanalytisch entwickelten<br />
Leitlinie handelt es sich um den nach einem<br />
definierten, (mehr oder weniger) transparent<br />
nachvollziehbaren Vorgehen erzielten Konsens<br />
einer multidisziplinären Expertengruppe zu einer<br />
bestimmten Vorgehensweise oder einem<br />
bestimmten Problem in der Medizin. Durch eine<br />
zielgerichtete Selektion des inhaltlich verantwortlichen<br />
Personenkreises besteht grundsätzlich<br />
die Möglichkeit, die Ergebnisse einer Metaanalyse<br />
bereits im Vorfeld so zu beeinflussen,<br />
dass es selbst dem Experten beim Lesen der<br />
zugehörigen Methodenberichte schwerfällt zu<br />
erkennen, ob, wo, wann bzw. wie – mehr oder<br />
weniger, in den meisten Fällen jedoch gestalterisch<br />
– Einfluss genommen wurde.<br />
Mitunter dominiert bei Metaanalysen auch<br />
– abhängig von deren Überzeugungskraft und<br />
Durchsetzungsvermögen – der Einfluss einzelner<br />
Experten das Votum der Expertengruppe,<br />
was letztlich dazu führt, dass die eine oder andere<br />
– durchaus auch hochwertig publizierte<br />
– Leitlinie dann doch wieder einem subjektiv<br />
geprägten narrativen Review entspricht.<br />
7. Das Problem unzureichend deklarierter<br />
Interessenkonflikte: Interessen und Ziele leiten<br />
und bestimmen auch das Tun und Wirken<br />
der Experten, die für die Ausführung, Interpretation<br />
und Publikation metaanalytischer Verfahren<br />
verantwortlich zeichnen. In der Medizin<br />
können Ärzte nicht nur durch Unterstützung<br />
von Unternehmen der pharmazeutischen Industrie<br />
oder Medizintechnik in Interessenskonflikte<br />
gelangen, sondern auch durch Regie-<br />
SCHMERZTHERAPIE 2/<strong>2010</strong> (26. Jg.)<br />
rungsbehörden, Krankenkassen und zahlreiche<br />
andere Einrichtungen, weshalb aus Transparenzgründen<br />
alle entsprechenden Interessenskonflikte<br />
entsprechend den Richtlinien des International<br />
Committee of Medical Journal Editors<br />
angegeben werden sollten.<br />
Fehlen – warum auch immer – derartige<br />
Stellungnahmen seitens eines nennenswerten<br />
Teils des für die Metaanalyse verantwortlichen<br />
Expertenkreises, so ist vom Vorliegen kritischer<br />
Konflikte auszugehen und die Aussage<br />
der entsprechenden Leitlinie mit Vorsicht zu<br />
bewerten. Dies gilt insbesondere auch dann,<br />
wenn diesbezüglich auf Nachfrage lapidar verkündet<br />
wird, dass das Fehlen dieser Angaben<br />
bei der Berichterstellung übersehen wurde,<br />
da unterstellt werden muss, dass die für die<br />
Durchführung einer Metaanalyse grundsätzlich<br />
gebotene Sorgfalt auch an anderer Stelle etwas<br />
lockerer als notwendig gehandhabt wurde.<br />
Leitlinien oder Richtlinien?<br />
Rechtlich sind medizinische Leitlinien – anders<br />
als Richtlinien – nicht bindend, sondern geben<br />
nur den konsensualen Wissensstand hinsichtlich<br />
des fachlichen Entwicklungsstandes in Form<br />
praxisorientierter Handlungsempfehlungen wieder.<br />
Ihr Hauptzweck ist es, Ärzten Orientierungshilfen<br />
im Sinne von Entscheidungs- und Handlungsoptionen<br />
zu bieten. Die Umsetzung, d.h.<br />
die im Einzelfall konkret realisierte <strong>Therapie</strong>, liegt<br />
bei der fallspezifischen Betrachtung im Ermessensspielraum<br />
des Behandlers; ebenso sind im<br />
Einzelfall die individuellen Erfahrungen und die<br />
Präferenzen der Patienten in die Entscheidungsfindung<br />
mit einzubeziehen. Metaanalytisch gewonnene<br />
Leitlinienempfehlungen müssen also<br />
stets an den Einzelfall angepasst und nicht umgekehrt<br />
die <strong>Therapie</strong>auswahl für das Individuum<br />
an den Ergebnissen der Metaanalyse ausgerichtet<br />
werden!<br />
Damit ist klar, dass kein Arzt gezwungen ist<br />
entsprechend den Aussagen einer Leitlinie zu<br />
therapieren. Er muss sich nur ggf. fragen lassen,<br />
warum er von dem leitlinienformulierten<br />
Konsensus seiner Profession abgewichen ist,<br />
was unter Umständen mit erheblichen Aufwendungen<br />
verbunden sein kann. Voraussetzung<br />
für eine erfolgreiche Begründung wäre, dass<br />
die <strong>Therapie</strong>entscheidungen rational nachvollzogen,<br />
d.h. sachlich begründet werden können.<br />
Und genau da liegt der Hund begraben,<br />
denn nicht selten lassen sich die in der Praxis<br />
vollzogenen Maßnahmen nicht wirklich rational<br />
begründen, sondern sind eher Ausdruck<br />
etablierter Traditionen oder lieb gewonnener<br />
Manierismen. Damit soll per se nicht konstatiert<br />
werden, dass die mitunter in der Praxis<br />
getroffenen nicht leitlinienkonformen <strong>Therapie</strong>entscheidungen<br />
nicht sinnvoll oder nicht<br />
Biometrie<br />
zielführend sind. Es würde einen gewissen<br />
zeitlichen und logistischen Aufwand erfordern,<br />
ihre Sinnhaftigkeit für jeden Einzelfall zu begründen,<br />
was letztlich – angesichts knapper<br />
Ressourcen – dann doch dazu führt, dass<br />
Leitlinien in der Praxis von Handlungsempfehlungen<br />
zu mehr oder weniger justiziablen<br />
Richtlinien permutieren.<br />
Diesbezüglich problematisch ist der Umstand,<br />
dass Metaanalysen hochkomplexe Systeme mit<br />
ihren zahlreichen Variablen und unüberschaubaren<br />
Wechselwirkungen nur ungenügend abbilden<br />
(können) und letztlich alles monokausal<br />
auf einen einzigen Effizienzparameter reduzieren.<br />
Damit gewinnt die zunächst etwas absurd<br />
erscheinende Idee der „42“ von Douglas Adams<br />
eine erschreckend reale Bedeutung!<br />
Fazit für die Praxis<br />
Durch die kontinuierlich steigenden Zahlen wissenschaftlicher<br />
Veröffentlichungen wird es nicht<br />
nur für niedergelassene Ärzte, sondern auch für<br />
Kliniker und Wissenschaftler zunehmend<br />
schwieriger, sich über das für sie jeweils relevante<br />
medizinische Themengebiet umfassend<br />
und aktuell zu informieren. Metaanalysen stellen<br />
diesbezüglich eine – und bei sachgerechter und<br />
objektiver Durchführung derzeit wohl auch die<br />
beste – Alternative dar, um mit einem angemessenen<br />
Aufwand auf dem aktuellen Kenntnisstand<br />
der medizinischen Forschung zu bleiben<br />
und seinen Patienten die bestmögliche medizinische<br />
Versorgung zukommen zu lassen. Dabei<br />
sollten Metaanalysen grundsätzlich kritisch gelesen<br />
werden, denn sie sind nicht gefeit gegen<br />
un-/bewusste Einflussnahmen durch versteckte<br />
Interessenkonflikte und ermöglichen methodisch<br />
allen Beteiligten durch selektive Fragestellungen,<br />
zielgerichtet formulierte Kriterien und<br />
Blickrichtungen genau das zu finden, was sie<br />
suchen, vermuten und letztlich dann auch für<br />
real halten.<br />
David Sackett, einer der Pioniere der EbM,<br />
der 1967 an der McMaster University in Kanada<br />
das erste Institut für klinische Epidemiologie<br />
und später das Oxford Centre for Evidence-based<br />
Medicine gründete, beschrieb evidenzbasierte<br />
Medizin einmal als „integration of best<br />
research evidence with clinical expertise and<br />
patient values“. Diesem Grundsatz folgend<br />
können methodisch einwandfrei durchgeführte<br />
Metaanalysen im Praxisalltag eine wesentliche<br />
Bereicherung darstellen und die medizinische<br />
Versorgung in vielen Einzelfällen erleichtern.<br />
Sie können jedoch weder die individuelle <strong>Therapie</strong>entscheidung<br />
noch die kritische Auseinandersetzung<br />
mit jedem speziellen Behandlungsfall<br />
ersetzen! ■<br />
Michael Überall, Nürnberg<br />
17
Zertifizierte Fortbildung<br />
Neuropathischer <strong>Schmerz</strong><br />
Ob kurz oder dauerhaft, brennend oder messerscharf: Neuopathische <strong>Schmerz</strong>en können sich ganz unterschiedlich<br />
äußern. Ebenso vielfältig sehen die Auslöser dieser komplexen <strong>Schmerz</strong>form aus. Dr. med.<br />
Thomas Cegla, Vizepräsident der DGS, Wuppertal, schildert in seiner Übersicht die pathophysiologischen<br />
Zusammenhänge und das breite Spektrum an <strong>Therapie</strong>optionen.<br />
S chädigungen<br />
des peripheren und/oder<br />
zentralen Nervensystems können zu einer<br />
fehlerhaften <strong>Schmerz</strong>weiterleitung und<br />
-verarbeitung und zu chronischen neuropathischen<br />
<strong>Schmerz</strong>en führen. Aus diesem Grund<br />
ist auch bei dieser <strong>Schmerz</strong>form eine frühzeitige<br />
effektive <strong>Therapie</strong> angezeigt, da nur eine<br />
rechtzeitige Behandlung den chronischen neuropathischen<br />
<strong>Schmerz</strong> verhindert. Neuropathische<br />
<strong>Schmerz</strong>en können einen Anteil einer<br />
kombinierten <strong>Schmerz</strong>symptomatik darstellen.<br />
Als Mixed Pain oder gemischtes <strong>Schmerz</strong>phänomen<br />
wird ein <strong>Schmerz</strong> bezeichnet, der durch<br />
mechanische, thermische, chemische oder<br />
elektrische Reizung der <strong>Schmerz</strong>nozizeptoren<br />
sowie zusätzlich durch Schädigungen des peripheren<br />
und/oder zentralen Nervensystems<br />
hervorgerufen wird.<br />
Epidemiologie und Kausalität<br />
Nervenschmerzen sind eine Herausforderung<br />
in der täglichen schmerztherapeutischen Versorgung,<br />
da etwa ein Viertel aller <strong>Schmerz</strong>patienten<br />
darunter leiden. Ein direkter Nervenschaden,<br />
aber auch ein traumatischer Reiz<br />
können als <strong>Schmerz</strong> wahrgenommen werden.<br />
Mononeuropathien betreffen einzelne, Polyneuropathien<br />
mehrere Nerven. Lassen sich<br />
<strong>Schmerz</strong>en dem Versorgungsgebiet eines bestimmten<br />
Nervs zuordnen, werden diese als<br />
Neuralgien bezeichnet.<br />
Verschiedene Ursachen können zu schmerzhaften<br />
fokalen peripheren Neuropathien führen:<br />
■ Traumen,<br />
■ mechanische Einengung,<br />
■ Infekte,<br />
■ metabolische Störungen,<br />
■ Durchblutungsstörungen,<br />
■ Malignome,<br />
■ <strong>Therapie</strong>nebenwirkungen.<br />
Ursachen für Polyneuropathien sind<br />
■ metabolische Störungen,<br />
■ Arzneimittelnebenwirkungen,<br />
■ Gifte,<br />
■ Stoffwechselerkrankungen,<br />
■ Malignome,<br />
■ Infekte.<br />
© Michael Kößling/panthermedia.net<br />
Durchblutungsstörungen, insbesondere Infarkte,<br />
Blutungen, Traumen, Malignome und<br />
Parkinsonsyndrome, können aber, wenn sie<br />
das zentrale Nervensystem betreffen, zu zentralen<br />
neuropathischen <strong>Schmerz</strong>en führen.<br />
Sensorische Symptome<br />
Neuropathische <strong>Schmerz</strong>en können plötzlich<br />
und heftig auftreten, aber auch dauerhaft vorhanden<br />
sein. Sie können als brennend wahrgenommener<br />
Dauerschmerz, aber auch als einschießend,<br />
kurz und attackenförmig mit einer<br />
Qualität, die mit den Adjektiven messerscharf<br />
oder brennend beschrieben wird, empfunden<br />
werden. Unterschiedliche <strong>Schmerz</strong>auslöser<br />
sind mit neuropathischen <strong>Schmerz</strong>en verbunden.<br />
Löst ein normalerweise nicht schmerzhafter<br />
Reiz <strong>Schmerz</strong> aus, spricht man von Allodynie,<br />
fehlt die <strong>Schmerz</strong>empfindung auf normalerweise<br />
schmerzhafte Reize von Analgesie. Regio-<br />
Tab. 1: Pathophysiologische<br />
Veränderungen<br />
Neuronal:<br />
Thomas Cegla,<br />
Wuppertal<br />
■ Pathologische Aktivität in<br />
Nozizeptoren nach einem Nerventrauma<br />
■ C-Faser-Untergang<br />
■ Reorganisation des Hinterhorns<br />
■ Ektope Aktivität<br />
■ Erhöhte Aktivität des sympathischen<br />
Nervensystems<br />
■ Wind-up auf spinaler Ebene<br />
■ Periphere Allodynie und Hyperalgesie<br />
■ Parästhesie und Dysästhesie<br />
Molekular:<br />
■ Expression neuer Na-Kanäle<br />
■ Erhöhte Aktivität des NMDA-Rezeptors<br />
■ Abnahme der gabaergen Hemmung<br />
■ Veränderungen des Kalziumeinstroms in die<br />
Zelle<br />
18 SCHMERZTHERAPIE 2/<strong>2010</strong> (26. Jg.)<br />
SCHMERZTHERAPIE
nale <strong>Schmerz</strong>en nach einer Nervenläsion in einer<br />
sonst gefühllosen Körperregion bezeichnet<br />
man als Anaesthesia dolorosa, spontan auftretende<br />
oder provozierte unangenehme und<br />
abnorme Empfindungen als Dysästhesie. Eine<br />
allgemein herabgesetzte Empfindungsstärke<br />
ist eine Hypästhesie, eine verstärkte Empfindung<br />
auf schmerzhafte und nicht schmerzhafte<br />
Reize eine Hyperästhesie. Hypalgesie ist eine<br />
allgemein herabgesetzte, Hyperalgesie eine<br />
verstärkte <strong>Schmerz</strong>empfindung. Hyperpathie<br />
ist eine verstärkte Reaktion auf einen schmerzhaften<br />
oder nicht schmerzhaften Reiz besonders<br />
als Antwort auf wiederholte Reize, und<br />
Parästhesie bezeichnet eine abnorme Gefühlssensation<br />
ohne unangenehmen Charakter.<br />
Zusätzlich zu den sensorischen Veränderungen<br />
können Veränderungen im autonomen<br />
Nervensystem zu Durchblutungsstörungen<br />
und trophischen Störungen führen. Die Motorik<br />
kann ebenfalls beeinträchtigt sein.<br />
Genese<br />
Werden nozizeptive Neurone geschädigt, erhöht<br />
dies die Spontanaktivität. Die Schwelle für<br />
die Reizweiterleitung sinkt bei gleichzeitig gesteigerter<br />
Reizantwort. Natrium- und Kalziumkanäle,<br />
aber auch Capsacainrezeptoren sind<br />
an diesem Prozess beteiligt. Wird das sympathische<br />
Nervensystem durch Neubildung noradrenerger<br />
Rezeptoren einbezogen, wird die<br />
zentrale Sensibilisierung und somit die Chronifizierung<br />
verstärkt. Zentrale Neurone reagieren<br />
auf eine anhaltende Aktivität nozizeptiver Neurone<br />
im Sinne eines Wind-up mit einer verstärkten<br />
Reizantwort bei oft gleichzeitiger Abnahme<br />
der <strong>Schmerz</strong>hemmung.<br />
Allen Störungen gemeinsam ist zwar die<br />
Schädigung nervaler Strukturen, hinter denen<br />
sich allerdings die unterschiedlichsten pathophysiologischen<br />
Veränderungen auf neuronaler und<br />
molekulärer Basis verbergen (Tab. 1, Abb. 1).<br />
Diagnose<br />
Anamnese und Untersuchung weisen den Weg.<br />
Der <strong>Deutsche</strong> <strong>Schmerz</strong>fragebogen sowie die<br />
<strong>Schmerz</strong>tagebücher sind wichtige Dokumentationsmittel.<br />
Hinweise liefern auch bestehende<br />
Erkrankungen, die mit einer Neuropathie einhergehen<br />
können. Auch <strong>Schmerz</strong>qualität, <strong>Schmerz</strong>dauer<br />
und Lokalisation geben Anhaltspunkte.<br />
Wichtige Merkmale sind typische sensorische<br />
und motorische Störungen sowie solche des<br />
autonomen Nervensystems. Die Untersuchung<br />
sollte das Bestreichen mit Pinsel oder Watteträgern,<br />
den Fingerdruck, die Berührung mit Pin-<br />
Prick oder einer Akupunkturnadel, die Berührung<br />
mit kalten sowie mit warmen Gegenständen<br />
beinhalten. Diagnostische Sympathikusblockaden<br />
zeigen den Anteil der sympathischen<br />
SCHMERZTHERAPIE 2/<strong>2010</strong> (26. Jg.)<br />
Aktivität an der gesamten <strong>Schmerz</strong>erkrankung.<br />
Laboruntersuchungen (z.B. Blutzuckerwerte,<br />
Borrelientiter, Entzündungsparameter etc.) und<br />
elektrophysiologische Untersuchungen (Nervenleitgeschwindigkeit,<br />
Elektromyogramm, somatosensorisch<br />
evozierte Potenziale) können<br />
weitere Diagnostikbestandteile sein, wie auch<br />
bildgebende Verfahren oder weitergehende Untersuchungsmethoden.<br />
<strong>Therapie</strong><br />
Liegt eine Grunderkrankung vor, ist diese zu<br />
behandeln. Bei einem Diabetes mellitus sollte<br />
A<br />
Zertifizierte Fortbildung<br />
eine stabile Stoffwechselsituation angestrebt<br />
werden. Engpässe sollten, wenn möglich, beseitigt<br />
werden. Die <strong>Schmerz</strong>symptomatik führt<br />
zur Auswahl des für die individuelle Situation<br />
am ehesten wirksamen Medikamentes (Abb. 2).<br />
Retardpräparate sind für das ideale Verhältnis<br />
von Wirkung und Nebenwirkung günstiger. Die<br />
Wirksamkeit lässt sich erst nach zwei bis vier<br />
Wochen beurteilen. Darüber ist der Patient zu<br />
informieren. Ist die Wirkung einer Monotherapie<br />
nicht ausreichend, können Kombinationstherapien<br />
mit niedrigen Tagesdosen sinnvoll<br />
werden. Wichtig ist die Einbeziehung und Auf-<br />
B C<br />
D<br />
<strong>Schmerz</strong> <strong>Schmerz</strong> <strong>Schmerz</strong><br />
C A C A/Aδ C A<br />
C<br />
Mod. nach Baron Abb. 1: Entstehungsmechanismen neuropathischer <strong>Schmerz</strong>en<br />
Das Oval stellt das Rückenmark dar.<br />
A: Normale Verhältnisse. Zentrale Projektionen unmyelinisierter C-Afferenzen enden im<br />
Hinterhorn und werden hier auf sekundäre nozizeptive Neurone umgeschaltet. A-Berührungsafferenzen<br />
projizieren beim Menschen ohne Umschaltung in die Hinterstränge (nicht<br />
eingezeichnet) und enden ebenfalls an afferenten Hinterhornneuronen.<br />
B: Periphere Sensibilisierung und zentrale Sensibilisierung. Partiell geschädigte primär afferente<br />
C-Nozizeptoren können ektope Nervenimpulse generieren oder chronisch sensibilisiert<br />
werden (Stern an der C-Faser). Diese pathologische Ruheaktivität in afferenten C-Nozizeptoren<br />
führt zu einer zentralen Sensibilisierung der sekundären afferenten Hinterhornneurone<br />
(Stern, zentral) und so zu einer Umwandlung der funktionell wirksamen synaptischen Strukturen<br />
im Hinterhorn. Dadurch können Impulse aus niederschwelligen A- und Aδ-Berührungsafferenzen<br />
jetzt zentrale nozizeptive Neurone aktivieren.<br />
C: Synaptische Reorganisation im zentralen Nervensystem infolge Degeneration primär afferenter<br />
C-Nozizeptoren. Periphere Nervenläsionen können unter besonderen Umständen auch<br />
einen erheblichen Untergang an C-Faser-Neuronen verursachen. Dementsprechend sind die<br />
synaptischen Kontakte an zentralen nozizeptiven Neuronen des Hinterhorns reduziert. Zentrale<br />
Endigungen noch intakter dicker myelinisierter Fasern können daraufhin auswachsen<br />
und neue synaptische Kontakte mit den nunmehr „freien“ zentralen nozizeptiven Neuronen<br />
ausbilden. Dadurch können ebenfalls Impulse aus niederschwelligen A-Berührungsafferenzen<br />
zentrale nozizeptive Neurone aktivieren.<br />
D: Degeneration hemmender Neuronensysteme. Absteigende Bahnen aus dem Hirnstamm<br />
(z.B. aus dem periaquäduktalen Grau) hemmen mit den Transmittern Noradrenalin und<br />
Serotonin die Aktivität in nozizeptiven Hinterhornneuronen. GABAerge Interneurone üben<br />
eine tonische Inhibition im Hinterhorn aus. Chronische nozizeptive Aktivität kann einen<br />
Funktionsverlust und sogar eine Degeneration dieser inhibitorischen Systeme bewirken,<br />
was zu einer unbeeinträchtigten Transmission nozieptiver Impulse führt.<br />
19
Zertifizierte Fortbildung<br />
Zerebrum<br />
Rückenmark<br />
Haut<br />
Metamizol<br />
Opioidanalgetika<br />
GABA<br />
Baclofen<br />
Amitriptylin<br />
Capsaicin<br />
LA<br />
ASS<br />
Mod. nach Baron Abb. 2: <strong>Therapie</strong>ansätze bei neuropathischen <strong>Schmerz</strong>en<br />
klärung des Patienten über die Genese und<br />
den Verlauf seiner Erkrankung. Die gemeinsamen<br />
<strong>Therapie</strong>ziele müssen realistisch sein<br />
und können z.B. in der <strong>Schmerz</strong>linderung, dem<br />
Erhalten oder Wiederherstellen der Arbeitsfähigkeit<br />
oder im Beheben von Schlafstörungen<br />
bestehen.<br />
Pharmakotherapie<br />
Antidepressiva: Trizyklische Antidepressiva<br />
wie das Amitriptylin bewirken eine Hemmung<br />
der präsynaptischen Noradrenalin-Wiederaufnahme,<br />
blockieren gleichzeitig spannungsabhängige<br />
Natriumkanäle und sind sympathikolytisch,<br />
antidepressiv und anxiolytisch. Wichtige<br />
Nebenwirkungen sind Antriebshemmung, Müdigkeit,<br />
Schwindel und Gewichtszunahme.<br />
Kontraindikationen sind Herzinsuffizienz, Herzrhythmusstörungen<br />
und Prostatahypertrophie.<br />
Bei ähnlichem Nebenwirkungsspektrum wirken<br />
tri- oder tetrazyklische Antidepressiva (z.B.<br />
Desipramin) nur über die Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmung<br />
und die Verstärkung der<br />
zentralen deszendierenden Hemmung.<br />
Carbamazepin, Gabapentin<br />
NMDA-Antagonisten<br />
Opioidanalgetika<br />
Nicht-Opiod-Analgetika<br />
Das untere Oval stellt das Rückenmark dar, die oberen Ovale symbolisieren den Hirnstamm<br />
und das Großhirn. Zentrale Projektionen unmyelinisierter C-Afferenzen enden im Hinterhorn<br />
und werden hier auf sekundäre nozizeptive Neurone umgeschaltet. A-Berührungsafferenzen<br />
projizieren beim Menschen ohne Umschaltung in die Hinterstränge (nicht eingezeichnet)<br />
und enden ebenfalls an afferenten Hinterhornneuronen. Sekundäre Hinterhornneurone<br />
projizieren zum Hirnstamm, Thalamus und Cortex. Deszendiere hemmende Bahnsysteme mit<br />
den Überträgersubstanzen Serotonin (5-HT) und Noradrenalin (NA) projizieren zum Rückenmark.<br />
Hemmende GABAerge (GABA) Interneurone wirken ebenfalls auf die nozizeptiven Hinterhornneurone.<br />
Die theoretischen Ansatzpunkte der verschiedenen Pharmaka sind durch<br />
Pfeile gekennzeichnet. ASS: Azetylsalizylsäure; LA: Lokalanästhetika.<br />
C<br />
A<br />
Selektive Serotonin-Noradrenalin-Reuptake-Inhibitoren<br />
wie Duloxetin verstärken die<br />
zentrale deszendierende Hemmung. Sie führen<br />
eher zu einer Appetitabnahme, gelegentlich zu<br />
Übelkeit und Schwindel. Sie dürfen nicht gleichzeitig<br />
mit MAO-Hemmern eingesetzt werden<br />
und können Wechselwirkungen mit Antikoagulanzien<br />
und Antipsychotika haben.<br />
Antikonvulsiva: Carbamazepin, Oxcarbazepin,<br />
Lamotrigin sind Antikonvulsiva, die über<br />
die Blockade von spannungsgeladenen Natriumkanälen<br />
auf sensibilisierten nozizeptiven<br />
Neuronen wirken. Die ektope Erregungsausbreitung<br />
im peripheren und zentralen Nervensystem<br />
wird reduziert. Lamotrigin hemmt zusätzlich<br />
NMDA-Rezeptoren.<br />
Gabapentin und Pregabalin wirken über<br />
Kalziumkanäle durch Ligandenbildung an<br />
spannungsabhängigen neuronalen Kalziumkanälen<br />
und reduzieren so den Kalziumeinstrom<br />
im peripheren und zentralen Nervensystem.<br />
Zentrale Nebenwirkungen in der<br />
Titrationsphase wie Schwindel, Müdigkeit, Ataxie<br />
etc. können auftreten. Unter Gabapentin<br />
kann es zu Beinödemen und einer Erhöhung<br />
der Pankreasenzyme kommen, weshalb eine<br />
Pankreatitis eine Kontraindikation für dieses<br />
Medikament darstellt. Die Bioverfügbarkeit<br />
wird durch magnesium- oder aluminiumhaltige<br />
Antazida beim Gabapentin reduziert. Beide<br />
Medikamente können bei Niereninsuffizienz<br />
kumulieren.<br />
Opioide: Tramadol ist ein -Rezeptoragonist,<br />
aber auch ein Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer,<br />
was bei neuropathischen <strong>Schmerz</strong>en<br />
einen Vorteil darstellt. Die dosisabhängigen<br />
Nebenwirkungen sind die der Gruppe der<br />
Opiate. Im Vergleich zu diesem niedrigpotenten<br />
Opiat ist Oxycodon ein hochpotenter -Rezeptoragonist<br />
der zusätzlich entzündungshemmend<br />
am Kappa-Rezeptor wirkt.<br />
Weitere Medikamente: Cannabinoide, Myotonolytika<br />
haben ebenfalls eine Wirkung bei neuropathischen<br />
<strong>Schmerz</strong>en. Topisch wirken Capsacain<br />
als Agonist am Vanilloid-Rezeptor mit<br />
reversiblem Funktionsverlust und Degeneration<br />
nozizeptiver Neurone sowie Lidocain über<br />
die Blockade von Natriumkanälen afferenter<br />
Neurone.<br />
Nicht empfohlen werden Nicht-Opioid-<br />
Analgetika, selektive Serotonin-Reuptake-<br />
Hemmer, Oxcarbazepin, Phenytoin, Topiramat<br />
und Alpha-Liponsäure.<br />
Nicht medikamentöse <strong>Therapie</strong><br />
Der Patient mit neuropathischen <strong>Schmerz</strong>en ist<br />
ein <strong>Schmerz</strong>patient. Die Pharmakotherapie<br />
kann nur ein Baustein des <strong>Therapie</strong>gebäudes<br />
sein. Weitere Behandlungsoptionen sind<br />
■ physikalische <strong>Therapie</strong> und Ergotherapie, um<br />
Belastung und Koordination zu erhalten oder<br />
zu steigern,<br />
■ Psychotherapie mit Einsatz von Coping-Stra-<br />
20 SCHMERZTHERAPIE 2/<strong>2010</strong> (26. Jg.)<br />
tegien,<br />
■ transkutane Nervenstimulation (TENS) als<br />
ein vom Patienten selbst zu steuerndes Verfahren,<br />
bei dem die <strong>Schmerz</strong>hemmung durch<br />
die Stimulation von A-Fasern erfolgt,<br />
■ Spinal-Cord-Stimulation (SCS) durch die<br />
Stimulation von zentral deszendierenden<br />
Fasern im Bereich der Hinterstränge des<br />
Rückenmarks (ebenfalls durch den Patienten<br />
selbst steuerbar) und<br />
■ neurodestruktive Verfahren als Ultima Ratio.<br />
Multimodale <strong>Therapie</strong><br />
Wirken medikamentöse Monotherapien nicht,<br />
ist eine Kombination von Opioiden mit Antikonvulsiva<br />
und Antidepressiva sinnvoll. Eine topische<br />
Anwendung entweder von Lidocain<br />
oder Capsacain, beides auch als transdermales<br />
Pflaster, ist eine mögliche Ergänzung.<br />
TENS, interventionelle Verfahren, Psychotherapie<br />
und Physiotherapie sind weitere Thera-
© Hans Schulz, Bergkamen<br />
Abb. 3: <strong>Schmerz</strong>en bei Herpes zoster können akut oder verzögert auftreten.<br />
piebestandteile. Sind die <strong>Therapie</strong>erfolge unzureichend,<br />
sind neuromodulative Verfahren eine<br />
mögliche Option. Intrathekales Morphin oder<br />
Ziconotidegabe oder auch eine Spinal-Cord-<br />
Stimulation kommen infrage.<br />
<strong>Therapie</strong>beispiel Herpes zoster<br />
Eine akute Zosterneuralgie kann schon vor<br />
und während der Hautsymptomatik auftreten<br />
(Abb. 3). Im Anschluss an die Hautveränderung<br />
kann eine subakute Zosterneuralgie nach<br />
Tab. 2: <strong>Therapie</strong> des chronisch neuropathischen<br />
<strong>Schmerz</strong>es nach Herpes zoster<br />
Neuronal:<br />
■ Opioidanalgetika (entzündungshemmende<br />
Medikamente wirken nicht bei neuropathischen<br />
<strong>Schmerz</strong>en)<br />
■ Amitriptylin<br />
■ Gabapentin<br />
■ Pregabalin<br />
■ Physikalische Maßnahmen<br />
■ Aciclovir oral 800 mg 5 x 1 für 39 Tage<br />
oder<br />
■ Valaciclovir oral 1000 mg 3 x 1 für 30 Tage<br />
oder<br />
■ Famciclovir oral 500 mg 3 x 1 für 63 Tage<br />
Lokal:<br />
■ Capsaicin-Salbe<br />
■ Lidocain-Gel 2%<br />
■ Lidocainpflaster<br />
Bei einschießenden <strong>Schmerz</strong>en:<br />
■ Carbamazepin 400 mg bis 1-0-2 Tbl.<br />
■ Clonazepam 3 x 1mg<br />
■ TENS<br />
■ Sympathikusblockaden<br />
■ Spinal-Cord-Stimulation<br />
SCHMERZTHERAPIE 2/<strong>2010</strong> (26. Jg.)<br />
drei Monaten zur postzosterischen Neuralgie<br />
werden.<br />
Die <strong>Therapie</strong> des chronisch neuropathischen<br />
<strong>Schmerz</strong>es nach Herpes zoster kann<br />
wie in Tabelle 2 dargestellt aussehen.<br />
Wie sich der neuropathische <strong>Schmerz</strong> im<br />
Praxisalltag äußern kann und wie er in den<br />
Griff zu bekommen ist, sollen abschließend die<br />
folgenden beiden Fallbeispiele vermitteln.<br />
Fall 1: Akuter Bandscheibenprolaps<br />
Anamnese: Ein 52-jähriger Patient berichtet<br />
nach einer Fehlbewegung über eine Missempfindung<br />
im Bereich der Oberschenkelaußen-<br />
und -vorderseite, die mit einschießenden,<br />
messerstichartig empfundenen <strong>Schmerz</strong>en<br />
verbunden ist. Die <strong>Schmerz</strong>stärke schätzt er<br />
auf der numerischen Analogskala mit NAS 8<br />
ein. Es bestehen bei dem Patienten keine<br />
sonstigen Vorerkrankungen oder Auffälligkeiten.<br />
Untersuchung: Bei der Untersuchung fällt<br />
eine Hyperästhesie auf, die dem Verlauf des<br />
N. cutaneus femoris lateralis entspricht; sonst<br />
liegen keine Defizite vor. Im weiteren Verlauf<br />
lässt sich ein Bandscheibenvorfall bei L4/5<br />
diagnostizieren, der konservativ weiterbehandelt<br />
wird.<br />
<strong>Therapie</strong>: Neben der Basistherapie mit Oxycodon/Naloxon<br />
in einer Dosierung von 2 x 10/5<br />
mg erhält der Patient aufgrund der noch weiterhin<br />
bestehenden einschießenden <strong>Schmerz</strong>attacken<br />
Pregabalin in einer Dosierung von anfangs<br />
2 x 75 mg, später 2 x 150 mg pro Tag.<br />
Während der gesamten medikamentösen <strong>Therapie</strong><br />
werden physiotherapeutische Maßnahmen<br />
durchgeführt.<br />
Verlauf: Nach sechs Wochen kommt es zu einer<br />
deutlichen <strong>Schmerz</strong>linderung, sodass die<br />
Zertifizierte Fortbildung<br />
Medikamente stufenweise ausgeschlichen<br />
werden und dem Patienten aufgrund der sofort<br />
durchgeführten <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong> eine weitere<br />
Chronifizierung erspart werden konnte.<br />
Fall 2: Postzosterneuralgie<br />
Anamnese: Eine 75-jährige Patientin stellt<br />
sich mit <strong>Schmerz</strong>en vor, die nach einem Herpes<br />
zoster im Bereich des Brustkorbes aufgetreten<br />
sind und sich entlang des Interkostalraumes<br />
7/8 rechtsseitig vom Rücken nach<br />
vorne bis zur Mittellinie ausbreiten. Die<br />
<strong>Schmerz</strong>en bestehen seit drei Jahren, werden<br />
überwiegend als brennend empfunden. Das<br />
Berühren der Kleidung führt zu stärkeren<br />
<strong>Schmerz</strong>en, die insgesamt auf der numerischen<br />
Analogskala zwischen 7 und 9 angegeben<br />
werden.<br />
Eine <strong>Therapie</strong> mit nicht steroidalen Antirheumatika<br />
in Kombination mit Tramadol in<br />
nicht retardierter Form bringt nur eine ungenügende<br />
Linderung.<br />
Untersuchung: In einem umschriebenen Areal<br />
im oben bezeichneten Interkostalraum liegt<br />
eine mechanische Allodynie vor.<br />
<strong>Therapie</strong>: Das Tramadol, das gut vertragen<br />
wurde, wird auf Tramadol 200 mg retard zweimal<br />
täglich gegeben umgesetzt. Nicht steroidale<br />
Antirheumatika werden abgesetzt. Die<br />
Patientin wird diesbezüglich aufgeklärt, auch<br />
über die Notwendigkeit der regelmäßigen und<br />
nicht bedarfsmäßigen Einnahme von <strong>Schmerz</strong>mitteln.<br />
Da es unter der <strong>Therapie</strong> mit Tramadol<br />
nun zu einer verstärkten Übelkeit kommt und<br />
die Patientin zunehmend unter einer Obstipation<br />
leidet, wird die <strong>Therapie</strong> auf Oxycodon/<br />
Naloxon in einer Dosierung von 10/5 mg zweimal<br />
täglich umgestellt. Darunter reduzieren<br />
sich die <strong>Schmerz</strong>en auf NAS 4–5. Zusätzlich<br />
wird aufgrund der noch als unzureichend empfundenen<br />
Wirkung sowie einer Störung des<br />
Nachtschlafes Pregabalin auftitriert, welches<br />
bei einer Dosierung von 2 x 75 mg schon eine<br />
deutliche Verbesserung des Nachtschlafes<br />
bringt. Zusätzlich wird ein transdermales Lidocainpflaster<br />
angewendet, welches über zwölf<br />
Stunden in der Nacht aufgeklebt bleibt und danach<br />
entfernt wird.<br />
Verlauf: Es wird eine deutliche Linderung erreicht.<br />
Die empfundenen <strong>Schmerz</strong>en liegen im<br />
Mittel bei NAS 2–3, und auch die Lebensqualität<br />
der Patientin hat sich verbessert.<br />
Ausblick: Sollten im weiteren Verlauf wieder<br />
stärkere <strong>Schmerz</strong>en auftreten, besteht eine<br />
<strong>Therapie</strong>option im Capsaicin, welches zurzeit<br />
nur als Tinktur erhältlich ist. Ab Oktober dieses<br />
Jahres wird auch ein transdermales System<br />
mit Capsaicin zur Verfügung stehen. ■<br />
Thomas Cegla, Wuppertal<br />
21
Zertifizierte Fortbildung<br />
Neuropathischer <strong>Schmerz</strong><br />
Hier können Sie CME-Punkte sammeln a) für die Pflichtfortbildung aller Vertragsärzte und<br />
b) für freiwillige Fortbildungszertifikate, die viele Landesärztekammern anbieten. Die Multiple-<br />
Choice-Fragen beziehen sich auf den vorangegangenen Fortbildungsbeitrag (S. 18–21). Die<br />
Antworten ergeben sich aus dem Text. Wenn Sie mindestens 70% der Fragen richtig beantworten,<br />
erhalten Sie 2 Punkte, bei 100% 3 CME-Punkte. Es wird jeweils nur eine richtige Antwort<br />
gesucht. Teilnehmen können Sie nur via Internet über www.cme-punkt.de (Einzelheiten<br />
siehe unten). Einsendeschluss ist der 15.12.<strong>2010</strong>.<br />
1. Welche Aussage ist falsch? Polyneuropathien<br />
können als Folge folgender Erkrankungen auftreten:<br />
A Metabolische Störungen<br />
B Arzneimittelnebenwirkungen<br />
C Adipositas<br />
D Malignome<br />
E Infekte<br />
2. Welche Aussage ist nicht richtig?<br />
A Als Mixed Pain oder gemischtes <strong>Schmerz</strong>phänomen<br />
wird ein <strong>Schmerz</strong> aus mono- sowie polyneuropathischen<br />
Anteilen bezeichnet.<br />
B Durchblutungsstörungen, insbesondere Infarkte,<br />
Blutungen, Traumen, Malignome und Parkinsonsyndrome,<br />
können, wenn sie das zentrale Nervensystem<br />
betreffen, zu zentralen neuropathischen<br />
<strong>Schmerz</strong>en führen.<br />
C Lassen sich <strong>Schmerz</strong>en dem Versorgungsgebiet<br />
eines bestimmten Nerven zuordnen, werden diese<br />
als Neuralgien bezeichnet.<br />
D Mononeuropathien betreffen einzelne, Polyneuropathien<br />
mehrere Nerven.<br />
E Zur <strong>Schmerz</strong>messung können nummerische Analogskalen<br />
verwendet werden.<br />
3. Als Allodynie wird bezeichnet:<br />
A Wenn ein normalerweise nicht schmerzhafter Reiz<br />
<strong>Schmerz</strong> auslöst.<br />
B Eine fehlende <strong>Schmerz</strong>empfindung auf normalerweise<br />
schmerzhafte Reize.<br />
C Regionale <strong>Schmerz</strong>en nach einer Nervenläsion in<br />
einer sonst gefühllosen Körperregion.<br />
D Spontan auftretende oder provozierte unangenehme<br />
und abnorme Empfindungen.<br />
E Eine allgemein herabgesetzte Empfindungsstärke.<br />
4. Welche Aussage ist nicht richtig? An der Entstehung<br />
neuropathischer <strong>Schmerz</strong>en sind beteiligt:<br />
A Nozizeptive Neurone<br />
B Na-Kanäle<br />
C Ca-Kanäle<br />
D Capsacain-Rezeptoren<br />
E Motorische Endplatte<br />
5. Welche Aussage ist nicht richtig? Zur Diagnostik<br />
neuropathischer <strong>Schmerz</strong>en können die folgenden<br />
Maßnahmen eingesetzt werden:<br />
A Sympathikusblockaden<br />
B Borrelientiter<br />
C Elektromyogramm<br />
D Somatosensorisch evozierte Potenziale<br />
E EKG<br />
6. Welche Aussage ist nicht richtig? Generell ist<br />
in der Behandlung neuropathischer <strong>Schmerz</strong>en zu<br />
beachten:<br />
A Liegt eine Grunderkrankung vor, ist diese zu behandeln.<br />
B Retardpräparate sind für das ideale Verhältnis von<br />
Wirkung und Nebenwirkung günstiger.<br />
C Die Wirksamkeit lässt sich erst nach einigen<br />
Wochen (2–4) beurteilen.<br />
D Eine Monotherapie ist in jedem Fall anzustreben.<br />
E Der Patient sollte über die Genese und den Verlauf<br />
seiner Erkrankung aufgeklärt sein.<br />
7. In der medikamentösen <strong>Therapie</strong> der Polyneuropathie<br />
hat keinen Stellenwert:<br />
A Oxycodon<br />
B Duloxetin<br />
C Pregabalin<br />
CME-Herausgeber- und Review-Board:<br />
Dr. Uwe Junker, Remscheid, Dr. Gerhard Müller-<br />
Schwefe, Göppingen; Dr. Thomas Nolte, Wiesbaden;<br />
Priv.-Doz. Dr. Michael Überall, Nürnberg<br />
D Gabapentin<br />
E Triamteren<br />
In Zusammenarbeit mit der<br />
Bayerischen Landesärztekammer<br />
und der <strong>Deutsche</strong>n Gesellschaft<br />
für <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong> e.V. – DGS<br />
8. In der <strong>Therapie</strong> der Polyneuropathie hat keinen<br />
Stellenwert:<br />
A Topisches Capsacain<br />
B Topisches Lidocain<br />
C Ibuprofen<br />
D Coping-Strategien<br />
E TENS<br />
9. Welche Aussage ist nicht richtig? In der<br />
<strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong> mit Oxycodon ist zu beachten:<br />
A Oxycodon ist ein hochpotenter -Rezeptor-<br />
Agonist.<br />
B Oxycodon wirkt zusätzlich entzündungshemmend<br />
am Kappa-Rezeptor.<br />
C Es besteht eine sichere Tachyphylaxie für die<br />
opiatbedingte Obstipation.<br />
D Retardpräparate sind für das ideale Verhältnis von<br />
Wirkung und Nebenwirkung günstiger.<br />
E Oxycodon ist ein BTM-pflichtiges Medikament.<br />
10. Welche Aussage ist nicht richtig? Die nicht medikamentöse<br />
<strong>Therapie</strong> neuropathischer <strong>Schmerz</strong>en …<br />
A ... sollte multimodal sein.<br />
B ... sollte Bestandteile aus physikalischer <strong>Therapie</strong><br />
und Ergotherapie beinhalten.<br />
C ... kann auch in einer Spinal-Cord-Stimulation<br />
(SCS) bestehen.<br />
D ... sollte auch psychosomatische, psychologische<br />
oder psychiatrische Gesichtspunkte berücksichtigen.<br />
E ... besteht in der elektrischen Hemmung von<br />
Aα-Fasern.<br />
So kommen Sie zu Ihren Punkten:<br />
Die Teilnahme ist nur möglich via Internet unter www.cme-punkt.de. Dort melden Sie sich als Arzt an und finden<br />
unter dem Kopf der Zeitschrift SCHMERZTHERAPIE die derzeit aktive zertifizierte Fortbildung. Damit der Fragebogen<br />
für die Zertifizierung ausgewertet werden kann, benötigen wir von Ihnen die Einheitliche Fortbildungsnummer EFN.<br />
Sie erhalten via Internet unmittelbar Rückmeldung darüber, ob Sie die Fragen richtig beantwortet haben oder nicht,<br />
und können die Bescheinigung sofort ausdrucken. Wir empfehlen, die Bescheinigungen gesammelt bei Ihrer Landesärztekammer<br />
einzureichen. Wir führen auf dieser Seite auch ein elektronisches Punktekonto für Sie. Bei erfolgreicher<br />
Teilnahme werden Ihre Daten an den Einheitlichen Informationsverteiler (EIV) der Ärztekammern<br />
weitergegeben. Nähere Hinweise hierzu unter: www.cme-punkt.de/faq.html.<br />
Teilnahmeschluss ist der 15.12.<strong>2010</strong>. Viel Glück beim Punktesammeln!<br />
22 SCHMERZTHERAPIE 2/<strong>2010</strong> (26. Jg.)<br />
SCHMERZTHERAPIE
Pflegestützpunkte als Basis der ambulanten<br />
<strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong><br />
Die ambulante <strong>Therapie</strong> sollte durch eine weitergebildete Pflegekraft, die <strong>Schmerz</strong>managerIn,<br />
koordiniert bzw. in Teilen durchgeführt werden. Mit einer rechtzeitig<br />
begonnenen sowie einer konsequent durchgeführten <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong> kann bei vielen<br />
<strong>Schmerz</strong>patienten eine Chronifizierung vermieden werden. Durch die finanzielle<br />
Unterstützung dieses Konzeptes ergibt sich damit auch eine positive Kosten-Nutzen-<br />
Rechnung für die Krankenkassen. In diesem Artikel stellt Elke Geyer, Pflegewissenschaftlerin<br />
BA und algesiologische Fachassistentin, Wuppertal, einen konkreten<br />
Entwurf zur Verbesserung der ambulanten <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong> dar.<br />
H eute<br />
ist es nicht mehr nötig, dass jemand<br />
an chronischen <strong>Schmerz</strong>en übermäßig<br />
leiden muss. Manchmal sind die Maßnahmen,<br />
die dazu erforderlich sind, recht einfach, allerdings<br />
nicht jedem bekannt. Nach diesem Konzeptentwurf<br />
wäre es jedem Versicherten möglich,<br />
die/den <strong>Schmerz</strong>managerIn kostenlos aufzusuchen<br />
und eine individuelle <strong>Schmerz</strong>beratung<br />
zu erhalten. Eine Pflegefachkraft mit einer<br />
algesiologischen Weiterbildung und Beratungskompetenzen<br />
(Wahlweise: systemische Beratung)<br />
kann zum einen den Bedarf einer medikamentösen<br />
<strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong> erkennen, zum anderen<br />
den Erfolg überwachen und Nebenwirkungen<br />
vorbeugen und erfassen. Das bedeutet,<br />
sie kann die Qualität verbessern und der Chronifizierung<br />
vorbeugen. Eine weitere Art, Chronifizierungen<br />
vorzubeugen, besteht in der nicht<br />
medikamentösen <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong>, welche ein<br />
großes Feld von Möglichkeiten eröffnet. Der/<br />
dem <strong>Schmerz</strong>managerIn ist es hier möglich,<br />
neben individuellen Beratungen auch selbst<br />
Schulungen anzubieten sowie andere Berufsgruppen<br />
gezielt und individuell zu involvieren.<br />
Die besten <strong>Therapie</strong>erfolge werden erzielt, wenn<br />
medikamentöse und nicht medikamentöse <strong>Therapie</strong>verfahren<br />
kombiniert werden.<br />
Rechtliche Grundlagen<br />
Rechtlich basiert dieser Konzeptentwurf einerseits<br />
auf § 27 Abs.1 Satz 1 des SGB V: „Versicherte<br />
haben Anspruch auf Krankenbehandlung,<br />
wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu<br />
erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu<br />
verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern.“<br />
Demnach ist gesetzlich verankert, dass für<br />
Krankenversicherte der Anspruch auf Behandlung<br />
nicht nur zum Heilen einer Erkrankung, sondern<br />
bereits zum Verhüten und zur Linderung von<br />
Krankheitsbeschwerden besteht. Somit steht<br />
einem <strong>Schmerz</strong>patienten der Anspruch auf die<br />
Behandlung seiner <strong>Schmerz</strong>en gesetzlich zu.<br />
SCHMERZTHERAPIE 2/<strong>2010</strong> (26. Jg.)<br />
Andererseits basiert das Konzept auf der<br />
aktuellen Diskussion der Pflegestützpunkte,<br />
welche in den meisten Teilen der Bundesrepublik<br />
bis 2011 etabliert sein sollen. Die Diskussion<br />
dreht sich hauptsächlich um § 92c<br />
SGB XI, eingefügt durch das Pflege-Weiterentwicklungsgesetz<br />
von 2008. In diesem Paragrafen<br />
wird nicht nur die zukünftige Vernetzung<br />
pflegerischer und sozialer Versorgungs- und<br />
Betreuungsangebote in den Pflegestützpunkten<br />
beschrieben, sondern auch klar formuliert,<br />
dass durch die Pflegestützpunkte eine wohnortnahe<br />
Beratung, Versorgung und Betreuung<br />
der Krankenversicherten stattfinden soll, um<br />
so gesundheitsfördernde, präventive, kurative,<br />
rehabilitative und sonstige medizinische, pflegerische<br />
und soziale Unterstützungsangebote<br />
für den Versicherten zu koordinieren.<br />
<strong>Schmerz</strong>managerIn im Pflegestützpunkt<br />
Die Ausgangssituation ist ein bereits bestehender<br />
Pflegestützpunkt, der mit einer zusätzlichen Pflegefachkraft,<br />
der/dem <strong>Schmerz</strong>managerIn, besetzt<br />
wird. Die Niederlassung eines Pflege-<strong>Schmerz</strong>managers<br />
in einem Pflegestützpunkt sollte sogleich<br />
den umliegenden Arztpraxen und Apotheken<br />
des Ortsteils sowie der nächstgelegenen algesiologischen<br />
Klinik mitgeteilt werden. Ebenfalls<br />
sollte eine Übersicht über entsprechende Öffnungszeiten,<br />
Schulungen und weitere Angebote<br />
des Pflegestützpunktes den Kliniken, Arztpraxen<br />
und Apotheken zugesendet werden, um eine<br />
gute Zusammenarbeit und lückenlose Weiterführung<br />
der <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong> zu gewährleisten.<br />
Wie kann man Klient einer <strong>Schmerz</strong>managerIn<br />
werden?<br />
1. Chronische <strong>Schmerz</strong>patienten, welche aus der<br />
algesiologischen Klinik entlassen werden, können<br />
vom Algesiologen an die/den <strong>Schmerz</strong>managerIn<br />
„überwiesen“ werden, um so wohnortnah<br />
die Qualität der bereits laufenden <strong>Schmerz</strong>thera-<br />
Algesiologische Fachassistenz<br />
pie zu beobachten und<br />
zu sichern und, soweit<br />
erwünscht, andere Berufsgruppen<br />
in die <strong>Therapie</strong><br />
zu integrieren.<br />
2. Die Fachärzte und<br />
Hausärzte können die<br />
<strong>Schmerz</strong>patienten zur<br />
kontinuierlichen Betreuung<br />
und Beratung<br />
sowie zur eigenen Ent-<br />
Elke Geyer,<br />
Wuppertal<br />
lastung zur/zum <strong>Schmerz</strong>managerIn schicken.<br />
Dadurch kann nicht nur eine <strong>Therapie</strong> gesichert,<br />
sondern auch frühzeitig einer Chronifizierung<br />
vorgebeugt werden.<br />
3. Versicherte, die unter <strong>Schmerz</strong>en leiden,<br />
können selbstständig und ohne über einen Arzt<br />
geschickt zu werden einen Beratungstermin<br />
mit der/dem <strong>Schmerz</strong>managerIn vereinbaren.<br />
Dadurch kann frühzeitig einer Chronifizierung<br />
vorgebeugt werden, und wenn nötig können<br />
auch andere Berufsgruppen in die Behandlung<br />
integriert werden.<br />
Leistungsangebote<br />
Verschiedene Leistungen werden von der/dem<br />
<strong>Schmerz</strong>managerIn im Pflegestützpunkt angeboten:<br />
■ Case-Management von <strong>Schmerz</strong>patienten<br />
(Qualitätssicherung)<br />
■ Psycho-soziale und psycho-sozial-pflegerische<br />
Beratung<br />
■ <strong>Schmerz</strong>patienten informieren und individuell<br />
schulen, um ihnen einen Weg der <strong>Schmerz</strong>bewältigung<br />
aufzuzeigen (Hilfe zur Selbsthilfe)<br />
■ Regelmäßige Patienten- und Angehörigenschulungen<br />
■ Offene <strong>Schmerz</strong>sprechstunden für Versicherte<br />
oder Angehörige, um Informationen und<br />
Beratung auch zeitnah ohne Terminabsprache<br />
zu erhalten (wenn der <strong>Schmerz</strong> am größten<br />
ist).<br />
■ Individuelle <strong>Therapie</strong>möglichkeiten möglichst<br />
kostengünstig aufzeigen<br />
■ Gründung von Selbsthilfegruppen anregen<br />
und diese unterstützen<br />
■ Kontakt herstellen zu anderen Berufsgruppen<br />
(algesiologische Klinik, individueller Hausarzt,<br />
Facharzt, Physiotherapeut, Psychotherapeut,<br />
Homöopath, Heilpraktiker, Akupunkteur,<br />
Tai-Chi-Lehrer, Yoga-Lehrer, Rückenschule,<br />
Sportverein, Fitnessstudio u.v.m.). ■<br />
Elke Geyer, Wuppertal<br />
23
Palliativmedizin<br />
SAPV rechnet sich – hätten Sie<br />
das gedacht?<br />
Mithilfe der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung (SAPV) lassen sich<br />
Krankenhausbehandlungen und Medikamentenkosten am Ende des Lebens sparen.<br />
Somit ist nach einer aktuellen Auswertung des Wiesbadener Palliativzentrums der<br />
Widerstand der Krankenkassen in der Umsetzung der SAPV völlig irrational, da keine<br />
Mehrkosten entstehen, erklärt Dr. med. Thomas Nolte, Leiter des Zentrums für ambulante<br />
Palliativversorgung und DGS-Leiter, Wiesbaden.<br />
S eit<br />
der Einführung der spezialisierten ambulanten<br />
Palliativversorgung (SAPV) zum<br />
1. April 2007 als verpflichtendes Versorgungsangebot<br />
der Krankenkassen in das Sozialgesetzbuch<br />
toben im Hintergrund die Diskussionen zwischen<br />
den Krankenkassen und den potenziellen<br />
SAPV-Teams mit Palliative-Care-Qualifikation.<br />
Bald sind drei Jahre vergangen, ohne dass ein<br />
flächendeckendes Versorgungsangebot bereitgestellt<br />
werden konnte, da sich die Verhandlungspartner<br />
nicht einigen können. Die meisten Kran-<br />
Tab. 1: Kostenrechnung<br />
kenkassen spielen auf Zeit, um die vermeintlich<br />
teurere Versorgung durch Hinhaltetaktik zu verzögern!<br />
„Vieles deutet darauf hin, dass insbesondere<br />
von Kassenseite immer noch Bremser, Blockierer<br />
und Bedenkenträger unterwegs sind, denen an<br />
SAPV-Verträgen wenig gelegen ist“ (Zitat Christoph<br />
Fuhr, Ärzte Zeitung, 16.02.<strong>2010</strong>).<br />
Sind es die Kosten?<br />
Aus den Verhandlungen im Jahr 2005 über einen<br />
Palliativvertrag zur integrierten Versorgung<br />
Kosten je Versicherten mit einer Karzinomerkrankung in den letzten drei Lebensmonaten<br />
bei 6280 Versicherten im Jahr 2004<br />
Durchschnittskosten ambulante Versorgung (Arzt/Pflege/Transport etc.)? 1.500,00 D?<br />
Durchschnittskosten Krankenhaus 9.482,62 D<br />
Durchschnittskosten Apotheke 3.009,67 D<br />
Durchschnittskosten gesamt aus Krankenhauskosten und Medikamenten 12.492,29 D<br />
Hochgerechnete Durchschnittskosten in drei Monaten 14.000,00 J<br />
Tab. 2: Fallpauschalen der Ersatzkassen in Hessen<br />
Pauschale Versorgungsdauer Fallpauschale<br />
PV1 bis 10 Tage 1.500 D<br />
PV2 11.–56. Tag – täglich 120 D<br />
PV3 > 57 Tage – täglich 80 D<br />
Tab. 3: Fallpauschalen der Primärkassen in Hessen<br />
Pauschale Versorgungsdauer Fallpauschale<br />
PA1<br />
PA2<br />
PA3<br />
PA4<br />
PA5<br />
PA6<br />
PA7<br />
PA8<br />
<<br />
– 10 Tage<br />
<<br />
– 20 Tage<br />
<<br />
– 30 Tage<br />
<<br />
– 40 Tage<br />
<<br />
– 50 Tage<br />
<<br />
– 60 Tage<br />
<<br />
– 75 Tage<br />
<<br />
– 90 Tage<br />
1.500 D<br />
2.350 D<br />
3.350 D<br />
4.550 D<br />
5.850 D<br />
7.000 D<br />
8.000 D<br />
9.150 D<br />
mit der Techniker Krankenkasse<br />
und dem<br />
ZAPV-Zentrum für ambulantePalliativversorgung<br />
Wiesbaden<br />
liegt eine Auswertung<br />
der Krankenkasse aus<br />
dem Jahr 2004 vor, die<br />
damals Grundlage für<br />
die Berechnungen der<br />
Fallpauschalen für die<br />
IV-Vergütung waren.<br />
Thomas Nolte,<br />
Wiesbaden<br />
Berücksichtigt wurden 6280 Versicherte der<br />
Techniker Krankenkasse, die im Jahr 2004 an<br />
einer Tumordiagnose verstorben waren (Tab. 1).<br />
Erhoben wurden die dabei entstandenen Versorgungskosten<br />
in den letzten drei Lebensmonaten<br />
im Krankenhaus (9.482 1) und die Kosten<br />
durch die verordneten Medikamente (3.009 1).<br />
Die Kosten der ambulanten Versorgung konnten<br />
durch die sektoralen Strukturen nur geschätzt<br />
werden. Sie setzen sich aus der ärztlichen und<br />
pflegerischen Versorgung sowie den Transportkosten<br />
zusammen und wurden pauschal mit<br />
1.500 1 angesetzt. Die durchschnittlichen Versorgungskosten<br />
beliefen sich somit auf 14.000 1<br />
für die letzten drei Lebensmonate.<br />
Schauen wir jetzt auf die Fallpauschalen,<br />
die nach den in Hessen gültigen SAPV-Verträgen<br />
von den Ersatzkassen (Tab. 2) und den<br />
Primärkassen (Tab. 3) bezahlt werden. Die<br />
Fallpauschalen berücksichtigen, dass der Versorgungsaufwand<br />
am Anfang der SAPV höher<br />
ist. Die zum Vergleich herangezogenen realen<br />
Versorgungskosten aus dem Jahr 2004 sind<br />
analog zu den Fallpauschalen der SAPV nach<br />
einer Graduierung in 45, 35 und 20% für die<br />
drei Monate rückwirkend vom Todeszeitpunkt<br />
aufgeteilt worden, da die Versorgungsdichte<br />
und damit die Kosten zum Lebensende zunehmen.<br />
Daraus ergibt sich die Gegenüberstellung<br />
in Tab. 4. Es fehlen hier allerdings die Krankenhaus-<br />
und Medikamentenkosten in der SAPV,<br />
die bereits in den gesamten Versorgungskosten<br />
aus dem Jahr 2004 enthalten sind.<br />
Aktuelle Auswertung<br />
Es liegen nun die ersten konkreten Versorgungsdaten<br />
aus Hessen vor, wo seit dem<br />
1. April 2009 nach zwei Jahren zähen Verhandelns<br />
ein landesweiter Vertrag mit allen Krankenkassen<br />
zur SAPV abgeschlossen wurde.<br />
Die Erfahrungen aus der integrierten Versorgung,<br />
die hessische Palliativ-Teams bereits<br />
seit 2006 sammeln konnten, und die Geschlossenheit<br />
der hessischen Palliative-Care-Teams<br />
hatten den Umsetzungsprozess beschleunigt!<br />
Das Zentrum für ambulante Palliativversorgung<br />
(ZAPV) in Wiesbaden ist seit April 2009<br />
eines der aktuell 19 Palliative-Care-Teams in<br />
24 SCHMERZTHERAPIE 2/<strong>2010</strong> (26. Jg.)
© Bildarchiv Nolte<br />
Hessen, die an der SAPV teilnehmen. Das<br />
ZAPV hat die Ergebnisse aus dem Jahr 2009<br />
unter ökonomischen Gesichtspunkten ausgewertet.<br />
Im Jahr 2009 wurden genau 250 Patienten<br />
von dem ZAPV-Palliative-Care-Team in<br />
der SAPV versorgt.<br />
Versorgungstage: Demnach wurden 250 Patienten<br />
an 6.989 Tagen (im Durschnitt 28 Tage)<br />
versorgt (Abb. 1)! Die Versorgung erfolgte zu 69%<br />
zu Hause, zu 28% im Hospiz und 3,5% der Tage<br />
im Krankenhaus. Das bekannte Verhältnis aus der<br />
Regelversorgung – mehr als 50% der Patienten<br />
sterben im Krankenhaus – ist hier eindrucksvoll in<br />
das Gegenteil verkehrt worden. Zusätzliche Kosten<br />
fielen an 245 Tagen durch Krankenhausbehandlungen<br />
an. Bei hochgeschätzten 800 1 pro<br />
stationärem Behandlungstag entstanden zusätzliche<br />
Kosten von 200.000 1; dies entspricht pro<br />
Patient 780 1 in der SAPV. Die Kosten für die<br />
stationäre Hospizbehandlung bei 1949 Versorgungstagen<br />
im Hospiz beliefen sich auf<br />
292.000 1, wenn man einen Tagessatz von 150<br />
1 zugrunde legt. Die SAPV-Kosten reduzieren<br />
sich jedoch noch um die um 50% reduzierte<br />
SAPV-Pauschale bei Hospizpatienten. Der Tagessatz<br />
im Hospiz wird zur Vereinfachung um<br />
die reduzierte SAPV-Pauschale auf 100 1 gekürzt.<br />
Dies reduziert die Kosten auf etwa<br />
200.000 1, entsprechend 800 1 pro Patient.<br />
Sterbeorte: Die Sterbeorte der 232 Patienten<br />
waren bei 130 Patienten (56 %) zu Hause, bei<br />
92 Patienten (40%) im Hospiz und bei zehn im<br />
Krankenhaus (4%). 18% der Patienten sind aus<br />
der SAPV stabilisiert wieder ausgeschieden<br />
(Abb. 2). Eines der Qualitätsmerkmale der<br />
SAPV – ein Sterben in der häuslichen Umge- Placebo<br />
bung –, ist auch hier verwirklicht worden.<br />
Medikamentenkosten: Die Ausgaben für Medikamente<br />
bei den 250 Patienten in der SAPV<br />
Abb. 1: Versorgungzeiträume (VT) in der SAPV in Tagen<br />
6000<br />
5000<br />
4000<br />
3000<br />
2000<br />
1000<br />
4795<br />
SCHMERZTHERAPIE 2/<strong>2010</strong> (26. Jg.)<br />
Durchschnitt 26,98 VT<br />
1949<br />
0<br />
1<br />
Daten: 250 Patienten im Zeitraum 01.04.–31.12.2009<br />
Tab. 4: Vergleich mit den Versorgungskosten aus dem Jahr 2004<br />
lagen bei 140.750 1, demnach bei 563 1 pro<br />
Patient.<br />
Zusammenfassung<br />
Wenn wir die Kosten im Jahr 2004 denen im Jahr<br />
2009 in der SAPV gegenüberstellen, ergibt sich<br />
das Bild in Tab. 5. Die Berechnungen enthalten<br />
sicher noch einige Unschärfen, die einerseits auf<br />
gestiegene Versorgungskosten in der Regelversorgung<br />
seit 2004 (heute eher noch teurere und<br />
komplexere <strong>Therapie</strong>strategien) beruhen, andererseits<br />
auf nicht erfassten Kosten durch palliative<br />
chemo- und strahlentherapeutische Maßnahmen<br />
parallel zur SAPV. Allerdings trifft dies nur auf eine<br />
kleine Zahl von Patienten zu.<br />
Fazit<br />
Bereits ohne die Berücksichtigung der SAPV-<br />
Fördergelder aus dem Gesetz zur Stärkung<br />
des Wettbewerbs in der gesetzlichen Kranken-<br />
Palliativmedizin<br />
Behandlungsdauer 2004 SAPV VdEK und BKK SAPV Primärkassen<br />
Bis 30 Tage 6.300 D 3.900 D 3.350 D<br />
31 bis 60 Tage 4.200 D 3.600 D 3.650 D<br />
61 bis 90 Tage 3.500 D 2.400 D 2.150 D<br />
Insgesamt 14.000 J 9.900 J 9.150 J<br />
Tab. 5: Kosten im Jahr 2004 im Vergleich zum Jahr 2009<br />
Behandlungsdauer 2004 SAPV VdEK und BKK SAPV Primärkassen<br />
Bis 30 Tage 6.300 D 3.900 D 3.350 D<br />
31 bis 60 Tage 4.200 D 3.600 D 3.650 D<br />
61 bis 90 Tage 3.500 D 2.400 D 2.150 D<br />
Krankenhauskosten inklusive (9.482 D) 780 D 780 D<br />
Medikamentenkosten inklusive (3.009 D) 563 D 563 D<br />
Hospizkosten inklusive 800 D 800 D<br />
Gesamtkosten 14.000 J 12.413 J 11.663 J<br />
Versorgungszeiträume<br />
VT zu Hause<br />
VT im Hospiz<br />
KH Tage<br />
245<br />
© Bildarchiv Nolte<br />
140<br />
120<br />
100<br />
80<br />
60<br />
40<br />
20<br />
0<br />
130<br />
versicherung GKV-WSG versorgte das ZAPV<br />
schwerkranke Menschen am Lebensende im<br />
Jahr 2009 kostengünstiger, als das im Vergleichsjahr<br />
2004 in der Regelversorgung ohne<br />
SAPV der Fall war.<br />
Durch die Reduzierung von Krankenhausbehandlungs-<br />
und Medikamentenkosten durch<br />
die palliative Neuorientierung in der Patientenversorgung<br />
kann die SAPV mehr als kostenneutral<br />
in der Regelversorgung verankert<br />
werden. Der Widerstand der Krankenkassen in<br />
der Umsetzung der SAPV ist nicht rational begründet,<br />
da keine Mehrkosten entstehen. Die<br />
Erfahrungen aus der integrierten Versorgung<br />
bestätigen hier, dass eine qualitative Verbesserung<br />
der Versorgung durch komplexe und<br />
damit primär aufwendige Konzepte (SAPV)<br />
nicht mit mehr Kosten erkauft werden muss. ■<br />
Abb. 2: Sterbeorte der Patienten in der SAPV<br />
Daten: 250 Patienten im Zeitraum 01.04.–31.12.2009<br />
92<br />
10<br />
Thomas Nolte, Wiesbaden<br />
Sterbeorte<br />
zu Hause<br />
im Hospiz<br />
im Krankenhaus<br />
unbekannt<br />
18<br />
25
Pharmakotherapie<br />
Opioidinduzierte Hyperalgesie:<br />
keine Rarität und therapiebedürftig<br />
Lange Zeit galt das Phänomen „opioidinduzierte Hyperalgesie“ (OIH) als etwas Exotisches und wurde<br />
nahezu ausschließlich mit aktiven Metaboliten des Morphins in Verbindung gebracht. Anhand zweier<br />
Kasuistiken illustriert Dr. med. Uwe Junker, Remscheid, dass es sich um einen ernst zu nehmenden und<br />
unbedingt therapiebedürftigen Symptomenkomplex handelt, der nicht nur unter <strong>Therapie</strong> mit Morphin<br />
auftreten kann und von der Opioidtoleranz abgegrenzt werden muss.<br />
Fallbeispiel 1<br />
Der Hausarzt bittet uns um Unterstützung bei<br />
der Betreuung eines 13-jährigen Jungen, der<br />
an einem weit fortgeschrittenen Pankreaskarzinom<br />
erkrankt ist. Unter neoadjuvanter Chemotherapie<br />
ist der Primärtumor zwar deutlich<br />
kleiner geworden, doch leider ist eine diffuse<br />
Metastasierung in Lunge und Leber aufgetreten.<br />
Auf weitere palliative Chemotherapie wird<br />
im Einvernehmen mit Kind und Eltern verzichtet,<br />
der Junge soll sein letztes Weihnachtsfest<br />
im Kreise der Familie verleben. Er selbst hat<br />
außerdem den dringenden Wunsch, noch einmal<br />
mit seinen Eltern und seiner jüngeren<br />
Schwester an die dänische Küste zu reisen, wo<br />
die Familie meist ihre Ferien verbrachte.<br />
Der Junge ist mit einer intravenösen Analgesie<br />
in Form einer <strong>Schmerz</strong>pumpe mit einer<br />
Tagesdosis von 5 g Metamizol und zuletzt 150<br />
mg Hydromorphon versorgt. Das Konzept mit<br />
einem Nichtopioid, das bei viszeralen <strong>Schmerz</strong>en<br />
nicht zuletzt wegen seiner spasmolytischen<br />
Komponente effektiv ist, und einem Opioid,<br />
das sich durch seine im Vergleich zu Morphin<br />
etwa achtfach höhere analgetische Potenz bei<br />
gleichzeitig sehr geringem Interaktionsrisiko<br />
auszeichnet, ist gut durchdacht. Die Pumpe<br />
verfügt über eine PCA-Funktion zur Kupierung<br />
von Durchbruchschmerzen. In den letzten Tagen<br />
seien die <strong>Schmerz</strong>en fast dauerhaft viel<br />
intensiver geworden. Das Kind ist über seine<br />
begrenzte Lebenserwartung vollends im Bilde,<br />
akute Ängste scheiden daher als alleinige<br />
Ursache der starken <strong>Schmerz</strong>en aus. Beim<br />
gemeinsamen Hausbesuch mit dem Hausarzt<br />
empfängt uns das deutlich sediert wirkende<br />
und gangunsichere Kind mit den Worten: „Ihr<br />
müsst mir den Bolus höher stellen, ich habe<br />
überall <strong>Schmerz</strong>en.“ Den Versuch, einen Arm<br />
um seine Schultern zu legen, wehrt der Junge<br />
mit den Worten ab: „Bitte nicht anfassen, tut<br />
zu weh.“<br />
Bei der Durchsicht des vom Vater sorgfältig<br />
geführten <strong>Schmerz</strong>tagebuches fällt auf, dass<br />
<strong>Schmerz</strong>zunahme und vermehrte Müdigkeit in<br />
© Bildarchiv Junker<br />
Abb. 1 Kernspintomografie des Patienten<br />
mit Metastasen an der BWS (Fallbeispiel 2).<br />
zeitlichem Zusammenhang mit der Erhöhung<br />
der Hydromorphon-Tagesdosis auf 150 mg<br />
stehen.<br />
Fallbeispiel 2<br />
Ein 62-jähriger Mann, der unter einem fortgeschrittenen<br />
Prostatakarzinom mit intensiver<br />
Metastasierung in seine Wirbelsäule leidet,<br />
wird aus einer onkologischen Praxis auf unsere<br />
Palliativstation eingewiesen. Der Patient<br />
klagt trotz einer hoch dosierten <strong>Therapie</strong> mit<br />
300 µg transdermalem Fentanyl über stärkste<br />
<strong>Schmerz</strong>en; man käme einfach nicht mehr weiter.<br />
Außerdem erhält er noch 4 x 30 Tropfen<br />
Metamizol am Tag.<br />
Bei der stationären Aufnahme sehen wir einen<br />
stark somnolenten Patienten, der dennoch<br />
bei jeder Berührung stärkste <strong>Schmerz</strong>en angibt<br />
und nicht lagerungsfähig ist. Eine aktuelle<br />
Kernspintomografie der Wirbelsäule (Abb. 1)<br />
zeigt sowohl osteoblastische als auch osteoklastische<br />
Metastasen.<br />
Im Vergleich zum ersten Fall wurde hier ein<br />
undifferenziertes, wenig am <strong>Schmerz</strong>mechanismus<br />
orientiertes <strong>Therapie</strong>konzept gewählt: Nicht<br />
jeder <strong>Schmerz</strong> ist vollständig opioidsensitiv, die<br />
<strong>Schmerz</strong>…<br />
Uwe Junker,<br />
Remscheid<br />
…„immer da“<br />
…„anders als vorher“<br />
…„überall, am ganzen Körper“<br />
…„macht mich verrückt“<br />
Abb. 2 Patientensicht.<br />
befallenen Wirbelkörper können nozizeptive und<br />
neuropathische <strong>Schmerz</strong>en verursachen. Metamizol<br />
wirkt bei Knochenschmerzen nicht so gut<br />
wie tNSAR oder Coxibe. Retrospektiv betrachtet<br />
wäre bei diesem Patienten sicher ein <strong>Therapie</strong>regime<br />
effektiver gewesen, welches ein Opioid<br />
sowohl mit einer antinozizeptiv als auch mit<br />
einer antineuropathisch wirksamen Substanz<br />
kombiniert hätte, z.B. Fentanyl in niedrigerer<br />
Dosierung mit Celecoxib und Pregabalin.<br />
Diskussion<br />
Mögen beide Kasuistiken auf den ersten Blick<br />
auch völlig unterschiedlich anmuten, so zeigen<br />
sie doch im Kontext „opioidinduzierte Hyperalgesie“<br />
wichtige Gemeinsamkeiten:<br />
■ Zunahme der <strong>Schmerz</strong>en ohne aktuellen<br />
Krankheitsprogress<br />
■ Wechsel von lokalisierbarem zu diffusem<br />
Ganzkörperschmerz<br />
■ <strong>Schmerz</strong>charakter weniger eindeutig<br />
■ Erhöhung der Opioiddosis ohne Effekt.<br />
Bei diesen Symptomen, die Patienten mit ihren<br />
eigenen Worten oft recht gut beschreiben (Abb.<br />
2), sollte die mögliche Diagnose Opioid-Hyperalgesie<br />
bedacht werden.<br />
26 SCHMERZTHERAPIE 2/<strong>2010</strong> (26. Jg.)<br />
© Ivan Isak/Fotolia.com
Pathophysiologie<br />
Pathophysiologisch spielen eine Aktivierung des<br />
NMDA-Rezeptors, eine Steigerung der spinalen<br />
Dynorphinkonzentration mit Freisetzung erregender<br />
Neurotransmitter, Einflüsse absteigender<br />
aktivierender Bahnen und eine jüngst nachgewiesene<br />
synaptische Langzeitpotenzierung in<br />
C-Fasern eine Rolle. Letztere wird durch einen<br />
Anstieg der Kalziumionenkonzentration in spinalen<br />
Nervenzellen verursacht und führt schließlich<br />
zum Phänomen der „Pronozizeption“ im<br />
Sinne eines <strong>Schmerz</strong>gedächtnisses. Differenzialdiagnostisch<br />
müssen eine Exazerbation vorbestehender<br />
<strong>Schmerz</strong>en, die Entwicklung einer<br />
Opioidtoleranz oder auch Einflüsse von Komorbiditäten<br />
wie Angst und/oder Depression bedacht<br />
werden. Einen Diagnosealgorithmus, der diese<br />
Aspekte berücksichtigt, zeigt Abbildung 3.<br />
Gezielt behandeln<br />
Das therapeutische Management des opioidinduzierten<br />
Hyperalgesiesyndroms kombiniert<br />
verschiedene Ansätze. Wichtig ist die rasche<br />
Dosisreduktion des verwendeten Opioids um<br />
ca. 25% und die am <strong>Schmerz</strong>mechanismus<br />
orientierte Kombination mit Nichtopioid- und/<br />
oder Koanalgetika. Bei Bedarf kann auf ein<br />
Opioid mit niedrigerem OIH-Potenzial gewechselt<br />
werden, z.B. Fentanyl > Morphin > Methadon<br />
> Buprenorphin. Unter Berücksichtigung<br />
der geschilderten pathophysiologischen Zusammenhänge<br />
und der Tatsache, dass OIH ein<br />
Phänomen darstellt, das sich nach heutigem<br />
Kenntnisstand ganz überwiegend am µ-Opioid-<br />
Rezeptor abspielt, spielen Methadon als<br />
NMDA-Antagonist und Buprenorphin als partieller<br />
µ-Rezeptor-Antagonist eine wichtige Rolle.<br />
Die vielfältigen Behandlungsmöglichkeiten<br />
fasst Abbildung 4 zusammen.<br />
Auch unsere beiden geschilderten Fälle behandelten<br />
wir gemäß diesem Algorithmus. Bei<br />
beiden Patienten reduzierten wir die Opioiddosis<br />
deutlich: Hydromorphon von 150 auf etwas<br />
mehr als 70 mg Tagesdosis in Fall 1, Fentanyl<br />
auf 100 µg pro 72 Stunden im Fall des Patienten<br />
mit Prostatakarzinom. Beide Patienten und ihre<br />
Angehörigen wünschten, eine Behandlung in<br />
der Klinik möglichst zu vermeiden bzw. so kurz<br />
und effektiv wie möglich zu gestalten.<br />
Differenzialtherapie<br />
Im Fall des 13-jährigen Jungen boten wir die<br />
Anlage eines Epiduralkatheters an, die dieser<br />
aber ablehnte, da er nicht „noch einen weiteren<br />
Schlauch in seinem Körper stecken“ haben<br />
wollte. Im Rahmen eines eintägigen Klinikaufenthaltes<br />
führten wir unter Analgosedierung<br />
einmalig eine Zöliakusneurolyse mit 90% Alkohol<br />
durch, wohl wissend, dass diese Maßnahme<br />
bei bereits stattgehabter abdomineller Me-<br />
SCHMERZTHERAPIE 2/<strong>2010</strong> (26. Jg.)<br />
Mod. nach Junker U et al. The Pain Clinic 2007;19(3):109–111<br />
Sachverhalt prüfen<br />
Hilft das?<br />
Ja<br />
Mod. nach Junker U, Wirz S, Pain Medicine <strong>2010</strong>, eingereicht Abb. 3: Diagnostisches Prozedere bei OIH<br />
tastasierung allein nicht ausreichen würde.<br />
Daher kombinierten wir intravenöses Hydromorphon<br />
mit dem NMDA-Antagonisten Ketamin<br />
in Form von S-Ketamin wegen seiner im<br />
Vergleich zum Racemat geringeren zentralnervösen<br />
Nebenwirkungen. Die Pumpe wurde so<br />
befüllt, dass der Junge durchschnittlich 3 mg<br />
Hydromorphon und 20 mg S-Ketamin stündlich<br />
erhielt. Auf Metamizol konnte bei diesem Kon-<br />
Abb. 4: Stufenplan der <strong>Therapie</strong> bei<br />
opioidinduzierter Hyperalgesie<br />
Opioide<br />
+<br />
S-Ketamin<br />
Regionale<br />
Verfahren<br />
Parecoxib<br />
Paracetamol i.v.<br />
Metamizol, NSARs<br />
Opioidrotation<br />
Ja<br />
Echte OIH wahrscheinlich<br />
Nein<br />
Ja<br />
Echte Opioidtoleranz<br />
wahrscheinlich<br />
Pharmakotherapie<br />
Keine adäquate Analgesie trotz Opioidgabe<br />
(scheinbare Opioidtoleranz)<br />
Fortschreiten des<br />
schmerzverursachenden Prozesses?<br />
Nein<br />
Psychische Faktoren relevant?<br />
Nein<br />
Echte Opioidtoleranz oder OIH?<br />
Klinische Symptome einer OIH?<br />
Nein<br />
Ja Weitere Opioidsteigerung hilft?<br />
Nein<br />
Ja<br />
zept verzichtet werden. Die von ihm gewünschte<br />
Reise nach Dänemark und den Besuch<br />
seiner Großeltern in Schleswig-Holstein konnte<br />
die Familie noch gemeinsam erleben. Das<br />
Kind blieb bis zu seinem Tod zu Hause im Kreis<br />
seiner Angehörigen gut schmerzgelindert.<br />
Der 62-jährige Patient mit Prostatakarzinom<br />
klarte nach der Reduktion der Fentanyldosis<br />
zunehmend auf und willigte in die Anlage eines<br />
untertunnelten Periduralkatheters ein, den wir<br />
kontinuierlich mit 0,2% Ropivacain beschickten.<br />
Er lebte mit diesem Konzept bei guter<br />
<strong>Schmerz</strong>kontrolle noch drei Wochen und starb<br />
ebenfalls friedlich im häuslichen Umfeld.<br />
Fazit<br />
Die opioidinduzierte Hyperalgesie ist Realität.<br />
Die erste und wohl wichtigste diagnostische<br />
Maßnahme besteht darin, an dieses Symptom<br />
zu denken. Immer noch werden durchschnittlich<br />
mindestens fünf Tage bis zur Diagnosestellung<br />
benötigt – für den betroffenen Patienten<br />
eine quälend lange Zeit. Die beste Prophylaxe<br />
ist eine individuelle, am <strong>Schmerz</strong>mechanismus<br />
orientierte analgetische Kombinationstherapie,<br />
bei der immer die niedrigstmögliche effektive<br />
Opioiddosis angestrebt werden sollte. ■<br />
Uwe Junker, Remscheid<br />
27
Integrierte Versorgung<br />
„IVZ“ mit dem Innovationspreis der<br />
Financial Times Deutschland ausgezeichnet<br />
Die Financial Times Deutschland zeichnete am 12. April <strong>2010</strong> in Berlin im<br />
Rahmen einer festlichen Abendveranstaltung das von der Integrative Managed<br />
Care GmbH (IMC) mit Mitgliedern der <strong>Deutsche</strong>n Gesellschaft für <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong><br />
(DGS) und der Techniker Krankenkasse (TK) entwickelte integrierte<br />
Versorgungsprojekt „IVZ“ mit dem „Innovationspreis des Ideenparks<br />
Gesundheitswirtschaft <strong>2010</strong>“ aus.<br />
B ereits<br />
zum fünften Mal waren Unternehmen,<br />
Institutionen und Einzelpersonen<br />
aufgerufen, ihre innovativen Ideen, Projekte<br />
und Geschäftsmodelle einzureichen. Eine<br />
hochkarätig besetzte Expertenrunde sichtete<br />
die über 50 eingereichten Vorschläge und prämierte<br />
anschließend die jeweils innovativsten<br />
Konzepte. Maßgeblich für<br />
die Preisverleihung waren<br />
dabei neben dem Innovationsgrad<br />
(gibt es vergleichbare<br />
Projekte im In- oder<br />
Ausland?) insbesondere die<br />
Versorgungsrelevanz (wie groß ist der Veränderungsbedarf?),<br />
die Projekteffizienz (lassen<br />
sich Versorgungsqualität und Versorgungskosten<br />
optimieren?), die Durchsetzbarkeit (lässt<br />
sich das Konzept finanziell und politisch umsetzen?)<br />
und die Reichweite (entfaltet das Projekt<br />
strukturelle Wirkung auf das Gesundheitssystem?).<br />
In Anwesenheit von Frau MdB Annette Wiedmann-Mauz,<br />
der parlamentarischen Staatssekretärin<br />
im Bundesministerium für Gesundheit,<br />
Berlin, nahmen Herr Dr. Michael A. Überall und<br />
Herr Harry Kletzko stellvertretend für die mit<br />
der Realisation dieses Konzeptes verantwortliche<br />
Integrative Managed Care (IMC) GmbH<br />
und Techniker Krankenkasse den Preis für das<br />
erste bundesweite Angebot zur „Einholung einer<br />
qualifizierten Zweitmeinung vor Durchführung<br />
operativer Eingriffe an der Wirbelsäule – IVZ“<br />
entgegen.<br />
Nach dem bereits 2008 von der Financial<br />
Times Deutschland ausgezeichneten „IVR-Konzept<br />
zur integrierten Versorgung von Patienten<br />
mit akuten und chronischen Rückenschmerzen“<br />
wurde damit bereits zum zweiten Mal ein bundesweit<br />
realisiertes Konzept zur Verbesserung<br />
der integrierten Versorgung chronisch schmerzkranker<br />
Menschen ausgezeichnet, welches von<br />
der IMC GmbH mit Mitgliedern der <strong>Deutsche</strong>n<br />
Gesellschaft für <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong> (DGS) auf<br />
„Patienten sollten die Chance<br />
erhalten, das Für und Wider eines<br />
Eingriffs sorgfältig abzuwägen.“<br />
der Grundlage langjähriger Erfahrungen in Klinik<br />
und Praxis entwickelt wurde und seit Januar<br />
<strong>2010</strong> zusammen mit der Techniker Krankenkasse<br />
(TK) realisiert wird.<br />
Zunehmend häufiger werden in Deutschland<br />
Patienten wegen schmerzhafter Rückenbeschwerden<br />
einer Operation unterzogen, aktuell<br />
rund 230 000 – das<br />
entspricht der Einwohnerzahl<br />
einer Stadt wie<br />
Braunschweig –, und die<br />
Anzahl operativer Interventionen<br />
stieg im Laufe<br />
der vergangenen Jahre kontinuierlich an. Doch<br />
bei vielen Betroffenen bleibt der erhoffte Erfolg<br />
nach der Operation aus, nicht selten entwickelten<br />
sich im Anschluss sogar deutlich stärkere<br />
<strong>Schmerz</strong>en.<br />
Viele Patienten werden operiert, weil sie<br />
radiologisch bestimmte strukturelle bzw. morphologische<br />
Auffälligkeiten aufweisen – z.B.<br />
Michael Überall,<br />
Nürnberg<br />
Harry Kletzko,<br />
Oberursel<br />
eine Einengung des Wirbelkanals oder eine<br />
Bandscheibendegeneration –, die fälschlicherweise<br />
als Ursache der gleichzeitig bestehenden<br />
schmerzhaften Beschwerden identifiziert<br />
wird, obwohl mittlerweile zahlreiche Querschnittsuntersuchungen<br />
zeigen konnten, dass<br />
derartige Befunde auch bei vielen klinisch<br />
völlig beschwerdefreien Menschen nachgewiesen<br />
werden können. Gleichzeitig weisen<br />
zahlreiche Patienten mit klinisch absolut identisch<br />
erscheinenden Rückenschmerzen genau<br />
diese Strukturanomalien nicht auf, sodass<br />
unterstellt werden muss, dass die Koinzidenz<br />
(d.h. das zufällige Zusammentreffen von Erscheinungen)<br />
hier nicht selten zur Kausalität<br />
erklärt und zum Anlass genommen wird, den<br />
Einsatz hochpreisiger operativer Verfahren zu<br />
rechtfertigen.<br />
Aktuelle Analysen der Vertragspartner belegen<br />
bei der operativen Behandlung von Patienten<br />
mit Rückenschmerzen „ein komplexes<br />
Muster von Über-, Unter- und Fehlversorgung“.<br />
Aus diesem Grund bietet die Techniker Krankenkasse<br />
(TK) erstmalig seit dem 1. Januar<br />
<strong>2010</strong> ihren Versicherten das von der Managementgesellschaft<br />
Integrative Managed<br />
Care GmbH (IMC) und der <strong>Deutsche</strong>n Gesellschaft<br />
für <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong> (DGS) entwickelte<br />
Zweitmeinungsangebot bundesweit an. Wer<br />
unsicher ist, ob eine geplante Rückenoperation<br />
im persönlichen Fall sinnvoll ist, kann sich<br />
bei einem Expertenteam eine qualifizierte<br />
zweite Meinung einholen. Vorfeldanalysen<br />
haben ergeben, dass sich – bei zumindest<br />
gleichem Erfolg, jedoch deutlich geringerem<br />
Risiko – in vier von fünf Fällen eine Operation<br />
durch konservative Methoden wie eine an den<br />
individuellen Bedürfnissen Betroffener ausgerichtete<br />
multimodale und interdisziplinäre<br />
<strong>Therapie</strong> (z.B. entsprechend dem integrierten<br />
Versorgungsprojekt Rückenschmerz – IVR)<br />
28 SCHMERZTHERAPIE 2/<strong>2010</strong> (26. Jg.)
© Bildarchiv Überall/Kletzko<br />
Dr. Michael Überall und Harry Kletzko nahmen den Innovationspreis stellvertretend<br />
entgegen.<br />
vermeiden lässt. Erste Ergebnisse des IVZ-<br />
Projekts bestätigen diese Daten. So wurde bei<br />
den 54 Patienten, die sich in den ersten beiden<br />
Monaten dieses Jahres vor einer bereits fest<br />
terminierten „Rückenoperation“ in den IMC-<br />
Vertragszentren nach den Kriterien des IVZ<br />
untersuchen ließen, nur in neun Fällen die<br />
Operationsindikation bestätigt! In den übrigen<br />
45 Fällen wurden seitens des Kompetenzteams<br />
multimodale <strong>Therapie</strong>alternativen als sinnvoller<br />
und im Interesse des Patienten zielführender<br />
angesehen und die Betroffenen entsprechend<br />
versorgt.<br />
„Innovationen – wie die von uns entwickelten<br />
integrierten Angebote IVR und IVZ – sind der<br />
Motor für den medizinischen Fortschritt. Getreu<br />
dieser Devise haben es sich die <strong>Deutsche</strong><br />
Gesellschaft für <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong> (DGS) und<br />
die Integrative Managed Care (IMC) GmbH zur<br />
Aufgabe gemacht, zusammen mit kreativen<br />
Partnern – wie z.B. der Techniker Krankenkasse<br />
– innovative Versorgungskonzepte für schmerzkranke<br />
Menschen zu entwickeln, die nicht nur<br />
den aktuellen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse<br />
widerspiegeln, sondern sich auch<br />
an den individuellen Bedürfnissen Betroffener<br />
orientieren, um eine wirklich nachhaltige Verbesserung<br />
zu erzielen“, erklärt Privatdozent<br />
Dr. med. Michael A. Überall, Vizepräsident der<br />
<strong>Deutsche</strong>n Gesellschaft für <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong>.<br />
„Mit unseren Konzepten verabschieden wir<br />
uns von den klassischen „Pay for procedure“-<br />
SCHMERZTHERAPIE 2/<strong>2010</strong> (26. Jg.)<br />
Standards der aktuellen Versorgungsrealität,<br />
bei der erbrachte Leistungen unabhängig von<br />
deren Erfolg vergütet werden, und setzen auf<br />
das „Pay for performance“-Modell, bei dem<br />
sich die Leistungsvergütung am messbaren<br />
Behandlungserfolg für den Patienten orientiert“,<br />
so Überall weiter.<br />
„Wir verstehen uns dabei als aktive Gestalter<br />
und Impulsgeber, wenn es darum geht, neuartige<br />
schmerztherapeutische Versorgungskonzepte<br />
ins Leben zu rufen und zu realisieren.<br />
Mit dem „Ideenpark Gesundheitswirtschaft“<br />
bietet die Financial Times Deutschland einen<br />
wertvollen Gradmesser, welche Versorgungskonzepte<br />
unser Gesundheitssystem in den<br />
kommenden Jahren tatsächlich voranbringen<br />
und Perspektiven für eine innovative Gestaltung<br />
der kommenden Jahre und Jahrzehnte geben<br />
können. Dass bereits zwei unserer Projekte mit<br />
einem Innovationspreis ausgezeichnet wurden,<br />
zeigt, dass wir uns auf dem richtigen Weg befinden“,<br />
ergänzt Harry Kletzko, Geschäftsführer<br />
der Integrative Managed Care (IMC) GmbH. ■<br />
Michael Überall, Nürnberg<br />
Harry Kletzko, Oberursel<br />
Integrierte Versorgung/Impressum<br />
Impressum<br />
Organ der <strong>Deutsche</strong>n Gesellschaft für<br />
<strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong><br />
Herausgeber<br />
Gerhard H. H. MüllerSchwefe,<br />
Schillerplatz 8/1, D-73033<br />
Göppingen; Tel. 07161/976476, Fax 07161/976477<br />
E-Mail: gp@dgschmerztherapie.de<br />
Schriftleitung<br />
Thomas Cegla, Wuppertal; Oliver Emrich, Ludwigshafen;<br />
Klaus Johannes Horlemann, Kevelaer; Uwe Junker, Remscheid;<br />
Stephanie Kraus (verantw.), Stephanskirchen,<br />
Tel.: 08036/1031; Michael Überall, Nürnberg<br />
Beirat<br />
Christoph Baerwald, Leipzig; Wolfgang Bartel, Halberstadt;<br />
HeinzDieter Basler, Marburg; Günter Baust, Halle/<br />
Saale; Klaus Borchert, Greifswald; Burkhard Bromm,<br />
Hamburg; Ingunde Fischer, Halle; Gideon Franck,<br />
Fulda; Gerd Geisslinger, Frankfurt; Hartmut Göbel, Kiel;<br />
Olaf Günther, Magdeburg; Winfried Hoerster, Gießen;<br />
Stein Husebø, Bergen; Uwe Kern, Wiesbaden; Edwin<br />
Klaus, Würzburg; Eberhard Klaschik, Bonn; Lothar<br />
Klimpel, Speyer; Bruno Kniesel, Hamburg; Marianne<br />
Koch, Tutzing; Bernd Koßmann, Wangen; Michael Küster,<br />
Bad GodesbergBonn; Klaus Längler, Erkelenz; Peter Lotz,<br />
Bad Lippspringe; Eberhard A. Lux, Lünen; Christoph MüllerBusch,<br />
Berlin; Joachim Nadstawek, Bonn; Thomas<br />
Nolte, Wiesbaden; Robert Reining, Passau; Robert F.<br />
Schmidt, Würzburg; Günter Schütze, Iserlohn; Harald<br />
Schweim, Bonn; Hanne Seemann, Heidelberg; Ralph<br />
Spintge, Lüdenscheid; Birgit Steinhauer, Limburg;<br />
Roland Wörz, Bad Schönborn; Walter Zieglgänsberger,<br />
München; Manfred Zimmermann, Heidelberg<br />
In Zusammenarbeit mit: <strong>Deutsche</strong> Gesellschaft für<br />
Algesiologie – <strong>Deutsche</strong> Gesellschaft für <strong>Schmerz</strong>forschung<br />
und <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong>; <strong>Deutsche</strong> Akademie<br />
für Algesiologie – Institut für schmerztherapeutische<br />
Fort und Weiterbildung; <strong>Deutsche</strong> Gesellschaft für<br />
interdisziplinäre Palliativversorgung e. V.; <strong>Deutsche</strong><br />
<strong>Schmerz</strong>liga e.V. (DSL); Gesellschaft für algesiologische<br />
Fortbildung mbH (gaf mbH); Gesamtdeutsche Gesellschaft<br />
für Manuelle Medizin e.V. (GGMM); Institut für<br />
Qualitätssicherung in <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong> und Palliativmedizin<br />
(IQUISP); Berufsverband der <strong>Schmerz</strong>therapeuten<br />
in Deutschland e.V. (BVSD).<br />
Mit der Annahme eines Beitrags zur Veröffentlichung<br />
erwirbt der Verlag vom Autor alle Rechte, insbesondere<br />
das Recht der weiteren Vervielfältigung zu gewerblichen<br />
Zwecken mithilfe fotomechanischer oder anderer<br />
Verfahren. Die Zeitschrift sowie alle in ihr enthaltenen<br />
einzelnen Beiträge und Abbildungen sind urheberrechtlich<br />
geschützt.<br />
Hinweis: Die in dieser Zeitschrift angegebenen Dosierungen<br />
– vor allem von Neuzulassungen – sollten<br />
in jedem Fall mit dem Beipackzettel der verwendeten<br />
Medikamente verglichen werden.<br />
Bezugspreis: Einzelheft 12,– Euro; Abonnement für<br />
4 Ausgaben pro Jahr 40,– Euro (zzgl. Versand, inkl.<br />
MwSt.). Der Mitgliedsbeitrag der DGS schließt den Bezugspreis<br />
der Zeitschrift mit ein. Die Zeitschrift<br />
erscheint im 26. Jahrgang.<br />
Verlag: Springer Medizin © Urban & Vogel GmbH,<br />
München, Juni <strong>2010</strong><br />
Leitung Corporate Publishing München:<br />
Dr. Ulrike Fortmüller (verantw.)<br />
Redaktion: Dr. Elke Thomazo<br />
Herstellung/Layout: Maren Krapp<br />
Druck: Stürtz GmbH, Würzburg<br />
Titelbild: © Darren Baker – Fotolia.com<br />
29
Medizin und Recht<br />
Fragen aus der schmerztherapeutischen<br />
Vertragsarztpraxis<br />
Auch diesmal nutzten zahlreiche Mitglieder der DGS die Möglichkeit einer juristischen<br />
Beratung auf dem <strong>Deutsche</strong>n <strong>Schmerz</strong>- und Palliativtag <strong>2010</strong>. Was tun bei Regressen?<br />
Welche Möglichkeiten bleiben mir, wenn ich einen Angestelltensitz nicht nachbesetzen<br />
kann? Was bringt die Honorarreform <strong>2010</strong>? Antworten auf diese sich im Praxisalltag<br />
stellenden rechtlichen Probleme, die viele <strong>Schmerz</strong>therapeuten beschäftigen, gibt<br />
Dr. Ralf Clement, Rechtsanwälte Ratajczak & Partner, Sindelfingen.<br />
Richtgrößenprüfungen<br />
Ende 2009 wurden seitens der Prüfstellen wieder<br />
die Richtgrößenprüfbescheide – diesmal<br />
für das Jahr 2007 – verschickt. Und wie in den<br />
Jahren zuvor sahen sich insbesondere ausschließlich<br />
bzw. weit überwiegend schmerztherapeutisch<br />
tätige Vertragsärzte mit erheblichen<br />
Regressforderungen konfrontiert. Während die<br />
Richtgrößenprüfbescheide der vergangenen<br />
Jahre oft bereits wegen formeller Fehler, z.B.<br />
wegen einer verspäteten Vereinbarung und<br />
Veröffentlichung der Richtgrößen, anfechtbar<br />
waren, haben die Vertragspartner nach § 84<br />
Abs. 1 SGB V und Prüfungsstellen mittlerweile<br />
dazugelernt. Trotzdem sind die Regressforderungen<br />
in vielen Fällen nicht gerechtfertigt und<br />
sollten keinesfalls widerspruchslos hingenommen<br />
werden; allzu oft leiden die Bescheide<br />
bereits an einer fehlerhaften Datengrundlage<br />
und berücksichtigen die schmerztherapeutische<br />
Tätigkeit wenn überhaupt nur unzureichend.<br />
Widerspruch lohnt sich<br />
Bei der Überprüfung der Richtgrößenprüfbescheide<br />
empfiehlt es sich daher zunächst, die<br />
der Prüfung zugrunde liegenden Verordnungskosten<br />
auf ihre Plausibilität und gegebenenfalls<br />
Richtigkeit hin zu überprüfen. In der Praxis<br />
zeigt sich immer wieder, dass hier mit erheblichen<br />
Fehlerquoten – nicht selten im Bereich<br />
von zehn und mehr Prozent – gerechnet<br />
werden muss. Die Prüfungsstellen dürfen zulasten<br />
des verordnenden Arztes nur solche<br />
Verordnungskosten berücksichtigen, die dem<br />
Arzt und dem behandelten Patienten eindeutig<br />
zugeordnet werden können. Verordnungskosten,<br />
bei denen bereits an der Versichertennummer<br />
erkennbar ist, dass dies nicht der<br />
Fall ist – etwa weil es sich um eine Pseudo-<br />
oder Sammelnummer handelt –, müssen von<br />
vornherein von den Verordnungskosten abgezogen<br />
werden.<br />
Fehler über 5%?<br />
Zwar kommt den, den Prüfungsstellen von den<br />
Krankenkassen übermittelten Verordnungsdaten<br />
nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts<br />
im Sinne eines Anscheinsbeweises<br />
die Vermutung der Richtigkeit zu. Dieser<br />
wird jedoch erschüttert, wenn der Arzt substanziiert<br />
darlegen kann, dass die der Prüfung<br />
zugrunde liegenden Daten in nicht unerheblichem<br />
Umfang fehlerhaft sind. Dafür reicht es<br />
in der Regel aus, dass die Fehler mehr als 5%<br />
der elektronisch erfassten Verordnungskosten<br />
ausmachen (vgl. BSG, Urteil vom 02.11.2005<br />
– B 6 KA 63/04 R –). Ist dies der Fall, bedarf es<br />
einer individuellen („manuellen“) Auswertung<br />
sämtlicher Verordnungsblätter bzw. Print-<br />
Images, die spätestens jetzt von den Prüfgremien<br />
beigezogen werden müssen. Noch weigern<br />
sich einige Prüfgremien unrechtmäßigerweise,<br />
die Prüfdaten in maschinenlesbarer<br />
Form herauszugeben. Dem Arzt wird hierdurch<br />
Ralf Clement,<br />
Sindelfingen<br />
die Überprüfung und insbesondere ein Abgleich<br />
mit der Praxis-EDV erschwert.<br />
Praxisbesonderheiten berücksichtigt?<br />
<strong>Schmerz</strong>therapeuten sehen sich zumeist vor<br />
dem Problem, dass sie unmittelbar mit der Verordnungsweise<br />
aller anderen Kollegen ihrer<br />
Fachgruppe verglichen werden, ohne dass den<br />
sich aus der schmerztherapeutischen Behandlung<br />
ergebenden Praxisbesonderheiten<br />
ausreichend Rechnung getragen wird. Die<br />
durchschnittlichen Verordnungskosten eines<br />
<strong>Schmerz</strong>patienten sind in der Regel um ein<br />
Vielfaches höher als die durchschnittlichen<br />
Verordnungskosten der Fachgruppe. Leider<br />
kommen die Prüfungsstellen ihrer insoweit bestehenden<br />
Pflicht zur Amtsermittlung nicht<br />
ausreichend nach; in vielen Fällen werden aufgrund<br />
der verspätet eingeleiteten Prüfverfahren<br />
und der zum Ende des Jahres jeweils drohenden<br />
Verjährung im Rahmen der Regress-<br />
30 SCHMERZTHERAPIE 2/<strong>2010</strong> (26. Jg.)<br />
© Jörg Röse-Öberreich/shutterstock.com
escheide nicht einmal die von den geprüften<br />
Ärzten im Vorfeld geltend gemachten Praxisbesonderheiten<br />
berücksichtigt. Die Prüfung erfolgt<br />
zunächst in der Regel rein schematisch.<br />
Es ist daher zumeist erforderlich, dass der Arzt<br />
im Widerspruchsverfahren die aufgrund der<br />
speziellen <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong> entstehenden Verordnungskosten<br />
und gegebenenfalls weitere<br />
Praxisbesonderheiten substanziiert darlegt<br />
und soweit dies möglich ist, den darauf entfallenden<br />
Mehrbedarf beziffert.<br />
Es empfiehlt sich, z.B. die durchschnittlichen<br />
Verordnungskosten aller <strong>Schmerz</strong>patienten<br />
der Praxis zu ermitteln und den durchschnittlichen<br />
Verordnungskosten der Fachgruppe gegenüberzustellen.<br />
Dies sollte mit einem vertretbaren<br />
Aufwand möglich sein, da die Patienten<br />
anhand der Ziff. 30700 ff. EBM leicht zu identifizieren<br />
sind.<br />
Verordnungskosten von 300 w pro<br />
<strong>Schmerz</strong>patient<br />
Unsere Erfahrungen zeigen, dass durchschnittliche<br />
Verordnungskosten in Höhe von 300 F<br />
pro <strong>Schmerz</strong>patient durchaus im Rahmen liegen.<br />
Die Prüfgremien sind oft bereit, Kosten in<br />
entsprechender Höhe als Mehrbedarf zu akzeptieren.<br />
Erst in einem zweiten Schritt sollte<br />
– soweit dies im Einzelfall erforderlich ist – zum<br />
Einsatz einzelner Medikamente insbesondere<br />
zu deren Wirtschaftlichkeit und medizinischer<br />
Notwendigkeit vorgetragen werden, da diese<br />
Fragen in der Regel von Sachverständigen entschieden<br />
werden müssen.<br />
Wichtig sowohl für den Einwand fehlerhafter<br />
Verordnungsdaten als auch für die Darlegung<br />
von Praxisbesonderheiten ist es, diese bereits<br />
im Rahmen des Widerspruchsverfahrens<br />
substanziiert und nachvollziehbar darzulegen.<br />
Im sozialgerichtlichen Verfahren kann ein entsprechender<br />
Sachvortrag nicht mehr nachgeholt<br />
werden.<br />
Nachbesetzung von angestellten<br />
Vertragsarztsitzen<br />
Angesichts des zunehmenden Ärztemangels<br />
sehen sich immer mehr Vertragsärzte und Betreiber<br />
von Medizinischen Versorgungszentren<br />
(MVZ) mit dem Problem konfrontiert, dass sie<br />
Vertragsarztsitze, die mit angestellten Ärzten<br />
besetzt sind, nicht nachbesetzen können. In<br />
gesperrten Planungsbereichen droht in diesen<br />
Fällen nach spätestens sechsmonatiger Vakanz<br />
der Verlust des Vertragsarztsitzes. Mangels<br />
einer entsprechenden gesetzlichen Regelung<br />
weigern sich die Zulassungsausschüsse<br />
derzeit noch, diese Sitze zu reaktivieren,<br />
d.h. als selbstständigen Vertragsarztsitz im<br />
Wege der Nachbesetzung auf einen anderen<br />
Vertragsarzt bzw. ein MVZ zu übertragen. Für<br />
SCHMERZTHERAPIE 2/<strong>2010</strong> (26. Jg.)<br />
© Erik Liebermann<br />
MVZ verschärft sich die Situation, wenn der<br />
wegzufallen drohende Vertragsarztsitz für den<br />
Fachübergriff des MVZ zwingend erforderlich<br />
ist.<br />
Ausschreibungspflicht?<br />
Das Hessische Landessozialgericht hat nun in<br />
seiner Entscheidung vom 10.02.<strong>2010</strong> (L 4 KA<br />
33/09) die Auffassung vertreten, dass die allgemeine<br />
Nachbesetzungsvorschrift des § 103<br />
Abs. 4 SGB V aufgrund des eigentumsrechtlich<br />
geschützten Verwertungsinteresses auf diejenigen<br />
Fälle entsprechend anzuwenden sei, in<br />
denen ein MVZ auf seine Zulassung im ganzen<br />
verzichtet und aufgelöst werden soll. Man darf<br />
dies als ersten Lichtblick am Ende des Tunnels<br />
werten.<br />
Die Frage, ob und inwieweit eine entsprechende<br />
Anwendung von § 103 Abs. 4 SGB V<br />
bei Verzicht auf nur eine Arztstelle in Betracht<br />
kommt, hat das LSG aber ausdrücklich offen<br />
gelassen. Man wird § 103 Abs. 4 SGB V auch<br />
auf diese Fälle anwenden können. Erforderlich<br />
ist allerdings, dass eigentumsrechtlich geschützte<br />
Werte im Sinne einer „fortführungsfähigen“<br />
Praxis übertragen werden sollen. Die<br />
Zulassung allein ist nicht übertragbar und weder<br />
vom Schutzzweck des § 103 Abs. 4 Satz<br />
1 SGB V noch vom Schutzbereich der Eigentumsgarantie<br />
des Art. 14 GG umfasst, da es<br />
sich nicht um eine öffentlich-rechtliche Rechtsposition<br />
handelt, die auf Eigenleistungen des<br />
Berechtigten beruht. Eine Übertragung nach<br />
§ 103 Abs. 4a bzw. Abs. 4b SGB V unter Umgehung<br />
des Nachbesetzungsverfahrens wurde<br />
vom LSG Hessen ausdrücklich abgelehnt. Die<br />
Vertragsarztsitze sind daher in jedem Fall zur<br />
Nachbesetzung gemäß § 103 Abs. 4 SGB V<br />
auszuschreiben. Soweit sich die Zulassungsausschüsse<br />
dem künftig verweigern, kommt<br />
gegebenenfalls ein einstweiliges Rechtsschutzverfahren<br />
in Betracht. Die Entscheidung<br />
des LSG Hessen ist freilich noch nicht rechts-<br />
Medizin und Recht<br />
kräftig; die Revision ist unter dem Aktenzeichen<br />
B 6 KA 8/10 R beim Bundessozialgericht<br />
anhängig.<br />
Honorarreform: Das ändert sich zum<br />
01.07.<strong>2010</strong><br />
Zahlreiche Fragen beschäftigten sich mit der<br />
jüngsten Honorarreform, insbesondere den<br />
Regelleistungsvolumina. Die Kassenärztliche<br />
Bundesvereinigung und der GKV-Spitzenverband<br />
haben sich am 26.03.<strong>2010</strong> im Bewertungsausschuss<br />
nun erneut auf Änderungen<br />
der Honorarverteilung zum 01.07.<strong>2010</strong> geeinigt,<br />
die in erster Linie dazu beitragen sollen,<br />
die Regelleistungsvolumina (RLV) zu stabilisieren.<br />
Zur Mengensteuerung der bislang unbudgetierten<br />
„freien Leistungen“ werden zum<br />
01.07.<strong>2010</strong> arztgruppenspezifische qualifikationsgebundene<br />
Zusatzvolumen eingeführt,<br />
kurz QZV genannt. Jeder Arzt erhält künftig<br />
neben seinem RLV bei Vorliegen der entsprechenden<br />
Voraussetzungen ein QZV.<br />
QZV: unter 75% <strong>Schmerz</strong>patienten<br />
In erster Linie betrifft das die nicht ausschließlich<br />
bzw. weit überwiegend schmerztherapeutisch<br />
tätigen Kollegen, deren Anteil an<br />
<strong>Schmerz</strong>patienten unter 75% liegt. Diese erhalten<br />
künftig ein QZV für die schmerztherapeutische<br />
spezielle Versorgung, das die Ziff.<br />
30700, 30702, 30704, 30706 und 30708 umfasst,<br />
sowie ein QZV für die spezielle schmerztherapeutische<br />
Behandlung mit den Ziffern<br />
30710, 30712, 30720 bis 30724, 30730, 30731,<br />
30740, 30750, 30751 und 30760. Ein weiteres<br />
QZV wird für die Akupunktur Ziff. 30790 und<br />
30791 gebildet. Für ausschließlich bzw. überwiegend<br />
schmerztherapeutisch tätige Ärzte<br />
sind keine QZV vorgesehen; d.h. im Umkehrschluss,<br />
dass künftig alle der morbiditätsbedingten<br />
Gesamtvergütung unterfallenden Leistungen<br />
innerhalb der RLV berücksichtigt werden<br />
müssen. Insbesondere Ärzte, die seit der<br />
Einführung der RLV zum 1. Quartal 2009 ihre<br />
Umsätze auf der Basis „freier Leistungen“ steigern<br />
konnten, müssen aufgrund der Neuregelung<br />
mit Honorarverlusten rechnen. Einzelheiten<br />
und weiterführende Hinweise finden Sie<br />
auf der Homepage der KBV unter dem Link<br />
http://www.kbv.de/26245.html. ■<br />
Dr. Ralf Clement, Sindelfingen<br />
31
Internationale Presse<br />
INFO-Telegramm<br />
Mit Radikalfängern gegen<br />
chemotherapieinduzierte Neuropathie?<br />
Die Gabe eines freien Radikalfängers wie Phenyl-N-tert-Butylnitron<br />
als Einzeldosis oder mehrfach<br />
intraperitoneal appliziert vermochte im<br />
Tierexperiment eine durch intraperitoneal appliziertes<br />
Paclitaxel ausgelöste, mechanische Allodynie<br />
signifikant zu reduzieren und die durch<br />
diese Chemotherapie induzierten Neuropathieschmerzen<br />
zu verhüten. Aufgrund dieser ermutigenden<br />
tierexperimentellen Befunde sollte der<br />
Einsatz von freien Radikalenfängern laut H. K.<br />
Kim et al. nun klinisch erprobt werden (Anesthesiology<br />
<strong>2010</strong>;112(2):432–9).<br />
Akupunkturnebenwirkungen unbekannt?<br />
Obwohl die Akupunktur sehr häufig zur <strong>Schmerz</strong>reduktion<br />
eingesetzt wird, werden die Risiken<br />
und Nebenwirkungen dieser Methode in den<br />
Studien kaum erfasst. Aufgrund dieses Mankos<br />
werden möglicherweise die Risiken unterschätzt.<br />
Bei künftigen Studien ist daher eine Beurteilung<br />
nach den Richtlinien der CONSORT (Consolidated<br />
Standards of Reporting Trials) sinnvoll, fordern<br />
Capili B., Anastasi JK und Geiger JN (Clin J Pain.<br />
<strong>2010</strong>;26(1):43–8).<br />
Paracetamol verbessert intravenöse<br />
Regionalanästhesie mit Lidocain<br />
Die zusätzliche Gabe von 300 mg Paracetamol<br />
verbessert bei handchirurgischen Regionalanästhesien<br />
mit Lidocain die Anästhesiequalität<br />
und reduziert den postoperativen <strong>Schmerz</strong>mittelbedarf.<br />
Dies ergab eine randomisierte Studie mit<br />
60 Patienten von H. Sen et al. (Anesth. Analg.<br />
2009;109:1327–1330).<br />
Mit Oxycodon gegen viszeralen <strong>Schmerz</strong><br />
<strong>Schmerz</strong>en nach einer laparoskopischen Hysterektomie<br />
lassen sich postoperativ besser mit Oxycodon<br />
als mit Morphin lindern. Dies ergab eine<br />
Studie mit 91 Frauen von H. Lenz et al., die postoperativ<br />
mittels PCA entweder Morphin oder<br />
Oxycodon für 24 Stunden bekamen. Unter Oxycodon<br />
waren die erforderlichen Dosen mit 13,3<br />
mg versus 22 mg geringer, die VAS-Werte niedriger<br />
und die postoperative Sedierung geringer<br />
ausgeprägt, sodass Oxycodon bei viszeralem<br />
<strong>Schmerz</strong> potenter scheint als Morphin (Anesth.<br />
Analg 2009;109:1279–1283).<br />
SCS nutzlos?<br />
Beim Failed-Back-Surgery-Syndrom ist der Einsatz<br />
einer spinalen Cord-Stimulation wenig hilfreich;<br />
eine mutimodale <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong> ist<br />
mindestens gleichwertig. Dies ergab eine prospektive<br />
Studie, in der 51 Patienten mit SCS, 39<br />
Patienten stationär multidisziplinär an einer<br />
<strong>Schmerz</strong>klinik und weitere 68 ohne diese aufwendigen<br />
<strong>Therapie</strong>n versorgt wurden (Pain<br />
<strong>2010</strong>;148:14–25).<br />
Mit Akupunktur gegen das Karpaltunnelsyndrom<br />
Eine kurzfristige Akupunkturtherapie<br />
ist bei mildem bis<br />
mäßigem Karpaltunnelsyndrom<br />
ebenso effektiv wie<br />
eine kurzzeitige Kortisonbehandlung.<br />
Beides stellt bei<br />
Patienten, die eine Kontraindikation<br />
für den operativen<br />
Eingriff haben, eine vergleichbare<br />
Alternative dar.<br />
Dies ergab eine Studie, in<br />
der 77 konsekutive Patienten<br />
prospektiv randomisiert<br />
den verschiedenen <strong>Therapie</strong>n unterzogen<br />
wurden. Das Karpaltunnelsyndrom wurde mit der<br />
Veränderung der Nervenleitgeschwindigkeit und<br />
den subjektiven Beschwerden diagnostiziert. Die<br />
Kortisongruppe mit 39 Patienten wurde zwei Wochen<br />
mit 20 mg Prednisolon täglich und danach<br />
zwei Wochen mit 10 mg Prednisolon täglich be-<br />
Können Nortriptylin oder TENS die sensorischen<br />
<strong>Schmerz</strong>en an der oberen Extremität bei multipler<br />
Sklerose lindern? Diese Frage versuchten A. Chitsaz<br />
et al. mit einer randomisierten klinischen Studie an 59<br />
Patienten im Alter zwischen 15 und 50 Jahren zu<br />
klären. Für acht Wochen erhielten 30 Patienten Nortriptylin<br />
(angefangen mit 10 mg täglich bis zu 50 mg<br />
nach einer Woche), die Vergleichsgruppe mit 29 Patienten<br />
führte selbstständig TENS-Behandlungen<br />
durch. Unter der Medikation nahmen die VAS-Werte<br />
der sensorischen Beschwerden von 4,9 auf 3,3 ab.<br />
Vergleichbar verbesserten sich auch die TENS-Pati-<br />
Was löst ein chirurgischer Hautschnitt bei Gesunden<br />
aus? Dies untersuchte die Münsteraner Arbeitsgruppe<br />
von Prof. Esther Pogatzki-Zahn mithilfe der funktionalen<br />
Magnetresoanztomografie an 30 Probanden<br />
mit einem Hautschnitt im Vergleich zu 14 Freiwilligen<br />
mit einer Scheinbehandlung (Sham). Bei dieser aufwendigen<br />
Studie wurden Magnetresonanzbilder vor,<br />
während und 2–4,5, 4,5–10, 24–29 und 44–49<br />
Minuten nach dem Eingriff aufgenommen. Die Haut<br />
wurde am rechten Unterarm für 4 mm eingeschnitten.<br />
Parallel dazu wurden die Probanden nach ihren<br />
<strong>Schmerz</strong>en mithilfe der NRS-Skala befragt. Die funktionalen<br />
Magnetresonanzbilder zeigten ein temporales<br />
Aktivitätsprofil in spezifischen Hirnregionen während<br />
und nach der Verletzung. Eine Lateralisation<br />
fand sich kontralateral zum Einschnitt mit einer er-<br />
handelt. Die Akupunkturgruppe<br />
mit 38 Patienten erhielt über vier<br />
Wochen insgesamt acht Sitzungen.<br />
Der <strong>Therapie</strong>erfolg wurde<br />
mit dem Rückgang der Beschwerden<br />
(<strong>Schmerz</strong>, Taubheit,<br />
Parästhesien, Schwäche, nächtliches<br />
Aufwachen) evaluiert. In<br />
beiden Gruppen kam es zum<br />
signifikanten Rückgang der Beschwerden,<br />
der in allen Parametern<br />
statistisch vergleichbar war.<br />
Nur beim nächtlichen Erwachen<br />
war die Akupunktur signifikant überlegen. Da die<br />
Akupunktur kaum Nebenwirkungen besitzt, sollte<br />
sie, so das Fazit der Autoren, bei inoperablen Patienten<br />
als Alternative zum Einsatz kommen. StK<br />
CP Yang et al.: Acupuncture in patients with<br />
carpal tunnel syndrome: A randomized controlled<br />
trial. Clin. J Pain 2009;25:327–333.<br />
Was lindert <strong>Schmerz</strong>en bei multipler Sklerose?<br />
Inzisionsschmerzen im Magnetresonanzbild<br />
enten von 5,3 auf 2,8. Die beiden Gruppen unterschieden<br />
sich nach acht Wochen nicht signifikant. In<br />
Anbetracht des ungünstigeren Nebenwirkungsprofils<br />
von Nortriptylin könnte TENS allerdings überlegen<br />
sein. Insgesamt ist jedoch mit beiden <strong>Therapie</strong>verfahren<br />
nach Ansicht der Autoren bei der multiplen Sklerose<br />
Zurückhaltung geboten, da die VAS-Reduktion<br />
bei beiden Maßnahmen begrenzt war. StK<br />
A. Chitsaz et al.: Sensory complaints of the upper<br />
extremities in multiple sclerosis: relative efficacy<br />
of nortriptyline and transcutaneous electrical nerve<br />
stimulation. Clin J Pain 2009;25:281–285.<br />
höhten Hirnaktivität des somatosensorischen Cortex,<br />
des frontalen Cortex und im limbischen System. Die<br />
Spitze der Hirnaktivität trat bereits nach zwei Minuten<br />
ein und nahm dann allmählich ab. Die <strong>Schmerz</strong>einstufung<br />
korrelierte vor allem mit der Hirnaktivität im<br />
anterioren cingulären Cortex, im Insularcortex, Thalamus,<br />
frontalen Cortex und somatosensorischen<br />
Cortex. Die <strong>Schmerz</strong>sensitivität beeinflusst nach diesen<br />
Befunden auch das Aktivitätsprofil im ZNS und<br />
dies könnte auch bei der <strong>Therapie</strong> von Ruheschmerzen<br />
bei postoperativen Patienten eine klinisch<br />
relevante Rolle spielen. StK<br />
Pogatzki-Zahn, EM: Coding of Incisional Pain in<br />
the Brain: A Functional Magnetic Resonance Imaging<br />
Study in Human Volunteers. Anesthesiology<br />
<strong>2010</strong>;112(2):406–17.<br />
32 SCHMERZTHERAPIE 2/<strong>2010</strong> (26. Jg.)<br />
© Bildarchiv Urban & Vogel
DGS-Veranstaltungen<br />
Weitere Informationen zu den Seminaren erhalten Sie über die<br />
Geschäftsstelle des DGS Oberursel: Tel.: 06171/286060,<br />
Fax: 06171/286069, E-Mail: info@dgschmerztherapie.de.<br />
Die aktuellsten Informationen zu den Veranstaltungen und den<br />
Details finden Sie im Internet unter www.dgschmerztherapie.de<br />
mit der Möglichkeit der Onlineanmeldung.<br />
Juni <strong>2010</strong><br />
Unerwartete und lehrreiche Verläufe bei psychosomatischen<br />
<strong>Schmerz</strong>syndromen<br />
02.06.<strong>2010</strong> in Duisburg; Regionales <strong>Schmerz</strong>zentrum<br />
DGS – Duisburg<br />
Multiprofessioneller Gesprächskreis – Qualitätszirkel<br />
– Palliativversorgung Siegen – Wittgenstein – Olpe<br />
02.06.<strong>2010</strong> in Siegen; Regionales <strong>Schmerz</strong>zentrum<br />
DGS – Siegen<br />
HWS / Schulter – Manualtherapeutische Diagnostik<br />
und <strong>Therapie</strong><br />
04.06.–06.06.<strong>2010</strong> in Bonn-Bad Godesberg; Regionales<br />
<strong>Schmerz</strong>zentrum DGS – Bonn-Bad Godesberg<br />
CME – Update <strong>Schmerz</strong>: Regressprophylaxe und<br />
haftungsrechtliche Fragen (z.B. Fahrtüchtigkeit unter<br />
Opioiden)<br />
07.06.<strong>2010</strong> in Ludwigshafen-Gartenstadt; Regionales<br />
<strong>Schmerz</strong>zentrum DGS – Ludwigshafen<br />
CRPS – <strong>Therapie</strong><br />
10.06.<strong>2010</strong> in Miltenberg; Regionales <strong>Schmerz</strong>zentrum<br />
DGS – Miltenberg<br />
TENS – <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong> – Theorie und Workshop<br />
12.06.<strong>2010</strong> in München; Regionales <strong>Schmerz</strong>zentrum<br />
DGS – München<br />
Black Box Rückenschmerz – Myofasziale<br />
Verkettungen und Triggersyndrome<br />
11.06.–13.06.<strong>2010</strong> in Göppingen; Regionales<br />
<strong>Schmerz</strong>zentrum DGS – Göppingen<br />
Sommerakademie Palliativmedizin – Fallseminare<br />
und Supervision Teil 1<br />
12.06.–16.06.<strong>2010</strong> in Dierhagen (Ostsee); Regionales<br />
<strong>Schmerz</strong>zentrum DGS – Lünen<br />
SCHMERZTHERAPIE 2/<strong>2010</strong> (26. Jg.)<br />
Interdisziplinäres <strong>Schmerz</strong>forum Siegen – ISS<br />
15.06.<strong>2010</strong> in Siegen; Regionales <strong>Schmerz</strong>zentrum<br />
DGS – Siegen<br />
Das Fibromyalgiesyndrom – neue Aspekte und<br />
Bedeutung für die Praxis<br />
16.06.<strong>2010</strong> in Buxtehude; Regionales <strong>Schmerz</strong>zentrum<br />
DGS – Stade<br />
Sommerakademie Palliativmedizin – Fallseminare<br />
und Supervision Teil 2<br />
17.06.–21.06.<strong>2010</strong> in Dierhagen (Ostsee); Regionales<br />
<strong>Schmerz</strong>zentrum DGS – Lünen<br />
Psychosomatik 6<br />
17.06.<strong>2010</strong> in Bad Säckingen; Regionales <strong>Schmerz</strong>zentrum<br />
DGS – Bad Säckingen<br />
Besonderheiten der <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong> bei<br />
Organinsuffizienzen<br />
23.06.<strong>2010</strong> in Gießen-Kleinlinden; Regionales<br />
<strong>Schmerz</strong>zentrum DGS – Gießen<br />
Postnucleotomiesyndrom – Welche Rolle spielen die<br />
Muskeln<br />
23.06.<strong>2010</strong> in Köln; Regionales <strong>Schmerz</strong>zentrum<br />
DGS – Köln<br />
Innovative interventionelle Verfahren zur<br />
Rückenschmerztherapie<br />
23.06.<strong>2010</strong> in Sankt Josef Wuppertal; Regionales<br />
<strong>Schmerz</strong>zentrum DGS – Wuppertal<br />
Curriculum Chirotherapie – Muskelkurs (Kursreihe<br />
<strong>2010</strong>/2011)<br />
26.06.–27.06.<strong>2010</strong> in Bad Dürkheim; Regionales<br />
<strong>Schmerz</strong>zentrum DGS – Ludwigshafen<br />
Rheuma und <strong>Schmerz</strong><br />
30.06.<strong>2010</strong> in Halle; Regionales <strong>Schmerz</strong>zentrum DGS<br />
– Halle (Saale)<br />
Juli <strong>2010</strong><br />
Indikation zur Bandscheibenoperation – ein Update<br />
08.07.<strong>2010</strong> in Miltenberg; Regionales <strong>Schmerz</strong>zentrum<br />
DGS – Miltenberg<br />
Funktionelle Medizin 1<br />
15.07.<strong>2010</strong> in Bad Säckingen; Regionales <strong>Schmerz</strong>zentrum<br />
DGS – Bad Säckingen<br />
DGS Termine / Nachrichten<br />
Myofasziale <strong>Schmerz</strong>zustände<br />
31.07.<strong>2010</strong> in Wuppertal; Regionales <strong>Schmerz</strong>zentrum<br />
DGS – Wuppertal<br />
August <strong>2010</strong><br />
Palliativmedizinischer Themenabend: Neues aus der<br />
<strong>Therapie</strong> – Aktuelle Informationen aus der Region<br />
18.08.<strong>2010</strong> in Leipzig; Regionales <strong>Schmerz</strong>zentrum<br />
DGS – Leipzig<br />
Matrixregeneration<br />
25.08.<strong>2010</strong> in Halle; Regionales <strong>Schmerz</strong>zentrum DGS<br />
– Halle (Saale)<br />
<strong>Schmerz</strong> und Schlaf<br />
28.08.<strong>2010</strong> in Lüdenscheid; Regionales <strong>Schmerz</strong>zentrum<br />
DGS – Lüdenscheid<br />
„SPAS – <strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong><br />
– Politik –<br />
Abrechnung –<br />
Strategie“<br />
Erster Kongress des BVSD<br />
– Berufsverband der<br />
<strong>Schmerz</strong>therapeuten in<br />
Deutschland e.V. in<br />
Potsdam 11. und<br />
12. Juni <strong>2010</strong><br />
Neue DGS-Leiter<br />
DGS – Zentrum Neunkirchen<br />
Wir begrüßen Herbert<br />
Schmitt, Facharzt für Allgemeinmedizin,<br />
Zusatzbezeichnungen:<br />
· Manuelle <strong>Therapie</strong>/<br />
Chirotherapie<br />
· Sportmedizin<br />
· Spezielle<br />
<strong><strong>Schmerz</strong>therapie</strong> Herbert Schmitt,<br />
Neunkirchen<br />
als neuen DGS-Leiter des<br />
<strong>Schmerz</strong>zentrums Neunkirchen. Schwerpunkte:<br />
Rückenschmerzen, Gelenkschmerzen,<br />
Migräne und Kopfschmerzen.<br />
Angewandte therapeutische Verfahren der<br />
Praxis: therapeutische Lokalanästhesie, plexus-<br />
und rückenmarksnahe Anästhesien,<br />
psychosomatische Grundversorgung, Pharmakotherapie,<br />
TENS, physikalische <strong>Therapie</strong>/<br />
Krankengymnastik, Infusionstherapie.<br />
33
34<br />
Bücherecke<br />
Was tun bei Kopfweh?<br />
û Verständlich und informativ erklärt der bekannte <strong>Schmerz</strong>forscher Prof.<br />
Hartmut Göbel, DGS-Leiter Kiel, den Betroffenen, was aktuell über Entstehung<br />
und <strong>Therapie</strong> von Kopfschmerzen und Migräne bekannt ist. Die 5. Auflage<br />
wurde um aktuelle <strong>Therapie</strong>verfahren und Forschungsergebnisse<br />
ergänzt und erweitert. Das Buch wendet sich an Menschen, die unter Kopfschmerzen<br />
und Migräne leiden, und gibt ihnen Checklisten, einen Fragebogen<br />
und einen Kopfschmerzkalender zur Dokumentation an die Hand. So<br />
können Betroffene die <strong>Schmerz</strong>auslöser rechtzeitig erkennen und gezielt<br />
vermeiden. Abgerundet wird der Ratgeber mit einem Serviceteil über hilfreiche<br />
Medikamente, Informationen und Adressen. StK<br />
Göbel, Hartmut: Erfolgreich gegen Kopfschmerzen und Migräne. 5. aktualisierte Aufl., <strong>2010</strong>, X, 350 S., 106<br />
Abb., Softcover, EUR 22,95. ISBN: 978-3-642-01264-8. Springer Verlag, Heidelberg.<br />
Multidisziplinäre Diagnostik in der Geriatrie<br />
û In keinem Fach der Medizin ist die multidimensionale und interdisziplinäre<br />
Diagnostik und <strong>Therapie</strong> so wichtig wie in der Geriatrie. Daher<br />
wurde von der Arbeitsgruppe für geriatrisches Assessment (AGAST) ein<br />
standardisiertes Prozedere entwickelt, das innerhalb von vier Tagen bei<br />
Aufnahme und innerhalb der letzten vier Tage vor Entlassung aus der Geriatrie<br />
eine gezielte <strong>Therapie</strong>planung, <strong>Therapie</strong>überwachung und die Kontrolle<br />
des <strong>Therapie</strong>erfolgs ermöglicht. Dr. Henning Freund, Eisleben, hat mit<br />
diesem Buch einen praxisrelevanten Leitfaden für die Geriatrie erarbeitet,<br />
in dem zuerst das geriatrische Assessment detailliert vorgestellt wird. Ärzte<br />
müssen das Screening nach Lachs erheben. Die Pflegetherapeuten den<br />
Barthel-Index, die Physiotherapeuten den Timed Up and Go Test für die Mobilität und den Tinetti-Test<br />
zur Erfassung der Sturzgefahr. Geldzähltest, Handkraftmessung, Uhrentest und Mini-Mental-Status-Test<br />
sind Aufgaben für die Ergotherapie, die Depressionsskala sollte ein Psychologe erheben. Für den Sozialstatus<br />
ist der teamintegrierte Sozialdienst zuständig. Erst mithilfe dieses geriatrischen Assessments<br />
kann dann ein umfangreicher Behandlungs- und Betreuungsplan entwickelt werden. Behandlungspfade<br />
für Altersleiden wie Apoplex, Demenz oder Hüftfrakturen werden praxisnah im zweiten Teil geschildert<br />
und an Fallbeispielen illustriert. Formen der geriatrischen Behandlung, rechtliche Aspekte, Qualitätssicherung<br />
und Begriffsbestimmung und häufige Problemkonstellation in der Geriatrie sind weitere Kapitel,<br />
die dieses Buch abrunden und einen Einstieg in das Gebiet der Altersmedizin ermöglichen. StK<br />
Henning Freund: Geriatrisches Assessment und Testverfahren. Grundbegriffe – Anleitungen – Behandlungspfade.<br />
2009, 199 S., 26 Abb., 32 Tab., kt., EUR 38,00. ISBN 3-17-020880-3. W. Kohlhammer Verlag, Stuttgart.<br />
Gut leben trotz <strong>Schmerz</strong> und Krankheit<br />
û Vidyamala Burch, die Autorin dieses Buches, leidet selbst seit Jahrzehnten<br />
an schwersten Rückenschmerzen und widmet es allen <strong>Schmerz</strong>kranken,<br />
die nach neuen Möglichkeiten suchen, mit ihrem Leiden zu leben.<br />
Die britische Expertin zeigt darin die Prinzipien ihrer Methode „Breathworks“<br />
auf, die versucht, mithilfe eines Achtsamkeitstrainings ein neues<br />
Verhältnis zum <strong>Schmerz</strong> aufzubauen. Nach der Darlegung der Prinzipien<br />
werden im praktischen Teil zuerst das Atemgewahrsein geschult, danach<br />
die buddhistische Meditation in Theorie und Praxis dargestellt. Im letzten<br />
Teil zeigt Burch, wie man im Alltag achtsam sein kann. Begleitend zum<br />
Buch können die CDS von Breathworks für die geführten Meditationen verwendet<br />
werden, die über die deutsche Internetseite www.breathworks.de bestellt werden können. Das<br />
Buch wendet sich in erster Linie an Patienten mit körperlichen <strong>Schmerz</strong>en, aber die vorgestellten Achtsamkeitstechniken<br />
können auch bei psychischen und emotionalen Problemen wie Stress und Depressionen<br />
hilfreich sein. StK<br />
Vidyamala Burch: Gut leben trotz <strong>Schmerz</strong> und Krankheit. Der achtsame Weg, sich vom Leid zu befreien.<br />
2009, gebundenes Buch, Klappenbroschüre, 320 Seiten,13,5 x 21,5 cm, 60 s/w Abb., EUR 19,95. ISBN: 978-<br />
3-442-33849-8. Goldmann Arkana.<br />
SCHMERZTHERAPIE 2/<strong>2010</strong> (26. Jg.)
<strong>Schmerz</strong>en bei degenerativer<br />
Wirbelsäulenerkrankung<br />
Rückenschmerzen bei betagten und hochbetagten<br />
Patienten sind oft Ausdruck von degenerativen Veränderungen<br />
der Wirbelsäule, bei zunehmender Inaktivität auch<br />
von Osteoporosen. <strong>Therapie</strong>ziel ist es, die körperliche<br />
Aktivität dieser Patienten zu verbessern, um damit die<br />
wirksamste <strong>Therapie</strong> für Osteoporose zu ermöglichen.<br />
Gerade bei älteren Patienten müssen Langzeittherapien<br />
wirksam und verträglich sein. Die Kombination von<br />
Oxycodon mit Naloxon (Targin ® ) erfüllt diese Voraussetzungen<br />
in hohem Maße, schildert Dr. med. Gerhard<br />
Füeßl<br />
H. H. MüllerSchwefe, Göppingen. ©<br />
Der Praxisfall<br />
Die 62-jährige Patientin stellt sich im <strong>Schmerz</strong>zentrum<br />
Göppingen mit starken Rückenschmerzen<br />
vor. Sie kommt in gebeugter Haltung<br />
mühsam schlurfend mit einem Rollator. Bis vor<br />
drei Jahren konnte sie ihren Haushalt selbstständig<br />
führen, war körperlich aktiv und ging<br />
zweimal wöchentlich zum Schwimmen.<br />
Vortherapie und Befund<br />
Vor drei Jahren plötzlich auftretende Rückenschmerzen<br />
im Bereich der Lendenwirbelsäule<br />
mit Ausstrahlung auf beide Seiten, ohne einschießende<br />
<strong>Schmerz</strong>en in die Beine. In den<br />
folgenden sechs Monaten zunehmend <strong>Schmerz</strong>en,<br />
insbesondere im Stehen und Gehen, in<br />
Ruhe weitgehend beschwerdefrei. Innerhalb<br />
von sechs Monaten massive Zunahme der<br />
<strong>Schmerz</strong>en, jetzt auch in Ruhe. <strong>Schmerz</strong>ausbreitung<br />
nicht nur auf die untere Lendenwirbelsäule<br />
und unteren Rücken beschränkt, sondern<br />
zusätzlich auf Brustwirbelsäule bis zum Unterrand<br />
der Schulterblätter. <strong>Schmerz</strong>charakter<br />
beschrieben als dumpf-drückend, die maximale<br />
<strong>Schmerz</strong>intensität auf der VAS 100 bei 85, individuelles<br />
Behandlungsziel 20.<br />
Auf den Rat des Hausarztes Einnahme von<br />
nicht steroidalen und entzündungshemmenden<br />
<strong>Schmerz</strong>mitteln, primär Paracetamol, dann<br />
Ibuprofen 2 x 600 mg/d, danach Diclofenac 2 x<br />
75 mg/d. Unter dieser <strong>Therapie</strong> florides Ulkus<br />
mit Magenblutung und Teerstühlen, stationäre<br />
Aufnahme, Endoskopie und <strong>Therapie</strong> mit PPI.<br />
Nach Besserung der gastrointestinalen Situation<br />
wurde im Rahmen der stationären Behandlung<br />
ein intensives physiotherapeutisches<br />
Übungsprogramm zur Mobilisierung begonnen.<br />
Dies war wegen der bestehenden <strong>Schmerz</strong>en<br />
nur sehr eingeschränkt möglich. Patientin wur-<br />
SCHMERZTHERAPIE 2/<strong>2010</strong> (26. Jg.)<br />
de mit Rollator entlassen und angehalten, sich<br />
möglichst viel zu bewegen. Zum Zeitpunkt der<br />
Erstvorstellung keine <strong>Schmerz</strong>medikation aufgrund<br />
der gastrointestinalen Vorgeschichte.<br />
Untersuchungsbefund<br />
Deutlich ernährungsreduzierte 62-jährige Patientin,<br />
ausgeprägte Kyphosierung der Lenden-<br />
und der Brustwirbelsäule. Körperaufrichtende<br />
Muskulatur ist massiv verschmächtigt und verkürzt.<br />
Ausgeprägte Triggerpunkte vor allem im<br />
Bereich des Musculus quadratus lumborum<br />
und piriformis beidseits. Neurologisch keinerlei<br />
Hinweise auf eine Wurzelkompression. Die<br />
Funktion der gesamten Wirbelsäule zeigt jedoch<br />
eine deutliche Einschränkung der Seitneigung<br />
beidseits, die nahezu aufgehoben ist, wie<br />
auch der Inklination und Reklination. Neu angefertigte<br />
Röntgenaufnahmen zeigen eine Sinterung<br />
der Lendenwirbelsäule im Bereich L2, L3,<br />
L4 mit deutlicher Höhenminderung der ventralen<br />
Wirbelkante, aber auch Sklerosierungsreaktionen<br />
als Hinweis auf eine zurückliegende<br />
Sinterung. Darüber hinaus thorakale Sinterung<br />
der Wirbelkörper im Bereich D6, D7, D8.<br />
<strong>Therapie</strong>ziel musste es sein, für diese<br />
Patientin mit ausgeprägter Osteoporose und<br />
bereits pathologischen Sinterungen eine ausreichende<br />
und schnelle <strong>Schmerz</strong>reduktion zu<br />
erzielen, sodass eine körperliche Übungsfähigkeit<br />
zur Prävention weiterer osteoporotischer<br />
Frakturen möglich wurde. Aufgrund der Vorgeschichte<br />
schieden entzündungshemmende<br />
Analgetika komplett aus.<br />
<strong>Therapie</strong> und Verlauf<br />
Wir stellten die Patientin deshalb mit Oxycodon<br />
5 mg/Naloxon 2,5 mg (Targin ® 5/2,5) 2 x täglich<br />
ein. Nach einer Woche bei guter Verträglichkeit<br />
Der <strong>Schmerz</strong>fall aus der Praxis<br />
Dosissteigerung auf 2 x 10 mg. Unter dieser<br />
<strong>Therapie</strong> stellte sich schnell eine starke<br />
<strong>Schmerz</strong>reduktion ein, sodass die <strong>Schmerz</strong>intensität<br />
auf der visuellen Analogskala VAS 100<br />
nun nur noch bei 35 lag, individuelles Behandlungsziel<br />
bei 20.<br />
Entscheidend bei diesem <strong>Therapie</strong>konzept<br />
war es, die <strong>Schmerz</strong>reduktion für intensives<br />
physiotherapeutisches Training, insbesondere<br />
Krafttraining, dann auch Ausdauertraining, zu<br />
nutzen. Dies wurde anfangs unter intensiver<br />
Anleitung durchgeführt, dann zunehmend<br />
selbstständig von der Patientin. Neben einem<br />
postisometrischen Relaxationsprogramm<br />
stand vor allem die Aktivität der Muskulatur<br />
zur Verbesserung der Stabilität und der Knochenversorgung<br />
im Vordergrund. Besonders<br />
gut bewährten sich hier dynamisch vibrierende<br />
Systeme, die über eine wechselnde Aktivität<br />
der Muskulatur sowohl die Muskelstabilität<br />
als auch die Versorgung der osteoporotischen<br />
Muskeln verbessert. Dies trägt wesentlich zu<br />
einer besseren Stand- und Gangsicherheit wie<br />
auch zur Verminderung der Osteoporose bei.<br />
Neben der analgetischen <strong>Therapie</strong> erfolgte<br />
eine Gabe von Alendronsäure und Alphacalzidol.<br />
Unter dieser <strong>Therapie</strong> konnte die Patientin<br />
innerhalb von vier Monaten eine so gute<br />
Stabilität erzielen, dass sie sich wieder ohne<br />
Rollator bewegen konnte. Ein Auslassversuch<br />
von Oxycodon/Naloxin nach drei Monaten hatte<br />
noch keine ausreichende <strong>Schmerz</strong>stabilität<br />
gezeigt, sodass die <strong>Therapie</strong> mit 10 mg Targin<br />
® 2 x täglich weitergeführt wurde. Auch nach<br />
einem halben Jahr zeigte ein Auslassversuch,<br />
dass die Patientin weiterhin von dieser (relativ<br />
niedrigen) Targin-Dosis profitiert und nur hierunter<br />
ihr aktives Übungsprogramm weiterhin<br />
beibehalten kann. Mit der körperlichen Aktivität<br />
unter Targin weiterhin Reduktion der <strong>Schmerz</strong>intensität,<br />
jetzt auf VAS 15 und damit im Bereich<br />
des individuellen Behandlungsziels.<br />
Diskussion<br />
Eine <strong>Schmerz</strong>reduktion konnte bei der Patientin<br />
mit Oxycodon/Naloxon in einschleichender Dosierung<br />
mit einer Enddosis von 2 x 10 mg Oxycodon/5<br />
mg Naloxon hervorragend erzielt werden.<br />
Bemerkenswert an der gesamten <strong>Therapie</strong><br />
ist das völlige Fehlen irgendwelcher Nebenwirkungen.<br />
So kam es weder zu gastrointestinaler<br />
Symptomatik wie Übelkeit oder Aufstoßen noch<br />
zu einer sonst unter allen anderen Opiaten üblichen<br />
Darmfunktionsstörungen. Dies war Voraussetzung<br />
für die hohe <strong>Therapie</strong>treue, die bei<br />
dieser Patientin erforderlich war, um eine Langzeittherapie<br />
mit einem retardierten Opioid zu<br />
ermöglichen als Voraussetzung für die weitere<br />
Aktivität und Beweglichkeit unserer Patientin. ■<br />
Gerhard H. H. Müller-Schwefe<br />
35