Aichholzer N., Friedhuber, J.(2003) - Ludwig Boltzmann Institut für ...
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<strong>Ludwig</strong> <strong>Boltzmann</strong> <strong>Institut</strong> <strong>für</strong> Medizin- und Gesundheitssoziologie<br />
Geschlechtsunterschiede im<br />
Rauchverhalten bei<br />
Adoleszenten<br />
Sekundäranalysen zum EC-Projekt<br />
„Gender differences in smoking in young people“ <strong>für</strong><br />
14- bis16-jährige Mädchen in Österreich<br />
Endbericht<br />
November <strong>2003</strong>
Geschlechtsunterschiede im<br />
Rauchverhalten bei<br />
Adoleszenten<br />
Sekundäranalysen zum EC-Projekt<br />
„Gender differences in smoking in young people“ <strong>für</strong><br />
14- bis16-jährige Mädchen in Österreich<br />
endbericht<br />
Mit Finanzierung des Fondes Gesundes Österreich und<br />
der Österreichischen Krebshilfe<br />
November <strong>2003</strong>
3<br />
s t a b<br />
des <strong>Ludwig</strong> <strong>Boltzmann</strong> <strong>Institut</strong>s<br />
<strong>für</strong> Medizin- und Gesundheitssoziologie (LBIMGS)<br />
Projektleitung<br />
Mag. Dr. Wolfgang Dür<br />
Koordination und wissenschaftliche Mitarbeit<br />
Nina <strong>Aichholzer</strong><br />
Mag. Christina Dietscher<br />
Julia <strong>Friedhuber</strong><br />
Finanzmanagement<br />
Ernst Steininger<br />
Mag. Peter Nowak<br />
Sekretariat<br />
Gabriele Bocek<br />
Ernst Steininger<br />
Zitation<br />
Dür, W.; <strong>Aichholzer</strong> N., <strong>Friedhuber</strong>, J.:<br />
Geschlechtsunterschiede im Rauchverhalten bei Adoleszenten. Sekundäranalysen zum EC-Projekt<br />
Gender differences in smoking in young people <strong>für</strong> 14- bis 16-jährige Mädchen. Forschungsbericht<br />
des <strong>Ludwig</strong> <strong>Boltzmann</strong> <strong>Institut</strong>es <strong>für</strong> Medizin- und Gesundheitssoziologie
Inhaltsverzeichnis<br />
0. Zusammenfassung der wichtigsten Argumente und die Konsequenzen<br />
<strong>für</strong> Tabakprävention 2<br />
1. Einleitung, Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse und<br />
Konsequenzen 4<br />
2. RAUCHEN BEI JUGENDLICHEN UND DAS THEOREM DES<br />
GRUPPENDRUCKS 13<br />
3. PROBLEME DER ADOLESZENZ 19<br />
4. RAUCHEN ALS KARRIERE 24<br />
4.1 Stufe eins: Wirkungen Beobachten 29<br />
4.2 Stufe zwei: Erstes Probieren 33<br />
4.3 Stufe drei: Wiederholtes Probieren in subkulturellen Kontexten 42<br />
4.4 Stufe vier: Problemrauchen 47<br />
4.5 Stufe fünf: Genussrauchen und Rauchen als Lebensstil 60<br />
4.6 Stufe sechs: Gewahrwerden der Sucht 66<br />
5. GESCHLECHTSUNTERSCHIEDE 71<br />
6. METHODISCHE VORGANGSWEISEN 74<br />
6.1 Daten und Kodierung 74<br />
6.1.1 Rekrutierung 74<br />
6.1.2 Durchführung der Fokusgruppen 75<br />
6.1.3 Sample 75<br />
6.1.4 Weiteres Verfahren mit den Interviews 75<br />
6.1.5 Kodierung und Analyse 75<br />
6.2 Interpretationsverfahren 76<br />
6.2.1 Datenbeschäftigung und weitere Themenkodierung 76<br />
6.2.2 Dimensionalisierung des Textes 76<br />
6.2.3 Ankerbeispiele bestimmen 77<br />
6.2.4 Interpretation und Thesenbildung 77<br />
7. LITERATUR 78<br />
0.<br />
1
0. ZUSAMMENFASSUNG DER WICHTIGSTEN ARGUMENTE<br />
UND DIE KONSEQUENZEN FÜR TABAKPRÄVENTION<br />
Die zentrale Frage der Tabakprävention muss lauten: warum beginnen Jugendliche mit dem<br />
Rauchen?<br />
Wir konnten in der vorliegender Studie keine Anhaltspunkte <strong>für</strong> die Richtigkeit der geläufigen<br />
Thesen finden, dass (a) der Gruppendruck innerhalb der Peergroups oder (b) der Wunsch<br />
abzunehmen, um dem zeitgenössischen Schlankheitsideal zu entsprechen, einen<br />
wesentlichen Einfluss auf die Aufnahme des Zigarettenkonsums haben. Beides erscheint<br />
eher als eine legitimatorische Begründungsfigur, mit der Jugendliche ihr<br />
Rauchverhalten <strong>für</strong> sich und andere entschuldigen.<br />
Im Hintergrund spielt sicher die mediale Inszenierung der Zigarette durch Product Placement<br />
in Film und Fernsehen eine wesentliche Rolle, da dies schon den Kleinsten die Möglichkeit<br />
eröffnet, die Wirkungen der Zigarette zu beobachten. Jugendliche beobachten nicht die<br />
Person des Rauchers, sondern die Wirkungen, die die Zigarette bei ihm auslöst. Den<br />
Wirkungen der Zigarette gilt ihr Interesse, nicht den Raucher/innen, zu denen zu<br />
gehören auch nicht primäres Ziel ist.<br />
Die Beobachtbarkeit der Wirkungen des Rauchens ist darüber hinaus überall dort gegeben,<br />
wo die Jugendlichen ältere Raucher/innen sehen können. Das gilt vor allem <strong>für</strong> die Schule,<br />
aber auch an allen sozialen Orten, an denen geraucht werden kann (Restaurants,<br />
Gasthäuser, Discos). Ein Verbot des Rauchens an diesen Orten und in diesen<br />
Situationen ist daher nicht nur im Sinne des Nichtraucherschutzes notwendig,<br />
sondern auch aus Sicht der Raucherprävention.<br />
Da alle Raucher/innen zunächst als Problemraucher/innen anfangen und da die Probleme<br />
vorwiegend aus dem Schulkontext stammen, wird man langfristig Veränderungen in den<br />
Schulen fordern müssen, die dazu angetan sind, die Frustration von Schüler/innen zu<br />
reduzieren und ihre Zufriedenheit mit sich und ihrer Schulperformance zu steigern.<br />
Kurzfristige Erfolge sind jedoch eher von Maßnahmen zu erhoffen, die den<br />
Jugendlichen den Umgang mit Frustrationen und Schulproblemen erleichtern helfen.<br />
Ein anderer sehr wesentlicher Problembereich ist das Geschlechterverhältnis und die<br />
Schwierigkeiten, Beziehungen, auch sexuelle, zum anderen Geschlecht aufzubauen. Auch<br />
in Hinsicht auf das Geschlechterverhältnis benötigen die Jugendlichen offenbar mehr<br />
Hilfe, als sie haben.<br />
2
Allgemein gilt, dass das Rauchen von Zigaretten in bestimmten sozialen Situationen die<br />
Erfahrung vermitteln kann, dass Jugendliche sich ein bisschen erwachsen fühlen können<br />
und von anderen als ein bisschen erwachsen angenommen werden. Weniger als ein<br />
Mangel an Selbstsicherheit und Selbstbewusstsein ist das Rauchen sicherlich eine<br />
Folge des Mangels an Signalen der Erwachsenen, die zeigen würden, dass sie die<br />
Jugendlichen als vollwertige, vertrauenswürdige, respektable Personen zu nehmen<br />
bereit sind.<br />
Wenn das Rauchen bereits zu einem Lebensstil geronnen ist, sind Interventionen, die den<br />
Einstieg ins Rauchen verhindern wollen, zu spät. Interventionen, die appellativ Einsicht in die<br />
Gefahren und ein Umdenken erreichen wollen, stoßen auf taube Ohren. Angebote zum<br />
Ausstieg verhallen ungehört. Verbote werden als Zumutung empfunden.<br />
Viele Jugendliche sind schon nach kurzer Raucherkarriere bereit, mit dem Rauchen<br />
wieder aufzuhören, benötigen dazu aber Hilfe.<br />
3
1. EINLEITUNG, ZUSAMMENFASSUNG DER WICHTIGSTEN<br />
ERGEBNISSE UND KONSEQUENZEN<br />
Warum rauchen Raucher und Raucherinnen? Auf diese Frage gibt es heute nach 40 Jahren<br />
sozialmedizinischer, psychologischer, soziologischer, anthropologischer, historischer und<br />
anderer Forschung viele Antworten. Die gültigste von allen, die in präventiver Hinsicht<br />
allerdings wenig weiter hilft, ist sicher diese: weil sie süchtig sind. Das Nachlassen der<br />
psychoaktiven Wirkung des Nikotins erzeugt einen als unangenehm empfundenen<br />
Mangelzustand und das Bedürfnis, diesen durch Zufuhr von Nikotin zu beheben. Die<br />
Behebung des Mangelzustands wird als angenehm erlebt. Dieses Erleben wird von<br />
Rauchern und Raucherinnen natürlich auf weit poetischere Weise interpretiert, um nicht zu<br />
sagen verklärt: als Entspannung, Hochgenuss, kreative Schübe auslösend, Wohlbefinden<br />
stimulierend, beruhigend, erhebend, stimmungsaufhellend, fokussierend, die Konzentration<br />
fördernd oder so ähnlich.<br />
Das erklärt zumindest, warum Raucher ihr einmal begonnenes Tun fortsetzen, obwohl sie<br />
praktisch alle an den unangenehmen physischen „Nebenwirkungen“ – eigentlich<br />
Hauptwirkungen - leiden, um die Schädlichkeit des Rauchens bescheid wissen und darum,<br />
dass die Mehrheit der Nichtraucher/innen mit Zigarettenrauch – ausgeatmet oder als<br />
Nebenstromrauch – ein Problem hat.<br />
Die zentrale Frage der Präventionsforschung ist daher: warum haben Raucher und<br />
Raucherinnen zu rauchen begonnen? Welche Motive, Erfahrungen, Erwartungen und<br />
sozialen Rahmenbedingungen stehen am Anfang einer Raucherkarriere? Aus mehreren<br />
Untersuchungen ist bekannt, dass etwa 80% der Raucher/innen im Jugendalter beginnen,<br />
mit einer Tendenz zu einem immer jüngeren Einstiegsalter (Reid, McNeill et al. 1995), das<br />
derzeit im Durchschnitt bei etwa 14 Jahren liegt (Dür et al. 2002). Es ist auch bekannt, dass<br />
die Abhängigkeit im Erwachsenenalter desto gravierender ist, je früher der Einstieg<br />
stattgefunden hat (Breslau, Peterson 1996; Taioli, Wynder 1991; Thomas, Walker et al.<br />
1998). Die entscheidende präventionsleitende Frage ist daher genauer die, warum<br />
Jugendliche mit dem Rauchen beginnen.<br />
In der wissenschaftlichen Literatur wurden verschiedene Erklärungsmodelle <strong>für</strong> das Rauchen<br />
von Jugendlichen entwickelt, die alle mittlerweile auch mehr oder weniger dominant im<br />
Denken von Eltern, Lehrer/innen, Ärzt/inn/en und Expert/inn/en der Gesundheitsförderung<br />
und der Suchtvorbeugung präsent sind. Diese „mentalen Modelle“, um einen Begriff von<br />
Peter Senge zu verwenden, bestimmen letztlich, wie das Problem des jugendlichen<br />
4
Rauchens definiert, geschärft und zugespitzt wird und wie man glaubt, ihm durch<br />
Maßnahmen begegnen zu können. Diese Erklärungsansätze lassen sich auf sechs<br />
paradigmatische Positionen zusammenfassen.<br />
(1) Mangelnde Selbstsicherheit: im Zusammenhang mit der pubertären Identitätsentwicklung<br />
wird der Mangel an Selbstbewusstsein und Selbstsicherheit als Kausalfaktor oder zumindest<br />
als wesentliche psychische Rahmenbedingung gesehen. Es wird unterstellt, dass das<br />
Rauchen ein Gefühl von Erwachsenheit und Sicherheit vermitteln kann, das den<br />
Jugendlichen fehlt. Präventive Interventionen zielen demnach auf die Stärkung des<br />
Selbstbewusstseins und Selbstwertgefühls der Adoleszenten, was etwa in den Kampagnen<br />
„Kinder stark machen, stark statt süchtig“ oder „Ich brauch´s nicht, ich rauch nicht“ versucht<br />
wurde.<br />
(2) Mediale Verführung, Werbung: eine zweite Erklärung geht von der Vorstellung aus, dass<br />
Jugendliche den vielfältigen Verführungen der Werbung psychologisch nicht gewachsen sind<br />
und den präsentierten Bildern erliegen, die einen Zusammenhang zwischen dem Rauchen<br />
und dem guten, angenehmen Leben herstellen. Die Inszenierung des Rauchens als cool,<br />
gutaussehend, begehrlich, weltmännisch, erfolgreich, entspannt u.s.w. macht die Zigarette<br />
zu einem Instrument der Selbstinszenierung. Interventionen versuchen, Werbung durch<br />
Verbote hintan zu halten oder ihre Wirkung durch Reflexion oder Gegenwerbung zu<br />
brechen.<br />
Eine Umsetzung dieser Logik kann man, beispielsweise, in Kampagnen wie „Be smart, don´t<br />
start“ sehen, auch wenn diese noch zusätzlich auf dem Gruppendruck-Paradigma aufgebaut<br />
ist. Auch Versuche, in Schulen den „coolsten Nichtraucher“ zu küren, operieren in dieser<br />
Logik, indem sie dem positiven Bild des Rauchers ein positives Bild des Nichtrauchers<br />
entgegensetzen wollen. Und natürlich ist die EU-Initiative, auf Zigarettenpackungen die<br />
tödlichen Wirkungen der Zigarette in großen Buchstaben aufzudrucken, diesem Paradigma<br />
geschuldet.<br />
(3) Vorbildwirkung Erwachsene: ähnlich wie im Argument der Werbung wird auch hier<br />
unterstellt, dass Jugendliche ein Verhaltensmodell kopieren, das ihnen aus bestimmten<br />
Gründen zusagt. In einer Gesellschaft, in der 30% der Erwachsenen rauchen, ist es nicht<br />
verwunderlich, dass auch 30% der Jugendlichen rauchen, da sie ja angehalten sind,<br />
erwachsen zu werden. Es ist ebenso wenig erstaunlich wie die Tatsache, dass 90% der<br />
Jugendlichen einen Führerschein machen, bei bestimmten Gelegenheiten Alkohol trinken,<br />
Fußballspiele besuchen, eine Familie gründen wollen und eben insgesamt mehr oder<br />
weniger genau Aspekte eines Erwachsenenlebens kopieren.<br />
5
Interventionen müssen versuchen, die rauchenden Erwachsenen von den Jugendlichen zu<br />
isolieren oder umgekehrt, um zu verhindern, dass das Rauchverhalten der Erwachsenen von<br />
den Jugendlichen als quasi normaler Bestandteil des Alltags beobachtet und interpretiert<br />
werden kann.<br />
(4) Gruppendruck: die am häufigsten gebrauchte Denkfigur ist wahrscheinlich das Theorem<br />
des Gruppendrucks. Rauchen wird als Teil einer Gruppenkultur interpretiert und dient<br />
gemeinsam mit anderen Merkmalen wie gleiche Kleidung, Geheim/Privatsprache, spezielle<br />
Handzeichen oder Pfiffe etc. dazu, die Identität der Gruppe und ihre Unterschiedenheit von<br />
anderen herzustellen. Wer daher dazugehören will, muss diese Identifikationsmerkmale<br />
mitmachen und also, wenn gefordert, auch rauchen. Hinzutreten kann ein Moment der<br />
Rebellion, das Rauchen absichtlich gegen die elterlichen Verbote zum Sinnbild der<br />
Unabhängigkeit stilisiert. Das Rauchen in der Gruppe kann aber auch nur legitimatorische<br />
Funktion haben, indem die rauchenden Mitglieder einer Gruppe versuchen, durch den<br />
„Rauchzwang“ Mittäterschaft herzustellen und damit eine Art Abschwächung des eigenen<br />
abweichenden Verhaltens zu erreichen. In der Gruppe ist es ja kein abweichendes Verhalten<br />
mehr.<br />
Gegen Gruppendruck werden vor allem solche Interventionen gesetzt, die das einzelne<br />
Gruppenmitglied dazu befähigen sollen, dem Druck der Gruppe standzuhalten, bzw., „nein“<br />
zu sagen („Feel free to say no“). Es geht hier um mehr und teilweise anderes als nur darum<br />
selbstbewusst zu sein, nämlich darum, sich in einer Gruppe gegen implizite Normen<br />
durchsetzen zu können und damit sozial gesehen auch einigermaßen mächtig zu sein.<br />
Dieses Konzept ist soziologisch betrachtet sehr voraussetzungsreich und überschätzt in<br />
beträchtlichem Maße die Strukturiertheit von gewöhnlichen Peergroups in unserer heutigen<br />
Zeit, die sich im Regelfall als eher unverbindliche, fast regellose und insgesamt eher liberal<br />
gestimmte Personengruppen darstellen. Da dieses Erklärungsmodell unserer Beobachtung<br />
nach sehr populär ist, wird es in Kapitel 2 ausführlich behandelt.<br />
(5) Problembewältigung: da Nikotin eine psychoaktive Substanz ist, die gleichzeitig<br />
beruhigend, entspannend und stimmungsaufhellend, anregend wirkt, wird sie - nicht nur von<br />
Jugendlichen – bei Problemen und in schwierigen, stressigen Situationen zur<br />
Problembewältigung eingesetzt. Diese Erklärung ist nicht jugendspezifisch, es versteht sich<br />
aber von selbst, dass das Jugendalter mit seinen mannigfachen Herausforderungen und<br />
Schwierigkeiten <strong>für</strong> ausreichend viele Stresssituationen sorgt, die zur Aufnahme des<br />
Nikotinkonsums animieren.<br />
Interventionen und Maßnahmen, die diesem Kausalfaktor entgegenwirken wollen, müssen<br />
versuchen, entweder die Probleme im Lebensbereich von Jugendlichen zu reduzieren oder<br />
6
deren Problemlösekompetenz zu erhöhen. In der Gesundheitsförderung wird in allgemeiner<br />
Weise das Konzept des Empowerments da<strong>für</strong> vorgeschlagen.<br />
(6) Schönheitsideal Schlankheit: ein vergleichsweise junges Erklärungsmodell befasst sich<br />
mit dem Rauchen von jungen Mädchen und gibt deren Wunsch, dem gängigen knabenhaften<br />
Schönheitsideal entsprechen zu wollen, als hauptsächlichen Kausalgrund an. Die Zigarette<br />
betäubt Hungergefühle und kann damit den Mädchen helfen weniger zu essen, um das<br />
Gewicht zu halten oder abzunehmen. Mögliche Maßnahmen versuchen mit verschiedenen<br />
Ansätzen, die Mädchen mit ihrem fraulich werdenden Körper zu versöhnen und ihre<br />
Abhängigkeit von künstlichen und unerreichbaren Schönheitsidealen aufzubrechen.<br />
Welche Rolle spielen diese Erklärungsansätze in der GAT-Studie?<br />
Wir konnten in der vorliegender Studie keine Anhaltspunkte <strong>für</strong> die Richtigkeit der Modelle<br />
(4) „Gruppendruck“ und (6) „Schlankheit“ finden. Das Theorem des Gruppendrucks erscheint<br />
uns nach eingehender Befassung mit den einschlägigen Passagen in unseren<br />
Fokusgruppen-Transkripten als eine Strategie der nachträglichen Legitimierung oder auch<br />
der Entschuldigung des Rauchens durch die Jugendlichen selber. Sie begründen und<br />
entschuldigen ihr Verhalten mit dem Verweis auf Gruppenzwänge, denen sie erlegen seien<br />
und <strong>für</strong> die sie nichts könnten, weil das Rauchen bei ihnen ein schlechtes Gewissen auslöst<br />
und weil sie wissen, dass es eigentlich und im Grunde sozial unerwünscht ist. Besonders<br />
deutlich wird dies darin, dass sie überwiegend mit einem schlechten Gewissen ihren Eltern,<br />
teilweise auch Lehrer/innen gegenüber rauchen und von diesen nicht erwischt werden<br />
wollen. Insofern als dies eine Veränderung in den Motiven und Einstellungen zum Rauchen<br />
im Vergleich zu früheren Jugendgenerationen bedeutet, kann also von einem Erfolg der<br />
bisherigen Präventionspolitik gesprochen werden.<br />
Der Zusammenhang von Rauchen und Schlankheit bzw. Diät ist in unseren Fokusgruppen<br />
aus eigenem Reden der Mädchen nicht hervorgegangen. Auf Nachfragen ist dieser<br />
Zusammenhang ebenfalls nicht bestätigt worden. Im Gegenteil wurde sogar die Zigarette<br />
nach dem Essen als eine besonders schmackhafte und genießbare dargestellt.<br />
Das Modell (2) „Mediale Verführung“ ist sicherlich von großer Bedeutung, allerdings weniger<br />
durch die direkte Werbung als durch geschicktes Product Placement in TV-Filmen. Expressis<br />
verbis wurde von Mädchen die TV-Serie „Sex in the City“ genannt und darauf hingewiesen,<br />
dass die Zigarette und das Rauchen darin eine nicht unwesentliche Rolle spielen. Aber auch<br />
in allgemeiner Form wurden Filme und Fernsehen als Medien beschrieben, in denen man<br />
erfahren könne, welche Wirkung das Rauchen auf die rauchenden Erwachsenen habe,<br />
wodurch erst das Interesse am Rauchen geweckt werde. Die mediale Verführung ist daher<br />
7
ein ernst zu nehmender Faktor, dem mit geeigneten Maßnahmen entgegengewirkt werden<br />
muss. Insbesondere ist dabei die allgemeine Medienerziehung gefordert, die Distanz zu<br />
gezeigten Medienbildern erzeugen kann. Zugleich ist aber der Vorgang einer<br />
Raucherkarriere zu komplex, als dass er durch die Verbannung oder reflexive Brechung der<br />
Werbung allein gestoppt werden könnte.<br />
Das Modell (1) „Mangelnde Selbstsicherheit“ ist als Thema in Fokusgruppen nur sehr schwer<br />
behandelbar. Es würde entweder ein anderes, eher psychotherapeutisches oder<br />
gruppendynamisches Setting voraussetzen oder aber ein sehr hohes Reflexionswissen der<br />
Teilnehmer/innen über ihre tiefer liegenden Beweggründe. Es war daher nicht zu erwarten,<br />
dass die interviewten Jugendlichen von sich aus sagen würden: ja, wir rauchen, weil wir ein<br />
schwaches Ich und ein noch nicht voll zur Entfaltung gebrachtes Selbstbewusstsein haben.<br />
Schon eher konnte man annehmen, dass sie Meinungen darüber haben werden, inwieweit<br />
andere aus Mangel an Selbstsicherheit rauchen. Diesbezüglich hat sich aber eher so etwas<br />
wie eine Raucher-Solidarität gezeigt, nämlich die Haltung, über andere Raucher/innen nichts<br />
wirklich Abwertendes zu sagen.<br />
Wohl aber waren etliche Jugendliche in unseren Fokusgruppen bereit, <strong>für</strong> sich selbst und<br />
andere gelten zu lassen, dass sie auch deshalb rauchen, weil sie dadurch ein Stückchen<br />
Erwachsenheit erfahren. Wie immer man das psychodiagnostisch deuten mag, als Mangel<br />
oder nicht, es zeigt jedenfalls, dass das Rauchen von Zigaretten, da es in bestimmten, sehr<br />
genau strukturierten sozialen Situationen erfolgt, Erfahrungen vermitteln kann, die die<br />
Jugendlichen ansonsten entbehren müssen, nämlich sich ein bisschen erwachsen fühlen zu<br />
können und von anderen Signale zu empfangen, dass sie von diesen als ein bisschen<br />
erwachsen angenommen werden. Weniger als ein Mangel an Selbstsicherheit und<br />
Selbstbewusstsein ist das Rauchen daher sicherlich eine Folge des Mangels an Signalen der<br />
Erwachsenen, die zeigen würden, dass sie die Jugendlichen als vollwertige,<br />
vertrauenswürdige, respektable Personen zu nehmen bereit sind.<br />
Das Modell, das unseren Ergebnissen zufolge indessen den wesentlichsten<br />
Erklärungsbeitrag liefern kann, ist das Modell (5) „Problembewältigung“. Es ist in allen<br />
Raucherkarrieren das zentrale Erfahrungsmoment, an dem sich zwar nicht das primäre<br />
Interesse an der Zigarette, aber die Fähigkeit, ihre psychoaktiven Wirkungen zu empfinden,<br />
entwickelt.<br />
Das von uns in Anlehnung an Howard Becker (1966) entwickelte Karrieremodell sieht sechs<br />
Stufen vor, über die der Jugendliche sich vom absolut unbeleckten Anfänger zum geübten<br />
Raucher entwickelt, was durchaus als Lernprozess zu verstehen ist. Es wird damit eine<br />
Differenzierung des sozialen Prozesses des Rauchereinstiegs präsentiert und somit die<br />
8
Frage, warum Jugendliche mit dem Rauchen beginnen, in sechs Detailfragen aufgelöst. Für<br />
jede Stufe des Karrieremodells kann dann – und soll auch – gefragt werden, welche<br />
spezifischen Maßnahmen diesen konkreten Detailschritt zum „Meisterraucher“ verhindern<br />
können.<br />
Stufe 1: Wirkungen beobachten<br />
Die Jugendlichen sehen an rauchenden Erwachsenen – im heute sogenannten „real life“<br />
ebenso wie in Werbung, Film und Fernsehen – wie die Zigarette auf Raucher und<br />
Raucherinnen wirkt. Sie sehen es an der Mimik des Rauchers und seinen<br />
Verhaltensänderungen, die dem Konsum einer Zigarette folgen. Diese Wirkungen sind nicht<br />
unbedingt jene, die die Raucher selber beschreiben und tatsächlich erleben, sondern auch<br />
Stilisierungen der Medien. Es wichtig zu sehen, dass die Jugendlichen an dieser Wirkung<br />
interessiert sind und nicht an der Person des Rauchers. Die Erwachsenen werden daher<br />
nicht durch ihre Persönlichkeit zum Vorbild, weil die Jugendlichen etwa so sein wollen wie<br />
dieser oder jener. Umgekehrt heißt das: jeder und jede, ob aus Sicht von Jugendlichen cool<br />
oder uncool, sympathisch oder unsympathisch kann zum Vorbild <strong>für</strong> Zigarettenkonsum<br />
werden.<br />
Als Präventionsmaßnahme folgt daraus: die Beobachtbarkeit des Rauchens durch<br />
Erwachsene oder ältere Jugendliche zu reduzieren, wenn nicht zu verhindern. Das spricht<br />
grundsätzlich <strong>für</strong> die Einschränkung der sozialen Orte und Situationen, in denen geraucht<br />
werden kann, bzw., <strong>für</strong> die Ausdehnung und Vermehrung jener Orte und Situationen, in<br />
denen nicht geraucht werden kann. Neben dem Argument des Nichtraucherschutzes kommt<br />
<strong>für</strong> solche Maßnahmen also auch noch das Argument der Beobachtbarkeit des Rauchens<br />
zum Tragen.<br />
Das deckt sich auch mit der Vorstellung, dass nicht der Raucher bekämpft werden soll,<br />
sondern das Rauchen. In anderen Worten: primäres Ziel der Tabakpolitik sollte nicht sein,<br />
zumeist bereits süchtige Raucher von der Zigarette loszubringen, womöglich gegen ihren<br />
Willen, sondern die sozialen Orte und Situationen, an und in denen sie rauchen können, zu<br />
reduzieren und der Sichtbarkeit zu entziehen.<br />
Stufe 2: Erstes Probieren<br />
Für das erste Probieren schaffen die Jugendlichen eine besondere Situation: mit dem besten<br />
Freund, der besten Freundin, einem Bruder oder einer Schwester wird heimlich an einem<br />
versteckten Ort, wo sie nicht entdeckt werden können, die erste Zigarette angezündet.<br />
Schon aufgrund der Hochgestimmtheit in dieser besonderen Situation empfinden sie<br />
keinerlei psychoaktive Wirkung, sondern im Gegenteil Ekel, Schmerzen und unangenehme<br />
9
körperliche Nebenwirkungen, mit denen sie nicht gerechnet hatten. Interventionen, die<br />
darauf abzielen, sogar das Probieren zu unterbinden, werden von vielen Expert/innen <strong>für</strong><br />
wenig zielführend, vielleicht sogar kontraproduktiv gehalten. Es wird gesagt, dass der<br />
Jugendliche wissen soll, wovon er Abstand nimmt, um nicht das Gefühl zu haben, er lehne<br />
als Blinder Farbe ab.<br />
Stufe 3: Wiederholtes Probieren<br />
Für viele war die erste dann auch die letzte Zigarette, denn probieren tun es ja fast alle<br />
einmal. Andere jedoch wollen herausfinden, warum es nicht geklappt hat. Sie suchen dazu<br />
die Nähe von Rauchern und Raucherinnen und verstärken ihre Eindrücke, die sie vom<br />
Rauchen haben, ganz im Sinne eines Lernprozesses. Da sie zunächst Zigaretten schnorren,<br />
veröffentlichen sie damit auch ein Stück weit ihr Interesse an Zigaretten. Auch wenn sie noch<br />
immer nicht wirklich die günstigen Effekte des Nikotins erleben können, wird ihnen dadurch<br />
schon teilweise das Raucher-Etikett von anderen umgehängt, was den weiteren Einstieg<br />
erleichtert. Es ist daher eine Intervention möglich und sinnvoll, die darauf abzielt, die<br />
Gelegenheiten zu reduzieren, in denen die Jugendlichen mit Raucher/innen auf Tuchfühlung<br />
gehen können. Wie aus der CAS-Studie (Currie et al. 2001) bekannt, ist der Ort, an dem die<br />
Jugendlichen mit 13, 14 Jahren hauptsächlich Kontakt zu Raucherinnen knüpfen können, die<br />
Schule. Die rauchfreie Schule erhält also hier ein erstes gewichtiges Argument.<br />
Aber das selbe auch <strong>für</strong> andere Orte: Bahnhöfe, Restaurants, Discos. Neben dem Argument<br />
des Nichtraucherschutzes sollte auch wegen der Beobachtbarkeit von Raucher/innen in<br />
Alltagssituationen der Zigarettenkonsum an diesen Orten eingeschränkt werden.<br />
Aus diesem Argument – Beobachtbarkeit von Raucher/innen – folgt aber auch, dass die<br />
Darstellung von Raucher/innen in Filmen und Fernsehen ein Problem darstellt.<br />
Stufe 4: Problemrauchen<br />
Solange die Jugendlichen aus Spaß und mit einer gewissen Hochgestimmtheit zu rauchen<br />
probieren, ist die Wirkung <strong>für</strong> sie nicht erkennbar. Das Nikotin vermag gute Laune nicht noch<br />
zu steigern. Erst im Kontext von depressiven Stimmungen, Niedergeschlagenheit und<br />
negativen Gefühlen entfaltet das Nikotin seine beruhigende, aufhellende, stimulierende<br />
Wirkung. Es sind daher Probleme, durch welche die Jugendlichen im engeren Sinn des<br />
Wortes „auf den Geschmack“ kommen. Jeder Raucher ist am Beginn ein Problemraucher.<br />
Die wesentlichsten Probleme, die von den Jugendlichen genannt werden, sind auch hier<br />
wieder mit der Schule gegeben. Sie verlassen die Schule mit negativen Stimmungen und<br />
benutzen Zigaretten zur Erholung und Aufheiterung.<br />
10
Man wird von daher Veränderungen in den Schulen fordern müssen, die dazu angetan sind,<br />
die Frustration von Schüler/innen zu reduzieren und ihre Zufriedenheit mit sich und ihrer<br />
Schulperformance zu steigern. Natürlich haben aber solche Maßnahmen nur mittel- bis<br />
langfristige Wirkungen, da Schulentwicklung ein hochkomplexer und langwieriger Prozess<br />
ist. Kurzfristige Erfolge sind eher von Maßnahmen zu erhoffen, die den Jugendlichen den<br />
Umgang mit Frustrationen und Schulproblemen erleichtern helfen. Entsprechende Konzepte<br />
liegen in unterschiedlichster Form vor und müssten konsequent eingesetzt werden. Neben<br />
dem Angebot und der Vermittlung von Entspannungstechniken gelten vor allem Systeme der<br />
sozialen und fachlichen Unterstützung als günstig, wie sie etwa durch Buddies realisiert<br />
werden, aber auch durch Hilfe von Lehrer/innen in Ganztagsschulen.<br />
Ein anderer sehr wesentlicher Problemkreis ist <strong>für</strong> Jugendliche mit den Beziehungen zum<br />
anderen Geschlecht gegeben. Nach den Problemen mit der Schule ist dies der am<br />
zweithäufigsten genannte Bereich, in dem sie unangenehme, deprimierende, die Stimmung<br />
herabsetzende oder sogar auch demütigende Erfahrungen machen. Angesichts der<br />
allgemeinen Geschlechterproblematik in der heutigen Gesellschaft ist das alles andere als<br />
erstaunlich. Dennoch müssen auch Maßnahmen entwickelt werden, die den Jugendlichen<br />
helfen, das Geschlechterverhältnis zu entspannen und mit Frustrationen besser umzugehen.<br />
Stufe 5: Genussrauchen<br />
Erst mit einiger Übung lernen die Jugendlichen, die Effekte des Nikotins von<br />
Problemsituationen abzukoppeln und sie auch in entspannter, hochgestimmter Gemütslage<br />
zu empfinden. Sie verbinden dann diese Wirkungen mit bestimmten Situationen und<br />
Verhaltensweisen, die sich zu Lebensstilen verdichten. Die beliebtesten, am besten<br />
schmeckenden Zigaretten rauchen die Jugendlichen dann nach dem Essen, nach dem Sex<br />
und vor dem Schlafengehen. Auffällig ist, dass die Jugendlichen in diesen Situationen<br />
entweder allein sind, in trauter Zweisamkeit oder allenfalls in einer kleinen Gruppe. Das<br />
Rauchen in größeren Gruppen, ob privat auf Partys oder in Discos oder in anderen<br />
Etablissements, zählt überraschenderweise nicht zu den „Genusssituationen“. Der Grund ist<br />
der, dass auch begeisterte Raucher/innen die völlig verpestete Luft nicht mehr goutieren<br />
können. Der Genuss besteht zu einem gewissen Teil in dem Ritual, das man täglich oder<br />
mehrmals täglich aufsuchen kann und mit dem man neben der Ruhe und Sicherheit, die<br />
davon ausgeht, auch eine gewisse Erwachsenheit verbinden kann. Die jugendlichen<br />
Raucher/innen sind jetzt mit sich und ihrem Lebensstil sehr zufrieden.<br />
Zu diesem Zeitpunkt sind Interventionen, die den Einstieg ins Rauchen verhindern wollen,<br />
bereits zu spät. Interventionen, die appellativ Einsicht in die Gefahren und ein Umdenken<br />
11
erreichen wollen, stoßen auf taube Ohren. Angebote zum Ausstieg verhallen ungehört.<br />
Verbote werden als Zumutung empfunden.<br />
Stufe 6: Gewahrwerden der Sucht<br />
Nicht alle, aber viele Jugendliche nehmen schon nach kurzer Zeit wahr, dass sie es ohne<br />
Zigaretten nicht oder nur schwer aushalten. Sie leiden an Entzugserscheinungen.<br />
Hauptmerkmal ist <strong>für</strong> sie, dass sie ständig an Zigaretten denken müssen und immer mehr<br />
Zigaretten alleine und beiläufig rauchen.<br />
Viele von diesen Jugendlichen sind bereit mit dem Rauchen wieder aufzuhören, benötigen<br />
dazu aber Hilfe. Über die Formen der „Quit smoking“-Angebote – Angebote zum Ausstieg<br />
aus der Raucherkarriere – herrscht keine Einhelligkeit. Während die einen medizinische<br />
Vorgangsweisen präferieren, also Nikotinsubstitution anbieten wollen, legen andere den<br />
Schwerpunkt auf psychosoziale Interventionen und Hilfestellungen. Aus dieser<br />
Untersuchung kann diesbezüglich keine Empfehlung abgegeben werden.<br />
12
2. RAUCHEN BEI JUGENDLICHEN UND DAS THEOREM DES<br />
GRUPPENDRUCKS<br />
In der wissenschaftlichen Literatur gibt es eine Reihe verschiedener Erklärungen da<strong>für</strong>,<br />
weshalb Jugendliche trotz aller Aufklärung über die negativen Gesundheitsfolgen mit dem<br />
Rauchen beginnen. Eine der ältesten Begründungen hier<strong>für</strong> ist das Theorem des<br />
Gruppendrucks, das davon ausgeht, dass Jugendliche in ihren Peer groups einem so<br />
starken Konformitätsdruck ausgesetzt sind, dass sie letztlich nur die Wahl hätten<br />
mitzumachen, auch wenn es ums Rauchen geht, oder ausgeschlossen und geächtet zu<br />
werden. Dieses Theorem hat eine große Breitenwirkung erfahren und ist heute auch in den<br />
pädagogischen Wissensbeständen von Eltern und Lehrer/innen fest verankert. D'Arcy<br />
Lyness (2001) definiert das Theorem, wie folgt: „When people your own age try to influence<br />
how you act, it's called peer pressure”. Dies setzt also das Beisein einer<br />
Gleichaltrigengruppe voraus und einen aktiven Versuch dieser Gruppe oder einzelner<br />
Mitglieder, das Handeln anderer zu beeinflussen.<br />
Diese Theorie gerät mittlerweile sehr stark ins Kreuzfeuer der Kritik. Viele Forschungen der<br />
letzten Zeit schwächen diese Theorie ab oder widerlegen sie mit verschiedensten<br />
Argumenten.<br />
So schreibt z.B. Denscombe-Martyn (2001), dass Resultate zeigen, dass Gruppendruck <strong>für</strong><br />
das Ausmaß, in dem Jugendliche individuelle Autonomie und Selbstbestimmung leben<br />
können, keinen nennenswerten Erklärungsbeitrag leistet. Sie werden nur fälschlicherweise<br />
als Opfer dargestellt. "Results show that the concept of peer pressure did not take account of<br />
student´s individual autonomy and self-determination, wrongly portrayed them as victims,<br />
and did not effectively account for the flexibility and multiplicity of peer groups. Findings<br />
suggest that peer group pressure concepts need to be reconsidered because of peer group<br />
relationship heterogeneity, individualism, and self-identity."<br />
Weiters und mit explizitem Bezug zum Rauchen meint auch Leventhal-Amy (1998), dass die<br />
Beziehung zwischen Gruppendruck und Rauchverhalten nicht signifikant ist. "The<br />
relationship between peer pressure and behavior was examined across grade and stage of<br />
involvement in drinking and smoking. ... For smoking, initiators did not show a significant<br />
relationship between pressure and smoking."<br />
Auch die Resultate von Newman (1984) zeigen, dass auf den Jugendlichen mehr Druck<br />
bezüglich seines Images lastet als durch direkten Gruppendruck. Die Peer group bezieht ihre<br />
Bedeutung also vor allem daraus, dass sie bestimmte Erscheinungsbilder akzeptabel,<br />
andere inakzeptabel macht. "Results show that peer pressure was perceived in terms of<br />
13
meeting certain desirable image characteristics rather than in terms of direct pressure to<br />
smoke. Smoking was one of many ways to create the image." Von Bedeutung ist dabei, dass<br />
die Ausbildung von Gruppennormen bezüglich Kleidung etc. ein rekursiver Prozess ist, in<br />
dem Vorschlag und Akzeptanz durch Gruppenmitglieder einander gegenseitig bedingen. Die<br />
Vorstellung einer eindirektionalen Beeinflussung der einfachen Mitglieder durch einen Leader<br />
ist von daher obsolet.<br />
In ganz ähnlicher Weise und noch eindeutiger in ihren Formulierungen sind schon<br />
Eiser&Van-der-Pligt (1985), wenn sie sagen, dass aufgrund ihrer Untersuchungen die<br />
Vorstellung von Beeinflussungsprozessen in Gruppen rekonzeptualisiert werden muss in<br />
Richtung der Rolle der sozialen Identität. "Results show that smokers (anyone who had<br />
smoked at all within the previous week) held less negative attitudes about smoking, were<br />
more likely to have a father who smoked, and anticipated less parental disapproval of their<br />
smoking. When asked to name their 5 best friends among their classmates, smokers were<br />
more likely to name other smokers than were non-smokers. On the basis of these results, it<br />
is argued that the notion of "peer group influence" should be reconceptualized in terms of<br />
intergroup processes and social identity concerns within the peer group." Es ist dann<br />
bedeutsamer zu fragen, nach welchen Gesichtspunkten Jugendliche sich ihre Peer group<br />
auswählen bzw. wie innerhalb einer Peer group soziale Identitäten entwickelt werden.<br />
Ebenso wie in diesen Zitaten sind auch unsere eigenen Ergebnisse aus den Fokusgruppen<br />
mit dem Gruppendrucktheorem nicht kompatibel.<br />
Das ist einerseits angesichts der internationalen Literatur nicht überraschend, andererseits<br />
aber schon, da in einigen Aussagen der von uns interviewten Jugendlichen der Terminus<br />
des Gruppenzwangs tatsächlich gebraucht wird.<br />
„M3: Ja, genau. Seitdem rauche ich halt. Es ist auch wegen dem Gruppenzwang,<br />
so ein Scheiß." (Wienerberg W 68/82)<br />
"M2: Dieses Geschehen ist clubartig, irgendwie, dieser Gruppenzwang zum<br />
Rauchen. Der raucht, das ist cool, na, muss man es auch ausprobieren. Das<br />
ist meistens fangen sie wegen dem an, die meisten." (Matadora 135/138)<br />
Doch was steckt hier dahinter? Gesprochen wird von Gruppenzwang, von einem clubartigen<br />
Geschehen. Genauer betrachtet, setzt das Mädchen den Gruppenzwang mit einem<br />
clubartigen Geschehen gleich. Ein Club impliziert einerseits einen Zwang, bestimmte Werte<br />
und Normen, zum Beispiel Kleider- und Verhaltensregeln, einzuhalten, andererseits aber<br />
auch die Freiwilligkeit der Mitgliedschaft. Die Ambivalenz der Zugehörigkeit zu einem Club<br />
besteht darin, dass man einerseits gebunden ist - was durchaus als Zwang erlebt werden<br />
14
kann - andererseits sich aber dem Club und seinem Zwang freiwillig und gerne unterwirft.<br />
Die Jugendlichen entscheiden sich letztlich selber dazu, dabei zu sein. Sie bringen eine<br />
gewisse Bereitschaft mit, die Regeln und eben das Rauchen zu akzeptieren.<br />
Gleichzeitig macht die rede vom Gruppendruck oder Clubzwang nur Sinn, wenn ein<br />
Zuwiderhandeln negativ sanktioniert werden würde. Solche negativen Folgen des nein<br />
Sagens konnten wir allerdings keine finden.<br />
Ein Bursch beschreibt das sehr schön:<br />
"B2: Nein, es wäre nicht so gewesen, dass ich nicht hätte nein sagen können, aber<br />
es war auch nicht so das innere Bedürfnis zum Nein sagen da. Es war einfach<br />
so ein gegebener Zustand. Ich habe eine bekommen, ich habe eine<br />
genommen. Ich hab auch nicht, hab auch nicht, wenn ich keine bekommen<br />
habe, habe ich auch nicht danach gefragt, es war einfach so." (Simon M<br />
185/209)<br />
Die Gruppe scheint dadurch wirksam zu sein, dass sie Gelegenheiten schafft zu rauchen.<br />
Der Griff zur Zigarette kann dann nahezu automatisch und unbewusst erfolgen, es bedarf<br />
jedoch keines Drucks. Im Beispiel hätte der Junge nur „ein inneres Bedürfnis“ gebraucht,<br />
nein zu sagen. Er hätte die angebotenen Zigaretten genauso gut ablehnen können, ohne<br />
dass dies zu Sanktionen geführt hätte.<br />
In gewisser Weise unterstützt er damit eine ganz andere Interpretation, die wir hier anbieten<br />
wollen, nämlich dass das Gruppendrucktheorem von den Jugendlichen mittlerweile als<br />
Legitimation ihrer Entscheidung zu rauchen missbraucht wird. Denn sie wissen sehr genau,<br />
dass es sich dabei um ein unerwünschtes „Fehlverhalten“ handelt, insbesondere wenn sie<br />
die gesetzliche Altersgrenze noch nicht erreicht haben. Und sie hören von Eltern und<br />
Lehrern und Medien immer wieder, dass sie Opfer einer verzwickten Peer Group Situation<br />
seien.<br />
Auch die folgende Gesprächssequenz unterstützt diese These. Die Jugendlichen sagten,<br />
dass sie rauchen, wenn sie Lust dazu haben. Darauf will die Interviewerin dies genauer<br />
verstehen:<br />
"I: Wer Lust kriegt, der nimmt halt sein Packerl raus und dann rauchen auch alle<br />
anderen?<br />
M2: Ja.<br />
M3: Oder es fragt meistens eigentlich immer jemand. Es nimmt eine die<br />
[Zigaretten] raus und dann fangen alle an, kannst Du mir eine Zigarette geben<br />
oder hast Du noch eine Zigarette und dann rauchen eh eigentlich alle."<br />
(Trummelhof 1187/1217)<br />
Auch hier ist ein Druck von Rauchern gegenüber Nicht-Rauchern, das Rauchen<br />
aufzunehmen, nicht auszumachen. Eher scheint sich das Rauchen wie ein Lauffeuer<br />
innerhalb der Gruppe zu verbreiten, leicht wie über verdorrtes Steppengras. Die<br />
15
Jugendlichen scheinen wirklich ein Bedürfnis danach mitzubringen. Wenn eine Person zu<br />
rauchen beginnt, wenn jemand initiiert, greift es um sich, bis alle rauchen. Fast ist einem um<br />
den Start-Raucher leid, der seine Zigaretten verteilen muss.<br />
Dieses Mitrauchen kann unterschiedlichst begründet werden. Sichtbar wird aber immer die<br />
Eigeninitiative und kein wirklicher Druck oder Zwang von der Gruppe ausgehend.<br />
"B1: Das ist halt, mit den Freunden habe ich mehr Spaß, da will ich einfach<br />
rauchen, zu Hause nicht, aber da<strong>für</strong> bei meinen Freunden, weil jeden Freitag<br />
ist das bei mir so." (Wienerberg M 531/533)<br />
Mehr als von Gruppendruck kann hier vom Spaßfaktor Rauchen gesprochen werden, der<br />
offenbar nur in der Gruppe so richtig zum Tragen kommt. Niemand von den Freunden drängt<br />
ihm eine auf oder zwingt ihn zu rauchen. "Da will ICH einfach rauchen" spiegelt wieder, dass<br />
der Junge aus freier Entscheidung handelt. Diese Entscheidung ist allerdings weniger eine<br />
zum Rauchen, als eine <strong>für</strong> die Atmosphäre und die Stimmung in der Peer group, den<br />
„Spaßfaktor“ eben. Es scheint so zu sein, dass die Peer group bestimmte Erlebnisqualitäten<br />
anbieten und vermitteln können muss, wenn der einzelne Jugendliche sich da<strong>für</strong> entscheiden<br />
soll, gerade bei dieser und keiner anderen Gruppe mitzumachen. Es sind ja die meisten<br />
Schulklassen und Wohngebiete in verschiedene Peer groups (Gruppen von Gleichaltrigen)<br />
eingeteilt, so dass <strong>für</strong> den einzelnen Jugendlichen eine gewisse Art von Wahl gegeben ist.<br />
Vielleicht ist darin auch eine Folge des Rückgangs der Geburtenrate zu sehen, dass in den<br />
geburtenschwachen Jahrgängen seit den 70ern die einzelne Peer group eher um Mitglieder<br />
werben muss und es sich nicht mehr in gewohntem Maße leisten kann, potenzielle Mitglieder<br />
durch Ausübung von Zwängen jedweder Art zu vergraulen. Viel mehr müssen die<br />
Freundeskreise heute mehr denn je <strong>für</strong> einander Unterhaltung bieten.<br />
Das Moment des Wählens kommt in folgendem Zitat sehr klar zum Ausdruck.<br />
"B1: 3 Wochen lang in Deutschland nichts geraucht, nicht einmal einen Zug, nicht<br />
einmal in der Hand gehabt eine Zigarette, auch durchgedreht, aber dann nach<br />
der dritten Woche ist es eh gegangen. San ma hergekommen wieder, hab i<br />
mir gedacht, okay, jetzt habe ich es eh schon gepackt, komm zurück, 2 Tage<br />
im Park, Ü. nimm an Zug, ach nimm einen Zug, habe ich mir gedacht, okay,<br />
durch einen Zug wird wieder nichts. Dann habe ich mir gedacht, oje, es wird<br />
wieder wie am Anfang, dann bin ich eine Woche nie in Park gegangen, also<br />
irgendwo anders, anderer Freundeskreis, die haben auch alle nicht geraucht.<br />
Dann war der Freundeskreis nichts Richtiges <strong>für</strong> mich, habe ich mir gedacht,<br />
ich gehe wieder zurück und dann ist wieder dazu gekommen. Und das war<br />
es." (Wienerberg M 199/219)<br />
Es wird deutlich, dass der Bursche aus Unterschichtverhältnissen den Freundeskreis wählt<br />
und damit die Form von sozialem Umgang und Freizeitgestaltung, die er <strong>für</strong> sich braucht und<br />
haben will, und nicht die Zigarette. Das Rauchen nimmt er in Kauf, um in die Gruppe<br />
16
eingebettet sein zu können, die ihm behagt. Die interessante Frage indessen bleibt, warum<br />
er dieser Gruppe nicht angehören kann ohne zu rauchen, obwohl die anderen das von ihm<br />
im Grunde nicht fordern. Das führt zu der Frage, der wir im Kapitel 4 nachgehen werden, wie<br />
Rauchen bei Jugendlichen zu einem Lebensstil wird.<br />
Wie wenig Rauchen eine soziale Erwartung in Peer groups darstellt, die mit Zwang und<br />
Sanktion gegenüber Non-Konformisten durchgesetzt werden müsste, zeigt sich am besten<br />
darin, dass die Jugendlichen beiderlei Geschlechts in Bezug auf ihren Liebespartner bwz.<br />
auf ihre Liebespartnerin („Freund“ oder „Freundin“) am liebsten eine Nichtraucherin bzw.<br />
einen Nicht-Raucher hätten. Gerade in der Phase der Pubertät wäre es nur allzu<br />
verständlich, wenn die Jugendlichen deshalb unter Druck stehen würden, weil Rauchen cool<br />
wirkt und die sexuelle Attraktivität steigern könnte. Es wäre eine ergänzende These zum<br />
Gruppendrucktheorem, dass die Jugendlichen also deshalb rauchen, um beim anderen<br />
Geschlecht besser „landen“ zu können. Doch auch in Bezug auf das andere Geschlecht hat<br />
Rauchen eine nicht unbedingt positive Wirkung.<br />
"I: Ist es <strong>für</strong> Dich wichtig, dass Dein Freund raucht?<br />
M1: Nein, nein wichtig, nein, das ist mir wurscht, es wäre mir egal.<br />
I: Und was bewirkt es, dass er raucht?<br />
M1: Für mich?<br />
I: Ja, bei Dir.<br />
M1: Ich weiß nicht, das ist mir eigentlich egal ob er raucht oder ob er nicht raucht.<br />
Ich suche mir ja nicht meine Freunde nach dem Rauchen aus." (Trummelhof<br />
1351/1367)<br />
Ob der Partner oder die Partnerin raucht oder nicht, ist also kein Kriterium bei der<br />
Partnerwahl. Es ist den jungen Mädchen vollkommen egal, ob ihr Freund raucht oder nicht.<br />
Eher noch wünschen sich die Jugendlichen Nichtraucher/innen als Partner oder Freund oder<br />
Freundin.<br />
"I: Ist das <strong>für</strong> die anderen auch so, dass es wurscht ist, ob die Mädchen rauchen<br />
oder nicht?<br />
B1: Ja, schon.<br />
B2: Das ist völlig wurscht.<br />
B3: Obwohl es schon angenehmer ist, Nichtraucherinnen." (Mattheus 1582/1597)<br />
Auch die Burschen sind sich in dieser Beziehung einig: es ist wirklich egal. Es wäre sogar<br />
angenehmer, eine Nichtraucherin als Freundin zu haben. Wobei es hier einen<br />
Schichtunterschied gibt. Oberschicht-Burschen können es den Mädchen zwar nicht übel<br />
nehmen, wenn sie rauchen, da sie es ja selbst auch tun, aber attraktiver und seriöser sind in<br />
jedem Fall die Nichtraucherinnen. In der Unterschicht wird das Thema durchaus klarer<br />
behandelt: Mädchen wie Burschen versuchen es zumindest, ihrem Freund bzw. ihrer<br />
Freundin das Rauchen zu verbieten.<br />
17
"B5: Nein, ich weiß nicht, es wirkt irgendwie fast bei Mädchen, finde ich, seriöser<br />
wenn sie nicht rauchen.<br />
I: Seriöser?<br />
B1: Für mich sind Frauen, die nicht rauchen, glaube ich, irgendwie attraktiver als<br />
Frauen, die rauchen.<br />
B5: Ja, sicher, weil wir können einem Mädchen nicht übel nehmen, wenn es<br />
raucht, weil wir rauchen ja selber. Das ist eigentlich eine Frage, die unnötig ist.<br />
Weil ein Raucher wird nicht Raucher hassen." (Mattheus 1604/1631)<br />
"B1: Meiner Freundin verbiete ich es oft." (WUK 824/824)<br />
"M2: Ja, also mein Freund darf nicht rauchen." (Matadora 1102/1105)<br />
"M3: Ich such halt einen Feschen, einen Nicht-Raucher." (Matadora 1114/1114)<br />
Quer durch die Bank und ohne geschlechts- oder schichtspezifische Unterschiede werden<br />
als PartnerInnen eher NichtraucherInnen bevorzugt. Von niemandem wird ein Raucher bzw.<br />
eine Raucherin als Freund oder Freundin bevorzugt.<br />
18
3. PROBLEME DER ADOLESZENZ<br />
In der internationalen HBSC-Studie der WHO (vgl. Dür et al. 1997, 2002; Currie et al. 2001,<br />
<strong>2003</strong>) ist <strong>für</strong> alle modernen Gesellschaften Europas und Nordamerikas ein enormer Anstieg<br />
des Rauchens bei Jugendlichen festgestellt worden. In Österreich, beispielsweise, waren<br />
1986 weniger als 10% der 15-Jährigen beiderlei Geschlechts täglich Raucher/innen (die<br />
täglich zur Zigarette greifen). Im Jahr 2002 waren es bereits 23%. Während die Werte von<br />
1986 in der Öffentlichkeit <strong>für</strong> einen Medienskandal sorgten, da das Rauchen dieser<br />
Altersgruppe ja sogar noch per Gesetz verboten ist, und den damaligen Unterrichtsminister<br />
Dr. Erhard Busek zu sofortigem Handeln veranlassten, wurden die jüngsten Daten<br />
vergleichsweise gelassen zur Kenntnis genommen.<br />
Eine tiefgehende öffentliche Diskussion zur Frage, womit dieser Anstieg bei Jugendlichen<br />
denn zusammenhängen könnte, ist ausgeblieben. Um ein solches Verständnis zu erzeugen,<br />
muss man den Blick auf die grundlegenden Schwierigkeiten der Jugendphase richten und<br />
verstehen, welche grundlegenden Veränderungen damit in den vergangenen Jahrzehnte<br />
verbunden waren.<br />
Jugend als Sozialisationsproblem<br />
Als Jugendalter gilt die Phase des Übergangs von der Kindheit zum Erwachsenenalter, die<br />
mit Einsetzen der Geschlechtsreifung beginnt und mit der Stabilisierung einer Erwachsenen-<br />
Identität endet. Die Begriffe Pubertät (wörtlich: Mannbarkeit) und Adoleszenz (wörtlich:<br />
Heranwachsen) bezeichnen diese Phase <strong>für</strong> beide Geschlechter, obwohl sie <strong>für</strong> junge<br />
Frauen und Männer durchaus unterschiedlich verläuft. Der Prozess der<br />
Persönlichkeitsentwicklung wird als Sozialisation bezeichnet. Im Zuge des<br />
Sozialisationsprozesses erfolgt die Entwicklung einer eigenen Identität, die Ablösung vom<br />
Elternhaus, die zunehmende Integration in neue soziale Kontexte und die Übernahme neuer<br />
sozialer Rollen und die Entwicklung von sexuellen Beziehungen (vgl. Mertens 2002).<br />
Diese Entwicklung ist mit enormen Lern- und Anpassungsleistungen verbunden, die häufig<br />
auch zu Überforderungen führen und daher Widerstand auslösen können.<br />
Entwicklungspsychologisch gilt die Jugend daher auch als "psychosoziales Moratorium"<br />
(Erikson 1966): eine Zeit des Ausprobierens und Experimentierens, zu der die Anpassung an<br />
Normen ebenso gehört wie die Abwehr von Autorität und Tradition, das Vergnügen an<br />
ungebändigten Leidenschaften ebenso wie die Angst davor. Die Lebensphase Jugend stellt<br />
daher einen besonders turbulenten, belastenden, andererseits aber auch sehr anregenden<br />
19
und ertragreichen Abschnitt im menschlichen Lebenslauf dar (vgl. Hurrelmann & Rosewitz &<br />
Wolf).<br />
Da die Hauptaufgabe der Pubertät darin liegt, eine Erwachsenenidentität aufzubauen und die<br />
<strong>für</strong> ein Leben als Erwachsener notwendigen Qualifikationen und Kompetenzen zu erwerben,<br />
kommt Erwachsenen eine wesentliche Vorbildfunktion zu. Gerade diesbezüglich jedoch sind<br />
die Verhältnisse unter postmodernen Bedingungen problematisch geworden. Der<br />
Unterschied liegt in den normativen Vorstellungen vom erwachsenen Staatsbürger und in der<br />
Vielfalt der möglichen Karrieren und Lebensmodelle. Im Gegensatz zu heute wusste die<br />
Gesellschaft des 19. und frühen 20. Jahrhunderts noch relativ genau, was ein guter,<br />
angepasster Bürger ist und worauf hin sich Jugendliche infolgedessen zu entwerfen haben.<br />
Ebenso waren die Lebens- und Karrieremöglichkeiten <strong>für</strong> die meisten Menschen sehr viel<br />
enger definiert, so dass die individuellen Entscheidungsmöglichkeiten <strong>für</strong> Jugendliche sehr<br />
begrenzt waren und ein zwar enger, da<strong>für</strong> aber einfacher und klarer Orientierungsrahmen<br />
gegeben war.<br />
Demgegenüber ist heute eine <strong>für</strong> individuelle Entwicklungsentscheidungen weit geöffnete,<br />
man könnte auch sagen: nahezu anomische Situation entstanden, in der es mehr denn je<br />
vom Selbstbewusstsein und der Kreativität der Jugendlichen selbst abhängt, was sie aus<br />
ihren Möglichkeiten machen. Gleichzeitig sind brauchbare Vorbilder rar geworden bzw. in<br />
ihrer Wirkkraft eingeschränkt, da sie keinen ganzen Lebensentwurf mehr repräsentieren<br />
können. Damit hat sich das Hauptproblem der Pubertät dahingehend verändert, dass die<br />
Jugendlichen heute Entwicklungsaufgaben zu bearbeiten haben, deren Lösungen noch nicht<br />
feststehen bzw. vorgegeben sind. Für ihr eigenes Erwachsenensein existieren noch keine<br />
fertigen Entwürfe.<br />
Dieser Situation trägt die moderne Sozialisationsforschung im Konzept des Modell-Lernens<br />
von Bandura (1976) Rechnung, das den sozialen Prozess der Sozialisation vor allem als<br />
Vorgang des Lernens aufseiten des Jugendlichen beschreibt. Wesentlich in dieser<br />
Sichtweise ist, dass die Kinder bzw. Jugendliche die Erwachsenen nicht einfach kopieren<br />
oder nachahmen, sondern einem internen kognitiven Verarbeitungsprozess unterziehen, in<br />
dem eine hohe Flexibilität aufgebaut wird. Sie steuern damit in gewisser Weise den Vorgang<br />
der Sozialisation selbst, allerdings innerhalb von sozialen Beziehungen und in<br />
Auseinandersetzung mit diesen.<br />
Diese Problematik wird in dem Kult-Serien-Roman „Harry Potter und ...“ in adäquater Weise<br />
beschrieben und ist wahrscheinlich auch der tiefere Grund <strong>für</strong> dessen Erfolg. Insbesondere<br />
in Band 4 muss Harry Potter im Rahmen des sogenannten trimagischen Turniers drei<br />
Aufgaben lösen, die allesamt <strong>für</strong> ihn auch tödlich enden könnten, wobei die zweite Aufgabe<br />
darin besteht herauszufinden, worin die Aufgabe eigentlich besteht. Eine perfekte Metapher<br />
<strong>für</strong> die Schwierigkeit der Pubertät am Beginn des 21. Jahrhunderts.<br />
20
Eine ältere soziologische Beschreibung dieses Umstands hatte einen Kulturwandel<br />
festgestellt, in dessen Folge in der modernen Gesellschaft Initiationsrituale abgebaut worden<br />
sind (vgl. Geulen 1982). Auch dies meinte nichts anderes, als dass der Jugendliche beim<br />
Erwachsenwerden heute weitgehend auf sich selbst gestellt ist. Da<strong>für</strong> konnte man in dieser<br />
Betrachtungsweise zusätzlich erkennen, dass heute versteckte Initiationen in Schule<br />
(Matura) und Militär angeboten werden, die aber nicht mehr zur erwünschten Ablösung vom<br />
Elternhaus führen und familiäre Abhängigkeiten nicht vollständig auflösen, sondern diese auf<br />
den Staat übertragen. Dieser wird als (scheinbar) gute Mutter oder <strong>für</strong>sorgepflichtiger Vater<br />
erlebt (Hurrelmann 1989). Und tatsächlich hat der Staat und seine Regierungen diese Rolle<br />
lange Zeit ja auch gespielt bzw. einen solchen Eindruck vermittelt.<br />
In Zeiten des von wirtschaftlichen Wandlungen ausgelösten Umbruchs unserer<br />
Gesellschaften und der neuen politischen Herausforderungen kann der Staat die früheren<br />
Sicherheiten jedoch nicht mehr in alter Form garantieren. Mehr denn je müssen die Risiken<br />
und Unsicherheiten der Zukunft heute von den Individuen selbst ertragen und bearbeitet<br />
werden (vgl. Beck 1986).<br />
Geschlechtsspezifische Momente der Adoleszenz<br />
Im Zentrum der Jugendphase stehen die großen körperlichen Wandlungen, die mit der<br />
Sexualreifung einhergehen und die seelische Dynamik zur Ausgestaltung der eigenen<br />
Weiblichkeit bzw. Männlichkeit auslösen. Diese Umgestaltung des Körpers verunsichert das<br />
Selbstbild, macht übersensibel und erzeugt Gefühle der Entfremdung bei Mädchen und<br />
Buben, allerdings auf unterschiedliche Weise.<br />
Bei Mädchen setzt die Pubertät rund zwei Jahre früher ein und beginnt mit der Entwicklung<br />
eines fraulichen Körpers. Die Fruchtbarkeit mit Einstellen des ersten Eisprungs bildet den<br />
Endpunkt dieser Entwicklung. Die männliche Pubertät beginnt mit der potentiellen<br />
Fortpflanzung, der ersten Ejakulation. Die Mannwerdung steht daher erlebensmäßig mit der<br />
eigenen Sexualität im engen Zusammenhang und kann daher leichter mit positiven Gefühlen<br />
und Erwartungen verbunden werden.<br />
Die Akzeptanz des eigenen Körpers hängt sehr stark von den Reaktionen der Umwelt auf<br />
diesen ab. Der Wunsch der jungen Frauen ist es, betrachtet und bewundert zu werden<br />
(Peter Blos 1978). Es besteht daher <strong>für</strong> Mädchen eine Schwierigkeit dahingehend, ein von<br />
männlichen Wertschätzungen unabhängiges positives Verhältnis zu ihrem eigenen Körper zu<br />
erlangen. So ist der Wert der Körperlichkeit von Mädchen und jungen Frauen oft abhängig<br />
von männlichen Wertschätzungen und damit anfällig <strong>für</strong> Verunsicherungen und Verletzungen<br />
21
(Flaake 1997). Das Selbstwertgefühl kann also bei den in der Pubertät steckenden jungen<br />
Mädchen leicht beeinträchtigt werden.<br />
Mehr als das <strong>für</strong> Knaben gilt, dient den jungen Frauen der Körper und dessen pubertäre<br />
Veränderung als Basis der Identitätsentwicklung. Grundlegend <strong>für</strong> das zu entwickelnde Bild<br />
von Weiblichkeit ist daher, wie die jungen Frauen die Veränderungen ihres Körpers erleben<br />
und ob sie ihn als mangelhaft oder als liebenswert, als Quelle von Schmerz oder von Lust<br />
erfahren. Die individuelle Annahme des Körpers vollzieht sich innerhalb von<br />
gesellschaftlichen und kulturellen Normen und Standardisierungen, die heute den weiblichen<br />
Körper tendenziell abwerten und sehr eng geführte Schönheitsideale mit wenig<br />
Abweichungsspielraum vorgeben. Da die Attraktivität <strong>für</strong> die Ausbildung einer weiblichen<br />
Identität einen hohen Stellenwert hat und Abweichungen zu Beeinträchtigungen des<br />
Selbstwertgefühls führen können, wird die weibliche Pubertät in der heutigen Gesellschaft<br />
zunehmend schwieriger.<br />
Ein Nebenprodukt der Pubertät, die Gewichtszunahme (Richards & Larson 1993), steht dem<br />
gängigen Schlankheitsideal unserer Gesellschaft entgegen. Insbesondere durch die<br />
Propagierung eines schlanken, knabenhaften Körperideals wird die pubertätsbedingte<br />
Gewichtszunahme zum Problem. Rauchen kann daher auch als ein Instrument der<br />
Gewichtskontrolle eingesetzt werden.<br />
Ein weiterer Unterschied in der weiblichen und männlichen Pubertät besteht darin, dass<br />
junge Frauen ihre Identitätsentwicklung tendenziell stärker an der Umgestaltung der<br />
familiären Beziehungen orientieren, während Knaben tendenziell stärker zu Autonomie und<br />
Ablösung neigen. Da gesellschaftlich heute noch immer eine gewisse Höherbewertung von<br />
individueller Autonomie und Unabhängigkeit gegenüber sozialer Kompetenz und<br />
Beziehungsfähigkeit gegeben ist, bedingt auch dies eine Erschwerung der weiblichen<br />
gegenüber der männlichen Pubertät.<br />
Beide Schwierigkeiten der weiblichen Pubertät spiegeln sich in der von Mädchen gegenüber<br />
Burschen deutlich schlechter bewerteten Gesundheit und Lebenszufriedenheit sowie in<br />
ungünstigen bis schädlichen Ernährungsgewohnheiten wider (Dür et al. 2002). Durch die<br />
stärkere Orientierung an den vorhandenen Beziehungen sind die familiären Bindungen <strong>für</strong><br />
die weibliche Identitätsentwicklung wichtiger als <strong>für</strong> junge Männer, die stärker am öffentlichen<br />
Raum orientiert sind. Daraus folgt, dass die Reifung zu selbstverantwortlichen Beziehungen<br />
bei den Mädchen stärker ausgebildet ist als bei den Jungen, während die Gestaltung eines<br />
produktiven Narzissmus sich bei den Mädchen weniger entwickeln kann. Mädchen neigen<br />
daher häufiger zu Selbstabwertung und Beschäftigung mit sich selbst, während die Burschen<br />
die innere Betrachtung von sich selbst tendenziell zu vermeiden trachten.<br />
Dies vorausgesetzt, wird heute <strong>für</strong> die normative Forderung nach „starken Power-Frauen“<br />
verschiedentlich ein ambivalenter Befund gegeben. Die modernen Mädchen sind in ihrer<br />
22
medialen (Re-)Präsentation starke Mädchen: sie sind clever, frech, selbstsicher, mutig,<br />
haben Power, setzen sich durch, wissen, was sie wollen. Phrasen wie diese, denn um solche<br />
handelt es sich, sollen einerseits ermutigend und <strong>für</strong> die Mädchen unterstützend sein, gehen<br />
andererseits aber an den konkreten Lebensrealitäten der Mädchen vorbei. Sie werden leicht<br />
zu "Etiketten" mit normativem Charakter, die ein gutes Maß an Anpassung an vorgegebene<br />
Manierismen fordern (Pichler 2000). Diese neuen Mädchenbilder vermitteln insofern eine<br />
ambivalente Botschaft: indem sie Stärke einklagen, konstatieren sie Mangel. Dies führt zu<br />
zusätzlichem Druck und Stress bei den jungen Frauen.<br />
23
4. RAUCHEN ALS KARRIERE<br />
Im folgenden wird der Einstieg in das Zigaretten Rauchen von Jugendlichen als Lernprozess<br />
rekonstruiert, der sich innerhalb und unter dem Einfluss bestimmter sozialer Systeme<br />
vollzieht und daher, wie in der alten, modellhaften Studie von Howard Becker (1963, 1981),<br />
als Karriere begriffen werden kann. Karriere soll dabei bedeuten, dass der Jugendliche im<br />
Zuge dieses Lernprozesses nicht einfach etwas Neues erlernt, sondern dabei gleichzeitig<br />
seinen sozialen Status verändert: er mutiert vom Kind zum jungen Erwachsenen, als der er<br />
in seinen Kreisen dann Anerkennung findet, und er tut das durch Ausbildung einer Identität<br />
und eines gesamten Lebensstils, der ihn mit vielen anderen verbindet. Tatsächlich ist es<br />
dieser Lebensstil, der <strong>für</strong> die Jugendlichen selbst und ihre soziale Umwelt zum<br />
Erkennungsmerkmal da<strong>für</strong> wird, dass die Statuspassage gelungen ist. In einigen<br />
Unterschicht-Familien, deren Jugendliche an unseren Fokusgruppen teilgenommen haben,<br />
scheint es sogar so zu sein, dass die Eltern das Kind durch Aufforderung zum Rauchen in<br />
diese Art Initiation hineindrängen.<br />
Wenn es auch sicher nicht die einzige Art von Karriere zum Erwachsenen ist, so ist es doch<br />
eine, die im Verlauf der vergangenen 20 Jahre zunehmend wichtiger geworden ist. Die steil<br />
ansteigenden Raucherprävalenzen unter den Jugendlichen belegen dies (vgl. Dür et al.<br />
2002).<br />
Mit der These der Raucherkarriere wird zunächst zu dem von Eltern und Lehrer/innen<br />
ebenso häufig benutzten wie von wissenschaftlichen Experten widerlegten Paradigma des<br />
Gruppendrucks (peer pressure) eine alternative Erklärung <strong>für</strong> die Aufnahme des Rauchens<br />
bei Jugendlichen angeboten. Das Theorem des Gruppendrucks hat seit einigen Jahrzehnten<br />
als Motiv <strong>für</strong> den Rauchereinstieg gedient. Es operiert mit dem Bild eines form- und<br />
verführbaren, schwachen, inkompetenten und nicht wirklich selbstbewussten Jugendlichen,<br />
der der Welt und ihren Einflüssen nahezu hilflos ausgeliefert ist, ein Bild, dem wir heute nach<br />
mehreren Jugendrevolten, nach der von J. Habermas so benannten Radikalliberalisierung<br />
der modernen Gesellschaften und nach der sukzessiven Verbesserung der pädagogischen<br />
Arbeit an unseren Schulen so nicht mehr zustimmen können. Den sozialen Wandel im<br />
Selbstverständnis der Jugendlichen kann man am besten am Wandel der filmischen<br />
Vorbilder ablesen: das Paradigma des „alten“ Jugendlichen verkörpert am idealsten James<br />
Dean in dem schon vom Titel her vielsagenden Film „Denn sie wissen nicht, was sie tun“,<br />
während das Bild des „neuen“ Jugendlichen vielleicht am besten von Harry Potter und<br />
Hermine Granger verkörpert wird. Dazwischen etwa liegen die revoltierenden und<br />
fehlgeleiteten Jugendlichen aus Filmen wie „Der Wilde“, „If“ oder „Clockwork Orange“.<br />
24
Im soziologischen Kern des Theorems wird unterstellt, dass jugendliche Peer groups eine<br />
klare, hierarchische Struktur aufweisen, in der von Rädelsführern (opinion leader) Normen<br />
oder Verhaltensweisen durch Druck auf die Mitglieder durchgesetzt werden können. Das<br />
Machtinstrument ist Gewalt oder Ausschluss aus der Gruppe und soziale Ächtung. Um dem<br />
zu entgehen, würden Jugendliche sich eben unterwerfen, was ihnen gleichzeitig einen<br />
höheren Rang in der Gruppe eintrüge. Es ist eingangs im Kapitel 1 gezeigt worden, dass<br />
dieses Theorem heute von vielen Wissenschaftler/innen in Frage gestellt und einer Revision<br />
unterzogen wird.<br />
Im Karrieremodell werden dagegen aktive – nicht reaktive – Jugendliche unterstellt und<br />
lerntheoretische und funktionale Gesichtspunkte miteinander verbunden: das Rauchen wird<br />
als Lernhilfe auf dem Weg zum Erwachsenen begriffen, eine Lernhilfe, die von Jugendlichen<br />
nicht gegen ihren Willen und unter Zwang benutzt wird, sondern freiwillig, wenn auch unter<br />
dem Gebot einer Situation, in der sie dringend Hilfen benötigen und häufig nicht viele andere<br />
Wahlmöglichkeiten sehen.<br />
Auch einem zweiten weit verbreiteten Erklärungsschema wird damit eine Absage erteilt,<br />
nämlich der Vorstellung, dass Jugendliche als Ausdruck einer Protesthaltung zu rauchen<br />
beginnen. In dieser These wird unterstellt, dass gerade das Verbot des Rauchens <strong>für</strong> unter<br />
16-Jährige und die negative Haltung der Eltern bzw. der Erwachsenenwelt insgesamt die<br />
Zigarette <strong>für</strong> Personen erst attraktiv mache, die diesen Umwelten gegenüber ein Signal des<br />
Protests und der Ablehnung von deren Normen und Werten aussenden möchten.<br />
Demgegenüber behauptet das Karrieremodell gerade das Gegenteil, dass nämlich Rauchen<br />
eine Art Anpassung an vorgestellte Ideale des Erwachsenseins darstellt und die<br />
Jugendlichen näher an die Erwachsenenwelt heranrückt, aus der sie ja weitgehend<br />
ausgeschlossen sind. Rauchende Erwachsene fungieren daher, ob sie es wissen und wollen<br />
oder nicht, als Vorbilder. Und Rauchen ist bei Jugendlichen insofern eine Antwort auf das<br />
Problem, dass sie in der modernen Gesellschaft in einen weitgehend eigenen Jugendbereich<br />
abgedrängt sind, aber gleichzeitig mit der Entwicklungsaufgabe konfrontiert, diesem zu<br />
entwachsen.<br />
Insgesamt können wir auch keine negative Gesamthaltung unserer Gesellschaft und Kultur<br />
gegenüber der Zigarette wahrnehmen, wenn auch die kritischen Äußerungen darüber im<br />
Zunehmen und die Toleranz von Nicht-Raucher/innen im Abnehmen begriffen ist. Noch<br />
prangen Zigarettenwerbungen auf den Dressen von Fußballmannschaften und Formel 1-<br />
Piloten und deren Rennautos, die beide die Programme des ORF zu besten Einschaltzeiten<br />
25
evölkern. Noch wird in sogenannten Kult-Sendungen wie „Sex and the City“ hemmungslos<br />
geraucht. Noch sind die Raucherzonen in Gasthäusern und Restaurants größer als die<br />
eigentlichen Normalbereiche der Nicht-Raucher. Noch sind die Tabaktrafiken des Landes<br />
nicht an entlegenen Orten versteckt, sondern an den zentralen, strategisch bedeutsamen<br />
Plätzen unserer Städte, und noch werden darin nicht nur Zigaretten, sondern auch die<br />
publizierte Öffentlichkeit gehandelt, sozusagen ein Abbild des offiziellen Österreich.<br />
Darüber hinaus finden wir viele Beispiele da<strong>für</strong>, dass Jugendliche ihr Rauchen mit einem<br />
schlechten Gewissen verbinden und es im Geheimen tun, vor allem deshalb, weil sie nicht<br />
wollen, dass Vater, Mutter und ihre Lehrer/innen davon erfahren. Wer bliebe dann aber noch<br />
als Adressat des Protestes übrig? Dieses Theorem muss aus heutiger Sicht daher ebenfalls<br />
revidiert, wenn nicht ad acta gelegt werden. Es stammt ursprünglich aus der Frühzeit der<br />
Etablierung der Zigarette in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts, nach dem ersten<br />
Weltkrieg, als sie zunächst das Image des Verruchten, des Abseitigen und<br />
Lebensfeindlichen, des antibürgerlichen Außenseitertums hatte, als in Filmen vor allem<br />
Gangster, Abenteurer und die Femmes fatales geraucht haben (vgl. Hengartner 1996).<br />
Dieses Bild hat sich bis heute gründlich verändert. Die Zigarette ist heute vollständig<br />
normalisiert und differenziert nicht mehr nach Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen, da letztlich<br />
in allen Schichten und Populationen, wie immer diese definiert werden, Raucher/innen und<br />
Nicht-Raucher/innen zu finden sind.<br />
Mit der Zigarette ist aber ein neues Differenzierungsschema verbunden worden, welches<br />
nicht Personen und deren Habitus, sondern vielmehr Situationen unterscheidet, und zwar in<br />
solche, in denen geraucht wird, und solche, in denen nicht geraucht wird. Damit ist<br />
tendenziell ist die alte Unterscheidung von Raucher vs. Nicht-Raucher obsolet und jenen<br />
gesundfördernden Maßnahmen, die auf Raucher/innen als konkrete Personen abzielen,<br />
verfehlen einen wesentlichen Punkt. Man ist nicht Raucher, sondern man raucht.<br />
Die typische „Situation <strong>für</strong> Rauchen“ scheint eine zu sein, in der vom Handelnden<br />
Selbstkontrolle, Entspannung und Beruhigung hergestellt werden muss, eine Gemütslage<br />
insgesamt, die man kurz als cool bezeichnen kann. Dieser Terminus wird in unseren<br />
Fokusgruppen auch tatsächlich verwendet, allerdings seltener und gleichbedeutend mit<br />
Begriffen wie „chillig“ oder „chill-out“, was darauf hindeutet, dass es sich weder um einen tief<br />
in der Persönlichkeit verankerten Charakterzug noch um eine grundlegende Lebenshaltung<br />
oder Weltanschauung handelt, sondern um die Tätigkeit des Herstellens einer momentanen<br />
Gemütslage. Das Image der Zigarette ist heute insofern viel direkter mit den Wirkungen<br />
verbunden, die von ihren psychoaktiven Substanzen tatsächlich ausgehen, und weniger mit<br />
26
ästhetischen Bedeutungen der sozialen, an der Person haftenden Zuordnung. Der Raucher<br />
unterscheidet sich heute nicht mehr prinzipiell vom Nichtraucher, so wie das in der ersten<br />
Hälfte des letzten Jahrhunderts noch war, als die rauchende Frau eine Femme fatale und die<br />
gutbürgerliche Hausfrau unbedingt eine Nichtraucherin, der rauchende Mann ein<br />
Außenseiter oder Arbeiter, der gutbürgerliche Vater jedoch unbedingt ein Nichtraucher war.<br />
In den Filmen der siebziger Jahre verflücht sich diese Differenz allmählich, indem nun jede<br />
und jeder rauchen darf, und zwar immer und überall, wie das Michel Piccoli und Romy<br />
Schneider in ihren Filmen beispielhaft vorgeführt haben. Geblieben ist, dass das Rauchen<br />
<strong>für</strong> jeden möglich ist, geändert sich seither jedoch radikal, dass Rauchen nicht mehr in jeder<br />
erdenklichen Situation möglich und erwünscht ist. Rauchen ist daher auf bestimmte<br />
Situationen beschränkt, die dadurch gekennzeichnet sind, dass der Raucher oder die<br />
Raucherin eine Art Auszeit nimmt und sich ihren inneren psychischen Zuständen zuwendet.<br />
Hier tut die Zigarette ihre Wirkung.<br />
Diese Wirkungen zu erkennen ist die eigentliche Schwierigkeit und der eigentliche<br />
Lernprozess des Rauchers, ganz ähnlich wie das von Howard Becker <strong>für</strong> Marihuana-<br />
Raucher in den 60er Jahren festgestellt worden ist.<br />
Der wesentliche Vorteil des Karrieremodells liegt darin, dass dieser Perspektivenwechsel<br />
auch neue Blicke auf die Möglichkeiten der Prävention ermöglicht. Durch die Rekonstruktion<br />
des Einstiegs in das Rauchen als sozialen Prozess werden Interventionsmöglichkeiten<br />
sichtbar, die nicht allein am Individuum ansetzen und dieses zu mehr Einsicht, zu besseren<br />
Entscheidungen, zu mehr Rückgrat und persönlicher Stärke oder zu anderen Motiven<br />
bekehren sollen, sondern die an den sozialen Rahmenbedingungen des Prozesses und<br />
seinen Eckpunkten ansetzen. Es wird dann nicht so sehr und nicht ausschließlich darum<br />
gehen, die individuellen Fähigkeiten zu fördern, die man braucht, um nein zu sagen („Ich<br />
brauch´s nicht“; „Be smart – don´t start“) und sich gegen die Versuchungen der Drogenwelt<br />
zu wappnen („Stark statt süchtig“), sondern darum, das Grunddilemma der Jugendlichen zu<br />
bearbeiten, das darin besteht, in einer Gesellschaft erwachsen werden zu müssen, die da<strong>für</strong><br />
jedoch keine klaren sozialen Positionen vorgesehen hat. Am deutlichsten wird dieses<br />
Dilemma an der Schwierigkeit von Schule sichtbar. Dort sollen sich Jugendliche in einem<br />
System, in dem sie sich die meiste Zeit des Tages aufhalten und das nach allen<br />
systemischen Merkmalen <strong>für</strong> unmündige, <strong>für</strong>sorgeabhängige Kinder konstruiert wurde, wie<br />
Erwachsene benehmen.<br />
Um noch einmal Harry Potter zu bemühen: im vierten Band muss J.K. Rowling´s Romanheld<br />
am trimagischen Turnier teilnehmen, was ihm einen außerordentlichen Triumph oder aber<br />
27
den Tod durch seinen Widersacher Voldemort bescheren kann. Es geht um alles oder nichts.<br />
Die zweite der drei zu lösenden Aufgaben scheint uns typisch <strong>für</strong> die allgemeine<br />
Lebenssituation von Jugendlichen in der heutigen Zeit zu sein. Sie besteht darin<br />
herauszufinden, worin sie besteht. Zu wissen, worin die Aufgabe besteht, ist auch schon ihre<br />
Lösung. Doch wie beginnen, wenn man keinen Anhaltspunkt hat? In ähnlich vertrackter<br />
Weise besteht die Aufgabe des Erwachsenwerdens <strong>für</strong> Jugendliche darin herauszufinden,<br />
was Erwachsensein überhaupt ist. Um das zu erfahren und herauszufinden, haben sie<br />
jedoch kaum geeignete Erfahrungsräume. Denn um zu erfahren, wie es ist, erwachsen zu<br />
sein, muss man wie ein Erwachsener behandelt werden. Wenn das ausbleibt, schaffen sich<br />
die Jugendlichen eben andere Sphären, in denen alles jedoch immer nur den Anschein von<br />
dem hat, was es zu sein vorgibt.<br />
28
4.1 Stufe eins: Wirkungen Beobachten<br />
Junge Menschen – Mädchen und Knaben – wachsen in einer Gesellschaft auf, in der<br />
vielerorts und in den meisten sozialen Kontexten geraucht wird. Junge Menschen<br />
beobachten Raucher und Raucherinnen. Sie beobachten diese allerdings nicht<br />
hinsichtlich der Wirkung, die diese als schöne, coole, gefällige, lässige oder<br />
sympathische Personen auf sie haben, sondern in Bezug auf die Wirkungen, die das<br />
Rauchen auf die Raucher/innen selbst ausübt. Jugendliche beobachten die Wirkungen<br />
des Zigaretten Rauchens.<br />
Junge Menschen – Mädchen und Knaben – wachsen in einer Gesellschaft auf, in der<br />
vielerorts und in den meisten sozialen Kontexten geraucht wird. Die jungen Erwachsenen<br />
beobachten in ihrer Umwelt Personen, die rauchen. Das können Eltern, Lehrer, Geschwister,<br />
Freunde und Peers sein, aber auch die medialen, sozusagen virtuellen Stellvertreter der<br />
Erwachsenen in Fernseh- und Kinofilmen. Durch die Beobachtung der anderen und auch<br />
durch Beobachtung der Situationen, in denen die Raucher zur Zigarette greifen, nehmen sie<br />
die Zigarette in ihrer Funktionalität wahr und verinnerlichen so die positive Wirkung der<br />
Zigarette.<br />
Die jungen Erwachsenen haben also in ihrer Umwelt jede Menge Vorbilder <strong>für</strong> das Rauchen.<br />
Ob bewusst oder unbewusst: Eltern, Lehrer, Verwandte und Bekannte, ältere Peers, aber<br />
auch manche Stars und Prominente, die in Medien und Werbung sichtbar sind, werden zu<br />
Vorbildern <strong>für</strong> die Jugendlichen.<br />
„B1: Sonst gibt es ja keinen Grund anzufangen. Jeder sieht die Erwachsenen, wie<br />
sie rauchen im Wirtshaus oder zu Hause, in einer netten Runde, natürlich,<br />
unbewusst ist das einfach.<br />
I: Du glaubst, so von den Vorbildern. So, das Erwachsensein ist mit Zigarette<br />
verbunden?<br />
B1: Ja, extrem.<br />
I: Ja?<br />
B1: Ja, glaube ich voll.<br />
B2: Das ist Neugierde, da willst Du nicht cool sein, aber es interessiert Dich.“<br />
(Simon M 462/496)<br />
„B2: Ja, weil wenn man dann irgendwo durch die Stadt geht und sieht dort eine<br />
Tschik und der raucht und der ist relaxed und so und da denkst Du Dir, shit,<br />
ich will jetzt auch eine.“ Mattheus (1332/1351)<br />
Warum wird dieses Verhalten der rauchenden Erwachsenen zum Vorbild? Zunächst muss<br />
man sehen, dass Jugendliche die Aufgabe haben, selbst Erwachsene zu werden und von<br />
daher sich selbstverständlich am Vorbild von Erwachsenen orientieren müssen.<br />
29
Rauchen gehört wahrscheinlich zu den Verhaltensweisen von Erwachsenen – neben<br />
Alkoholkonsum und/oder Sexualität -, die aus Sicht von Jugendlichen am rätselhaftesten und<br />
geheimnisvollsten erscheinen, da sie aus ihrer Kindheit über keine vergleichbaren<br />
Erfahrungen verfügen. Es ist daher durchaus verständlich, dass Jugendliche sich da<strong>für</strong><br />
interessieren, was denn hinter der Zigarette steckt. Auf diese Weise entsteht durch<br />
Neugierde ein Motiv.<br />
„M2: Man will einfach wissen, wie es schmeckt und warum wollen das alle<br />
Erwachsenen, und dann probiert man es halt aus.“ (Simon W 1117/1120)<br />
Bei den Erwachsenen im Allgemeinen, welche Raucher/innen beobachten Jugendliche denn<br />
im Speziellen? Die ersten RaucherInnen denen die Jugendlichen begegnen, sind die<br />
eigenen Familienmitglieder, häufig sogar die Eltern. Gerade in der Familie scheint die<br />
Zigarette mit vielen positiven sozialen Situationen in Verbindung zu stehen, wenn sie zum<br />
Alltag des Familienlebens gehört.<br />
„I: Rauchen Deine Eltern auch?<br />
M1: Ja. Deswegen habe ich eigentlich auch begonnen zu rauchen. Meine ganze<br />
Familie raucht.“ (Wienerberg W 148/151)<br />
„B1: Mein Vater hat geraucht und mein Opa hat geraucht und ich war eigentlich viel<br />
in der Familienseite bei meinem Vater. Da haben alle geraucht, mein Onkel,<br />
mein Vater, mein Opa und wir waren alle immer ziemlich stark beisammen.“<br />
(Simon M 43/48)<br />
Besonderes Vorbild <strong>für</strong> junge Männer sind natürlich die Männer, <strong>für</strong> die Mädchen die Frauen<br />
in der eigenen Familie. Das Rauchen bekommt <strong>für</strong> sie einen Sinn, wenn sie Tag <strong>für</strong> Tag den<br />
Raucher/innen in der eigenen Familie gegenüberstehen. Ganz klar und eindeutig wird hier<br />
von einem Unterschicht-Mädchen formuliert, dass sie zu Rauchen begonnen hat, da<br />
eigentlich die ganze Familie raucht.<br />
Neben der Familie gibt es auch noch andere Erwachsene, die von den jungen Erwachsenen<br />
in dieser Hinsicht wahrgenommen werden.<br />
“M3: Kennst Du Sex in the City, schon oder?<br />
I: Die Serie?<br />
M3: Die rauchen sich alle 5 Minuten eine an.“ (Trummelhof 761/804)<br />
In Fernsehen kommt dem Rauchen ein zentraler Stellenwert zu. Den jungen Frauen und<br />
Männern fällt sehr wohl auf, dass, in welchen Situationen und mit welchen Wirkungen im<br />
Fernsehen geraucht wird. Sogar die Zigarettenmarken sind bekannt. Es ist bekannt, dass die<br />
Zigarettenindustrie die Werbeverbote, die mittlerweile in allen hochentwickelten Ländern<br />
30
Gesetz sind, durch Product Placement in der TV- und Filmbranche zu kompensieren<br />
trachtet. Ein entsprechendes Gegenkonzept ist auf Seiten der Prävention noch nicht<br />
entwickelt worden. Es scheint uns aber notwendig, diese Dinge sehr bewusst anzusprechen,<br />
etwa im Rahmen einer allgemeinen medienkritischen Debatte im Schulunterricht.<br />
Durch das Vorleben der Eltern, Freunde, Geschwister oder sonstigen Personen aus der<br />
Umwelt oder den Medien bekommen die jungen Erwachsenen immer vor Augen geführt, wie<br />
die Zigarette wirkt. Ob in einer Fernsehserie die Hauptdarstellerinnen Zigaretten rauchen,<br />
wenn sie in verzwickten, aussichtslosen oder tristen Situationen sind, oder ob die Eltern<br />
einen entspannteren, positiveren Zustand erreichen, wenn sie eine Zigarette rauchen, das<br />
alles prägt sich bei den jungen Erwachsenen ein.<br />
Wenn es einen zusammenfassenden Begriff <strong>für</strong> die vielfältigen Wirkungen geben kann, dann<br />
ist es wohl der Begriff „cool“. Er ist so schillernd und vieldeutig, dass sich eine umfangreiche<br />
Analyse im Zusammenhang dieser Arbeit verbietet. Eines ist aber wesentlich festzuhalten<br />
und darin mag ein Unterschied zu einem früheren Gebrauch des Wortes liegen: cool<br />
beschreibt heute tendenziell keine Eigenschaft, die Personen als psychologische Einheit<br />
zugeschrieben werden könnte, so dass also eine ganze Person insgesamt cool oder uncool<br />
wäre, als cooler oder uncooler Typ beschrieben werden könnte. Eine solche fast<br />
essentialistisch klassifizierende Bedeutung hat cool eigentlich nur in Bezug auf Dinge oder<br />
Verhaltensweisen. Diese können insgesamt und tiefgründig cool oder uncool sein. So kann<br />
ein Auto cool sein, eine Hose, eine Sonnenbrille, ein Musikstück oder ein Film, aber ebenso<br />
eine bestimmte Handlung wie beispielsweise bei rot über die Straße gehen. Man sieht daran,<br />
dass die konkreten Zuschreibungen sehr stark vom jeweiligen subkulturellen Kontext<br />
abhängen. Es ist aber, wenn etwas cool ist, immer ein ästhetisches Urteil des Beobachters,<br />
das mit einem bestimmten emotionalen Zustand bei diesem verbunden ist, den man<br />
vielleicht am ehesten als Gelassenheit umschreiben kann.<br />
In vielen jugendlichen Subkulturen gilt rauchen als cool, sicher sehr viel mehr, als das auf<br />
erwachsene Subkulturen zutrifft. In diesem Begriff sind alle Wirkungen zusammengefasst,<br />
die die Jugendlichen an Raucher/innen beobachtet haben. Raucher/innen wirken auf die<br />
Jugendlichen gelassen. Sie lösen bei ihnen ein Gefühl von Gelassenheit aus. Raucher/innen<br />
zu beobachten ist cool. „Es ist schon cool“.<br />
„B3: Bei mir war es, nach der Schule, glaube ich, auch mit einem Freund. Bei uns<br />
sind sie draußen gestanden, also irgendwelche Typen und wir haben uns halt<br />
gedacht, naja, es ist schon cool.“ (Mattheus 74/78)<br />
31
Auch die folgenden Zitate zeigen, dass es den jungen Mädchen und Buben nicht darum<br />
geht, wie derjenige aussieht, der eine Zigarette raucht, sondern darum, wie sich die Wirkung<br />
in ihm niederschlägt.<br />
„M1: Ich meine jetzt nicht so ein ganz genaues Bild von einem Menschen, der eine<br />
Zigarette raucht, sondern eben irgendwie so eine Zigarette ist etwas<br />
Entspannendes, Gemütliches, Leute sitzen gemütlich zusammen.“ (Simon W<br />
1313/1318)<br />
32
4.2 Stufe zwei: Erstes Probieren<br />
Jugendliche probieren Zigaretten, um die von ihnen beobachteten Wirkungen bei sich<br />
selbst zu erzeugen. Das erste Probieren erfolgt zumeist gemeinsam mit (sehr) guten<br />
Freunden bzw. Freundinnen in einer heimlichen Situation. Die erwarteten Wirkungen<br />
treten zunächst jedoch nicht ein.<br />
Die Jugendphase gilt als die Zeit des Ausprobierens und Experimentierens, was sich auch<br />
auf das Rauchen beziehen lässt. Es wird daher üblicherweise davon ausgegangen, dass die<br />
Präventionsarbeit gegenüber Jugendlichen nicht prinzipiell zum Ziel haben kann, dieses<br />
Probieren und kennen Lernen zu unterbinden. Einige Kontakte mit der Zigarette haben die<br />
Jugendlichen insofern „frei“, auch um überhaupt zu wissen, wogegen genau sie sich<br />
entscheiden sollen. Umso wichtiger ist es, verstehen zu lernen, was in dieser Probierphase<br />
denn eigentlich passiert.<br />
Sie konnten bei den Erwachsenen und älteren Jugendlichen beobachten, wie die Zigarette<br />
auf diese wirkt und welche veränderten Verhaltensweisen und Gesichtsmimiken davon<br />
ausgelöst wurden. Nun scheint es, dass sie diese Wirkungen auch am eigenen Leib<br />
empfinden wollen.<br />
Probieren in der vertrauten Freundesgruppe<br />
Wie geht das Probieren der ersten Zigarette(n) bei den 14-16-jährigen<br />
Raucheneinsteiger/innen vonstatten? In welchem Rahmen passiert es? Wer ist dabei?<br />
Welche Eindrücke empfangen sie und was lernen sie daraus?<br />
Zunächst ist auffällig, dass das Probieren bei Madchen und Knaben gleichermaßen mit sehr<br />
ausgewählten Personen in einem eher intimen Rahmen stattfindet.<br />
„M2: Ich habe das erste Mal in der dritten Klasse Volksschule, glaube ich, eine<br />
Zigarette probiert, aber das wirklich nur ausprobieren. Das war mit meiner<br />
besten Freundin und mit meiner Schwester.“ (Simon W 70/74)<br />
„M2: Es waren 2 Freundinnen von mir, die waren 17 damals und ich war, glaube<br />
ich, 13. Das waren meine besten Freundinnen.“ (Lido 78/80)<br />
„B1: Also ich weiß gar nicht was meine erste Zigarette war. Ich glaube, das war an<br />
einem Lager, das waren glaube ich, der Clemens, der da auch hier sitzt und<br />
ich.“ (Mattheus 18/22)<br />
33
„B6: Bei mir war es, nach der Schule, glaube ich, auch mit einem Freund. Bei uns<br />
sind sie draußen gestanden, also irgendwelche Typen und wir haben uns halt<br />
gedacht, naja, es ist schon cool.“ (Mattheus 74/78)<br />
„B3: Ich war mit einem Freund bei ihm im Keller, das ist so ein Spielkeller. Er hat<br />
eben Zigaretten gehabt und hat gesagt, ich zeige Dir einen Trick, hat mir eine<br />
angezündet und hat eben auch mit dem gleichen Schmäh, mit die Mami<br />
kommt und daraufhin haben wir alle auch sehr gehustet.“ (Mattheus 147/154)<br />
„I: Und wie war das <strong>für</strong> die anderen, war noch jemand ganz alleine, hat das noch<br />
jemand von Euch alleine probiert? Ihr wart alle mit Freunden.<br />
B2: Ja.<br />
I: Und waren die älter oder gleich alt?<br />
B2: Gleich alt.<br />
B3: Mein Bruder war älter.<br />
B4: Bei mir war es ein bisschen älter, ein halbes Jahr älter, aber nicht wirklich.“<br />
(Mattheus 234/255)<br />
„B2: Meine erste war auch mit 11. Angefangen hat es so, ich war bei mir im Park,<br />
und da hat mein Bruder der fangt immer an, herst komm, nimm einen Zug,<br />
nimm einen Zug. Ich so, na Oida, das schmeckt ja ur-grindig und so, hat er<br />
mich er mich öfters angehaucht, ja, dann habe ich öfters Lungenzüge probiert,<br />
dann bin ich mit meinen Schulkollegen nach der Schule immer normal nach<br />
Hause gegangen. Da haben wir uns öfters anzunden, auch probiert und dann<br />
haben wir geraucht. So ist es bei mir gewesen, ganze Geschichte.“<br />
(Wienerberg M 54/63)<br />
Ein gewisser Geschlechterunterschied könnte hier darin liegen, dass Mädchen die Situation<br />
häufig noch ein wenig intimer gestalten als die Knaben, indem sie es vorzugsweise mit der<br />
besten Freundin in einer häufig völlig abgeschlossenen Situation ausprobieren, während<br />
Knaben einen weiter definierten Kreis von Freunden und auch eine Art Halböffentlichkeit<br />
akzeptieren.<br />
Aber auch vertrauensvolle Familienangehörige - zumeist ältere Geschwister - sind manchmal<br />
beim Raucheneinstieg dabei. In jedem Fall aber muss Vertrauen zu den - meist<br />
gleichgeschlechtlichen und meist gleichaltrigen - Anwesenden bestehen. Es ist eine kleine<br />
verschworene Gemeinschaft, die etwas Verbotenes tut und dabei, wie noch gezeigt werden<br />
wird, ein schlechtes Gewissen hat.<br />
„M4: Auf jeden Fall, die Sandra, eine Freundin von mir eine gute, die hat schon<br />
länger geraucht und irgendwie haben wir es immer probiert, aber es hat uns<br />
nicht geschmeckt. Dann irgendwann im Sommer haben wir selber auch<br />
angefangen dann mit ihr, aber nicht zu mehreren, nur mit der Sandra<br />
eigentlich.“ (Trummelhof 57/62)<br />
Neben der Intimität ist <strong>für</strong> die ersten Rauchversuche kennzeichnend, dass sie mit einer<br />
gewissen Hochstimmung eingegangen werden. Es ist etwas Aufregendes und Spannendes,<br />
34
weil verbotenes. Es ist auch aus der Literatur bekannt, dass kleine Rechtsverletzungen von<br />
Jugendlichen und jungen Leuten vorzugsweise in vertrauten und vertrauenswürdigen<br />
Kreisen begangen und dann nicht als Rechtsübertretung empfunden werden, sondern als<br />
spannend, als Abenteuer und Spaß.<br />
Heimlich Rauchen<br />
Da die Jugendlichen wissen, dass sie es nicht tun sollten, tun sie es im Geheimen. Sie<br />
schotten sich <strong>für</strong> die ersten Probierversuche mit ihren Freunden ab und vollziehen das<br />
Rauchen an Orten und zu Zeiten, an denen sie sich sicher sein können, von niemandem<br />
gesehen zu werden, der <strong>für</strong> sie relevant ist - Eltern oder anderen Verwandte, Nachbarn,<br />
Lehrer/innen. Die meisten Eltern der von uns interviewten Jugendlichen wissen nicht, dass<br />
diese rauchen. Davon sind die Jugendlichen selber jedenfalls überzeugt.<br />
„M3: Und unsere Eltern wissen es auch nicht.“ (Simon W. 385/386)<br />
„M1: Weil ich hab doch, ich rauche nicht richtig auf offener Straße, außer halt am<br />
Abend, wo man weiß, dass jetzt wirklich keiner da sein kann, aber ich habe<br />
am Nachmittag doch recht Angst vor irgendwelchen Leuten“. (Simon W.<br />
314/329)<br />
„M2: Ja, weil wir sind immer dort, wo wir in der Nähe wohnen und dann tue ich<br />
immer nur, ich weiß nicht, nur im Kaffeehaus und nicht auf der Straße.<br />
M3: Es könnte meine Mutter kommen oder mein Vater.<br />
M1: Ja, das stimmt.<br />
I: Also, Ihr raucht dann immer so in Lokalitäten, wo es am ehesten<br />
überschaubar ist.<br />
M1: Ja.<br />
M4: Im Park.<br />
M5: Oder so auf der Straße schon auch, wo ich weiß dass mich keiner sieht-<br />
M2: Zum Beispiel im Ersten.“ (Trummelhof 1015/1034)<br />
Ähnlich groß ist die Angst vor nachträglicher Entdeckung wegen der unangenehmen<br />
Gerüche. Auch diesbezüglich machen sich die Jugendlichen Sorgen und treffen<br />
Vorkehrungen.<br />
„M4: und wir haben uns auch irrsinnige Sorgen gemacht, dass das die Oma riecht<br />
oder so, mit dem Zuckerl im Mund.“ (Simon W 148/151)<br />
„M5: Bei mir, also wenn ich in der Badewanne bin oder so, dann rauche ich schon<br />
eine und so, weil ich mir denk, sie merken es eh nicht.“ (Simon W 623/626)<br />
35
„M3: Ja, nach der Schule. Also, nicht gleich nach der Schule, weil ich doch relativ<br />
Panik habe vor irgendwelchen Lehrern, die doch da sein könnten.<br />
M1: Die sagen immer, gehts auf die andere Straßenseite, wenn Ihr schon rauchen<br />
müssts.<br />
M3: Ja, oder halt nachher dann, also, wenn man ein bisschen weggegangen ist.<br />
Weil ich hab doch, ich rauche nicht richtig auf offener Straße, außer halt am<br />
Abend, wo man weiß, dass jetzt wirklich keiner da sein kann, aber ich habe<br />
am Nachmittag doch recht Angst vor irgendwelchen Leuten.<br />
I: Also, Du machst es noch, kann man sagen, eher heimlich, das Rauchen?<br />
M3: Im Moment ja, ich glaube, das nächste Jahr, wenn wir raus dürfen in der<br />
Pause.<br />
M2: Ja, wenn du 16 bist.<br />
M3: Ja, eben, genau.“ (Simon W 307/329)<br />
„I: Und so überhaupt, weil die rauchen zum Beispiel total offen und Du machst es<br />
doch eher heimlich, auch bei den Lehrern und so? Gibt es da einen Grund<br />
da<strong>für</strong>?<br />
M3: Ja, ich will einfach nicht, dass es die Lehrer wissen, ich weiß nicht, ich glaube<br />
vielleicht, hab ich irgendwie Angst, dass sie dann meine Eltern anrufen, oder<br />
es ist mir einfach teilweise unangenehm, also vor bestimmten Leuten den<br />
Lehrern, ich weiß nicht.“ (Simon W 483/493)<br />
Schlechtes Gewissen<br />
Die Jugendlichen haben insgesamt in hohem Maße Angst vor Entdeckung. Das zeigt<br />
zweierlei: einmal, dass sie wissen, dass sie nicht rauchen sollen, dass es von den<br />
Erwachsenen nicht nur nicht gern gesehen, sondern verboten ist und dass sie im Falle der<br />
Entdeckung mit mehr oder weniger unangenehmen Folgen zu rechnen haben. Rauchen ist<br />
bei Jugendlichen kein sozial akzeptiertes Verhalten mehr und die Jugendlichen wissen das.<br />
Zum andern aber zeigt die Entdeckungsangst, dass die Jugendlichen die Zigarette<br />
mitnichten als Symbol ihrer Revolte und ihrer Unzufriedenheit den Erwachsenen<br />
entgegenstrecken. Auch innerhalb des geheimen Zirkels behandeln sie die Zigarette nicht<br />
als Kokarde einer verschwörerischen Gemeinschaft, die in der Verschwiegenheit dunkler<br />
Gassen, finsterer Keller oder Parkanlagen ihrem Freiheitsdrang huldigt. Das Verbot ist nicht<br />
der Grund, weshalb sie es tun. Das Verbot nötigt zwar zumindest anfangs zur<br />
Geheimhaltung und vermittelt zusätzlich einen gewissen Kick, als Motiv spielt es jedoch<br />
keine Rolle.<br />
Es ist vielmehr so, dass die Jugendlichen selbst noch in der entlegensten, vor Entdeckung<br />
bestens gesicherten Ecke zumeist mit einem schlechten Gewissen rauchen. Das schlechte<br />
Gewissen lässt sich nicht aussperren, allenfalls ein bisschen betäuben oder klein reden. Hier<br />
scheint wieder ein gewisser Geschlechtsunterschied gegeben zu sein: während die Mädchen<br />
fast ausnahmslos über heftige Gewissensbisse bei den ersten Versuchen berichten,<br />
36
scheinen die Burschen in der – zumeist auch größeren und weniger eng befreundeten –<br />
Gemeinschaft mit solchen Nöten ganz gut fertig zu werden. Gründe da<strong>für</strong> könnten in den<br />
Unterschieden zwischen der weiblichen und der männlichen Pubertät liegen, wie sie in<br />
Kapitel 3 besprochen worden sind. Da Mädchen an der positiven Umgestaltung der<br />
familiären Beziehungen entsprechend der veränderten Lebenslage des Mädchens<br />
fundamental interessiert sind, geraten sie leichter mit eigenen Verhaltensweisen in Konflikt,<br />
die diesem Ziel zuwider laufen.<br />
„M4: Ich habe eigentlich meiner Mutti versprochen, dass ich nie zu rauchen<br />
beginnen werde. Irgendwie habe ich, jedes Mal wenn ich rauche ein<br />
schlechtes Gewissen.“ (Trummelhof 951/958)<br />
„M5: Vor allem meine Mutter, meine Eltern sind voll Nichtraucher und die totalen<br />
Anti-Raucher. Ich habe es ihnen auch versprochen, so wie bei ihr.<br />
M6: Ich habe es auch versprochen.<br />
M2: Ich auch.<br />
M1: Da hat man halt schon ein schlechtes Gewissen.“ (Trummelhof 992/998)<br />
„M4: Ich war auch dabei, wie meine Mutter meinen Bruder erwischt hat. Mein<br />
Bruder ist älter als ich. Wie sie ihn das erste Mal rauchen gesehen hat, und<br />
ich hab es erlebt, wie deprimiert sie war und ich habe ihr da auch<br />
versprochen, dass ich das nie machen werde. Ich habe auch immer Angst,<br />
wenn sie mich sieht, dass sie auch so reagieren würde. Deshalb will ich nicht,<br />
dass sie mich sieht, ich weiß nicht.“ (Trummelhof 1007/1017)<br />
Den jungen Mädchen geht es hauptsächlich darum, das Rauchen vor den Eltern zu<br />
verbergen. Sie wissen, dass die Eltern es nicht begrüßen, wenn ihre "Kinder" rauchen. Die<br />
Eltern könnten enttäuscht, deprimiert oder auf die Jugendlichen sauer sein. Darum wird die<br />
Heimlichkeit und Intimität gewahrt.<br />
Auch die Burschen verheimlichen es vor allem vor den Eltern, allerdings scheinen sie<br />
zumindest, wenn sie aus Unterschicht-Familien stammen, mit härteren Sanktionen rechnen<br />
zu müssen, falls sie erwischt werden. Obwohl es auch Eltern gibt, die ihren Kindern das<br />
Rauchen nahezu aufdrängen – siehe Kapitel 5 -, ist das Rauchen von Jugendlichen<br />
mittlerweile doch auch in der Unterschicht mehr oder weniger verpönt. Immerhin müssen die<br />
Burschen aus den nachfolgenden Beispielen im Falle der Entdeckung einigermaßen mit<br />
„Ärger“ rechnen.<br />
„B1: Mein Vater ist LKW-Fahrer und ist mit dem LKW gefahren und ich bin mit ihm<br />
gefahren. Er raucht und ich sitze neben ihm und er fährt nach (…), ich will<br />
auch rauchen, aber ich kann nicht, weil ich kann nicht vor ihm rauchen, das ist<br />
er nicht von mir gewöhnt. Da habe ich einfach Gusto. Ich habe auch genug<br />
Geld einstecken, da kann ich welche kaufen bei der Tankstelle. Wenn er<br />
schlafen geht, kann ich rauchen, aber ich habe gesagt nein, ich verzichte<br />
37
lieber, falls er das riecht, dann kriege ich noch mehr Ärger, deshalb habe ich<br />
es nicht gemacht.“ (Wienerberg M 373/384)<br />
„B6: Schon, er würde erst einmal nicht reagieren, wenn er jetzt erfahren würde in<br />
diesem Alter, da würde er nicht so gut reagieren, das kann ich .... Es wäre<br />
etwas anderes wenn ich 18 bin. Er würde schon auch reagieren, aber ich bin<br />
18, ich bin volljährig nach dem neuen Gesetz.“ (WUK 1157/1161)<br />
„B3: Ja, die wissen noch immer nichts, auch mein Bruder und meine Schwester.<br />
Mein Bruder hat mich bei der Kreuzung erwischt. Ich wollte mir eine<br />
anzünden, auf der Straße, ganz schwarz von der Arbeit ....Wie geht's... Der<br />
schreit und schreit, ich sag´s meinen Eltern... sag nichts. Wenn Du nichts<br />
sagst, sage ich meinen Eltern auch nichts.“ ( WUK 1118/1123)<br />
Zigaretten kaufen<br />
Um die ersten wirklich gewollten und bewusst veranstalteten Rauchversuche geheim halten<br />
zu können, müssen die Jugendlichen Vorkehrungen treffen. Sie stellen Überlegungen an, wo<br />
und mit wem es stattfinden soll, legen den Zeitpunkt und die Situation fest und müssen<br />
überlegen, wie sie zu dem wichtigsten Requisit der verbotenen Szene kommen können –<br />
Zigaretten.<br />
Das ist im Prinzip gar nicht so einfach, wenn man keine rauchenden Eltern hat oder wenn<br />
diese ihre eigenen Zigaretten abzählen und verstecken. Auch ältere Geschwister sind nicht<br />
notwendigerweise eine Lösung, da sie, wie obiges Beispiel zeigt, oft noch biestiger sein<br />
können als Eltern. Man kann auch nicht einfach in eine Tabaktrafik gehen, freundlich grüßen<br />
und Zigaretten verlangen, da die Trafikanten ja angehalten sind, an Jugendliche unter 16<br />
Jahren keine Tabakwaren zu verkaufen. Außerdem ist in kleineren Städten und Dörfern die<br />
soziale Kontrolle zu <strong>für</strong>chten, da man sich einer Trafik, die zumeist zentral gelegen sind und<br />
kleine Kommunkationszentren darstellen, unerkannt noch nicht einmal nähern kann. Und<br />
was schon gar nicht geht, ist, einfach bei Leuten Zigaretten zu schnorren, denn das würde<br />
das Geheimnis lüften, noch bevor es überhaupt eines wäre.<br />
Hier kommt nun den Jugendlichen in Österreich (und ebenso in Deutschland und in Belgien)<br />
der Staat unseligerweise mit einem deus ex machina zu Hilfe, indem er erlaubt, dass<br />
Zigaretten über Automaten verkauft werden dürfen, was in vielen anderen EU-Staaten aus<br />
genau den Gründen, die hier diskutiert werden, bereits verboten ist. Wissenschaftliche<br />
Studien belegen eindrucksvoll, dass der Zugang zur Droge Nikotin über Automaten einen<br />
entscheidenden Einfluss auf die Raucherprävalenz bei Jugendlichen hat (vgl. u.a. Dür et al.<br />
2001, Currie et al. 2001).<br />
38
„B1: Also, eben nachdem ich mit diesem Freund in Kärnten war und wir dort<br />
unsere erste geraucht haben oder unsere ersten zwei oder so, sind wir<br />
einmal, wie wir wieder in Wien waren natürlich, zum Automaten gegangen und<br />
haben uns gemeinsam eines [ein Packerl] gekauft, so ganz schnell: ist<br />
niemand da? habens ganz schnell eingesteckt und sind dann weggerannt“.<br />
(Simon M 403/417)<br />
Es ist ein Indikator <strong>für</strong> das Anfangsstadium des Raucherdaseins, dass das Rauchen in einer<br />
breiten Öffentlichkeit vermieden wird und nur in einer eingeschränkten Öffentlichkeit<br />
geraucht wird. Mit dem Kauf von Zigaretten muss nun nicht nur die Tat, sondern auch das<br />
Corpus delicti geheim gehalten werden.<br />
„B2: Das haben wir bei mir aufbewahrt, in so einer grünen Schachtel, so versteckt,<br />
bei mir, urgeheim gehalten noch. Einmal in der Woche ist dann der Richard,<br />
also mein Freund, zu mir gekommen, dann sind wir immer bei mir auf die<br />
Terrasse gegangen und haben so cool eine geraucht.“ (Simon M 403/417)<br />
Schmerzen und Ekel<br />
Bei den meisten jungen Erwachsenen ist der Beginn des Rauchens keinesfalls so positiv wie<br />
erhofft oder erwartet. Die ersehnte Coolness, Entspannung oder ähnliche Wirkungen bleiben<br />
aus, stattdessen ist ihnen das Rauchen noch ein Graus und sie müssen Techniken erlernen,<br />
etwa den Lungenzug, um erst noch auf den Geschmack zu kommen. In der Regel ist der<br />
Beginn des Rauchens daher mit einem unerwartet grauslichen Geschmack verbunden und<br />
die Jugendlichen benötigen Hilfsmittel, damit umzugehen: sie konsumieren<br />
wohlschmeckende Genussmittel wie Kaugummi dazu, um den schlechten Geschmack zu<br />
übertünchen. Es dauert einige Zeit, bis man sich an den Geschmack gewöhnt hat. Diese Zeit<br />
sind aber die meisten bereit, der Zigarette einzuräumen.<br />
„M3: Also der erste Zug ist wirklich grauslich, ich weiß nicht, das ist so ein<br />
komischer Geschmack, das kann ich gar nicht beschreiben. Die meisten<br />
husten. Es ist ein komisches Gefühl muss ich sagen eigentlich, aber nach<br />
einiger Zeit, gewöhnst Dich dann dran.“ (Matadora 66/70)<br />
„M1: Es war ein grauslicher Geschmack, dann habe ich einen Kaugummi<br />
gegessen, dann war´s wieder weg.“ (Lido 141/145)<br />
Zumeist sind die schlechten Erfahrungen mit den ersten Zigaretten nicht nur<br />
geschmacklicher Natur. Viele Jugendliche durchleben richtige körperliche Schmerzen am<br />
Beginn ihrer Raucherkarriere. Rauchen führt zu Übelkeit, Kopfweh, Magenschmerzen und<br />
Schmerzen in der Lunge. Diese Wirkungen zeigen, dass die Jugendlichen noch nicht richtig<br />
rauchen können. Sie kennen weder die Wirkung noch die Grenzen des Genusses.<br />
39
„M3: Ich habe einfach einen irrsinnig festen Zug genommen und das hat mir richtig<br />
weh getan in der Lunge und deswegen fand ich es irrsinnig grauslich.“ (Simon<br />
W 1032/1035)<br />
„M3: In den ersten zwei Monaten, wo ich dann richtig geraucht habe, da habe ich<br />
dann wirklich schon manchmal Magenkrämpfe gehabt, da war mir manchmal<br />
schon wirklich schlecht bevor ich heimgegangen bin, weil ich eben zu viel<br />
geraucht habe, auch <strong>für</strong> den Anfang.“ (Lido 277/281)<br />
„I: Und was bewirkt so eine Zigarette bei Euch. Wenn Ihr jetzt so zusammensitzt<br />
und alle eine raucht?<br />
M2: Kopfweh.<br />
M1: Nein, Entspannung.<br />
M3: Aber wenn man weggeht und ein bisschen etwas trinkt am Abend-<br />
M6: -und zu viel raucht, dann ist einem schlecht.<br />
M3: -und dann wird einem schlecht, --- urschwindlig.<br />
M7: Mir wird auch ur-schlecht.<br />
M2: Ja, wirklich.<br />
M3: Und Ur-Kopfweh.“ (Trummelhof 1266/1278)<br />
Im Regelfall schmeckt die Zigarette am Anfang zwar ganz und gar nicht gut und sie löst auch<br />
nicht die erwarteten Wirkungen aus, sie erzeugt aber auch nicht immer Übelkeit und Ekel.<br />
Bei manchen stellt sich von Beginn an die Faszination ein, die schon Jean Paul Sartre dem<br />
Rauchen abgewinnen konnte, indem er es als Inbegriff einer existentialistischen Erfahrung<br />
rühmte, die darin bestehe, dass man sein Sein mit Nichts fülle und dadurch der Wahrheit des<br />
Sein in einer nihilistischen Zeit näher komme.<br />
„I: Hast Du es dann gleich von der ersten Zigarette an gut gefunden?<br />
M2: Ja.<br />
I: So vom Geschmack her?<br />
M2: Ja, ich fand das ist ein irrsinnig, ich fand, ja gut, es ist nicht gerade wie eine<br />
Süßigkeit, das kann man nicht sagen, so kann man es nicht vergleichen, aber<br />
ähm ich finde es schmeckt schon gut. Ich mein, es ist einfach so ein man hat<br />
nichts im Mund und man hat irgendwie trotzdem was. Also, es ist irgendwie<br />
komisch zu beschreiben, aber beim Essen ist es halt so, da bist Du dann halt<br />
voll oder es kann sein irgendwie, dass Du dann zu viel gegessen hast oder so<br />
und bei einer Zigarette ist das halt nicht, weil Du halt, ich finde, das hat<br />
irgendwie auch was, Du hast nichts im Mund und trotzdem spürst Du es aber.<br />
I: Mhmm. Was spürst Du?<br />
M4: Den Rauch.<br />
M2: Ja, den Rauch und am Anfang eben auch das Nikotin.“ (Simon W 1043/1069)<br />
Es ist bekannt, dass ein großer Teil der Jugendlichen das Rauchen nach den ernüchternden<br />
Erfahrungen des Anfangs wieder aufgibt. Immerhin haben 75% der 15-jährigen Mädchen<br />
und Burschen in Österreich das Rauchen schon einmal probiert, und zwar im Sinne dieser<br />
hier diskutierten Stufe der Raucherkarriere, in der es nicht um das einmalige Nehmen eines<br />
Zuges bei einer angebotenen Zigarette irgendwann einmal im Lauf der schulischen<br />
40
Entwicklung geht, sondern um das Rauchen ganzer Zigaretten ein oder wiederholte Male.<br />
Von diesen 75% haben sich aber „nur“ 29% zu täglichen, 12% zu wöchentlichen und 19% zu<br />
gelegentlichen Raucher/innen entwickelt. Das lässt sich der HBSC-Studie der WHO<br />
entnehmen (vgl. Dür et al. 2002). Anders gesagt: von den Jugendlichen, die diese zweite<br />
Stufe der Raucherkarriere erreichen, steigen 40% wieder erfolgreich aus und beenden ihr<br />
Raucherdasein. Nach allem, was die Jugendlichen von den ersten Raucherfahrungen<br />
berichteten, ist deren Entscheidung nur allzu leicht nachvollziehbar. Schwieriger zu<br />
verstehen sind die anderen, die weitermachen.<br />
Die interessante Frage ist daher, warum es die Jugendlichen weiter probieren, wenn es nicht<br />
schmeckt und die erwartete Wirkung nicht eintritt. Wie schaffen sie es schließlich, die<br />
Zigarette als Genussmittel zu erfahren?<br />
41
4.3 Stufe drei: Wiederholtes Probieren in subkulturellen Kontexten<br />
Die Jugendlichen erkennen, dass die erwartete Wirkung nur dann einsetzt, wenn man<br />
„richtig raucht“, dass man also rauchen erlernen muss. Sie suchen die Nähe von<br />
Rauchern und Raucherinnen. Damit veröffentlichen sie zugleich ihr Rauchinteresse<br />
und ihr Rauchverhalten.<br />
Jene Jugendlichen, die nicht schon nach der ersten Zigarette zu der Erkenntnis gelangt sind,<br />
dass Rauchen nichts <strong>für</strong> sie ist, probieren es nun weitere Male. Es stellt sich die Frage,<br />
warum sie das tun: warum greifen die jungen Erwachsenen immer wieder zur Zigarette,<br />
obwohl die erhofften Wirkungen ausbleiben und gänzlich unerwartete oder jedenfalls<br />
unerwünschte Wirkungen wie Schmerz und Ekel einsetzen? Es scheint dies eine sehr<br />
sensible und wichtige Übergangsphase zu sein, die möglicherweise völlig neue Optionen <strong>für</strong><br />
präventive Interventionen eröffnen kann.<br />
Wie genau und unter welchen sozialen Rahmenbedingungen vollzieht sich der Übergang<br />
vom jugendlichen „Probier-Raucher“ zum „Wirkungs-Raucher“, zu einem Raucher, der die<br />
Wirkungen der psychoaktiven Substanzen wahrnehmen und abrufen kann? Anders gefragt:<br />
wie lernen junge Erwachsene die Zigarette schmerzfrei zu benutzen und mit bestimmten<br />
Gefühlen oder Stimmungen zu verbinden?<br />
Thesenhaft kann formuliert werden, dass Jugendliche den Anschluss an rauchende<br />
Subkulturen suchen, um das Rauchen zu erlernen. Im Zuge dessen heben sie die Diskretion<br />
um ihr unerlaubtes Rauchen auf, indem sie sich rauchend in der Öffentlichkeit bzw. vor<br />
anderen bekannten und unbekannten Personen präsentieren. Der Anschluss an die Raucher<br />
und Raucherinnen ist relativ einfach, da Raucher in der Umwelt der jungen Erwachsenen als<br />
Freunde, Bekannte, Eltern und Peers allgegenwärtig sind. Der konkrete soziale Anschluss<br />
erfolgt zunächst durch Schnorren.<br />
Schnorren von Zigaretten als Form des Anschlusses an Raucher<br />
Am Beginn der Raucherkarrieren besteht ein Hauptproblem darin, wie der Bedarf an<br />
Zigaretten gedeckt werden kann. Immerhin ist der Kauf von Zigaretten <strong>für</strong> viele altersbedingt<br />
noch nicht erlaubt oder aber es ist mit sozialen Unannehmlichkeiten verbunden, die zunächst<br />
nicht in Kauf genommen werden. Darüber hinaus spielt die finanzielle Seite eine bedeutende<br />
Rolle. Die Lösung des Problems ist zunächst das Schnorren von Zigaretten. So antwortet ein<br />
Mittelschichtmädchen auf die Frage, wie sie ihre Zigaretten beschafft:<br />
42
M1: Ja, wenn ich losrenn in der Pause, jeden Mensch, den ich kenne, der raucht<br />
fragen, hast Du eine Zigarette <strong>für</strong> mich?“ (Simon W 644/646)<br />
Dass dieses Mädchen vor allem Bekannte anspricht, ist eher als Ausnahme zu betrachten.<br />
Denn tendenziell werden Fremde bevorzugt, um die eigenen Freunde zu „schonen“, selbst<br />
dann, wenn die Jugendlichen aus wohlhabenderen Schichten stammen.<br />
„I: Wo und bei wem schnorrt Ihr dann?<br />
M4: In Notsituationen bei allen.<br />
M2: Ja, das stimmt.<br />
M4: Ich schnorre eher mehr so von fremden Leuten, eben Jugendliche<br />
hauptsächlich eigentlich. Also nicht Leute mit Kindern, schnorr ich ungern an.<br />
M1: Ja, Leute mit Kinder schnorre ich auch nicht gern an.<br />
M4: Oder Ältere.<br />
M1: Und irgendwelche Prolos? Schnorrt man schon viel an, oder, die geben auch<br />
viel.“ (Simon W 776/810)<br />
„I: Aber zum Beispiel, wenn Du sagst, Du hast nie Zigaretten oder selten. Wie<br />
kommst Du dann zu deinen Zigaretten?<br />
(Gelächter)<br />
M1: ‚Entschuldigung, haben Sie vielleicht noch eine Zigarette?’<br />
M2: Also einfach Leute anschnorren.<br />
I: Ja? Wie machst Du das zum Beispiel?<br />
M2: Das ist eigentlich einfach, oder?!<br />
M3: Also, bei Freunden, möglichst wenig. Ich mein, tue ich natürlich auch, aber ich<br />
versuche möglichst wenig von den Freunden anzuschnorren, eher bei<br />
Fremden.<br />
M2: Ja.” (Simon W 688/704)<br />
Bei jungen Männern wird diese soziale Grenze auf sehr viel deutlichere Weise kommuniziert.<br />
„B1: (der X) hat auch immer Zigaretten, aber meistens immer verschiedene.<br />
Meistens gibt er mir eine, schimpft zwar, du Arschloch, und gibt mir dann doch<br />
eine.“ (Simon M 1093/1096)<br />
Freunde, die dennoch regelmäßig schnorren, sind „Oberschnorrer“ (Simon M 1072f). Im<br />
Gegenzug bezeichnen sich die sogenannten „Herschnorrer“, also jene, die Zigaretten zur<br />
Verfügung stellen, als „Schnorrervater“ (Wienerberg M 1144f), „Schnorrerpapst“ (Wienerberg<br />
M 1144f) oder „Schnorrergott“ (Wienerberg M 1186f).<br />
Schnorren ist aber nicht nur ein Weg, um den Zigarettenbedarf zu decken, sondern ebenso<br />
sehr ein soziales Spiel, das den Jugendlichen untereinander, aber auch gegenüber Fremden<br />
und neuen Bekanntschaften interessante und teils überraschende Handlungsmöglichkeiten<br />
eröffnet, und zwar in Situationen, in die sie ohne Schnorrverhalten vielleicht gar nicht so<br />
leicht geraten würden.<br />
43
„M4: Weil oft lernt man durchs Schnorren auch ur-lustige Leute kennen, mit denen<br />
man einfach irgendwie ins Gespräch kommt.<br />
I: Kommt das öfter vor, dass Ihr danach dann mit denen in Kontakt kommt?<br />
M1: Nein, nein, nicht dass wir mit ihnen in Kontakt treten, aber einfach, dass wir an<br />
einem Abend mit denen reden.<br />
M4: Ja.<br />
M2: Ja, genau eher so <strong>für</strong> einen Abend, das ist aber eh nicht so auf der Straße,<br />
sondern halt dann eher, wenn man zum Beispiel im Burggarten ist oder so<br />
etwas, da sind halt dann halt überall die kleinen Gruppen und Du gehst halt<br />
hin und fragst halt, ob Du eine Zigarette haben kannst und setzt Dich vielleicht<br />
dazu oder irgend so etwas.“ (Simon W 847/865)<br />
Im Sinne der Bedarfsdeckung ergeben sich <strong>für</strong> die Jugendlichen dann auch Fragen nach der<br />
Vorratshaltung bzw. nach dem Übertauchen von „Durststrecken“. Darin drückt sich aus,<br />
dass die Jugendlichen in dieser Phase bereits eine konkrete Rauchintention ausgebildet<br />
haben und das Rauchen nicht mehr von der zufälligen Verfügbarkeit von Zigaretten<br />
abhängig machen. Sie sind also nicht mehr die neugierigen „Erstprobierer“ und auch nicht<br />
gelegenheits- bzw. versuchungsbedingte Raucher/innen, sondern behandeln Rauchen<br />
bereits als voraussehbaren Bestandteil ihres Freizeitverhaltens.<br />
„M1: Wenn man weiß, man geht lange irgendwo nach Hause, entweder schauen,<br />
dass man irgendwo ein Packerl das Geld <strong>für</strong> ein Packerl zusammenkriegt oder<br />
vielleicht auf Vorrat schnorren.<br />
M2: Ja, genau, einfach so 5 Stück oder so auf einmal halt irgendwie von den<br />
verschiedensten Leuten, weil da halt gerade mehr sind und dann wenn Du<br />
weißt, am Heimweg sind so wenige Raucher oder so.<br />
M1: Ja und immer: auf welchen Weg glaubst du gibt's mehr Leute zum<br />
anschnorren.“ (Simon W 776/810)<br />
Einüben des Rauchens im Freundeskreis<br />
Die ersten Raucherfahrungen sind <strong>für</strong> eine gewisse Zeit mehr oder weniger ohne große<br />
Probleme durch Schnorren möglich. Will man jedoch die Rauchenexperimente auf<br />
zuverlässige Beine stellen, muss der Nachschub an Zigaretten gewährleistet sein. Das<br />
weitere Experimentieren findet nun in einer intimen Situation mit Freunden statt. So ist das<br />
Zusammensein mit einer Freundin im nachstehenden Beispiel Bedingung <strong>für</strong> das Anzünden<br />
einer Zigarette.<br />
„M2: Also bei mir war es eben nicht so, weil ich immer eben mit einer Freundin<br />
zusammen die Packung gekauft habe. Ich war am Anfang meistens zu zweit<br />
mit irgendeiner guter Freundin von mir. Und es ist erst dann irgendwie dazu<br />
gekommen.“ (Simon W 1257/1262)<br />
44
Im folgenden Beispiel suchen die Jugendlichen immer wieder eine bestimmte Situation mit<br />
neuen, spendablen Freunden auf, von denen sie annehmen können, dass sie mit Zigaretten<br />
versorgt werden.<br />
„M4: Dann haben wir neue Leute kennen gelernt. Die haben uns immer wieder eine<br />
Zigarette angeboten und so ist es halt irgendwie zur Angewohnheit<br />
geworden.“ (Trummelhof 23/26)<br />
Durch Wiederholungen ergibt sich mit der Zeit ein ritualisierter Umgang im Kreis ebenfalls<br />
rauchender Freunde, die sich als Gruppe abschließen. Als Beispiel da<strong>für</strong> kann eine Gruppe<br />
von Burschen aus unteren Schichten dienen.<br />
„B1: Wenn wir uns treffen, kommen wir immer mit der Zigarette. Wir treffen uns<br />
meistens im Keppler-Park, so um eine bestimmte Uhrzeit, so meistens<br />
zwischen 2 und 4 Uhr und jeder hat auch meistens ein eigenes Packerl und<br />
hat schon die Zigarette im Mund. Dann gehen wir meistens fort.“ (Wienerberg<br />
M 544/553)<br />
Es hat bei dieser Gruppe den Anschein, als sei das Treffen speziell zum Zwecke des<br />
Rauchens verabredet worden. Wie in Erfüllung der Verabredung erscheinen die Mitglieder<br />
bereits mit der Zigarette im Mund. So informell die Verabredung auch sein mag, ist sie doch<br />
fast wie ein Geschäftstermin geplant, indem Ort, Uhrzeit und weitere Vorgangsweisen<br />
vorgegeben sind. Die Gruppe trifft sich also nicht zufällig und nicht an einem beliebigen Ort,<br />
sondern in einem öffentlichen Park, der verschiedenste Möglichkeiten zum Rückzug bietet.<br />
Zugleich kann man daher logisch rekonstruieren, dass die Mitglieder der Gruppe vordefiniert<br />
sind, andernfalls wäre eine Verabredung ja nicht möglich. Man kann in dieser klaren<br />
Definition auch eine Form der Abschottung sehen, um nicht von unerwünschten Teilnehmern<br />
gestört und nicht von ungewollten Beobachtern gesehen zu werden. Es zeigt sich darin die<br />
subkulturelle Ausprägung des Rauchrituals.<br />
Die gewählte Uhrzeit des Treffens ist als Freizeit definiert, was ihnen genug Zeit lässt, zuerst<br />
ihren Verpflichtungen (ob Schule oder Arbeit) nachzukommen. Die vorgeführte Rauchszene<br />
ist frei von den Zwängen des Alltags und bietet die Möglichkeit zum Experiment, das in<br />
ritualisierter Weise als Teil des Tagesablaufs wiederholt wird.<br />
Das Erscheinen der Zigarette im Mund lässt sich zumindest dahingehend deuten, dass das<br />
Rauchen nicht als ein quasi zufälliges Verhalten irgendwann im Verlauf des Zusammenseins<br />
auftritt, sondern der heimliche Zweck des Treffens ist. Wie eine Erkennungsmarke oder ein<br />
bestimmtes Werkzeug scheinen die Burschen die Zigarette im Mund zu tragen.<br />
45
In einem anderen Beispiel findet das Ritual mit nur leichten Abweichungen statt. Es sind in<br />
diesem Fall Mädchen aus Oberschichtfamilien, die sich auf ganz ähnliche Weise mit ihren<br />
Freundinnen in einem Park treffen.<br />
„M1: Es fragt meistens eigentlich immer jemand. Es nimmt eine die (Zigaretten<br />
Anm.) raus und dann fangen alle an, kannst Du mir eine Zigarette geben oder<br />
hast Du noch eine Zigarette und dann rauchen eh eigentlich alle.“<br />
(Trummelhof 1187/1217)<br />
Regelmäßiger Kauf von Zigaretten<br />
Je höher die jungen Erwachsenen die Raucher-Karriereleiter hinauf klettern, desto<br />
unabwendbarer ist es aufgrund des erhöhten Bedarfs, sich mit eigenen Zigarettenpackungen<br />
auszustatten. Dieser Punkt ist erreicht, sobald die Jugendlichen mehr rauchen wollen, als<br />
ihnen Zigaretten angeboten werden. Einerseits empfinden sie das Gefühl sich <strong>für</strong> erhaltene<br />
Gaben revanchieren zu müssen und empfinden weiteres Schnorren als unangebracht,<br />
andererseits werden ihnen mit der Zeit auch Zigaretten verweigert. Mit dem regelmäßigen<br />
Kauf von Zigaretten bereitet der Jugendliche seine Identität als Raucher oder Raucherin vor.<br />
So erleben sie diesen Schritt als den eigentlichen Anfang ihrer Karriere.<br />
„M1: Dann irgendwann einmal war es, dann habe ich mir schon Packerln gekauft<br />
und so war es dann. So hat das angefangen, so richtig zum Rauchen.“ (Simon<br />
M 176/179)<br />
46
4.4 Stufe vier: Problemrauchen<br />
Erst im Kontext von Problemen und bei depressiver Gemütslage oder aufgestauten<br />
Aggressionen lernen die Jugendlichen die Wirkung der psychoaktiven Substanzen zu<br />
erkennen.<br />
Wie genau und unter welchen sozialen Rahmenbedingungen vollzieht sich der Übergang<br />
vom jugendlichen „Probier-Raucher“ zum „Wirkungs-Raucher“, zu einem Raucher, der die<br />
Wirkungen der psychoaktiven Substanzen wahrnehmen und abrufen kann? Anders gefragt:<br />
wie lernen junge Erwachsene die Zigarette schmerzfrei zu benutzen und mit bestimmten<br />
Gefühlen oder Stimmungen zu verbinden?<br />
Eine erste Antwort lautet: das wiederholte Probieren findet irgendwann unter anderen<br />
sozialen Bedingungen statt wie das Ausprobieren der ersten Zigaretten. Während das<br />
Ausprobieren zumeist in eigens <strong>für</strong> die Zigarette herbeigeführten, heimlichen, subkulturellen<br />
Situationen stattfinden, in welche die Jugendlichen eher hochgestimmt hineingehen, werden<br />
die weiteren Rauchversuche in eher alltäglichen Situationen unternommen, etwa nach der<br />
Schule, in denen die Jugendlichen auch mit flacheren oder sogar gedrückten Gemütslagen<br />
rauchen. Der Unterschied liegt vor allem in der Stimmungslage: es scheint so zu sein, dass<br />
die Wirkungen der psychoaktiven Substanzen in der Zigarette leichter empfindbar und<br />
wahrnehmbar sind, wenn man aufgrund akuter, vorlaufender Ereignisse negativ erregt,<br />
aufgewühlt, gestresst, beunruhigt, deprimiert oder sonst wie stimmungsmäßig beeinträchtigt<br />
ist. Unter Normalbedingungen kann die Zigarette ihre Wirkungen zunächst nur schwer<br />
entfalten, da die Zigarette ein bereits vorhandenes Hochgefühl nicht mehr wesentlich<br />
steigern kann. Unter der Bedingung einer Problemsituation jedoch ist das wahrnehmen der<br />
Wirkung leichter. Erst in diesen Situationen lernen die Jugendlichen allmählich zu empfinden,<br />
welche Wirkungen die Zigarette haben kann.<br />
Probleme bleiben in der Pubertät nicht aus. Die Pubertät mit ihren Veränderungen verläuft<br />
<strong>für</strong> die jungen Mädchen und Burschen in den seltensten Fällen gänzlich ohne alle Probleme,<br />
wobei die Probleme <strong>für</strong> die beiden Geschlechter teilweise durchaus unterschiedlich sind.<br />
Bei den Mädchen geht es mehr darum, mit sich selbst klar zu kommen, die Veränderungen<br />
des Körpers, das Angebot einer weiblichen Identität und das Auftauchen der in<br />
gesellschaftlicher Hinsicht schwierigen Frauenrolle zu bearbeiten. Mädchen sind daher eher<br />
mit sich selbst beschäftigt und machen sich über sich selbst am meisten Sorgen. Bei den<br />
Burschen hingegen ist es das vorrangige Ziel, mit ihrer sozialen Umwelt zurechtzukommen,<br />
47
die ihnen vor allem als „ihr“ Problem erscheint. Das Hauptproblem der Mädchen in der<br />
Pubertät liegt daher eher darin, wie sie von der Umwelt wahrgenommen werden und wie sie<br />
mit Peinlichkeiten umgehen sollen, die im Angesicht anderer – vor allem gegenüber den<br />
Burschen - entstehen. Die Jungen hingegen stellen weniger sich selbst in Frage, sondern<br />
müssen sich mehr mit ihrer sozialen Umwelt auseinandersetzen, von der sie ihre persönliche<br />
Autonomie gefährdet sehen.<br />
Die Zigarette bietet beiden Geschlechtern in gleicher Weise eine Form von Tröstung an.<br />
Umgang mit negativen Gefühlen<br />
Die Jugendlichen sind in der schwierigen Phase der Pubertät mit vielen negativen Gefühlen<br />
belastet. Sie sind aufgewühlt und aggressiv, niedergeschlagen und depressiv oder kommen<br />
mit ihren Herausforderungen nicht zurecht. Die Zigarette erhält in diesen Situationen ihre<br />
Funktion als „Psychologe“, wie das von einem Mädchen beschrieben wird:<br />
„M2: Ja, man kann auch die Probleme oder den Stress mit anderen Sachen lösen,<br />
aber wenn Du jetzt müde bist und du willst voll nicht Fußball oder Volleyball<br />
spielen, dann nimmst Du Dir eine Zigarette.<br />
M1: Oder mit einem anderen reden darüber. Denkst Dir, nein, habe heut keine<br />
Lust, nehme ich mir halt eine Zigarette. Zigarette ist irgendwie, wie ein<br />
Psychologe.“ (Wienerberg W (470/476)<br />
Dabei geht es bei den negativen Gefühlen um durchaus ernste und sehr belastende<br />
Zustände. Beispielhaft seien einige Aussagen wiedergegeben, die das zum Ausdruck<br />
bringen.<br />
„M1: Und wenn es mir wirklich ur-scheiße geht und ich ur-deprimiert bin, dann<br />
rauche ich halt auch selber und setze mich irgendwo hin, höre Musik und<br />
rauche eine.“ (Trummelhof 1288/1292)<br />
„B2: Wenn man depressiv ist.<br />
B5: traurig ist oder so einen Scheiß oder bei Liebeskummer<br />
B2: ... und so. Ja, es beruhigt einen wirklich, weil man kommt von den ärgsten<br />
Gedanken davon. Es beruhigt einen und man denkt dann an etwas ganz<br />
anderes. Was auch schön ist.“ (Wienerberg M 614/638)<br />
„M1: Oder wenn man ziemlich aufgeregt ist ...zur Beruhigung eine Zigarette. Ich<br />
meine, es hilft vielleicht nicht wirklich, vielleicht bildet man sich das nur ein,<br />
aber –<br />
M4: Es ist angenehmer“. (Trummelhof 635/640)<br />
48
„M1: Es beruhigt mich immer wieder, wenn ich eine Zigarette rauche.“ (Lido<br />
470/472)<br />
„M4: Einfach dass man wieder die Fassung bekommt und wieder wieder hinkommt<br />
ist“. (Lido 616/619)<br />
Aber nicht nur depressive Zustände sind eine notwendige Ausgangsbedingung, um die<br />
psychoaktive Wirkung der Zigarette kennen zu lernen. Es genügt häufig auch schon eine<br />
flache Stimmungslage, wie sie im Zustand der Langeweile und Fadesse gegeben ist. Über<br />
Langeweile finden vielleicht eher Oberschicht-Jugendliche Zugang zum Rauchen, dennoch<br />
geben wir auch ein Beispiel von einem Mädchen aus Unterschichtverhältnissen, das bereits<br />
im Arbeitsleben steht. Beide klagen letztlich über Unterforderung.<br />
„M1: Ja, wenn Dir fad ist, dann rauchst Du Dir einfach eine Zigarette an. Und da<br />
sitzt Du da in der Pause und denkst Dir, super, was mache ich jetzt, will ich<br />
eine rauchen, dann wären 10 Minuten ur-schnell um. Wenn Du keine rauchst,<br />
sitzt Du da und schaust und die Zeit vergeht nicht. Das ist ur-anstrengend.“<br />
(Matadora 306/311)<br />
„M1: Ich glaube, wir rauchen vor allem aus Langeweile, weil wir rauchen wenn uns<br />
fad ist.<br />
Lachende Zustimmung: das stimmt.<br />
M1: Wir essen auch aus Langeweile!<br />
(Lachen)<br />
M1: Gott, ist uns fad.“ (Simon W 842/845)<br />
Die Jugendlichen lernen die Zigarette in solchen Kontexten als „Problemlöser“ kennen. Am<br />
Beginn sind sie dabei bereit, die negativen Wirkungen des Rauchens noch in Kauf zu<br />
nehmen, später empfinden sie diese nur mehr bei zu extensivem Genuss. Sobald sie den<br />
Hauch einer positiven, quasi problemlösenden Wirkung erfahren haben, verstärkt das ihr<br />
Verlangen nach einer Zigarette in allen Situationen, in denen ihre Stimmungslage gefährdet<br />
ist nach unten zu kippen. Damit ist ein sich selbst verstärkender Zirkel etabliert, der aus den<br />
Lebensverhältnissen der Jugendlichen nur ausreichend mit Problemen versorgt werden<br />
muss, um sich stetig zu steigern. Verkürzt gesagt: je mehr Probleme, desto mehr Zigaretten;<br />
je mehr Zigaretten, desto besser erkennen sie deren günstige Wirkung.<br />
Die Zigarette bewirkt, dass der stimmungsmäßig gefährdete inneren Frieden wieder<br />
hergestellt wird.<br />
„I: Was bewirkt die Zigarette?<br />
M1: Inneren Frieden“ (Trummelhof 622/624)<br />
49
In anderen Formulierungen wird diese Wirkung weniger hochtrabend als Abgrenzung<br />
gegenüber der Welt, Konzentration auf sich selbst und Wiederherstellung der Denkfähigkeit<br />
beschrieben. Die Zigarette macht Probleme unwichtig, wodurch man sich wieder sich selbst<br />
und seinen Gedanken zuwenden kann. Interessant ist auch, dass man sich auf diese<br />
Wirkung verlassen kann, obwohl man gar nicht zu wissen muss, dass sie von der Zigarette<br />
herrührt.<br />
„I: Und was bewirkt dann die Zigarette bei dir?<br />
M6: Ich weiß nicht, da ist mir dann alles egal und das ist irgendwie so, da kann<br />
man nachdenken und - ich weiß nicht was es bewirkt.“ (Trummelhof<br />
1296/1301)<br />
Man braucht also nicht zu wissen, wie die Wirkung entsteht, Hauptsache sie setzt ein. Damit<br />
ist im weiteren ein relevantes Problem verbunden: indem die Jugendlichen die Wirkungskette<br />
ausblenden, schreiben sie das Erringen der inneren Ruhe, der Konzentration auf sich selbst<br />
und die Herstellung einer gelassenen Grundhaltung eben auch nicht den psychoaktiven<br />
Substanzen zu. Das erschwert im Weiteren natürlich einen sozusagen vollbewussten<br />
Umgang mit der Zigarette und eine reflektierte Entscheidung <strong>für</strong> oder gegen sie. Auch ist es<br />
aus Sicht der Prävention schwierig, den Punkt genau zu benennen, an dem wirkungsloses<br />
Proberauchen in Wirkungsrauchen umschlägt.<br />
Umgang mit dem anderen Geschlecht<br />
Eine der wichtigsten Entwicklungsaufgaben der Adoleszenz ist die Fähigkeit, zum anderen<br />
Geschlecht eine tragfähige soziale Beziehung aufzubauen. Da dies mit Schwierigkeiten und<br />
Peinlichkeiten verbunden ist, die bei den Jugendlichen Unbehagen auslösen, hat die<br />
Zigarette auch in diesem Kontext eine wichtige Funktion. Häufig bietet sie schon beim<br />
Kennen lernen einen unpeinlichen Einstieg, indem sie einen Kommunikationsanlass eröffnet.<br />
„M2: Ich habe den Dominik durch sie kennen gelernt, wegen dem Motorrad. Dann<br />
habe ich ihn später gefragt, um eine Zigarette, ja, es ist eigentlich immer nur<br />
eine Zigarette, er fragt mich, ich frage ihn, naja.<br />
I: Also, dass Du ihn kennen gelernt hast, ist über Zigaretten gegangen?<br />
M2: Durch Zigaretten. Wenn es die Zigaretten nicht gäbe, dann wäre es (?)<br />
M1: Zigaretten sind irgendwie nützlich.“ (Wienerberg W 906/916)<br />
„M1: Na zum Beispiel, Du bist in einen ur-verschossen und Du traust Dich ihn nicht<br />
anzusprechen, dann fragst Du ihn einfach, ob er eine Zigarette hätte. Wenn er<br />
sagt, nein, ich bin Nichtraucher, ja schön und gut, dann quatscht halt ein<br />
50
isschen mit ihm. .. ja, danke, wie heißt Du und bla, bla, bla und dann traust<br />
Du Dich eher mehr zu sprechen.“ (Wienerberg W 921/926)<br />
„I: Was macht Ihr denn, wenn Ihr einen Mann ansprechen wollt, der Euch gut<br />
gefällt? Ihr seht einen, ihr kennt ihn vielleicht auch schon, er gefällt Euch?<br />
M1: Du schnorrst ihn um an tschick.“ (Matadora 1014/1018)<br />
„M1: Ja, man fragt zum Beispiel nach einem Feuerzeug oder sie kommen her und<br />
fragen nach einer Zigarette. Irgendwie fragt dann meistens einer von den, also<br />
entweder wir oder die Burschen, ob wir nicht ins Segafredo oder so was."<br />
(Trummelhof 1133/1152)<br />
„M1: Ich bin so mit Freundinnen so zusammen gestanden und es kommt ein Junge,<br />
der tanzt so ur-peinlich, der kommt so her, hast Du eine Zigarette.<br />
M1: Und ich habe ihm eine Zigarette gegeben, dann so, danke... (lachen).<br />
I: Also, der wollte nur die Zigarette von Dir und dann war er wieder weg?<br />
M1: Ja, eigentlich schon, aber es sollte, glaube ich, eine Anmache werden.<br />
M5: Oder manche kommen mit dem Feuer her oder so.<br />
M6: Feuer suchen wir aber auch andauernd, überall.“ (Trummelhof 363/414)<br />
Auch der weitere Kommunikationsverlauf wird von Zigaretten begleitet und erleichtert. So<br />
etwa kann die Zigarette sogar helfen, das Tanzen vor Peinlichkeit zu bewahren, und<br />
ermöglicht dem Mädchen in folgendem Beispiel mitzumachen.<br />
„M1: Es ist irgendwie angenehm etwas in der Hand zu haben. Wenn man das<br />
gewöhnt ist, dann will man so etwas in der Hand haben.<br />
M2: Vor allem beim Tanzen. Wenn man so rumsteht. Ja, man weiß nicht, was man<br />
mit den Händen machen soll. Dann hat man die Zigarette und dann geht es<br />
besser.<br />
M3: Ja.<br />
M4: Ich rauche nicht wegen dem Tanzen, nur- (lachen.)“ (Trummelhof 276/283)<br />
Es muss offen bleiben, inwieweit die psychoaktive Wirkung der Zigarette tatsächlich<br />
verantwortlich da<strong>für</strong> ist, dass das Mädchen auf der Tanzfläche eine nach eigener<br />
Empfindung unpeinliche Figur machen kann, oder inwieweit die Zigarette hier als Accessoire<br />
eingesetzt wird und allein schon durch die ästhetische Wirkung das Selbstbewusstsein des<br />
Mädchens stärkt. Wenn man sich indessen fragt, ob die Zigarette durch einen anderen<br />
beliebigen Gegenstand ersetzbar wäre, der die gleiche Wirkung erzeugen könnte, drängt<br />
sich doch die Vermutung auf, dass die psychoaktive Wirkung in dieser Szene nicht<br />
wegzudenken ist. Man könnte den angefangenen Schlusssatz des Zitates folgendermaßen<br />
ergänzen: Ich rauche nicht wegen dem Tanzen, nur – wenn ich rauche, fühle ich mich dabei<br />
leichter und wohler.<br />
Auch <strong>für</strong> die Burschen spielt die Zigarette eine wichtige Rolle beim Aufbau von Beziehungen<br />
zu Mädchen. Entweder die Burschen landen nicht (gleich) bei ihrer Herzdame oder werden<br />
51
von eben dieser nach Beginn einer Beziehung wieder abserviert, alles Verhalten von<br />
Mädchen, das Zweifel am Zustandekommen und Aufrechterhalten einer Beziehung zulässt,<br />
kann ein triftiger Grund <strong>für</strong> die Burschen sein, zur Zigarette zu greifen. Jede kleinere oder<br />
größere Frustration im Umgang mit Mädchen wird durch Rauchen bearbeitet, jeder Hauch<br />
von Misserfolg im Verhältnis zu den Erwartungen an die eigene Attraktivität <strong>für</strong> das andere<br />
Geschlecht erzeugt Stimmungen, die so unangenehm sind, dass sie mit einer Zigarette<br />
vertrieben werden müssen. Denn, wie das von vielen Burschen auf verschiedene Varianten<br />
gesagt worden ist, diese erzeugt eine männliche Art von Tröstung – ein Trost ohne vorher<br />
Verletztheit eingestehen und zeigen zu müssen.<br />
„B1: Zigarette braucht man auch, finde ich, deswegen, weil wenn jetzt das<br />
Mädchen sagt, ich brauch die net, wos wüst von mia, dann ist man, glaube<br />
ich, irgendwie enttäuscht und dann hat man gleich die Zigarette als Tröstung.“<br />
(Wienerberg M 877/880)<br />
„B3: auf jeden Fall, wenn man jetzt ein Mädchen anspricht und man hat eine<br />
Zigarette und sie sagt, kein Interesse, sagt man okay, geht man, halt dann ist<br />
man irgendwie enttäuscht und dann hat man gleich eine Zigarette als<br />
Tröstung.“ (Wienerberg M 884/888)<br />
Mädchen, insbesondere aus Unterschichtfamilien, bringen die Zigarette ganz explizit und in<br />
viel stärkerem Ausmaß als Burschen mit ihren unerfüllten Wünschen das andere Geschlecht<br />
betreffend in Verbindung, und zwar umso mehr, je enttäuschender sie ihr reales Leben<br />
empfinden. Die Zigarette löst in diesen Fällen kein Problem, aber sie kann helfen, die<br />
unangenehmen Gefühle zu überspielen, die von alltäglichen Frustrationen ausgehen. Auch<br />
hier lernen die Mädchen also die Wirkung der Zigarette dann am ehesten und am besten zu<br />
erfahren bzw. zu unterschieden, wenn der Frust gerade wieder einmal am größten ist.<br />
Sehr eindrucksvoll wird das von einer Mädchengruppe im Interview ausgeführt. Auf die<br />
Frage, was passieren müsste, wie sich ihr Leben ändern müsste, damit sie mit dem Rauchen<br />
wieder aufhören könnten, setzen sie ihrem realen Leben die Traumwelt aus dem Buch „Der<br />
Herr der Ringe“ entgegen, in der die positive Geisterwelt der Elben <strong>für</strong> Lebenszufriedenheit<br />
sorgt. Einem Elben würden sie folgen.<br />
„I: Kannst Du Dir irgendwas vorstellen, was es Dir erleichtern würde aufzuhören?<br />
Gibt es irgendetwas, kannst Du irgend etwas phantasieren, was es Dir leichter<br />
machen würde aufzuhören?<br />
M2: Wenn ich einen Elben sehen würde.<br />
M3: Der Legolas.<br />
I: Wenn Du den sehen würdest, wieso würde Dir der helfen? Was könnte der<br />
machen? Welche Zauberkräfte hätte der, um Dir helfen zu können?<br />
M: Gar keine, das ist einfach nur seine Ausstrahlung und seine spitzen Ohren....<br />
M3: Stell Dir vor, der raucht jetzt auch.<br />
52
M: Würde ich auch rauchen.<br />
M3. Wenn er Dir jetzt sagen würde, Du darfst nicht rauchen.<br />
M: Na, wenn er zu mir sagen würde, ich darf nicht (....) ich würde nicht rauchen.“<br />
Auf die Nachfrage, ob der Elbe ein positives Vorbild sei – als Sozialwissenschaftler/innen<br />
würde man dann empfehlen, dass Erwachsene dieses Vorbild doch einfach kopieren sollten<br />
-, gibt das Mädchen jedoch eine Antwort, die zeigt, dass der Elbe weniger ein Vorbild,<br />
sondern ein Objekt der Begierde ist, wie etwa auch ein Computer, der in einer gedachten<br />
Hierarchie der am meisten begehrten Dinge vielleicht sogar noch vor dem Elben rangiert.<br />
„I: Ist er einer, der typischerweise nicht raucht und der irgendwas ist, den findest<br />
Du toll und der wäre ein Vorbild?<br />
M: Ja, nach dem Computer.<br />
I: Und was assoziierst Du mit dem? Was bedeutet der <strong>für</strong> Dich der Elbe?<br />
M: Ich will einen Elben sehen.<br />
M2: Mit spitzen Ohren.<br />
M: Das ist meine Welt.“<br />
Zugleich geben die Mädchen zu erkennen, wie sehr ihre Welt aus Wünschen und Begierden<br />
besteht, die unerfüllt sind: weder Elben noch Computer stehen ihnen zur Verfügung. Der<br />
Wunsch nach einem Elben jedoch, das „ist meine Welt“. Diese mit dem Personalpronomen<br />
geadelte Welt ist eine eigene und sehr verschieden von der realen Welt, in der die Mädchen<br />
leben. Was aber begründet in dieser eigenen Welt dieses starke Sehnen? Was ist denn an<br />
einem Elben so faszinierend?<br />
„I: Wie schaut denn der aus, der ist doch blond oder? So ein ganz blonder,<br />
blasser, so ein ganz zarter ....?<br />
M: Mich faszinieren alle...<br />
M2: Mich faszinieren auch, was weiß ich, solche Orte, solche Menschen, solche<br />
Zwerge und so und verschiedene Völker mit verschiedenen Waffen. Die sind<br />
so verschieden, eh auch wie bei uns, ja, aber daß es halt viel interessanter<br />
und aufregender war. Und so Elben...<br />
I: Was haben diese Elben? Was ist so faszinierend?<br />
M2: Ich weiß nicht.<br />
M3: Die Ohren.<br />
M2: Die sind stolz, die sind edel, die sind so mutig und so. Ich mag so stolze,<br />
edle Männer, das gibt es ja da gar nimmer. Da gibt es nur die Anabolika-<br />
Fritzis und die Schamis und die Weicheier.....<br />
M: Und die (....)<br />
M2: Die a.<br />
I: Die gibt es hier oder überhaupt in Wien?<br />
M2: Überhaupt.<br />
I: In Wien gibt es keine Elben-Männer?<br />
M2: Generell gibt es keine Männer mehr, die sind alle Transen...ich weiß nicht.“<br />
Es ist offenkundig, dass es also auch um Männer geht, allerdings nicht um die, denen die<br />
Mädchen im realen Leben begegnen und von denen sie offensichtlich keine sehr hohe<br />
Meinung haben. Die Männer-Typen, die sie aufzählen und von denen sie behaupten, dass<br />
53
sie Wien bevölkern, jedenfalls soweit die Mädchen es überblicken können, haben bei allen<br />
Unterschieden etwas gemeinsam, und das ist, dass sie mit den Sprecherinnen nichts zu tun<br />
haben wollen oder können. Die "Anabolika-Fritzis" deshalb nicht, weil sie mit sich selbst und<br />
ihren Hanteln beschäftigt sind, die "Schamis" und die "Weicheier" nicht, weil sie sich nicht<br />
getrauen oder das Zeug dazu nicht haben, und die "Transen", weil sie an Frauen generell<br />
nicht interessiert sind. Das Sehnen gilt also einem „stolzen, edlen und mutigen“ Mann und<br />
die Enttäuschung der Tatsache, dass sie keinen haben und auch ihre Aussichten <strong>für</strong> die<br />
Zukunft diesbezüglich als eher schlecht bewerten. Man darf das sicher nicht zu einfach<br />
interpretieren: es geht nicht simpel um Sex, sondern darum, von einem Mann mit sehr<br />
traditionellen, idealisierten Eigenschaften gesehen, anerkannt und als attraktiv befunden<br />
worden zu sein.<br />
Das entspricht durchaus einem klassischen weiblichen Rollenklischee, das die Identität einer<br />
Frau von der Anerkennung durch einen Mann abhängig macht. Eine moderne oder eigentlich<br />
postmoderne, vom Feminismus angetriebene Sichtweise würde dem widersprechen und<br />
darauf hinweisen, dass frau ebenso gut eine unabhängige, autonome Persönlichkeit<br />
entwickeln kann und soll wie ein Mann. Dieser Gegensatz – den wir hier nicht weiter<br />
diskutieren können – wird überaus deutlich sichtbar in der Gegenüberstellung von<br />
Elbenmann und Computer. Während der eine <strong>für</strong> das klassisch-romantische Motiv steht,<br />
verkörpert der Computer die neue Zeit.<br />
Gerade der Computer kann als das perfekte Instrument zur Herstellung und zugleich<br />
Versinnbildlichung der Autonomie des spätmodernen Individuums angesehen werden, indem<br />
er Kommunikation ohne menschlichen Partner ermöglicht, indem er durch den Graben<br />
zwischen realer und virtueller Welt die denkbar größte Distanz zwischen mögliche<br />
Partner/innen legt, indem man und frau mit ihm auch ganz allein am Arbeitsplatz arbeiten<br />
können und indem er damit die tendenzielle Herauslösung aus sozialen Verbänden und<br />
Organisationen erlaubt, ohne deren Benefits zu verlieren. So wie vielleicht <strong>für</strong> frühere<br />
Generationen das Auto Eigenständigkeit und Unabhängigkeit symbolisiert hat, indem es <strong>für</strong><br />
eine potenzielle Mobilität stand, die das jederzeitige Fortfahren als Möglichkeit setzte und<br />
daher das Bleiben als wohlwollende Entscheidung eines freien Bürgers auffassen ließ, so<br />
stehen heute Computer und Internet <strong>für</strong> die Autonomie und Unabhängigkeit der<br />
Entscheidung, an gegebenen Real Life-Kommunikationen teilzunehmen, weil man dazu<br />
eben nicht gezwungen ist, da man ja auch jederzeit im Internet oder auch nur in virtuellen<br />
Spiel-Welten verschwinden könnte. So man einen Computer hat, kann man/frau sich auch<br />
darüber hinwegtrösten, dass sie aus bestimmten Kommunikationen im Zusammenhang mit<br />
Paarbildung und Sexualität ausgeschlossen sind.<br />
Vom Zeitgeist und von der modernen feministischen Erziehung werden Mädchen und junge<br />
Frauen heute sehr stark in diese Richtung der Gewinnung von Autonomie gedrängt. Wenn<br />
54
die Mädchen daher die Traumwelt der Elben hinter sich lassen, dann nicht etwa zugunsten<br />
der Annahme ihrer so und nicht anders gearteten realen Welt mit den so und nicht anders<br />
gearteten Möglichkeiten in Bezug auf Sexualität, sondern zugunsten einer von Computern<br />
repräsentierten Wunschvorstellung: sie wechseln von einer Traumwelt in eine andere. Real,<br />
dort wo sie tatsächlich atmen, haben sie nur Zigaretten und rauchen diese.<br />
„M3: Wenn ich denke was zum Beispiel, und wenn ... jetzt irgendetwas sagt, wenn<br />
ich zu ihr irgendwie (sage, du kriegst einen) total fortgeschrittenen und<br />
saugeilen neuen Computer und da<strong>für</strong> musst Du aufhören zu rauchen. Ich bin<br />
mir sicher, daß sie dann aufhören würde.<br />
I: Wie siehst Du das?<br />
M: Sicher.<br />
M3: Ja, das ist so.<br />
I: Würde Dir ein Anreiz helfen, irgend so eine Karotte, die man Dir vor die Nase<br />
hält und sagt, die kriegst Du, wenn Du nur aufhörst zu rauchen.<br />
M: Ja, wahrscheinlich. Die muss ja wirklich wirklich was sein, was ich mir wirklich<br />
wirklich wünsch .<br />
I: Und das wäre zum Beispiel ein ganz toller, super Computer.<br />
M3: Ein Job<br />
M2: Da würde ich nicht aufhören zum Rauchen.<br />
I: Ein Job wäre es Dir nicht wert, oder ein Computer?<br />
M2: Nein, weil Du arbeitest dann nicht den ganzen Tag, in der Mittagspause<br />
kannst schon eine bofeln gehen, das ist kein Grund....“ .(Matadora 872/977)<br />
Zumal die Aufnahme von Geschlechtsbeziehungen als eine Hauptaufgabe der Pubertät<br />
angesehen wird, sind Peinlichkeiten gegenüber dem anderen Geschlecht eine<br />
schwerwiegende Belastung <strong>für</strong> die Mädchen. Sie neigen dazu, sich selbst in Frage zu<br />
stellen, und haben mit der Übernahme der Frauenrolle Schwierigkeiten. Die Zigarette<br />
kompensiert diese Probleme und versöhnt sie mit sich selbst.<br />
Zum Vergleich wieder die Burschen. Auch bei ihnen bildet das andere Geschlecht den<br />
Erfahrungshintergrund, die Kulisse der Enttäuschungen und Kränkungen, in deren Licht die<br />
Zigarette und ihr aufsteigender Rauch zum psychologischen Allheilmittel werden kann.<br />
„B1: Da gib ich ihm voll recht, weil dieses Problem habe ich auch. Wenn ich zum<br />
Beispiel mit meiner Freundin streite und so etwas, Freundinnen, sie macht<br />
Schluss, dann sage ich, ich muss schnellstmöglich zur nächsten Trafik, Tschik<br />
kaufen und gleich eine anrauchen, damit ich sie vergesse, so schnell wie<br />
möglich. In Wirklichkeit bringt sie [die Zigarette] schon etwas, aber was soll ich<br />
sagen, es bringt sicher schon etwas, aber...<br />
B2: Ja, das stimmt.<br />
B1: ... sonst eigentlich nichts mehr.<br />
B2: Es bringt Dich von den schlechtesten Gedanken weg.“ (Wienerberg M<br />
328/638)<br />
Aber nicht nur als großer Tröster bei allen Arten von Liebeskummer ist die Zigarette <strong>für</strong> die<br />
Jugendlichen von Bedeutung. Sie bringt einen auch sozusagen wieder ins Spiel, indem sie<br />
55
hilft, Peinlichkeiten und Kommunikationslöcher zu überbrücken und die Unsicherheiten in<br />
Bezug auf den eigenen Körper zu überspielen.<br />
Wenn man beim Tanzen, zum Beispiel, so herumsteht und ein unangenehmes Gefühl hat,<br />
weil man ganz sicher von den anderen beobachtet wird und nicht weiß, was man mit den<br />
Händen tun soll, ist die Zigarette wirklich etwas zum Anhalten. Hat man erst eine in der<br />
Hand, ist die Unsicherheit verflogen, denn sie ermöglicht Körperhaltungen und Konzentration<br />
auf sich selber.<br />
„M1: Man macht so eine Bewegung, man hat ein Packerl, das kann man rausholen<br />
aus der Tasche, man kann es wieder reingeben....“ (Lido 777/779)<br />
Beim Anbandeln mit dem anderen Geschlecht stellt die Zigarette sowohl bei Burschen als<br />
auch bei Mädchen ein wichtiges Hilfsmittel dar. Von beiden Geschlechtern wird die Zigarette<br />
als sehr nützlich empfunden, weil man um Zigaretten oder Feuer bitten kann als Vorwand,<br />
jemanden vom anderen Geschlecht anzusprechen. Es gilt als eine anerkannte und durchaus<br />
akzeptierte Methode des In-Kontakt-Tretens, vor allem bei den Unterschicht-Mädchen. Die<br />
Mädchen der Oberschicht stehen dieser Taktik des Anbandelns etwas kritischer gegenüber:<br />
<strong>für</strong> sie ist das Schnorren einer Zigarette nicht wirklich ein guter Beginn um das andere<br />
Geschlecht anzusprechen.<br />
„I: Ist das auch so eine Methode, was weiß ich, Jungs anzureden oder so.<br />
M4: Nein.<br />
M2: Nein, überhaupt nicht, nein.<br />
M1: Das ist nicht so nett, irgendwie.<br />
M2: Ich finde, das ist nicht wirklich ein sehr guter erster Satz.<br />
I: Hast Du eine Zigarette <strong>für</strong> mich?<br />
M2: Ja, ist nicht so.“ (Simon W (867/878)<br />
Schulprobleme<br />
Neben dem Stress mit dem anderen Geschlecht ist unserem Eindruck nach <strong>für</strong> die jungen<br />
Mädchen und Burschen der wahrscheinlich noch bedeutendere Stressgenerator sicher die<br />
Schule. Sie bildet <strong>für</strong> viele eine Problemkulisse, in der sie sich täglich <strong>für</strong> mehrere Stunden<br />
aufhalten müssen und in der Frustrationen leicht, Erfolgserlebnisse im Regelfall jedoch<br />
schwer zu erringen sind.<br />
Leistungsdruck, Versagensängste, ohnehin pubertätsbedingte Konzentrationsstörungen,<br />
Probleme mit Lehrern oder Lehrerinnen und Schwierigkeiten mit Mitschülern erzeugen ein<br />
Bedürfnis nach Unterstützung, die sie häufig nicht ausreichend erhalten, Entspannung,<br />
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Beruhigung und Stimmungsaufhellung. Es ist dieser Kontext vor allem, in dem die<br />
Jugendlichen, wenn ihre Stimmung am Boden ist, zur Zigarette greifen und beginnen, die<br />
psychoaktiven, beruhigenden und aufhellenden Wirkungen des Nikotins zu erkennen und zu<br />
schätzen.<br />
Es ist im Grunde nicht überraschend, dass die Schule europaweit jener Ort ist, an dem die<br />
Jugendlichen am häufigsten rauchen (vgl. Currie et al. 2001). Man kann tatsächlich fast<br />
davon sprechen, dass sie das Rauchen in der Schule erlernen, denn sie liefert den zähen,<br />
schweren Teig, in dem die Droge erst wie Backpulver aufgehen kann, um alles ein wenig<br />
leichter zu machen.<br />
Die Zitate aus den Fokusgruppen sprechen <strong>für</strong> sich und benötigen keine ausführlichen<br />
Interpretationen. Wir stellen eine Auswahl zur Verfügung:<br />
„I: Wann ist es so besonders wichtig, würdet Ihr sagen, <strong>für</strong> Euch, dass Ihr eine<br />
raucht?<br />
M1: Nach der Schule, weil da ist alles stressig.<br />
M2: Vor der Schule und nach der Schule.<br />
M3: Ja, muss sein. Vor der Schule, dass wir da irgendwo eine rauchen, dass Du<br />
einmal überhaupt die Lehrer derpackst, weil die-<br />
M1: Wirklich, die sind so stressig.<br />
M2: Die stressen so die Lehren, die fucken Dich nur an, wirklich. Entschuldigung,<br />
dass ich das sage.<br />
M1: Und nach der Schule, weil so viel Stress und viele Hausübungen,<br />
Freiarbeiten, alles mögliche. Ich denke mir, scheiß drauf, nehme mir eine<br />
Zigarette und dann geht es schon.“ (Wienerberg W 455/469)<br />
„M2: Ja, schon wenn Du aggressiv drauf bist und in der Schule Stress hast und aus<br />
der Schule kommst, isst Du etwas und nachher rauchst Du eine, dann geht es<br />
Dir schon viel besser.“ (Wienerberg W 381/394)<br />
„B1: Es hat seine Vorteile. Nach der Schule immer, wenn ich heiß bin wegen<br />
meinem Klassenvorstand, der Fr. S. rauche ich immer eine. Fühle mich dann<br />
immer so beruhigt und so. Weil ich hab gehört Soldaten, wenn sie seelischen,<br />
dann haben, dann haben meistens wenn Soldaten im Krieg sind einen<br />
seelischen Zusammenbruch und rauchen eine und das beruhigt die. So, und<br />
immer wenn ich so richtig wütend bin und Lust hab zum Raufen, dann rauche<br />
ich eine, dann fühle ich mich immer gleich beruhigt.“ (Wienerberg M 604/612)<br />
„B2: Ich weiß nicht, das war irgendeine Situation, wo sich das ergeben hat. Das<br />
war eine Nachprüfung, die habe ich nicht geschafft, eine Nachprüfung dann<br />
habe ich, glaube ich, wieder angefangen.<br />
I: So quasi, durch das, was Dich belastet hat, etwas Negatives-?<br />
B2: Ja, genau, ja, ja. Dann habe ich wieder geraucht.“ ( Simon M 737/747)<br />
„I: Also, wie ist das nach der Schule, da stehen alle zusammen und was macht<br />
Ihr da?<br />
57
B3: Ja, da hat man eine stressige Mathematik-Stunde oder irgendwas hinter sich<br />
und dort holt man halt die Tschik raus und raucht.“ (Mattheus 309/315)<br />
„I: Was würdet Ihr sagen, was ist so eine typische Situation, wo an gerne raucht?<br />
B1: Nach der Schule, wenn alle draußen stehen mit der Tschik“ (Mattheus<br />
290/295)<br />
„R2: Ja, ich weiß nicht. Wenn man in der Schule sitzt und einem ist langweilig,<br />
dann fängt man an mit den Stiften zu spielen oder auf den Tisch zu klopfen,<br />
aber nach der Schule geht es dann. Wenn man nicht beschäftigt ist, dann<br />
denkt man so, ja.“ (Mattheus 625/631)<br />
„I: in welchen Situationen brauchst Du es, dass Du eine rauchst zum Beispiel?<br />
R1: Ich weiß nicht, nach einer Schulstunde, nach der Schule, vor dem<br />
Schlafengehen. (lachen beide) Ich weiß es nicht.“ (Simon M 286/292)<br />
„M3: Die Leute sind so schrecklich an dieser Schule, genauso wie die Lehrer. Es ist<br />
schrecklich in der Schule.“ (Trummelhof 972/983)<br />
„I: Also, wenn Ihr Euch jetzt einmal so erinnert an eine Situation, wo Ihr irrsinnig<br />
gerne eine geraucht hättet und wo es irgendwie nicht gegangen ist.<br />
M1: Nach der Schule, nach der Lateinlehrerin.<br />
M3: Bei mir auch, das ist ein Weib, diese Frau ist einfach so-<br />
M5: Wir haben die Gleiche.<br />
I: Okay, erzähl einmal.<br />
M5: Das ist die schlimmste Lehrerin, die es überhaupt gibt.<br />
M2: Die ganze Stunde lang zuhören, da denkt man sich, oh Gott, eine Zigarette,<br />
das wäre jetzt, achmmm, da würde man am liebsten schnell aus der Schule<br />
raus und einfach nur eine anzünden.<br />
M3: Das ist die ärgste Lehrerin, die es gibt. Die ist so schlimm.<br />
M5: Die ist schrecklich, dieses Weib.“ (Trummelhof (761/783)<br />
„M2: Wir haben eine tepperte Biologielehrerin, die nervt so. Die redet und redet und<br />
Du schläfst dabei fast ein. Da sitzt Du so da-<br />
M3: Oder sie schreit nachher, die Lehrer schreien immer so laut.<br />
M2: Das geht da rein und da raus.“ (Wienerberg W (812/817)<br />
„M1: Oder wenn man ziemlich aufgeregt ist ...zur Beruhigung eine Zigarette. Ich<br />
meine, es hilft vielleicht nicht wirklich, vielleicht bildet man sich das nur ein,<br />
aber –<br />
M4: Es ist angenehmer.“ (Trummelhof 635/640)<br />
Welche Wirkungen löst die Zigarette bei den Jugendlichen nun aus?<br />
„M2: Man wird irgendwie ruhig danach. Ich weiß nicht. Man will dann, man ist dann<br />
ein bisschen vielleicht überdreht oder so was und ja, Schularbeit und ich weiß<br />
nicht was, dann hat man eben die Zigarette und man raucht eine Zigarette ja<br />
nicht wirklich so, also, so irrsinnig schnell oder so. Ich meine, es ist schon<br />
schnell <strong>für</strong> eine Zigarette, aber man genießt sie halt dann irrsinnig. Das ist halt<br />
so ein langsames und man beruhigt sich langsam wieder und es ist ein<br />
irgendwie angenehmes Gefühl.“ (Simon W 981/996)<br />
58
„M1: Es beruhigt mich immer wieder, wenn ich eine Zigarette rauche.“ (Lido<br />
470/472)<br />
„M1: Ja, schon wenn Du aggressiv drauf bist und in der Schule Stress hast und aus<br />
der Schule kommst, isst Du etwas und nachher rauchst Du eine, dann geht es<br />
Dir schon viel besser.<br />
M3: Ich rauche zuerst eine und dann esse ich was.“ (Wienerberg W 381/394)<br />
Es ist vielen Jugendlichen bewusst, dass sie auch andere Hilfsmittel zur Reduktion von<br />
Stress anwenden könnten. Sport wäre eine Möglichkeit, reden mit Freunden, Lehrer/innen,<br />
Eltern oder gar Psychologen. Doch bedeutet das Rauchen einer Zigarette die<br />
unkomplizierteste, am wenigsten anstrengendste und wirkungsvollste Variante. Die positive<br />
Wirkung der Zigarette geht sogar so weit, dass sie bei den Mädchen richtige Glücks- und<br />
Zufriedenheitsgefühle verursacht.<br />
„M2: Genau. Also, wenn Du eine Zigarette anzündest, dann bist Du sozusagen<br />
glücklich, dass Du endlich eine hast. Und dann eben auch irrsinnig zufrieden,<br />
sage ich jetzt einmal.“ (Simon W 901/904)<br />
59
4.5 Stufe fünf: Genussrauchen und Rauchen als Lebensstil<br />
Die Jugendlichen lernen, die Wirkungen der Zigarette auch ohne psychische<br />
Belastungen zu empfinden. Sie rauchen nun auch ohne Probleme zu haben und<br />
verbinden das Rauchen mit einem bestimmten Lebensgefühl.<br />
In dieser Phase lernen die Jugendlichen allmählich, die Wirkung der Zigarette auch dann zu<br />
empfinden, wenn sie gerade keine negative Stimmung haben und nicht erschöpft, gestresst<br />
oder niedergeschlagen sind. Das ist der entscheidende Schritt vom „Problemraucher“ zum<br />
„Genussraucher“, von der „Problemraucherin“ zur „Genussraucherin“.<br />
Mit anderen Worten: sie lernen die Zigarette als Stimulans zu benutzen, das unter beliebigen<br />
äußeren Bedingungen eine gewisse angenehme Gefühlslage hervorrufen kann. Die<br />
Zigarette wird so zum Kristallisationspunkt eines bestimmten Lebensstils, mehr noch: einer<br />
bestimmten Lebensauffassung und Welthaltung, in der „coole“ Gelassenheit im Umgang mit<br />
allen erdenklichen Herausforderungen des Lebens, ja mit dem Leben überhaupt einen hohen<br />
Wert darstellt.<br />
Dieser Wert ist sicherlich nicht jugendspezifisch. Er entstammt nicht einer jugendlichen<br />
Gegenwelt, in der eine Umwertung aller Werte der Erwachsenen stattgefunden hätte. Er<br />
entstammt vielmehr der Erwachsenenwelt selbst und ist tief verwurzelt in den<br />
Lebensbedingungen der modernen, bürgerlichen, auf Individualität setzenden Gesellschaft.<br />
Insofern hängt das Rauchen der Jugendlichen tatsächlich mit der Entwicklung einer<br />
Erwachsenen-Identität zusammen.<br />
Im nachfolgenden Zitat stellt ein Mädchen diese Beziehung zwischen angenehmen, ruhigen<br />
Gemütslagen, der Zigarette und dem Gefühl, nun schon ein wenig älter zu sein, expressis<br />
verbis her.<br />
„M2: Ja, ich hab mir schon, das war meistens mit einer anderen, sehr guten<br />
Freundin von mir. Und das war immer wenn wir, wir waren recht oft bei ihr<br />
zuhause und ihre Mutter war nicht da, - und - dann haben wir uns also einfach<br />
schon so aus Gewohnheit haben wir uns halt dann einfach eine Packung<br />
gekauft, uns ans Fenster gesetzt und angefangen zu reden und das war <strong>für</strong><br />
mich dann immer, es war immer irrsinnig toll, also, es war nicht unbedingt die<br />
Zigarette, die so toll geschmeckt hat oder so, - also es hat mir schon<br />
geschmeckt, aber einfach dieses Gefühl, vielleicht doch ein bisschen älter zu<br />
sein und dann am Fenster zu sitzen und einfach über alles zu reden. Das war<br />
so, wie wenn man halt, keine Ahnung, halt daneben was ißt, irgendwie so<br />
etwas wie ein Kaffeekranzerl oder so etwas, wir hatten es halt mit Zigaretten.“<br />
(Simon W 104/129)<br />
Was ist die Wirkung der Zigarette in solchen Situationen? Sie schafft eine angenehme,<br />
vielleicht gemütliche Stimmung, in der man gerne über verschiedene Dinge redet oder auch<br />
60
nur plaudert. Die Zigarette wird so zu einem Ingrediens des angenehmen Lebens. Die<br />
Jugendlichen beherrschen diese Form der Herstellung von Sozialität, Gemeinschaft,<br />
Gemütlichkeit und Redseligkeit und sicher ist das nicht nur <strong>für</strong> Jugendliche eine notwendige<br />
und sehr sinnvolle Fähigkeit. Die Zigarette hilft ihnen dabei und ist insofern in ein<br />
Gesamtkonzept des einfach genussreichen Lebens und der notwendigen Psychohygiene<br />
eingebaut. Sie schafft einen Zugang zum genussreichen Leben, zur Zufriedenheit mit sich<br />
selbst, ja, zum eigenen Selbst, denn tatsächlich spürt man unter dem Eindruck eines<br />
Lungenzugs vor allem den eigenen Körper, sich selbst. Oder noch einmal anders: sie ist wie<br />
ein Schlüssel zu einem Raum, in dem man/frau sich selbst auf angenehme, liebenswerte<br />
Weise begegnet, nicht gestresst, gedemütigt, in Verlegenheit gebracht, genervt, überfordert,<br />
gescholten, angeschnauzt oder sonst wie abgewertet. Die Rauchschwaden des<br />
ausgehauchten blauen Dunstes werden quasi meditativ umgedeutet zum Sinnbild <strong>für</strong> den<br />
ruhigen, schönen, ziel- und zeitlosen Strom des eigenen Lebens. Wie im autogenen Training<br />
werden Gedanken zu bloßen Assoziationen, deren lose Aneinanderreihung nur ihr Vergehen<br />
befördert und keinerlei Reflexion und Innehalten notwendig macht.<br />
„M1: Es ist, auch wenn man im Kaffeehaus sitzt, ist es irgendwie gemütlicher wenn<br />
man irgendwie eine Zigarette raucht.<br />
M3: Ja, das ist cool zum Kaffee.<br />
M5: Ja, oder einfach wenn Du dann so sitzt und nur redest.<br />
M4: Ja, auch so zu Hause. (lachen)“ (Trummelhof 600/612)<br />
„I: Erzählt mir einfach noch so, wie Ihr gemeinsam den Abend verbringt?<br />
M3: Wir reden über Sachen.<br />
M2: ....wenn wir zusammen sind.<br />
M3: Zum Beispiel, die (Name)....<br />
M2: Ja, genau.<br />
M3: Also wir reden über Leute, die wir hassen oder Leute-<br />
M1: Die alles raustratschen.<br />
M2: Die uns mächtig am Arsch gehen. Über die Tschickschnorrer....<br />
M3: Oder wir reden einfach ganz über uns selber.<br />
M2: Oder wir reden über Geld oder so etwas.<br />
I: Und dann quatscht Ihr und raucht?<br />
M2: Ja.“ (Wienerberg W 855/872)<br />
Dass es sich dabei wirklich um Genießen handelt, lässt sich daraus ablesen, dass die<br />
Mädchen nun auch sehr gut zu unterscheiden wissen, wann eine Zigarette passend ist und<br />
wann nicht, wann sie ihnen ein besseres Gefühl beschert und wann sie nur<br />
Unannehmlichkeiten mit sich bringt. Sie haben die besonderen Situationen herausgefunden,<br />
in denen ihnen die Zigarette am besten schmeckt und der Genuss am höchsten ist. Auf die<br />
entsprechende rage in den Fokusgruppen erhielten wir immer wieder die selben Antworten:<br />
nach der Schule, nach dem Essen, nach dem Sex, vor dem schlafen Gehen.<br />
61
„I: Wenn Ihr zurückdenkt, was ist denn so die beste Zigarette am Tag oder Im<br />
Leben überhaupt?<br />
M2: Nach dem Mittagessen.<br />
M1: Nein, nach dem Sex.<br />
M3: Stimmt, nach dem Sex.<br />
M2: Nein, da schlafe ich ein.<br />
M1: Nach dem Sex.<br />
M4: Eine rauchen, dann was trinken und dann schlafen gehen.“ (Lido 589/599)<br />
„I: wenn Du nach der Schule zum Beispiel eine rauchst, wie ist das <strong>für</strong> Dich?<br />
M3: Freude!!! Wie gesagt, man kann es überhaupt nicht beschreiben. Man freut<br />
sich schon in der Schule irgendwie so drauf, ja, eine Stunde noch, zwei<br />
M1: Erst zwei und dann eine noch.<br />
M3: Aber wie ist das wirklich? Ich weiß nicht, man freut sich einfach drauf und es<br />
schmeckt dann, aber ich finde es auf leeren Magen nicht so besonders toll.<br />
Das heißt, wenn ich noch nichts gegessen habe.<br />
M1: Aber es kann einem urschlecht werden, wenn man echt viel raucht.<br />
M2: Ja, wenn man zu Mittag nichts gegessen hat. Ja, das stimmt.“ (Simon W<br />
945/961)<br />
„M1: Gestern habe ich die letzte geraucht nach dem Essen, Das tue ich immer, weil<br />
dann ist die Zigarette viel angenehmer und ich weiß nicht, da hat sie einen<br />
anderen Geschmack.<br />
M2: Geschmeidiger.<br />
M1: Geschmeidiger und das war gestern am Abend, um 10 Uhr so.<br />
I: Habt Ihr die gemeinsam geraucht?<br />
M1: Ja, ich und die Nadine. Sie war nämlich bei mir und die Nadine hat bei mir<br />
geschlafen. Da haben wir noch zwei Semmeln gemacht und nachher haben<br />
wir noch eine geraucht, so circa um 10 Uhr. Die Zigarette ist nach dem Essen<br />
viel geschmeidiger und hat einen besseren Geschmack.<br />
M2: Ja, da ist nicht der Magen so leer.<br />
M1: Die ist immer nach dem Essen viel angenehmer.<br />
M2: Ja, da hast wenigstens was im Magen, da spürst auch irgendwie mehr von der<br />
Zigarette als wenn Du nichts isst.<br />
M1: Aber in der Früh ist es irgendwie blöd, weil irgendwie wird mir dann auch<br />
schlecht, weil ich nichts im Magen habe, aber irgendwie brauche ich<br />
irgendwas zum-„ (Wienerberg W 99/125)<br />
„M3: Und es ist, was auch irrsinnig angenehm ist <strong>für</strong> mich, kurz vor dem<br />
Einschlafen.<br />
M2: Ja.<br />
M3: Mhmm.<br />
I: Wieso, was heißt angenehm?<br />
M4: Ich weiß es nicht, es ist irgend so wie ein Anfang und ein Ende. Wenn Du<br />
dann am Ende schon im Bett liegst oder so was und vielleicht schon müde bist<br />
oder keine Ahnung, und dann rauchst Du noch eine und dann schläfst Du ein,<br />
das ist irgendwie, ich weiß nicht, dass Du noch eine hattest, so zu Abschluss,<br />
noch eine letzte“. (Simon W 962/977)<br />
Es ist diese „Ingeborg Bachmann-Situation“, vor der man die Jugendlichen und ihre<br />
Mitbewohner ganz besonders warnen sollte. Es ist nicht selten, dass Brände entstehen, weil<br />
jemand mit einer brennenden Zigarette eingeschlafen ist.<br />
62
Am beliebtesten ist bei den jungen Frauen wie auch bei Erwachsenen die sogenannte<br />
„Zigarette danach“. Gerade diese Verbindung von Sex und Rauchen weist die Jugendlichen<br />
als Genussraucher/innen aus und zeigt, wie sehr die Jugendlichen die Wirkungen der<br />
Zigarette mit Genuss, Befriedigung, Zufriedenheit, ja, Glücksgefühlen verbunden haben.<br />
„M1: Vielleicht gehen wir nicht schlafen, aber trotzdem, nach dem Sex ist immer die<br />
beste Zigarette.“ (Lido 643/644)<br />
„M2: Ja, genau. Das ist ganz einfach auch die Zeit, wo ich mich zu ihm kuscheln<br />
kann und wo ich in Ruhe sitzen kann und noch mit ihm kurz quatschen kann<br />
und ja eine Ruhephase bevor man sich wieder anstrengen muss.<br />
I: Und was redet Ihr da so gemeinsam?<br />
M4: Über alles. Über alles. Ich rede mit meinem Freund offen und ehrlich über<br />
alles und über jeden.“ (Lido 665/673)<br />
„M1: Für mich ist das [nach dem Sex] die beste Zigarette, sogar <strong>für</strong> meinen Freund.<br />
Das ist das einzige Mal, wo er sagt, rauchen wir eine, sonst muss ich ihn<br />
immer fragen, sagt er, nein, jetzt rauchst nicht schon wieder eine und wir<br />
haben erst vor 2 Stunden eine geraucht. Er raucht nur maximal 5 bis 6<br />
Zigaretten am Tag, außer wir gehen fort, dann macht er 3 bis 4 Züge und<br />
dann gibt er sie weiter die Zigarette. Aber das ist das einzige Mal, wo selbst er<br />
sagt, herst Schatzl hast Du eine Zigarette <strong>für</strong> mich oder rauchen wir eine, oder<br />
jetzt setz Dich einmal ruhig hin, jetzt stress nicht, hupf nicht gleich auf,<br />
sondern setz Dich hin, rauchen wir eine und dann fahren wir.“ (Lido 650/661)<br />
„I: Und ist das dann angenehm, diese Zigarette nach dem Sex?<br />
M1: Ja, da kann man ur-gut einschlafen. Da ist man matt.<br />
M2: Da bin ich sowieso so erledigt.<br />
M4: Nach der Zigarette trink ma noch etwas, gegen den Geschmack und dann<br />
gemma schlafen und kuscheln und so.“ (Lido 630/636)<br />
„I: Das genießt Ihr dann so gemeinsam.<br />
M4: Ja, genau. Das ist ganz einfach auch die Zeit, wo ich mich zu ihm kuscheln<br />
kann und wo ich in Ruhe sitzen kann und noch mit ihm kurz quatschen kann<br />
und ja eine Ruhephase bevor man sich wieder anstrengen muss.“ (Lido<br />
663/668)<br />
Welche Rolle spielt die Zigarette bei den Burschen? Ganz ähnlich, aber vielleicht mit<br />
„Männer-spezifischen“ Nuancen stellt sich der Genuss auch bei den Burschen ein. Es sind<br />
letztlich ähnliche Situationen, in denen der Genuss am meisten zelebriert wird: nach der<br />
Schule, nach dem Essen, vor dem Schlafen. Was die Burschen nicht erwähnen: nach dem<br />
Sex.<br />
Will man Geschlechtsunterschiede entdecken, dann liegt einer am ehesten darin, dass die<br />
Burschen in größeren Gruppen bzw. Freundeskreisen rauchen und das Rauchen insofern<br />
stärker als Gruppen-Verhalten zelebrieren, als das bei den Mädchen beobachtbar ist, die<br />
intimere Situationen mit ein, zwei besten Freundinnen bevorzugen.<br />
63
„B2: Naja, nach der Arbeit schaue ich mir keinen Film an. Wenn ich jetzt nach<br />
Hause komme, tu ich mich ausruhen, dann werden eh meine Freunde<br />
anrufen, ob ich Zeit habe. Dann gehe ich meistens mit meinen Freunden<br />
etwas trinken und rauchen.“ (WUK 657/661)<br />
„B1: Oiso, bei mir ist es so, am meisten rauche ich am Freitag, also wenn ich so mit<br />
Freunden unterwegs bin, wie zum Beispiel heute, sonst rauche ich selten also.<br />
Weil am Freitag gehe ich mit Freunden fort, da geh ich halt, da habe ich Gusto<br />
drauf, da will ich rauchen einfach. Ich weiß auch nicht warum es so ist, aber<br />
da hat man einfach Gusto drauf.“ (Wienerberg M 363/371)<br />
„B2: Das ist halt, mit den Freunden habe ich mehr Spaß, da will ich einfach<br />
rauchen, zu Hause nicht, aber da<strong>für</strong> bei meinen Freunden, weil jeden Freitag<br />
ist das bei mir so.“ (Wienerberg M 531/533)<br />
Mit Freunden hat man mehr Spaß beim Rauchen – auch diese Passage zeigt wieder, dass<br />
das Rauchen in der Gruppe nicht als Phänomen des Gruppendrucks und auch nicht als<br />
mimikry-haftes Nachahmungsverhalten interpretierbar ist, das nur eine soziale Funktion hat,<br />
aber außer der Geste keine Spuren im Bewusstsein zurücklässt. Tatsächlich ist das<br />
Rauchen im Freundeskreis (oder in der Männergruppe) <strong>für</strong> die Burschen die insgesamt<br />
betrachtet schönste und genussreichste Form des Rauchens, schöner, wenn man nach den<br />
Nennungen und Thematisierungen in den Fokusgruppen gehen darf, als die „Zigarette<br />
danach“.<br />
Viel eher, als dass die Zigarette diese Jungmänner-Runden erst konstituierte und <strong>für</strong> sie als<br />
soziale Klammer fungieren würde, kann man wohl interpretieren, dass sie ein Moment<br />
verstärken hilft, das in diesen Runden latent schon da ist. Mit Bezug auf die<br />
entwicklungspsychologische Grundcharakterisierung der männlichen Pubertät als Streben<br />
nach Autonomie und Freiheit, getränkt mit einem Schuss Egomanie und Selbstherrlichkeit,<br />
ist es vielleicht möglich, die Zigarette bei Burschen als Instrument der narzisstischen<br />
Selbstfeier im Kreise Gleichgesinnter zu begreifen. Auch wieder im Gegensatz zu den<br />
Mädchen scheint es in diesen Zusammenkünften nicht so sehr darum zu gehen, durch<br />
Formen privater Kommunikation über Gott und die Welt eine Beziehung herzustellen, eigene<br />
individuelle Weltsichten darzustellen, jene anderer zur Kenntnis zu nehmen, zu überprüfen,<br />
zu kalibrieren, sondern im gemeinsamen „Spaß“, eine Erfahrung mit sich selbst zu machen.<br />
Der Spaß besteht eigentlich vor allem darin, so zu sein und sein zu dürfen, wie man ist oder<br />
besser: wie man gerne ist, weil man sich so gefällt. Ein Spaß ist das deshalb, weil alle<br />
sozialen Anforderungen abgewehrt sind und keine Verpflichtung zu selbstreflexiver Distanz<br />
und Selbstkontrolle gegeben ist.<br />
Für eine solche, den Rückbezug auf das eigene Ich betonende Interpretation spricht auch<br />
die zweite von den Burschen am häufigsten genannte und umschriebene Situation des<br />
höchsten Rauchgenusses: das Essen. Es ist auch nur von Burschen der Bezug zur<br />
64
Ausscheidung hergestellt worden, wodurch die Zigarette eine Rolle in einem Körper-Kreislauf<br />
erhält, den das Bewusstsein in hohem Maße als genussvoll erleben kann.<br />
Man wird darin aber auch die Welthaltungen und Lebenseinstellungen einer auf<br />
Konsumismus und das leibliche Wohl gepolten Generation erkennen dürfen, die sich der<br />
Leichtigkeit des Seins in einer reichen, protektiven Gesellschaft hingeben.<br />
„B1: Bei mir, ja, entweder in einem Lokal, auch wenn ich essen gehe oder im<br />
Kaffeehaus oder so wie hier oder daheim im Bett, das ist der gemütlichste Ort<br />
zum Rauchen.“ (Wienerberg M 356/359)<br />
„I: Was ist denn so die beste Zigarette? Wenn Ihr so denkt an Situationen oder in<br />
Eurem Leben, was ist die Zigarette, die Euch so richtig taugt?<br />
B1: Nach einem ausgiebigen Essen.<br />
B3: Nach einem Essen oder in der Früh.<br />
B2: Nach einem richtig saftigen Essen.<br />
B5: Nach einem guten Essen.<br />
B6: Nach einem richtigen Steak oder so etwas.“ (Mattheus 1378/1387)<br />
„B2: Ja, nicht immer. Eher so wie er gesagt hat, nach einem normalen<br />
Mittagessen, ist es so wie ein Draufschlag auf die Art, wenn man schon satt ist<br />
und dann leiwand sitzt und eine raucht, ist das noch besser.“ (WUK 563/566)<br />
„B3: Da [nach dem Essen] habe ich mich zurückgelehnt, so nach hinten und habe<br />
eine geraucht, so ganz genüsslich, ganz relaxed, hingelegt und fertig. Das ist<br />
das beste wenn Du eine rauchst und Du hast einen vollen Magen, Du hast ein<br />
Platzerl gesehen, kannst Dich jetzt hinsetzen ganz gemütlich und eine<br />
rauchen.<br />
B4: Ja, das stimmt. Wenn man gerade etwas gegessen hat, und man muß dann<br />
später sein Geschäft machen und man raucht dabei wird das schneller<br />
verdaut, das hilft.“ (Wienerberg M 338/356)<br />
65
4.6 Stufe sechs: Gewahrwerden der Sucht<br />
Vielen Jugendlichen fällt schon nach kurzem Raucherdasein auf, dass sie von der<br />
Zigarette abhängig geworden sind. Sie empfinden erste Entzugserscheinungen, wenn<br />
sie keine Zigaretten verfügbar haben. Einige beginnen jetzt mit häufig vergeblichen<br />
Versuchen aufzuhören.<br />
In dieser letzten Phase der Raucherkarriere vollziehen die Jugendlichen den abschließenden<br />
Schritt in der Identitätsentwicklung zum Raucher oder zur Raucherin, indem sie sich nun<br />
bewusst machen, akzeptieren oder reuevoll eingestehen, dass sie nun Raucher/innen sind.<br />
Dieser Vorgang ist mit der Einsicht verbunden und wird von dieser sogar ausgelöst, dass sie<br />
von der Zigarette schon nicht mehr lassen können, jedenfalls nicht mehr leicht. Sie<br />
empfinden sich als abhängig bzw. süchtig. Unseren eigenen Untersuchungen zufolge wollen<br />
etwa zwei Drittel der 15-jährigen Raucher/innen wieder mit dem Rauchen aufhören (vgl. Dür<br />
et al. 2002).<br />
Der Unterschied, der plötzlich relevant wird und an dem die Jugendlichen diese neue<br />
Entwicklung festmachen, ist der, dass sie nun auch alleine rauchen, einsam und nur <strong>für</strong> sich,<br />
ohne Freund/innen und ohne Gruppenkontakte, einfach weil es sein muss. So sehr das<br />
Rauchen in anderen Phasen und unter anderen Umständen als „kommunikativ“, Gruppen<br />
zusammen haltend und Leute verbindend erscheinen mag, die andere Seite der Medaille ist<br />
eben die, dass es unter anderen Bedingungen zugleich auch sehr einsam macht. Nicht etwa<br />
deshalb, weil Nicht-Raucher/innen einen sozial ausschließen würden, sondern einzig<br />
deshalb, weil die Zigarette die Egozentrik einfordert, gegebenenfalls seltsame, wenn es um<br />
das Eigentum anderer geht, manchmal auch problematische Verhaltensweisen an den Tag<br />
zu legen. Die Frage der Toleranz oder Intoleranz insbesondere von Nicht-Raucher/innen<br />
gegenüber Raucher/innen sollte von diesen auch einmal unter diesem Gesichtspunkt<br />
gesehen werden.<br />
So nehmen die Jugendlichen jetzt auch einiges auf sich, um zu Zigaretten zu kommen,<br />
verlassen etwa mitten in der Nacht das Haus oder die Wohnung und suchen den nächsten<br />
Automaten auf oder radeln einsam kilometerweit, sogar in fremden Ländern, um ihre Sucht<br />
zu bedienen. Sie sprechen jetzt von „Notsituationen“, in denen man Zigaretten auch heimlich<br />
zum Beispiel der eigenen Mutter entwendet.<br />
Angetrieben sind sie vom brennenden Wunsch, „jetzt unbedingt“ und „irrsinnig gerne“<br />
rauchen zu müssen. In anderer Form sind diese Erfahrungen und Verhaltensweisen von<br />
illegalen Drogenabhängigen bekannt.<br />
„I: Ab wann habt Ihr eigentlich gemerkt, so quasi, dass Ihr Zigaretten haben<br />
wollt?<br />
66
M1: Gar nicht, ich weiß es nicht.<br />
M4: Ich auch nicht, mir ist es nur dann immer aufgefallen, dass ich immer öfter<br />
gesagt habe, waaa, jetzt hätte ich gerne eine Zigarette.<br />
M2: Na, ich hab eigentlich, ich war eigentlich, glaube ich, bis vor 2 Monaten noch<br />
davon überzeugt, dass ich eigentlich eh keine brauche, oder vielleicht nicht 2<br />
Monate, also eine sehr, sehr lange Zeit war ich immer davon überzeugt, dass<br />
ich es nicht brauche und hab dann aber doch irgendwie im Urlaub dann in<br />
Notsituationen welche von meiner Mutter genommen oder so, und dann<br />
irgendwie in der Nacht um 12.00 auf den Balkon und schnell eine rauchen.<br />
Dass also man dann einfach merkt, man will unbedingt eine. Also nicht<br />
einfach, weil, keine Ahnung, weil jetzt irgendeine Freundin grad eine anbietet<br />
und weil das jetzt irgendwie toll ist, sondern weil Du wirklich alleine zum<br />
Beispiel zu Hause bist und Dir denkst, jetzt hätte ich einfach irrsinnig gerne<br />
eine.<br />
M4: Ja, ich habe es am viel alleine rauchen gemerkt.<br />
M2: Ja, genau. Einfach, dass man auch alleine sich dann eben auch wirklich<br />
selber immer Packerl kauft und dann noch selber alleine zu Hause raucht oder<br />
am Schulweg oder irgend so was, also nicht nur in Gruppen.<br />
M1: Dass man dran denkt einfach, so prinzipiell immer dran denkt.<br />
M3: Oder wenn man im Sommer extra wegfährt mit dem Fahrrad, um sich Tschik<br />
zu kaufen, ganz alleine.<br />
M4: Ja, mir fällt es auch auf, da ich meiner Mutter fast jeden Tag mindestens 3<br />
Tschik klaue.“ (Simon W 727/766)<br />
Der imperative Wunsch nach einer Zigarette ist besonders in der Schule störend und<br />
behindert dort wohl sogar die Aufmerksamkeit und den Schulerfolg. Da die unmittelbare<br />
Bedürfnisbefriedigung während des Unterrichts bzw. außerhalb der Pausen, <strong>für</strong> jüngere<br />
Nikotinsüchtige sogar prinzipiell nicht möglich ist, setzen die Jugendlichen seltsame<br />
Ersatzhandlungen, um die Zeit zu überbrücken.<br />
„B1: Vielleicht ist es auch einfach das Gefühl, wenn man irgend etwas da hat im<br />
Mund und da zieht man dran. Weil oft ist es so, manchmal in der Schule,<br />
wenn Du Dir denkst, jetzt würde ich ur-gerne eine Zigarette rauchen. Dann<br />
nimmst Du einen Stift und dann irgendwie machst Du den Zug halt so nach,<br />
das ist irgendwie, das befriedigt auch schon ein bisschen.“ (Mattheus<br />
394/406)<br />
Entzugserscheinungen<br />
Wird die Sehnsucht nach Zigaretten stärker, machen sich auch bereits bei den Jugendlichen<br />
Entzugserscheinungen bemerkbar. Sie registrieren jetzt eine Veränderung ihrer psychischen<br />
Befindlichkeit und eine wachsende Aggressivität. Die Nervosität steigt an und mit ihr<br />
Verhaltensweisen wie Nägelbeißen. Es geht so weit, dass sie sich sogar selber als teilweise<br />
67
unzurechnungsfähig beschreiben, da sie in der „Notsituation“ dann „immer einen Blödsinn“<br />
machen.<br />
Aufhören<br />
„M4: Ich glaube schon, ja. Also, die Zigarette muss ich haben. Wenn ich die<br />
Zigarette nicht haben kann, dann bin ich ungmiatlich.“.(Lido (675/686)<br />
„M1: Wenn ich keine Zigarette hab bin ich schlecht aufgelegt.“ (Lido 730/731)<br />
„M1: Ich glaube, ich beiße durch das Rauchen nur noch mehr Nägel, weil wenn ich<br />
eine Tschik will oder so auch aufgeregt war<br />
M2: Ja, das mache ich auch.<br />
I: Dass Du nervös wirst, wenn Du eine Zigarette willst?<br />
M2: Ja, man wird, also ich werde zumindest nervös.<br />
M1: Ja, aber<br />
M2: Da kriegt man so einen richtigen, da würde man dann wahrscheinlich ziemlich<br />
viel <strong>für</strong> eine Zigarette tun.<br />
M1: Aber ich find, ich kann schon, ich mein, ich kann nicht einen Tag nicht<br />
rauchen, aber es ist nicht schlimm, wenn ich am Abend -<br />
M4: Ja, aber Du sehnst Dich den ganzen Tag danach.“ (Simon W 668/686)<br />
„M3: Da sitze ich auf Nadeln, wirklich, wenn ich keine Zigarette habe, dann beiße<br />
ich mir alle Nägel runter, ich weiß nicht, ich habe keine Ahnung, ich mach da<br />
immer irgendeinen Blödsinn.“ (Lido 738/748)<br />
Viele Jugendliche wollen in diesem Stadium ihre Raucherkarriere beenden, was ihnen<br />
jedoch zumeist große Schwierigkeiten bereitet.<br />
„B1: Also eigentlich alle, die meisten von uns wollen eigentlich aufhören.<br />
I: Ja, warum?<br />
B1: Weil es ungesund ist, ganz einfach. Ich weiß nicht, die meisten wollen schon<br />
aufhören.<br />
I: Und warum hören sie nicht auf?<br />
B1: Weil sie nicht können.“ (Simon M 1283/1320)<br />
„I: Und was war der Grund, warum Du Dir gedacht hast, Du hörst auf?<br />
M3: Wegen Geld. Ich höre jetzt eh auch auf. Ein Packerl rauche ich noch und dann<br />
höre ich auf danach. Also, weniger rauchen und dann.<br />
I: Langsam reduzieren und dann ganz aufhören?<br />
M3: Ja.“ (Matadora 548/569)<br />
Wie schwierig das Aufhören ist, zeigt die Tatsache, dass die Zigarette auch in<br />
Liebesbeziehungen zwischen den Partnern stehen kann. Deutlich wird der tiefe Grund da<strong>für</strong><br />
hörbar: das Rauchen wird von den Jugendlichen nicht mehr nur als eine interessante,<br />
68
spannende, neugierig machende, vielleicht modische, vielleicht coole Facette möglichen<br />
Verhaltens dargestellt, das man spielerisch ausprobiert, dem aber keine weiteren Gedanken<br />
gewidmet werden müssen, es ist nicht mehr nur ein arbiträres, soziale Abläufe begleitendes<br />
Accessoire, sondern es ist tief in die Identität und das Selbstverständnis der Jugendlichen<br />
eingearbeitet. Das mit dem Rauchen Aufhören wird im nachfolgenden Zitat von zwei jungen<br />
Frauen tatsächlich als Persönlichkeitsveränderung dargestellt bzw. mit einer solchen gleich<br />
gesetzt, die von keinem anderen als von ihnen selber eingefordert werden dürfe. Niemand<br />
anderer hat das Recht, ihnen diesbezüglich Vorschreibungen zu machen. Der Geliebte muss<br />
sie akzeptieren, wie sie sind, mit all ihren so und nicht anders gearteten<br />
Persönlichkeitsmerkmalen, mit all ihren Stärken und Schwächen, und eben auch mit all<br />
ihren Zigaretten. Eher würden sie die Beziehung wohl beenden und dem Liebhaber den<br />
Laufpass geben, falls er es nicht schaffen sollte, mit dem „Pech“ zu leben, sich in eine<br />
Raucher/in verliebt zu haben.<br />
„I: Würdest Du dann ihm zuliebe aufhören, wenn er sagen würde, ich hab Dich<br />
so lieb, aber noch lieber wäre es mir, wenn Du nicht rauchen würdest, oder<br />
muss er das einfach akzeptieren?<br />
M2: Der muss es akzeptieren. Also, bevor ich nicht sag, ich will aufhören, darf<br />
mich niemand drauf ansprechen.<br />
M3: Ich meine, du kannst auch einen Kompromiss schließen und sagen, ja, okay,<br />
ich rauche weniger. Ich würde mich auch nicht ändern, wenn jetzt irgendwer<br />
zu mir zu sagt, ja, mich stört das an Dir. Würde ich sagen, Dein Pech. Ich<br />
ändere mich nur wegen mir, aber nicht wegen jemandem anderen.“ (Matadora<br />
1117/1128)<br />
Dennoch spüren die Jugendlichen auch, dass sie bessere Ausstiegs-Chancen hätten, wenn<br />
sie entsprechende soziale Unterstützung hätten, sei es von Partnern und Partnerinnen, sei<br />
es von Freunden und Freundinnen. Sie gehen, zum Beispiel, Wetten ein, dass sie mit dem<br />
Rauchen dann und dann aufhören würden, um den Druck auf sich selbst zu erhöhen.<br />
„B2: Außerdem nach dem Bundesheer kriege ich 3.000,-- Schilling, wenn ich<br />
aufhöre, weil ich gewettet habe mit einem Freund, aber-<br />
B1: Das schaffst Du ja eh nicht.“ (Mattheus 1162/1167)<br />
Trotzdem wird in der Reaktion des Wettpartners deutlich, dass dieser nicht glaubt, sein Geld<br />
zu verlieren, weil die Erfahrung, dass die Aufhörversuche scheitern, weit verbreitet ist. Von<br />
den Freunden erhält der aufhörwillige Raucher daher wenig bis gar keine Unterstützung in<br />
Form eines Vertrauensvorschusses, der motivierend und stärkend wirken könnte. Anstatt<br />
sich gegenseitig zu unterstützen, wird eigentlich immer nur eine schlechte, negative,<br />
pessimistische Stimmung erzeugt.<br />
69
So werden zwar immer wieder Versuche unternommen, sich von der Zigarette zu trennen,<br />
diese bleiben aber meist erfolglos.<br />
„B2: Ich habe schon zweimal aufgehört zu rauchen und zweimal wieder<br />
angefangen.“ (Simon M 693/694)<br />
„M1: Ich habe probiert einmal nicht zu rauchen, ich habe geschaut 5 Zigaretten am<br />
Tag, aber das ist ur-anstrengend.“ (Matadora 301/302)<br />
Man muss hier sehen, dass das Aufhören des einen <strong>für</strong> den anderen, der nicht aufzuhören<br />
imstande ist, ein Problem bedeuten kann, weshalb er die Versuche seines Freundes<br />
bewusst oder unbewusst zu torpedieren versucht. Daraus folgt <strong>für</strong> die Präventionsarbeit<br />
gegenüber süchtigen Raucher/innen, dass die Angebote zum Ausstieg nicht nur individuell,<br />
sondern der ganzen Gruppe angeboten werden sollten. Das auch deshalb, weil die<br />
Nachhaltigkeit des Ausstiegs eher gesichert ist, wenn der Ex-Raucher in seinem<br />
Freundeskreis nicht ständig mit Rauchversuchungen konfrontiert ist.<br />
70
5. GESCHLECHTSUNTERSCHIEDE<br />
Eine zentrale Fragestellung der GAT1- und der GAT2-Studie lag in der Untersuchung von<br />
geschlechtsspezifischen Unterschieden. Da der Zuwachs an Raucher/innen bei den<br />
Mädchen deutlich höher war als bei den Burschen (vgl. Grafik 1), musste gefragt werden, ob<br />
dahinter möglicherweise völlig andere soziale Problemlagen und Mechanismen stecken.<br />
Grafik 1: Entwicklung des Anteils täglicher Raucher/innen unter den 15-Jährigen in<br />
Österreich Quelle: WHO-HBSC-Survey 1986, 1990,1994, 1998, 2002<br />
30<br />
25<br />
20<br />
15<br />
10<br />
5<br />
0<br />
1986 1990 1994 1998 2002<br />
71<br />
Knaben<br />
Mädchen<br />
Für diese Vermutung konnten jedoch keine besonderen Belege gefunden werden. Das<br />
Karriere-Modell mit seinen Entwicklungsstufen und die Grundlogik, mit der es von<br />
Jugendlichen durchlaufen wird, ist im Wesentlichen <strong>für</strong> beide Geschlechter identisch.<br />
Selbstverständlich aber haben die konkreten Ausprägungen und Ausgestaltungen dieser<br />
Entwicklung jeweils geschlechtsspezifische Nuancierungen, die in der Präventionsarbeit<br />
Beachtung finden sollten.<br />
Schon die erste Phase des Beobachtens von Wirkungen an anderen ist insofern<br />
geschlechtsspezifisch, als Mädchen natürlich eher Frauen beobachten und sich an deren<br />
Rauchverhalten orientieren, während Burschen sich eher an Männern orientieren. Das soll<br />
nicht ausschließen, dass es nicht doch auch möglich wäre, dass Frauen <strong>für</strong> junge Männer<br />
und Männer <strong>für</strong> junge Frauen zum Vorbild werden können, der Regelfall ist aber wohl<br />
geschlechtsisomorph.<br />
In der Phase des ersten und wiederholten Probierens kann man bei aller gebotenen<br />
interpretatorischen Vorsicht konstatieren, dass Mädchen dazu tendieren, den sozialen<br />
Rahmen dieses Aktes noch ein wenig intimer und noch wenig geheimer und versteckten zu<br />
gestalten. Sie teilen dieses Experiment häufig wirklich nur mit der engsten Freundin und sie
tun es in einem vor Entdeckung wirklich geschützten Rahmen. Sie scheinen auch etwas<br />
mehr und drückender unter dem schlechten Gewissen zu leiden, das das Rauchen<br />
insgesamt bei ihnen auslöst, obwohl sie es natürlich trotzdem tun.<br />
Die Burschen unterscheiden sich insofern, als sie die ersten Versuche häufiger in kleineren<br />
Gruppen stattfinden lassen, in die auch nicht allzu enge Freunde einbezogen sein können,<br />
und dass sie es mit dem Schutz vor Entdeckung nicht ganz so genau nehmen. Sie scheinen<br />
manchmal zu glauben, dass man eine brennende Zigarette ohne weiteres auch in der hohlen<br />
Hand hinter dem Rücken verbergen kann und rauchen, beispielsweise, auch auf der Straße<br />
oder im Umkreis der Bus-Haltestelle und empfinden sich dabei durchaus vor Entdeckung<br />
sicher.<br />
In der Phase des Problemrauchens sind die geschlechtsspezifischen Unterschiede noch am<br />
deutlichsten auszumachen. Zwar unterliegen beide Geschlechter argen<br />
Stimmungsschwankungen, aber sie werden in der Tendenz unterschiedlich ausgelöst. Für<br />
Mädchen ist Schulerfolg sehr wichtig, mehr als <strong>für</strong> die Burschen, die mit weniger guten Noten<br />
offenbar besser leben können. Schulversagen, etwas nicht zu wissen, etwas falsch zu<br />
machen, gerügt zu werden, die Aufgabe „Schule“ nicht gut zu lösen u.s.w., Erfahrungen<br />
dieser Art sind <strong>für</strong> Mädchen und <strong>für</strong> ihr Verhältnis zu den Lehrer/innen von großer Bedeutung<br />
und lösen die deprimierte, niedergedrückte Stimmung aus, die einen wesentlichen<br />
Problemhintergrund des jugendlichen Rauchens ausmacht. Auch bei den Burschen spielt die<br />
Schule als Frustrationsbehörde eine wichtige Rolle, aber in der Tendenz eher dadurch, dass<br />
die Burschen sich von den Lehrer/innen nicht ernst oder <strong>für</strong> voll genommen fühlen und in<br />
ihrem erwachenden Selbstbewusstsein gekränkt werden. Auch diese Unterschiede sind<br />
cum grano salis zu lesen, denn natürlich sind auch Burschen über schlechte Noten<br />
enttäuscht und Mädchen durch Demütigungen kränkbar.<br />
Die Verarbeitung solcher negativer Gefühle erfolgt bei den Mädchen häufig eher auf eine<br />
depressive, nach innen gerichtete Weise, während die Burschen offen über ihre Wut und ihre<br />
Aggressionen berichten, die von Lehrer/innen ausgelöst wurden. Mädchen berichten daher<br />
eher über die innere Unruhe und das innere Chaos, das durch Zigaretten dann in „inneren<br />
Frieden“ (Trummelhof 622) verwandelt werden muss.<br />
Schließlich kann man auch in der Form, wie sich sexuelle Wünsche und Frustrationen<br />
einstellen und behandelt werden, geschlechtsspezifische Nuancen entdecken.<br />
Liebeskummer ist eben nicht ganz derselbe Liebeskummer, wenn er von Mädchen oder von<br />
Burschen erlebt wird. Auffällig in den von uns durchgeführten Fokusgruppen war, dass<br />
Mädchen nie über das Verlassen-werden gesprochen haben, sondern ausschließlich über<br />
die Qualen des unerfüllten Schwärmens und der Sehnsüchte, während die Burschen, wenn<br />
Liebe und Sexualität ein Problem darstellen, nur über die Situation des Verlassen-werdens<br />
72
sprechen. Das deckt sich zumindest insoweit mit vergleichbaren Situationen bei<br />
Erwachsenen, als auch die meisten Scheidungen von Frauen begehrt und eingereicht<br />
werden. Gleichwohl, ob so oder so, beide Geschlechter leiden am Lieben und verarbeiten<br />
ihren Kummer mit Nikotin.<br />
Auch in der Stufe des Genussrauchens finden sich gewisse Nuancierungen, die <strong>für</strong> die<br />
Präventionsarbeit von Bedeutung sein können. Bei den Mädchen steht das Zusammensein<br />
und die gemeinsame Zeit, das „Kaffeekranzerl“, wie es einmal genannt wurde, das<br />
„Plauschando“ und das miteinander Reden im Vordergrund. Die Burschen zelebrieren ein<br />
bisschen stärker das Moment der Beruhigung und der Entspannung – nach dem Sex, nach<br />
dem Essen - und genießen die <strong>für</strong> sie typische Rauchsituation als „chillig“ und „cool“. Sie<br />
rauchen zwar auch gerne in der Runde guter Freunde, aber auch dabei steht ein gewisses<br />
„On the road-Feeling“ von Freiheit und Gelassenheit im Vordergrund.<br />
In der 6. Stufe des Gewahrwerdens der Sucht haben wir keine Unterschiede feststellen<br />
können. Mädchen wie Burschen klagen gleichermaßen über Entzugserscheinungen, wenn<br />
sie keine Zigaretten haben, und versuchen den Ausstieg.<br />
Noch einmal soll darauf hingewiesen werden, dass diese Unterschiede nur als<br />
Nuancierungen am allgemeinen Modell zu verstehen sind und nicht dazu dienen sollen,<br />
männliche und weibliche Klischee-Vorstellungen in die Präventionsarbeit zu importieren.<br />
73
6. METHODISCHE VORGANGSWEISEN<br />
6.1 Daten und Kodierung<br />
Dieses Projekt schließt an die Analysen der internationalen EU-Studie "Gender Differences<br />
in Smoking in Young people" 1 an, die 2001 – 2002 in 5 EU-Staaten unter der Koordination<br />
des Flemish <strong>Institut</strong>e for Health Promotion in Brüssel durchgeführt worden ist. Die<br />
Durchführung von Fokusgruppen, die Erstkodierung des Textes und die Grobanalyse hat im<br />
Kontext dieses Projektes stattgefunden (Lambert <strong>2003</strong>; Dür et al. 2002).<br />
6.1.1 Rekrutierung<br />
Es wurden 9 homogene Fokusgruppen zu je 2 bis 8 Personen im Alter von 15 und 16 Jahren<br />
durchgeführt, 4 mit Burschen und 5 mit Mädchen. Von den Burschengruppen waren je 2 aus<br />
eher unteren bzw. höheren Sozialschichten, bei den Mädchen waren es 3 Gruppen aus der<br />
Unter- und 2 Gruppen aus der Oberschicht. Indikatoren der Schichtzugehörigkeit sind<br />
Bildung und Einkommen der Eltern.<br />
Oberschicht-Mädchen<br />
(2 Gruppen zu 4 und 6 TN)<br />
Oberschicht-Burschen<br />
(2 Gruppen zu 2 und 7 TN)<br />
74<br />
Unterschicht-Mädchen<br />
(3 Gruppen zu je 3 TN)<br />
Unterschicht-Burschen<br />
(2 Gruppen zu 6 und 8 TN)<br />
Rekrutiert wurden die Probanden aus schulexternen <strong>Institut</strong>ionen (zB Lido und Matadora)<br />
und privat mittels Schneeball-System. Hauptsächlich wurden Unterschicht-Gruppen aus<br />
Vereinen und <strong>Institut</strong>ionen gewonnen und Oberschicht-Gruppen mittels privater Kontakte<br />
und Rekrutierung in "einschlägigen" Szenelokalen.<br />
Als förderlich <strong>für</strong> die Interviews beurteilten wir, dass die Jugendlichen in den Gruppen sich<br />
kannten und sie zumeist auch Freundschaft verband, was zu einem sehr guten<br />
Gesprächsklima und schon anfänglicher Offenheit verhalf.<br />
1 by the Flemish <strong>Institut</strong>e for Health Promotion, Bussels, Belgium; mitwirkende Länder außer<br />
Österreich und Belgien waren noch Schweden, Schottland und Portugal;
6.1.2 Durchführung der Fokusgruppen<br />
Die Fokusgruppen wurden im Besprechungszimmer des <strong>Ludwig</strong> <strong>Boltzmann</strong>-<strong>Institut</strong>s <strong>für</strong><br />
Medizin- und Gesundheitssoziologie und in Räumlichkeiten, die uns von den diversen<br />
<strong>Institut</strong>ionen zur Verfügung gestellt wurden, durchgeführt.<br />
Die Probanden waren freiwillig und ohne entgeltliche Gegenleistung (lediglich die<br />
Unterschicht-Gruppen bekamen Mc Donalds Gutscheine als Dankeschön) zur Teilnahme<br />
bereit. Sie wurden am Beginn des Interviews über die Modalitäten – Freiwilligkeit der<br />
Teilnahme, Anonymität, Verwendung eines Aufnahmegerätes und Dauer – informiert. In<br />
einigen Gruppen war auch ein Nichtraucher bzw. eine Nichtraucherin anwesend.<br />
Die Interviews folgten einem qualitativen Leitfaden und dauerten zwischen 50 und 90<br />
Minuten. Sie wurden auf Tonband aufgezeichnet. Weiters wurde am Ende des Interviews ein<br />
Fragebogen zur Erhebung des sozioökonomischen Status (Schichtzugehörigkeit) und der<br />
soziometrischen Daten ausgeteilt.<br />
6.1.3 Sample<br />
Es wurden 19 Mädchen (45 %) und 23 Burschen (55 %). Das Durchschnittsalter betrug 15,8<br />
Jahre. Es wurden nur solche Jugendliche ausgewählt, die mindestens wöchentlich Rauchen.<br />
Das Sample setzt sich jedoch überwiegend aus Täglich-Raucher/innen zusammen.<br />
6.1.4 Weiteres Verfahren mit den Interviews<br />
Die Tonbandaufzeichnungen der Interviews wurden von einem Büro transkribiert und von<br />
Mitarbeiter/innen des <strong>Ludwig</strong> <strong>Boltzmann</strong>-<strong>Institut</strong>s auf textliche Richtigkeit überprüft. Die Texte<br />
wurden in das Textprogramm MS-Winmax 98 - ein Computerprogamm zur Auswertung<br />
qualitativer Interviews - konvertiert.<br />
6.1.5 Kodierung und Analyse<br />
Im Winmax-Programm wurden die Interviews nach der Inhaltsanalyse von Mayring kodiert:<br />
• So wurden zuerst die überflüssigen Satzteile, also diejenigen Satzteile, die nicht<br />
unmittelbar und bewusst zum Sinn des Satzes beitragen, gestrichen.<br />
75
• Im zweiten Schritt wurde der Sinn des Satzes entsprechend der Forschungsfrage<br />
interpretiert. Die Teile die in keinem Zusammenhang mit der Forschungsfrage stehen,<br />
wurden weggelassen.<br />
• Der verbleibende Satzteil wird im nächsten Schritt interpretatorisch verkürzt, wobei auch<br />
dieser Schritt von der Forschungsfrage ausgehend ausgeführt wurde.<br />
• Zuletzt wird dieser Satzinhalt in eine Kategorie gefasst. Solche Kategorien wurden auf<br />
mehreren Ebenen verfasst.<br />
6.2 Interpretationsverfahren<br />
6.2.1 Datenbeschäftigung und weitere Themenkodierung<br />
Am Beginn wurde der internationale Bericht auf Gleichheit und Differenzen, sowie auf<br />
(andere) Auffälligkeiten hin durchleuchtet. Die Berichte wurden in wichtigen Punkten<br />
länderspezifisch zusammengefasst und miteinander verglichen.<br />
6.2.2 Dimensionalisierung des Textes<br />
Im nächsten Schritt wurden aufgrund erster Hypothesen einige inhaltliche Dimensionen<br />
herausgefiltert, die dem weiteren (Be-)Arbeiten dienen sollten. Markante Themen bei den<br />
jungen Erwachsenen waren<br />
• Gruppenbildung/-druck<br />
• Kicks (Wirkungen der Zigarette)<br />
• Langeweile<br />
• Theorie des Rolemodels und die Rational Choice-Theorie<br />
Zitate zu diesen Themenbereichen wurden durch eine weitreichende Auswahl von<br />
Kodierungen aus dem Kodebaum und anschließender Inhaltsanalyse (nach Mayring)<br />
herausgearbeitet.<br />
Eine tragende Rolle <strong>für</strong> das Rauchen der jungen Mädchen schien uns die Langeweile zu<br />
spielen. Weiters war sehr auffallend, dass die jungen Erwachsenen hauptsächlich in<br />
Gruppen und nur selten alleine rauchen und dass sie dies wegen verschiedensten<br />
Wirkungen - nicht immer nur positiven - tun, die ihnen wohl in ihrer schwierigen Zeit der<br />
Pubertät in der heutigen Gesellschaft Erleichterung verschaffen. Auch wollten wir die<br />
gängigen Theorien des Rolemodels und des Rational Choice überprüfen.<br />
76
6.2.3 Ankerbeispiele bestimmen<br />
Die thematischen Stränge die sich ergeben haben, wurden hermeneutisch interpretiert, d.h.<br />
es wurden Ankerbeispiele identifiziert und diese dann genauer analysiert - teilw. inhalts- und<br />
teilw. sequenzanalytisch.<br />
6.2.4 Interpretation und Thesenbildung<br />
Aufgrund dieser Analyse der Ankerbeispiele wurden verschiedenste Thesen gebildet, die als<br />
Grundlage <strong>für</strong> die weitere Arbeit dienten. Nachdem die Thesen gebildet worden sind, wurden<br />
weitere Textbeispiele, die über Kodeworte gefunden werden konnten, zugeordnet. Mit Hilfe<br />
dieser Textbeispiele wurde die These verfeinert und gegebenenfalls differenziert.<br />
Aufgrund dieser Interpretationsarbeit an diesen neuen thematischen Strängen konnten diese<br />
insgesamt in eine neue Struktur überführt werden. Diese Schleife von Thesenbildung am<br />
einzelnen thematischen Strang und Zusammenführung der Stränge in einem Gesamtkonzept<br />
wurde einige Male durchlaufen und führte über mehrere Stufen der Theoriebildung<br />
schließlich zu den vorgeführten Ergebnissen.<br />
77
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