Paraplegiker 3/2011
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Paraplegiker 3/2011
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Freie Natur<br />
Es müssen ja nicht immer die großen Sachen sein,<br />
die unangenehm sind. Es kann extrem peinlich<br />
sein, in einem guten Restaurant die Ess-Hilfe auszupacken,<br />
oder den Ober zu bitten, das Fleisch<br />
doch bitte klein zu schneiden. An der Supermarktkasse<br />
den Pin-Code nicht fehlerfrei in das Gerät zu<br />
tippen oder bei Ikea das Tablett samt zwei Portionen<br />
Köttbullar – mit extra viel Preiselbeeren –<br />
auf dem Boden zu verteilen. Die Frage, ob schon<br />
alles bezahlt war, wird da schnell zur Nebensache.<br />
Geben wir es zu, unser Leben ist eine Aneinanderreihung<br />
von peinlichen Momenten. Und unsere<br />
engsten Freunde und Verwandte wissen das.<br />
Beim Weg zum Altar hatte meine Frau Panik, dass<br />
ich gleich abbiege, um zur Toilette zu sprinten.<br />
Meinem Sohn ist es prinzipiell peinlich, wenn<br />
ich über ihn was schreibe, daher müssen seine<br />
Kommentare hier unerwähnt bleiben. Platz Zwei<br />
in den Top Ten meiner Tochter war: Wenn meine<br />
Eltern tanzen! Und das hat in dem Fall nichts mit<br />
dem Rollstuhl zu tun, denn meine Frau hat keinen!<br />
Der Höhepunkt der schlimmen Momente meiner<br />
Frau ist, wenn sie bei Lidl an der Kasse steht und<br />
kein Geld dabei hat… Oh wie schamvoll – da<br />
braucht es für uns schon viel Einfühlungsvermögen,<br />
um das nachzuempfinden. Dafür sind wir<br />
doch zu abgebrüht, oder?<br />
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Wenn wir schon die Peinlichkeit quasi studiert haben,<br />
dann können wir sie doch auch nutzen. Lasst<br />
uns den Spieß umdrehen. Neulich bei der Verkehrskontrolle<br />
funktionierte das schon ganz gut.<br />
Nachts um drei schaute ein Polizist an der Ampel<br />
neugierig zu mir rüber, um mich 200 Meter weiter<br />
triumphierend anzuhalten: „Sie sind nicht angeschnallt.“<br />
waren seine Eingangsworte. Weiter kam<br />
er nicht. Mit leichter Panik in der Stimme fiel ich<br />
ihm ins Wort. „Das ist richtig Herr Wachtmeister.<br />
Ich habe jetzt zwei Stunden eine Rollstuhltoilette<br />
gesucht und leider keine gefunden. Wenn ich<br />
jetzt den Gurt festschnalle pinkel ich hier direkt<br />
ins Auto.“ Ob er es geglaubt hat? Jedenfalls war es<br />
schön peinlich – für ihn – und ich durfte unangeschnallt<br />
weiterfahren!<br />
Wobei ich wieder bei der Geschichte mit dem<br />
unaufhaltbaren Harndrang und dem VW Golf<br />
bin. Der bot nur bis zum ersten entspannten<br />
Strahl wirklich Sichtschutz. Dann kam ein Mann<br />
aus seinem Schrebergarten, stieg ein und fuhr<br />
davon. Ich stand blank in der freien Natur. Die<br />
vorbeifahrenden Radfahrer grüßten freundlich.<br />
War das peinlich!<br />
Text: Ralf Kirchhoff<br />
Illustration: Kasia<br />
glosse<br />
„Das ist richtig<br />
Herr Wachtmeister.<br />
Ich habe jetzt zwei<br />
Stunden eine Rollstuhltoilette<br />
gesucht<br />
und leider keine gefunden.<br />
Wenn ich<br />
jetzt den Gurt festschnalle<br />
pinkel ich<br />
hier direkt ins Auto.“