Italien-Reiseberichte zum Lesen und Herunterladen (pdf; 0,90 MB)
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<strong>Reiseberichte</strong> - Fortsetzung folgt!<br />
Im Rahmen der Nationenreihe „Braunschweig-<strong>Italien</strong>. Auf den Spuren Ottos IV. durch <strong>Italien</strong>" des<br />
Fachbereichs Kultur der Stadt Braunschweig konnte Dr. Lutz Tantow für eine ganz besondere Reise<br />
durch <strong>Italien</strong> bis nach Rom gewonnen werden: Als Braunschweiger Berichterstatter folgte er im<br />
Kaiserjahr 2009 den Spuren Ottos <strong>und</strong> recherchierte an den Orten des historischen Geschehens.<br />
Seine Berichte erreichten uns täglich aus <strong>Italien</strong> <strong>und</strong> wurden hier sofort veröffentlicht. In unserem<br />
Archiv <strong>und</strong> bei Radio Okerwelle, die sie unten auf dieser Seite finden, sind alle schriftlichen Berichte<br />
<strong>und</strong> die Radiointerviews gesammelt. Am 4. Oktober - dem Krönungstag Ottos IV. - endete die Reise<br />
auf den Tag genau 800 Jahre später in Rom. Dann kehrte unser Reisender zurück nach<br />
Braunschweig. Sein Bericht vom 5. Oktober schließt diese Serie.<br />
Ein mehrteiliger Bericht aus <strong>Italien</strong> - <strong>zum</strong> <strong>Lesen</strong> <strong>und</strong> Hören!<br />
Mal zu Fuß, mal mit dem Auto wurden rechts <strong>und</strong> links der alten<br />
Reisestrecke des Welfenkaisers Eindrücke gesammelt, die Brücken<br />
schlagen zwischen Vergangenheit <strong>und</strong> Gegenwart, historischen<br />
Bauwerken <strong>und</strong> heutiger Lebensart: Was ist von dem erhalten, was Otto<br />
IV. mit eigenen Augen sah, als er diesen Weg nahm? Was hat sich<br />
verändert? Wie sieht das aktuelle <strong>Italien</strong> aus?<br />
(An dieser Stelle standen Verlinkungen <strong>zum</strong> Lebenslauf von Kaiser Otto IV.<br />
sowie der Internetseite von unserem Medienpartner Radio Okerwelle)<br />
Dr. phil. Lutz Tantow<br />
Lutz Tantow, geb. 1956 in Braunschweig, studierte Germanistik in<br />
Saarbrücken, Dr. phil., war wiss. Mitarbeiter, Lehrbeauftragter, Kulturjournalist,<br />
Pressesprecher, Sponsoring- <strong>und</strong> Kunstbeauftragter, arbeitet in der<br />
Unternehmenskommunikation einer großen norddeutschen Bank <strong>und</strong> lebt in<br />
Braunschweig - schrieb neben Kurzerzählungen <strong>und</strong> literarischen<br />
Reisereportagen Bücher über Kafka, Dürrenmatt, Frisch <strong>und</strong> gab den<br />
Stadtführer „Braunschweig zu Fuß“ sowie Anthologien mit regionaler Literatur<br />
mit heraus. Er ist Sprecher der Literatur AG in der Braunschweigischen<br />
Landschaft e.V. <strong>und</strong> Vorsitzender der Bibliotheksgesellschaft Niedersachsen.<br />
(Hier wurden die Radiointerviews von Radio Okerwelle den Benutzern zur Verfügung gestellt)<br />
1. Reisebericht: Vom Brenner nach Brixen<br />
Wenn wir heute mit unseren klimatisierten Limousinen nach Süden reisen, bekommen wir die<br />
plötzliche Temperaturveränderung nicht mehr mit. Wer in der 50er, 60er <strong>und</strong> 70er Jahren mit Vespa,<br />
Isetta oder Käfer den Alpenhauptkamm überquerte, spürte die Wärme am Brenner sofort, spätestens,<br />
wenn es im Etschtal immer heißer wurde.<br />
Neustift, das 1142 gegründete Chorherrenstift <strong>und</strong> Augustinerkloster nördlich von Brixen, ist die erste<br />
Station auf italienischem Boden, an der das Heer um Otto von Braunschweig Rast machte. Vermuten<br />
wir jedenfalls. Aber was heißt schon: auf italienischem Boden? Wenn man im Andenkenladen<br />
Postkarten kauft <strong>und</strong> fragt "Hanno francoboli?" bekommt man zur Antwort: "Nein, aber Briefmarken<br />
könnt's haben, wir sind hier in Südtirol!"<br />
Bereits 1196 richtete Bischof Hartmann von Brixen an diesem strategisch bedeutsamen Knotenpunkt,<br />
wo es nach Norden <strong>zum</strong> Brenner, nach Osten ins Pustertal <strong>und</strong> nach Süden Richtung Rom geht, ein<br />
Pilgerhospiz <strong>und</strong> eine Raststätte ein, die von Anfang an vielbesucht waren. Was die Mönche oder<br />
Chorherren antrieb solches zu tun, war eine Regel des heiligen Augustinus, die da hieß: Das Erste,<br />
warum ihr in Gemeinschaft zusammenlebt, ist einmütig im Haus zu wohnen <strong>und</strong> ein Herz <strong>und</strong> eine<br />
1
Seele zu sein auf Gott hin. Zugleich entwickelte sich das Kloster zu<br />
einem wichtigen Zentrum im geistigen Leben Europas, wovon noch<br />
heute die berühmte, sehr umfangreiche Stiftsbibliothek <strong>und</strong> die<br />
weitläufige Bildungstätigkeit im Schülerheim <strong>und</strong> im Bildungshaus<br />
Zeugnis geben.<br />
Wirtschaftlich war <strong>und</strong> ist das Kloster dank seiner Güter weitgehend<br />
selbständig - Wälder, Felder <strong>und</strong> Weinberge ermöglichten diese<br />
Autonomie.Im nördlichsten Weinanbaugebiet südlich des<br />
Alpenhauptkamms, auf den Hängen östlich des Stiftes, gedeihen in geschützter Lage seit vielen<br />
Jahrh<strong>und</strong>erten vor allem weiße Trauben, die in der traditionsreichen Stiftskellerei zu sehr<br />
charaktervollen Weinen reifen. Davon könnte man sich in der Enecoteca des Stiftes überzeugen,<br />
wenn man nicht noch einen langen Romzug vor sich hätte. (Für die Rückreise merken!) Da das Stift<br />
direkt am reißenden Eisack-Fluß gelegen ist, befördert ein eigenes E-Werk die Selbständigkeit.<br />
Das älteste Gebäude des Komplexes ist die "Engelsburg", die dem flüchtigen Besucher Rätsel aufgibt.<br />
Sie ist r<strong>und</strong> <strong>und</strong> in mehreren Etagen mit Zinnen besetzt, eher wehrhafter Turm als gastliches Hospiz.<br />
Das Gebäude, in dem bei unserem Besuch gerade eine Ausstellung eingerichtet wurde, hat im<br />
Gr<strong>und</strong>e zwei kreisr<strong>und</strong>e Räume übereinander, die von einem geschlossenen Umlauf mit Treppe<br />
umgeben sind. Der obere der beiden ragt hoch in ein Gewölbe auf <strong>und</strong> sieht aus, als könnte König<br />
Artus hier seine Tafelr<strong>und</strong>e versammeln. Tatsächlich ist dies die St. Michaelskapelle, die dem<br />
Erzengel Michael geweiht wurde <strong>und</strong> wegen ihrer Ähnlichkeit mit der Engelsburg in Rom so genannt<br />
wird. Als Erlöser-Kapelle sollte sie auch eine Nachbildung der Heiliggrabkirche in Jerusalem sein.<br />
Denkt man sich die Zutaten der wehrhaften Befestigung vom Ende des 15.Jahrh<strong>und</strong>erts weg, um<br />
einen Eindruck davon zu gewinnen, was Otto sah, dann bleibt ein typisch byzantinischer Zentralbau<br />
als Sechzehneck mit 12 gekuppelten R<strong>und</strong>bogenfenstern mit romanischen Mittelsäulen. Im<br />
Erdgeschoss beherrscht ein wuchtiges Gratgewölbe die Szenerie, von wo aus man in vier Kammern<br />
gelangt, die wohl auch als Unterkunft gedient haben mögen. Sicherer kann man eigentlich nicht<br />
schlafen, <strong>und</strong> wir stellen uns vor, dass auch Otto dies tat. Wir indes bevorzugen ein Quartier vor den<br />
Toren des Klosters, das - wie es sich für Braunschweiger gehört - das Hotel "Zum Löwen" ist.<br />
Wenn nichts dazwischen kommt, melde ich mich von der Südtiroler Weinstraße wieder.<br />
Mit fre<strong>und</strong>lichen Grüßen<br />
Dr. phil. Lutz Tantow<br />
2. Reisebericht: Bozen <strong>und</strong> die Südtiroler Weinstraße<br />
Von Brixen bis Bozen das Eisack-Tal hinunter sind es gerade einmal r<strong>und</strong> 50 Kilometer, <strong>und</strong> selbst<br />
wenn das Heer von Neustift bis <strong>zum</strong> Ritten zog, wird es nicht länger gedauert haben. Beritten macht<br />
eine Station auf dieser Strecke - mit all dem Aufwand des Quartiermachens - kaum Sinn. Zumal der<br />
Abschnitt recht sicher gewesen sein dürfte. Also gehen wir davon aus, dass Ottos Heer erst wieder<br />
auf dem Ritten Rast machte.<br />
Die Gemeinde Ritten (ital. Renon) liegt im Norden von Bozen <strong>und</strong><br />
erstreckt sich über ein weiträumiges Hochplateau mit insgesamt 17<br />
Ortschaften. Der Ritten wird erstmals um <strong>90</strong>0 als Mons Ritanus<br />
erwähnt, <strong>und</strong> um 1200 (also kurz bevor Otto hier eintraf) wird - dank<br />
der Lage am alten Kaiserweg - in<br />
der Ortschaft Lengmoos ein Hospiz gegründet. Auch der Geheime<br />
Rat Goethe hat "diese herrlichen Gegenden" zwischen Brixen <strong>und</strong><br />
Bozen "wie im Fluge" durchreist. "Nun erblickte ich endlich bei hohem<br />
Sonnenschein, nachdem ich wieder eine Weile nordwärts gefahren<br />
war, das Tal, worin Bozen liegt", heißt es in der <strong>Italien</strong>ischen Reise.<br />
"Von steilen, bis auf eine ziemliche Höhe angebauten Bergen<br />
umgeben, ist es gegen Mittag offen, gegen Norden von den Tiroler<br />
Bergen gedeckt. Eine milde, sanfte Luft füllte die Gegend. Hier<br />
wendet sich die Etsch (vorsichtig: Goethe verwechselt - wie viele es<br />
tun - hier Eisack mit Etsch) wieder gegen Mittag. Die Hügel am Fuße<br />
der Berge sind mit Wein bebaut. Über lange, niedrige Lauben sind die<br />
Stöcke gezogen, die blauen Trauben hängen gar zierlich von der<br />
Decke herunter <strong>und</strong> reifen an der Wärme des nahen Bodens. Auch in<br />
2
der Fläche des Tals, wo sonst nur Wiesen sind, wird der Wein in solchen eng aneinander stehenden<br />
Reihen von Lauben gebaut, dazwischen das türkische Korn, das nun immer höhere Stengel treibt."<br />
Wollte man jetzt schon von der Route abweichen <strong>und</strong> sich für einen Abstecher "in die Büsche<br />
schlagen", wären das Grödnertal mit Seiseralm oder gar ein Besuch bei den Kastelruther Spatzen der<br />
Hit. Jemand berichtete einmal, dass beim alljährlichen Auftrieb der Volksmusik-Fans im Oktober -<br />
nach dem Motto "noch größer als der Everest, ist's Kastelruther Spatzenfest" - du an deinem Tisch<br />
jeden von den fremden Gästen bereits mit Vornamen kennst, bevor der erste Ton erklungen ist; <strong>und</strong><br />
nach dem dritten Lied tanzt du mit deinen neuen Fre<strong>und</strong>en auf demselben Tisch. Wir hüten uns also<br />
<strong>und</strong> flanieren unter den Kolonnaden in Südtirols Hauptstadt.<br />
In Bozen also mündet Eisack in Etsch, deren Verlauf wir von hier aus bis nach Verona folgen. Die<br />
Etsch kommt aus dem Vinschgau <strong>und</strong> bringt auch eine alte Römerstraße mit, die Via Claudia Augusta.<br />
Erst dachten wir ja, Otto wird, wie andere Fürsten vor ihm zuhauf, von Augsburg aus auch diesem<br />
klassischen Weg gefolgt sein. Er verläuft seit r<strong>und</strong> 2000 Jahren über Fern- <strong>und</strong> Reschenpass, weiter<br />
über Bassano di Grappa <strong>und</strong> Padua zu einem Ort, der später mal Venedig heißen sollte. Morgen<br />
wollen wir der Via Claudia Augusta<br />
bei einem Abstecher ein kleines Stück folgen.<br />
Bei uns dauerte die Fahrt von Brixen nach Bozen eine gute halbe<br />
St<strong>und</strong>e, weshalb wir uns auf einen ganz besonderen Streckenabschnitt<br />
konzentrierten: Heute ging es entlang der Südtiroler Weinstraße, die<br />
zwölf Dörfer in einer einzigartigen Kulturlandschaft mit einander<br />
verbindet. Sie ist von Weingärten <strong>und</strong> Obstplantagen, überwiegend<br />
Äpfelbäumen, geprägt. Da hätte es nur wenig verw<strong>und</strong>ert, wenn Otto <strong>und</strong><br />
seine Mannen erstmals auf ihrem Romzug in dieser Gegend einen über<br />
den Durst getrunken hätten. Die Orte heißen Terlan <strong>und</strong> Andrain,<br />
Hocheppan <strong>und</strong> Schloss Sigm<strong>und</strong>skron. In der Kellergemeinschaft St. Michael-Eppan machten wir die<br />
erste Probe, rasteten am w<strong>und</strong>erschönen Montiggler-See, in Kaltern am Kalterersee kosteten wir den<br />
berühmten Vernatsch-Rotwein. Hätte man mehr Zeit, wäre eine Weinbergwanderung hier ein Muss<br />
gewesen.<br />
Das nächste 'Weinnest' heißt Tramin, wo der bekannte Gewürztraminer<br />
seinen Ursprung hat. Gleich rechts neben der Kirche ist so eine Art<br />
Verkostungs-Boutique, von urigem Weinkeller keine Spur mehr, alles ist<br />
durchgestylt <strong>und</strong> im besten italienischen Design dem Zeitgeist gehuldigt.<br />
Die Südtiroler Weinstraße nimmt ihren Weg weiter über Kuratsch,<br />
Fennberg (wo in 1000 Meter Höhe die höchstgelegenen Weingüter der<br />
Region angesiedelt<br />
sind), Mangold, Kurtnig <strong>und</strong> Salurn wieder runter an die Etsch.<br />
An der östlichen Talseite liegen Montan,<br />
Auer <strong>und</strong> Leifers. Insbesondere Montan<br />
hatte es uns angetan: Unterhalb vom<br />
Schloss nahmen wir einen Cappuccino in<br />
der Sonne <strong>und</strong> beim legendären Franz Haas<br />
dann doch ein paar Flaschen Lagrein für unsere Fre<strong>und</strong>e aus<br />
Mascherode mit. Über Mezzocorona sind es bis Trient von hier aus nur<br />
noch 35 Kilometer - oder eine Otto-Tagesstrecke.<br />
Wenn nichts dazwischen kommt, melde ich mich morgen vom Caldonazzo-See wieder.<br />
Mit fre<strong>und</strong>lichen Grüßen<br />
Dr. phil. Lutz Tantow<br />
3. Reisebericht: Abstecher ins Valsugana, Castel Pergine<br />
Ein Abstecher nach Osten in das Valsugana ist von Trient aus Pflicht.<br />
Bei Trento-Nord verläßt man die Etschtal-Autobahn Richtung Padua,<br />
also nach Osten, <strong>und</strong> kommt nach knapp 25 Kilometern <strong>und</strong> ein paar<br />
Tunneln nach Pergine <strong>und</strong> an zwei Seen, die wir schon vor 15 Jahren<br />
entdeckten: den<br />
3
Lago di Caldonazzo <strong>und</strong> den Lago di Levico. Wer hier einmal seinen Sommerurlaub (am besten nicht<br />
in den ersten beiden Augustwochen um Ferragosto herum) verlebt hat, kommt immer wieder.<br />
Er erlebt sagenhafte Natur, er wandert zwischen 500 <strong>und</strong> 2000 Meter Höhe <strong>und</strong> badet in<br />
samtweichem Wasser, das nachmittags bis zu 27 Grad warm wird. Dabei sieht er am Abend auf die<br />
rotleuchtende Brentagruppe, die selbst im September noch firnbedeckt vom Vorjahr ist. Und<br />
anschließend genießt er die gebratenen Lachs-Forellen, die es hier zu kleinen Preisen gibt. Beide<br />
Seen liegen über 400 Meter hoch <strong>und</strong> bieten daher ein angenehmeres Klima als südwestlich von<br />
Rovereto am Gardasee, wo die Hitze steht. Auch ist auf den Trentiner Seen das Fahren mit PSstarken<br />
Motorbooten untersagt, so dass andere Wassersportler - Surfer, Segler, Taucher, Kanuten<br />
usw. - <strong>zum</strong> Zuge kommen. Levico Terme ist überdies ein Kurort, der alles bietet.<br />
Über den Hügel von Tenna, der die beiden Seen trennt, verläuft die<br />
(bereits gestern erwähnte) alte Via Claudia Augusta, jene römische<br />
Kaiserstraße, der wir seit Bozen folgen <strong>und</strong> die sich bei Trient<br />
verzweigt: Ein Strang verläuft weiter Richtung Süden über Verona in<br />
die Po-Ebene (diesem Weg folgte Ottos Heer 1209, also werden wir<br />
es auch tun), der zweite bog in Trient nach Südosten ab Richtung<br />
Venedig. Hier in Tenna fand man anlässlich einer Kirchenrenovierung<br />
einen der berühmten Meilensteine der Via Claudia Augusta <strong>und</strong> stellt<br />
ihn heute in einem kleinen Pavillon auf dem Marktplatz voller Stolz<br />
aus.<br />
Er trägt die Inschrift "Tiberius Claudius Caesar Augustus Germanicus, Sohn von Drusus, Pontifex<br />
Maximus, bekleidet mit der /tribunicia potestas /<strong>zum</strong> sechsten Mal, Konsul <strong>zum</strong> vierten Mal, Kaiser<br />
<strong>zum</strong> elften Mal, Vater des Vaterlandes, Zensor, hat die /Via Claudia Augusta/, die sein Vater Drusus<br />
nach Öffnung der Alpen durch Krieg hatte trassieren lassen, ausgebaut von Altino bis <strong>zum</strong> Fluss<br />
Donau auf einer Länge von 350 Meilen." Auch die kleine Einsiedelei mit der Kapelle San Valentino,<br />
die es hier oben auf dem Hügel von Tenna zwischen den Seen anzuschauen gibt <strong>und</strong> die zu einem<br />
Picknick einlädt, hat es zu Ottos Zeiten schon gegeben. Besseres Essen <strong>und</strong> bessere Blicke gibt es<br />
an einem anderen Ort.<br />
Denn das Highlight hier im Valsugana ist Castel Pergine, von dem man nicht nur einen herrlichen Blick<br />
auf den See hat: Die mittelalterliche Burg beherbergt ein Schlosshotel <strong>und</strong> ein sagenhaftes<br />
Restaurant, Spezialität Trentiner Speisen, die auf alten regionalen Rezepten basieren.<br />
Die w<strong>und</strong>erschön gestaltete Speisekarte weist neben Tages- <strong>und</strong><br />
Jahreszeiten-Menüs auch ein ortstypisches aus, das in vier Gängen<br />
alle Köstlichkeiten kredenzt, die die Region zu bieten hat: Streifen<br />
vom marinierten Aal an Zwiebeln aus Tropea auf getoastetem<br />
Reispuffer als Vorspeise; Käsebällchen aus heimischem Ricotta,<br />
gebratene Stückchen vom Kaninchen <strong>und</strong> gemischtes Gemüse mit<br />
Himbeer-Dressing als Zwischengericht; Schweinefiletscheiben in<br />
Maiskruste, Pfifferlinge aus den Trentiner Bergen mit Kartoffelgratin;<br />
schließlich Törtchen aus Johannisbrotmehl mit kleinen Früchten an<br />
Stachelbeersoße. Zugegeben, bisweilen geht den Köchen oder ihren<br />
professionellen Menü-Dichtern die Phantasie durch. Dazu werden<br />
Nosiola, Teroldego <strong>und</strong> <strong>zum</strong> Dessert Moscato Giallo Dolce gereicht.<br />
Insgesamt ein Gedicht!<br />
"Wir hegen unseren einzigen Stern <strong>und</strong> sind stolz auf die h<strong>und</strong>ert Monde,<br />
die von jedem Gast selbst zu entdecken sind", sagen die Hausherren<br />
Verena Neff <strong>und</strong> Theo Schneider, sie Übersetzerin, er Architekt. Sie<br />
kamen vor 17 Jahren aus der Schweiz <strong>und</strong> haben hier ein neues Leben<br />
begonnen, wozu Weinverkostungen im paradiesischen Schlossgarten,<br />
Konzerte mit Ambiente <strong>und</strong> Ausstellungen moderner Kunst gehören. An<br />
wenigen Orten ist die Symbiose von mittelalterlicher Atmosphäre <strong>und</strong><br />
heutigem, echtem Leben so geglückt wie hier. Deshalb kommen wir<br />
immer wieder hierher <strong>und</strong> träumen ein Stück weiter.<br />
Normalerweise darf man ja solche Insidertipps für den Urlaub gar nicht weitergeben, weil es dann<br />
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eben keine mehr sind. Aber alle unsere Fre<strong>und</strong>e, denen wir es<br />
empfohlen haben, waren begeistert von dieser Urlaubsregion, die so<br />
vielfältige Angebote bereithält. Wer auf den Spuren von Otto IV.<br />
durchs Etschtal kommt oder sonst wie auf den Toskana-Transit<br />
unterwegs ist, sollte hier mal Pause, eine Stippvisite oder gar eine<br />
mehrtägige Schnupper-Station einlegen - es lohnt sich ganz<br />
unbedingt.<br />
Wenn nichts dazwischen kommt, melde ich mich aus Rovereto<br />
wieder.<br />
Mit fre<strong>und</strong>lichen Grüßen<br />
Dr. phil. Lutz Tantow<br />
4. Reisebericht: Der Bischoff von Trient<br />
"Die Etsch fließt nun sanfter <strong>und</strong> macht an vielen Orten breite Kiese. Auf dem Lande, nah am Fluß, die<br />
Hügel hinauf ist alles so enge an- <strong>und</strong> ineinander gepflanzt, daß man denkt, es müsse eins das<br />
andere ersticken. - Weingeländer, Mais, Maulbeerbäume, Apfel, Birnen, Quitten <strong>und</strong> Nüsse. ... Und<br />
nun, wenn es Abend wird, bei der milden Luft wenige Wolken an den Bergen ruhen, am Himmel mehr<br />
stehen als ziehen, <strong>und</strong> gleich nach Sonnenuntergang das Geschrille der Heuschrecken laut zu<br />
werden anfängt, da fühlt man sich doch einmal in der Welt zu Hause <strong>und</strong> nicht wie geborgt oder im<br />
Exil. Ich lasse mir's gefallen, als wenn ich hier geboren <strong>und</strong> erzogen wäre <strong>und</strong> nun von einer<br />
Grönlandsfahrt, von einem Walfischfange zurückkäme." (Goethe <strong>Italien</strong>ische Reise)<br />
Als die Vorhut Trient erreichte, was erst in späteren Jahrh<strong>und</strong>erten<br />
von sich reden machen sollte, konnten sie Otto melden, dass der<br />
mächtige Fürstbischof ihn <strong>und</strong> seinen Tross auf der Burg Beseno -<br />
r<strong>und</strong> zehn Meilen südlich vor den Toren Roveretos gelegen - erwarte.<br />
Trient verpasste er nicht deshalb, sondern weil es noch nicht fertig<br />
war: Das Castel Buonconsiglio ist heute Museum, der Dom schrieb<br />
dereinst Kirchengeschichte, der Bischofspalast mit dem<br />
Neptunbrunnen davor - das Ensemble fügt sich, man darf es nicht<br />
laut sagen, weil ich weiß, dass noch andere folgen werden, zu einem<br />
der schönsten Plätze <strong>Italien</strong>s.<br />
Kirchengeschichte schrieb Trient als Sitz des 19. ökumenischen Konzils, das hier in drei<br />
verschiedenen Perioden zwischen 1545 <strong>und</strong> 1563 stattfand. Der Dom des Heiligen Vigilius hat die<br />
Hauptmomente der Tagung beherbergt, die sogenannten Sessionen. In ihnen wurde gegen jede<br />
menschliche Berechnung versucht die Spaltung der christlichen Konfessionen zu vermeiden <strong>und</strong> die<br />
Hoffnung auf Einheit aufrechtzuerhalten.<br />
Daraus ist heute eine Situation entstanden, die von Trient <strong>und</strong> seinem<br />
Dom aus der gesamten Christenheit einen starken ökumenischen Impuls<br />
verleiht. Selbstverständlich geschah all dies lange nachdem Otto von<br />
Braunschweig hier vorbeizog. Aber es ist mir wichtig angesichts aller<br />
aktuellen Darstellungen, die den Welfen Otto als machtbesessenen<br />
König <strong>und</strong> Kaiser mit ausgeprägtem politischen Kalkül zeigen, darauf<br />
hinzuweisen, dass er trotz allem wesentlich religiöser war <strong>und</strong> gelebt<br />
haben dürfte als viele unserer heutigen Zeitgenossen. Deshalb wird -<br />
wenngleich nicht sein ganzes Heer, so doch sein engster Vertrautenkreis<br />
<strong>und</strong> - er selbst die Gotteshäuser am Wegesrand seines Romzugs <strong>zum</strong> Gebet aufgesucht haben.<br />
Noch ein paar Worte über das Amt des Fürstbischofs von Trient, der als Vasall des Kaisers über<br />
nahezu 800 Jahre hinweg (von 1027 bis 1803) die gesamte Grafschaft vom Brenner bis nach Verona<br />
verwaltete. Neben seiner bischöflichen hatte er auch die weltliche Gewalt mit der Aufgabe inne, die<br />
Verkehrswege der Region zwischen dem deutschen Kulturbereich <strong>und</strong> der italienischen Halbinsel zu<br />
überwachen <strong>und</strong> zu schützen. Zu Ottos Zeit hieß dieser Fürstbischof von Trient Friedrich von Wangen:<br />
Er starb nahezu zeitgleich mit Otto - allerdings fern der Heimat - beim 5. Kreuzzug 1218 bei Akkon in<br />
der Bucht von Haifa im heutigen Nordteil Israels. Dieser fünfte Kreuzzug (1218-1221) wurde von Papst<br />
Innozenz 1215 auf dem Laterankonzil verkündigt. Die Kreuzfahrer sollten Jerusalem von den<br />
muslimischen Ayyubiden befreien <strong>und</strong> die Stadt wiedererobern. Doch der sogenannte ägyptische<br />
5
Kreuzzug endete mit einer Niederlage.<br />
Für die Kirchengeschichte war Friedrich von Wangen ein bedeutender Bischof, der das Bistum nach<br />
der Besteigung des bischöflichen Stuhl 1207 religiös <strong>und</strong> administrativ neu organisierte <strong>und</strong> zu wahrer<br />
Blüte brachte. Auf ihn geht die Weiterführung des Dombaus zu Trient zurück <strong>und</strong> auch der berühmte<br />
'Codex Wangianus' erinnert an ihn. Dieser Codex verzeichnet in 150 Urk<strong>und</strong>en den Besitz der Kirche<br />
von Trient <strong>und</strong> stellt damit "eine der wichtigste Quellen der Geschichte des Bistums" dar.<br />
Nur 15 Kilometer südlich liegt Besenello mit seinem Riesen-Castel, in<br />
das Friedrich von Wangen Otto von Braunschweig <strong>und</strong> sein Heer einlud.<br />
Besenos strategische Lage über der Etsch sowie seine enorme<br />
Ausdehnung mit mehreren Vorhöfen <strong>und</strong> einer Länge von 250 Metern<br />
bot genügend Sicherheit <strong>und</strong> ausreichend Platz für das Gefolge des<br />
künftigen Kaisers, das bis hierher bereits zehntausend Mann zählte.<br />
Beseno ist heute in Teilen rekonstruiert, hat einen sehr guten<br />
Erhaltungszustand <strong>und</strong> wird für kulturelle Veranstaltungen genutzt. Auch<br />
wenn es den gesamten Hügel einnimmt <strong>und</strong> mächtig über dem Eingang<br />
ins Valle del Rio Cavallo thront, ist es für Besucher doch barrierefrei erreichbar. Die Besichtigung lohnt<br />
ganz unbedingt.<br />
Otto konnte sich der Zustimmung Trients sicher sein. Der Bischof von Trient schloss sich dem<br />
Romzug mit seinem enormen Gefolge an. Zwischen Brenner <strong>und</strong> Verona war also die Achse<br />
gewonnen. Von den Langobarden in der Po-Ebene erwartete er größere Schwierigkeiten. Nehmt dies,<br />
liebe Braunschweiger, mit einem Augenzwinkern: Otto IV war ein großzügiger Herrscher. Zum ewigen<br />
Dank hinterließ der künftige Kaiser aus Braunschweig ein Andenken der besonderen Art: Noch heute<br />
lautet die Postleitzahl von Trento 38100.<br />
Von Rovereto aus lohnt selbstverständlich ein Abstecher nach Riva del<br />
Garda. Dort wo sich Franz Kafka in eine schöne Unbekannte verliebte.<br />
Oder man fährt ein wenig am Ostufer des Gardasees nach Süden über<br />
Torbole nach Malcesine. Unsere Empfehlung hier lautet: Rauf mit der<br />
Seilbahn auf den Monte Baldo. Die Gondel ist voll, ein sportlich mehr als<br />
durchtrainiertes Paar um die 30 hat Riesenrucksäcke dabei, so groß<br />
habe ich noch keine gesehen. An der Bergstation wirken sie mit dem<br />
geschulterten Gepäck wie Scherpas im Himalaya. Wir gehen einige<br />
Schritte bergauf, packen unsere Brotzeit aus <strong>und</strong> bereiten das Picknick<br />
vor. Auch die beiden Sportler breiten jetzt ihre Mitbringsel aus <strong>und</strong> lüften im wahrsten Wortsinn ihr<br />
Geheimnis: Gleitschirme. Mit einem kleinen Anlauf stürzen sie sich dem 1700 Meter tiefer gelegenen<br />
See entgegen, der smaragdgrün die auf einer kleinen Halbinsel gelegene Burg von Malcesine<br />
umrahmt. Ein beeindruckendes Panorama. Als wir nach einer kurzen zweistündigen Wanderung über<br />
den Grat des Monte Baldo, der über eine europaweit einmalige Fauna <strong>und</strong> Flora verfügt, zur<br />
Steilbahnstation zurückkehren, steigen die beiden Schirme durch die Thermik an dieser Stelle immer<br />
noch in großen Kreisen auf. Sensationell.<br />
Goethe merkt sehr richtig an, dass durch Rovereto eine Sprachgrenze verläuft: "Den 11. September,<br />
abends. Hier bin ich nun in Roveredo, wo die Sprache sich abschneidet; oben herein schwankt es<br />
noch immer vom Deutschen <strong>zum</strong> <strong>Italien</strong>ischen. Nun hatte ich <strong>zum</strong> erstenmal einen stockwelschen<br />
Postillon; der Wirt spricht kein Deutsch, <strong>und</strong> ich muss nun meine Sprachkünste versuchen. Wie froh<br />
bin ich, dass nunmehr die geliebte Sprache lebendig, die Sprache des Gebrauchs wird!"<br />
Wenn nichts dazwischen kommt, melde ich mich also auf <strong>Italien</strong>isch aus Verona wieder.<br />
Mit fre<strong>und</strong>lichen Grüßen<br />
Dr. phil. Lutz Tantow<br />
5. Reisebericht: Im Etschtal bis Verona - Die Schlacht an der Klause<br />
Buongiorno. Von Rovereto nach Verona sind es nur <strong>90</strong> Kilometer.<br />
Denkbar, dass Otto noch einmal in Avio ein festes Quartier bezogen hat.<br />
Denn die Burg bietet sich dazu förmlich an: Castello di Sabbionara d'Avio<br />
ist eines der bekanntesten <strong>und</strong> ältesten Festungsbauwerke des Trentino.<br />
Es steht hoch oben auf einer Kalkerhebung <strong>und</strong> wacht vom gewaltigen<br />
Hauptturm aus über das Val Lagarina, eine der wichtigsten<br />
Verbindungswege zwischen dem Mittelmeer <strong>und</strong> Nordeuropa, an der<br />
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zahlreiche Wachtürme <strong>und</strong> kleine Palazzi liegen (bis heute sind die Namen von 29 Festungen<br />
bekannt).<br />
Als mittelalterliche Festung wird sie zwar erst 1503 mit dem Namen "Castellum Ava" erwähnt. Aber<br />
bereits im 13. Jahrh<strong>und</strong>ert war sie im Besitz der Familie Castelbarco, die sie 1411 den Venezianern<br />
vererbte. Diese erweiterten sie <strong>und</strong> dekorierten die San Giorgio Kapelle <strong>und</strong> die Fassade mit den<br />
Wappen der Dogen. Ein Jahrh<strong>und</strong>ert später wurde die Burg von den kaiserlichen Truppen Maximilians<br />
I. (1509) eingenommen, während die Venezianer die Trentiner Territorien <strong>und</strong> Besitzungen verlassen<br />
mussten.<br />
Ein späterer Kaiser übertrug sie, nachdem er sie mit seinen Wappen hatte bemalen lassen, den<br />
Grafen d´Arco. Es folgte eine unruhige Zeit, bis der Fürstbischof Bernhard Cles die Investitur der Vier<br />
Vikariate (Brentonico, Mori, Ala, Avio) erhielt, die er später an die Familie Madruzzo weitergab.<br />
Nach einer zweiten Auseinandersetzung gelangte die Burg im 17. Jahrh<strong>und</strong>ert wieder in den Besitz<br />
der Castelbarco, der Barone von Gresta, die sie bis etwa zur Hälfte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts behielten.<br />
Dass es an der Autobahnraststätte nationalsozialistische Devotionalien zu kaufen gibt, mag zu allen<br />
anderen kulturellen <strong>und</strong> kulinarischen Genüssen nicht so ganz passen. Andererseits waren die<br />
Veronesen schon immer etwas speziell.<br />
Verona ist Theater-Fans durch zwei Dinge ein Begriff: den Balkon<br />
aus Shakespeares Romeo <strong>und</strong> Julia <strong>und</strong> die legendären<br />
Operaufführungen in der antiken Arena. Vor Jahren sahen wir dort<br />
eine denkwürdige Carmen-Inszenierung. Ende September finden hier<br />
leider keine Aufführungen mehr statt, die Saison ist beendet. Schade,<br />
dass wir nicht wie damals die Panini-Verkäufer halsbrecherisch auf<br />
der Balustrade balancieren sehen können, oder wie Familien sich<br />
über ihre Picknickkörbe hermachen, Kindergeschrei sich mit<br />
mitsingenden Nicht-Sängern mischt, das Orchester gegen die Plopps<br />
entkorkender Weinflaschen anspielt, die Mauern von der Tageshitze aufgewärmt sind <strong>und</strong> alles ganz<br />
w<strong>und</strong>erbar ist. Macht nichts, wir sind schließlich angereist, um uns um Otto zu kümmern <strong>und</strong> uns mit<br />
dessen Heer noch immer durchs Etschtal zu kämpfen.<br />
Dabei erreichten wir schließlich die Klause von Verona. Das ist keine Gastwirtschaft <strong>und</strong> war auch für<br />
Otto von Braunschweig keineswegs ein gastlicher Ort: 18 Kilometer nordwestlich von Verona verengt<br />
sich das Etschtal ein letztes Mal kurz vor dem Alpensüdrand.<br />
Dadurch war die Chiusa di Verona einerseits gut zu kontrollieren, andererseits notgedrungen<br />
Schauplatz zahlreicher kriegerischer Auseinandersetzungen seit Alters her. Von Otto von Wittelsbach,<br />
der 57 Jahre vor Otto IV. die Veroneser Klause erstürmte <strong>und</strong> wenig später den Rückzug von Kaiser<br />
Friedrich Barbarossa nach Deutschland an dieser Stelle sicherte, bis in den Ersten Weltkrieg hinein<br />
spielte dieser Ort eine wichtige militärische Rolle.<br />
Auch unser Otto wird die Stelle in Erinnerung behalten haben, denn es kam hier erstmals für ihn <strong>und</strong><br />
sein Herr auf dem Zug nach Rom zu einem Gefecht. Veronas Bürger stellten sich Otto entgegen,<br />
wollten ihn - den sie als König nicht <strong>und</strong> als Kaiser schon gar nicht akzeptierten - nicht in die Stadt<br />
einlassen. Und das ist ihnen nicht gut bekommen, sie konnten sich gegen die Wucht des mächtigen<br />
Heeres nicht stemmen. Otto bestrafte sie mit enormen Zahlungsforderungen.<br />
Wäre ich dabei gewesen, hätte ich die Veroneser mit dem Beispiel der<br />
Bürger von Bardowik gewarnt, die sich weigerten, unserem<br />
Welfenherzog Steuern zu zahlen: Es steht geschrieben, dass Anno 1189<br />
Heinrich der Löwe die alte <strong>und</strong> große Stadt Bardowik lange Zeit erfolglos<br />
belagert <strong>und</strong> eben zwei Tage lang vergeblich gestürmt hatte, da verirrte<br />
sich ein Stier ins Lager, von dem erk<strong>und</strong>et wurde, dass er der Stadt-Bulle<br />
von Bardowik sei. Hierauf wurde nun ein Anschlag geplant, um in die<br />
wohlverwahrte Stadt zu kommen; man ließ den Bullen frei gehen <strong>und</strong><br />
folgte seiner Spur. Er sah sich kaum gehindert, als er der Heimat<br />
zutrabte, die Wälle <strong>und</strong> Gräben umging, bis zu einer ihm wohlbekannten seichten Stelle, die er<br />
durchwatete, <strong>und</strong> dann durch zerbröckeltes Mauergestein einen schmalen Weg in die Stadt fand.<br />
Da dies erk<strong>und</strong>schaftet war, ließ Herzog Heinrich <strong>zum</strong> Sturm blasen, erstieg an jener Stelle den Wall<br />
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<strong>und</strong> eroberte so Bardowik; <strong>und</strong> da er einen grimmigen Zorn gegen die so lange aufsässige Stadt<br />
hatte, so zerstörte er sie völlig <strong>und</strong> ließ kaum einen Stein auf dem anderen. Denn bis auf den Dom<br />
wurden die übrigen neun Kirchen der Stadt <strong>und</strong> alle Häuser niedergebrannt, <strong>und</strong> auf dem<br />
Trümmerhaufen schrieb der Herzog die Worte "Vestigia Leonis", des Löwen Spuren!<br />
Es heißt aber auch, Herzog Heinrich wäre deshalb so ergrimmt auf die Stadt gewesen, weil die<br />
Bardowikerinnen ihm höchst "despectirlich" begegnet seien, als er vor den Toren gestanden. Da<br />
sollen sie vom Walle aus ihn verhöhnt <strong>und</strong> ihm nicht ihre beste Seite gezeigt haben, sondern den<br />
Rücken <strong>und</strong> was darunter sitzt, über welche unmanierliche <strong>und</strong> unehrbare Verspottung der Herzog<br />
sich dann gewaltig entrüstet habe.<br />
Dies bezeugt ein alter Niedersächsischer Chronist, der auch ehrbare Ratsherren an jener hässlichen<br />
Verunglimpfung teilnehmen lässt <strong>und</strong> hinzufügt: "Da dat de Hertog sach, da word he erst grimmig als<br />
en Leu." Die Bardowiker haben sich von diesem Unglück nie wieder erholt. Stattdessen erblühte in der<br />
Nachbarschaft Lüneburg, weshalb die Lüneburger den Braunschweigern für die Vernichtung<br />
Bardowiks angeblich heute noch dankbar sind. Verona kann von Glück sagen, dass es noch existiert.<br />
R<strong>und</strong> 100 Jahre nach Otto IV., beim Romzug Heinrichs VII., ging es grausamer zu: Theobald, der<br />
Stadt-Kapitän von Brescia, stellte sich dem Herr in den Weg. Statt seinen Leuten zur Kapitulation zu<br />
raten, forderte er <strong>zum</strong> Durchhalten <strong>und</strong> <strong>zum</strong> Widerstand auf. Ein anlässlich jenes Romzugs in Auftrag<br />
gegebener Bilderzyklus macht uns heute deutlich, wie brutal Theobald daraufhin mitgespielt wurde:<br />
Man sieht den <strong>zum</strong> Tode Verurteilten nackt an einen Pfahl geb<strong>und</strong>en <strong>und</strong> brennend, während ein<br />
Folterknecht mit einer glühenden Zange die Nase des Opfers ergreift.<br />
Weitere Szenen zeigen die Enthauptung Theobalds, seinen auf einen Pfahl aufgespießten Kopf <strong>und</strong><br />
seine nach der Vierteilung auf weithin sichtbaren Rädern befestigten Arme <strong>und</strong> Beine. Solches<br />
nehmet zur Abschreckung, wenn ihr euch dem künftigen Kaiser in den Weg stellt - sollte wohl die<br />
Botschaft lauten.<br />
Bedeutsam ist für uns das Datum der Schlacht an der Klause von Verona, nämlich der 15. August<br />
1209, denn es zeigt uns an, dass Ottos Heer für die 700 restlichen Kilometer von hier bis nach Rom<br />
noch genau sieben Wochen benötigte. Otto in <strong>Italien</strong> heißt ja zunächst einmal nur acht. Acht Tage<br />
sind es für uns noch bis Rom. Und wenn nichts dazwischen kommt, werden auch wir am 4. Oktober<br />
dort sein.<br />
Einstweilen hoffe ich, mich morgen aus der Po-Ebene wieder zu melden.<br />
Mit fre<strong>und</strong>lichen Grüßen<br />
Dr. phil. Lutz Tantow<br />
6. Reisebericht: Mantua, Sabbioneta <strong>und</strong> Po-Ebene<br />
Hinter Verona wird das Land flach <strong>und</strong> wir stellen uns vor, dass sich nach all den Tagen im Gebirge<br />
Otto von Braunschweig, der mit der norddeutschen Tiefebene sicher vertrauter war, hier wieder ein<br />
bisschen heimischer fühlte. Auch Mantua wirkt vertraut - es erinnert an Schwerin. Die heutige<br />
Hauptstadt von Mecklenburg-Vorpommern wurde ja bekanntlich auch von Heinrich dem Löwen<br />
gegründet, weshalb im dortigen Kirchhof noch immer eine Kopie unseres Braunschweiger Burglöwen<br />
steht. Schwerin ist von sieben Seen umgeben <strong>und</strong> mittendrin liegt das Schweriner Schloss, heute der<br />
Sitz des Landtags.<br />
Genauso wirkt Mantua, wenn man sich von Nordosten der Stadt nähert: Die Skyline aus<br />
Geschlechtertürmen, Renaissance-Palästen, Kirchtürmen <strong>und</strong> Kathedralen-Kuppeln spiegelt sich im<br />
Gewässer, über das eine lange Brücke in den Stadtkern führt. Die gesamte Stadtmauer scheint von<br />
Seen eingeschlossen zu sein. Später klärt man uns auf, dass es sich "nur" um einen breiten Fluss<br />
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handelt, der auch im Inneren des Stadtbildes Assoziationen an die Häuserfluchten von Venedig<br />
zulässt - oder sagen wir lieber mit Wolfenbüttel-Bezug: an Klein-Venedig.<br />
Mantua nimmt die südöstliche Spitze der Lombardei <strong>und</strong> somit den<br />
Abschnitt der Po-Ebene ein, in dem der Mincio in den Po mündet.<br />
Gerade der Mincio ist es, der breit <strong>und</strong> gemächlich dahinfließend die<br />
Stadt umringt. Er speist sich aus dem Wasser des Gardasees <strong>und</strong> fließt<br />
dann in weitläufigen Schwingen langsam Richtung Süden. Früher<br />
breitete er sich sumpfartig in der Ebene aus, aber im Lauf der<br />
Jahrh<strong>und</strong>erte entstanden durch den angeschwemmten Schutt zahlreiche<br />
Inseln, auf denen - ähnlich einem zweiten Venedig - Mantua erbaut<br />
wurde.<br />
Wir kehren in ein kleines Restaurant an der Plaza dell Erbe ein <strong>und</strong><br />
schließen uns später einer österreichischen Stadtführung an. Was<br />
sofort auffällt ist, dass die kleine romanische Kirche gegenüber, die<br />
Rotonda San Lorenzo, unterhalb des Stadtniveaus liegt. Wir<br />
kombinieren: Sie ist das bei weitem älteste Gebäude der Stadt <strong>und</strong><br />
stammt aus dem 11. Jahrh<strong>und</strong>ert, war also schon dort, bevor Otto<br />
kam. Keine Ahnung, wie es damals r<strong>und</strong> um dieses kreisförmige<br />
Gebäude ausgesehen haben mag. Fest steht aber, dass alles<br />
Sehenswerte, was Mantua sonst zu bieten hat, 1209 noch nicht<br />
existiert hat - der Palazzo della Ragione nicht <strong>und</strong> der unmittelbar neben San Lorenzo aufragende<br />
Uhrenturm schon gar nicht. Mantua ist eine rotbraune Stadt der Renaissance mit grünen Baldachinen<br />
<strong>und</strong> Markisen.<br />
Ebenso schlicht wie das Äußere ist auch die Innengestaltung der Backstein-Rotonda, gleichzeitig aber<br />
ebenso eindrucksvoll wegen der einfachen Bauweise, der schmucklosen Wände, die für Besucher in<br />
warmes gelbes <strong>und</strong> rotes Licht getaucht wurden. Der R<strong>und</strong>bau wird hier besonders deutlich, das<br />
Gewölbe ruht auf r<strong>und</strong>um laufenden Backsteinsäulen. Eine gewisse Geschmeidigkeit verleiht diesem<br />
architektonischen Gebilde ein zweiter Kreis Säulen im Obergeschoss, der ein Spiel von Hell <strong>und</strong><br />
Dunkel bewirkt. Beinahe wäre San Lorenzo der Abrissbirne <strong>zum</strong> Opfer gefallen: Die Fremdenführerin<br />
erklärt, dass die Rotanda über Jahrh<strong>und</strong>erte hinweg von Wohnhäusern zugemauert war, die sich an<br />
ihre Außenhaut schmiegten. Und als man um 1<strong>90</strong>0 das gesamte Viertel sanieren wollte, kam der<br />
romanische R<strong>und</strong>bau zufällig ans Tageslicht.<br />
Am anderen Ende des Gemüsemarktes geht es in die Andreaskirche, was Dimension <strong>und</strong> Schmuck<br />
anlangt das genaue Gegenstück zu San Lorenzo. Wir biegen in den winzigen Tabakladen von Sandro<br />
Pelloni ein <strong>und</strong> finden uns plötzlich in einem kleinen privaten Postkarten-Museum wieder. Pelloni ist<br />
Fotograf <strong>und</strong> hat die meisten Ansichtskarten-Motive höchst selbst fotografiert <strong>und</strong> in seiner eigenen<br />
Edizione herausgegeben. Das ist selten: ein Künstler, bei dem du Zigarillos <strong>und</strong> Kaugummi kaufen<br />
kannst.<br />
Hinter Mantua wissen wir nicht genau, welchen Weg das Heer von Otto wählte. Nach Cremona zog es<br />
nicht, denn deren Bürger waren ihm <strong>und</strong> den Welfen nicht wohl gesonnen. Man muss nämlich wissen,<br />
dass Norditalien in zwei Lager gespalten war, dasjenige der Anhänger der Guelfen <strong>und</strong> jenes der<br />
Ghibellinen.<br />
Hierzu sei ein kleiner historischer Exkurs <strong>zum</strong> Thema Investiturstreit gestattet: Seit dem 6.<br />
Jahrh<strong>und</strong>ert gab es einen Konkurrenzkampf zwischen dem Kaiser des Heiligen Römischen Reiches<br />
9
Deutscher Nation <strong>und</strong> dem Papst in Rom um die Macht über das christliche Abendland. Eine<br />
Trennung in geistliche <strong>und</strong> weltliche Macht nach der "Zwei-Schwerter-Theorie" war nicht immer<br />
möglich: Der Kaiser sah seine Macht als gottgegeben an; der Papst erhob dagegen klare weltliche<br />
Machtansprüche, die er auch mit Waffengewalt durchsetzte.<br />
Da sich beide um die gleichen Untertanen stritten, musste eine Rangordnung definiert werden. Anders<br />
gesagt: Wer durfte wen einsetzen - <strong>und</strong> damit auch absetzen? Zwei Parteien stießen aufeinander:<br />
Der Name Ghibellinen tauchte bereits um 1215 zur Zeit des Stauferkaisers Friedrich II. auf <strong>und</strong><br />
bezeichnete die Parteigänger des Kaisers. Er wurde abgeleitet von der württembergischen<br />
Stauferstadt Waiblingen - <strong>und</strong> vom Kampfruf der Staufer. Die politischen Ziele der Ghibellinen waren<br />
eigentlich nicht mehr zeitgemäß: Sie vertraten Ideale von Vasallentum <strong>und</strong> Reich, die in erster Linie<br />
den Vorstellungen des Adels entsprachen.<br />
Auf der anderen Seite die Guelfen, wie seit 1240 die Anhänger des Heiligen Stuhls genannt werden.<br />
Abgeleitet wurde die Bezeichnung von unserer Braunschweiger Fürstenfamilie der Welfen. Die<br />
Guelfen waren ursprünglich Anhänger der Welfen, die in Opposition zur staufischen Partei standen.<br />
Den Papst hatten sie auf ihrer Seite, da eine Schwächung der Staufer im Interesse Roms lag. Die<br />
Zielsetzungen der Guelfen erschienen fortschrittlicher als die konservativen Werte der Ghibellinen: Sie<br />
wollten die Kaufleute, die wesentlich <strong>zum</strong> Reichtum der Städte beitrugen, auch an der politischen<br />
Macht beteiligen.<br />
Entsprechend war die Landkarte Norditaliens in drei Lager geteilt: Zu den guelfischen Städten auf<br />
Ottos Route gehörten Mantua, Lodi, Orvieto, Städte mit schwankender Zugehörigkeit waren etwa<br />
Piacenza, Parma oder Lucca, <strong>und</strong> zu den ghibellinischen Städten gehörte eben Cremona, worum Otto<br />
weise einen Bogen machte.<br />
Wir entscheiden uns Richtung Parma den Weg über Sabbioneta zu nehmen, das heute gemeinsam<br />
mit Mantua Weltkulturerbe der UNESCO ist. Der Ort ist - darin vielleicht unserem Dessau oder<br />
Weimar vergleichbar - eine Stätte der Kunst <strong>und</strong> Kultur. Hier grenzt das Herzogtum Mantua an die<br />
Emilia Romana, <strong>und</strong> der Adlige Vespasian Gonzaga hat hier erfolgreich versucht einen Musentempel<br />
zu errichten. Residenz, Palast, Kaisertor aus weißem Marmor, olympisches Theater, Galerie,<br />
Gartenpavillons, Kirchen <strong>und</strong> Kapellen, alles umgeben von einer wehrhaften Mauer, deren Burg leider<br />
nicht erhalten ist.<br />
Am beeindruckendsten fand ich hier den sogenannten Corridor Grande, dessen Galerie (Galleria degli<br />
antichi) das Zentrum mit dem Gartenpalast derer von Gonzaga verbindet. Dieser Komplex (ein<br />
riesiger, vielleicht knapp 200 Meter langer Laubengang unten, eine gewaltige Kunstgalerie mit Licht<br />
von allen Seiten darüber) ist gewollt monumental gestaltet. Diese Großspurigkeit der<br />
architektonischen Aussage ist bezeichnend für das ausgehende 16. Jahrh<strong>und</strong>ert. Obgleich die Suche<br />
nach Spuren aus Ottos Zeit hier wenig ertragreich ist, war der Besuch lohnend.<br />
Was Otto nicht an seine Braunschweiger Heimat erinnert haben wird, sind die klimatischen<br />
Verhältnisse hier. Hitze <strong>und</strong> Feuchtigkeit werden das Sumpfgebiet der Po-Ebene auch vor 800 Jahren<br />
nicht nur unwirtlich erscheinen lassen sondern vor allem <strong>zum</strong> Krankheitserreger Nummer 1 gemacht<br />
haben.<br />
Wir wissen, dass der gesamte Landstrich zwischen Verona <strong>und</strong> Parma (immerhin eine Strecke von<br />
annähernd 100 Kilometern, die also auch Nachtlager erforderte) zu Ottos Zeit malariaverseucht war.<br />
Hucker berichtet, dass ein Drittel aller deutschen Kaiser <strong>und</strong> Könige, die <strong>Italien</strong> betraten, am dortigen<br />
Klima vorzeitig gestorben ist. Mag sein, dass dies mit ein Gr<strong>und</strong> dafür ist, dass viele Touristen, die<br />
ihren Urlaub in der Toskana oder an der ligurischen Küste verbringen wollen, diese Feuchtgebiete so<br />
10
schnell wie möglich hinter sich lassen.<br />
Wenn wir früher auf der A22 nach Modena, dann ein Stück auf der Autostrada del Sol nach Nordosten<br />
entlang rasten, um schließlich kurz vor Fontanellato in den Appenin Richtung La Spezia einzubiegen,<br />
fanden wir alles, was es links <strong>und</strong> rechts der Fahrbahn zu sehen gab, einfach nur hässlich.<br />
Nur wer auf kleinen Straßen fährt, kann etwas entdecken. Otto hatte keine Wahl <strong>und</strong> hat sich hier<br />
womöglich die Gr<strong>und</strong>lagen für seinen Tod achteinhalb Jahre später geholt, während seine<br />
K<strong>und</strong>schafter eine geeignete Stelle suchten, den Po zu überqueren.<br />
Mit diesem Problem werden wir uns morgen befassen, <strong>und</strong> wenn nichts dazwischen kommt, melde ich<br />
mich dann von der Via Francigena wieder, deren Verlauf wir bis Rom folgen wollen.<br />
Mit fre<strong>und</strong>lichen Grüßen<br />
Dr. phil. Lutz Tantow<br />
7. Reisebericht: Abstecher auf die Via Francigena, Kreuzung der Pilgerwege<br />
Jetzt wurde auch der Weg sicherer: Denn "irgendwo bei Parma", berichtet Hucker, "war das Heer auf<br />
die Francigena, die alte Kaiserstraße von Pavia nach Rom gestoßen, an deren weiteren Verlauf man<br />
sich von jetzt an hielt". Das werden wir auch tun, allerdings nicht ohne zuvor einen Abstecher nach<br />
Pavia gemacht zu haben.<br />
Also sind wir heute die alte Frankenstraße westwärts gefahren. Die Via Francigena ist der alte<br />
Pilgerweg aus dem Reich der Franken nach Rom <strong>und</strong> ab Lausanne am Genfer See als<br />
Fernwanderweg ausgeschildert. Sie überquert den Großen St.Bernardpass <strong>und</strong> folgt dem Aostatal.<br />
Im Jahr 9<strong>90</strong> pilgerte Sigeric Erzbischof von Canterbury nach Rom <strong>und</strong> hielt die Stationen seiner Reise<br />
schriftlich fest. Sein Itinerar liefert die Basis für den heutigen europäischen Kulturweg, der im Verlauf<br />
des letzten Jahrzehnts touristisch erschlossen wurde <strong>und</strong> unter Pilgern dem Jakobsweg nach<br />
Santiago di Compostella Konkurrenz macht.<br />
Warum wir ausgerechnet nach Pavia gegangen sind? Die Stadt ist seit dem Mittelalter bedeutender<br />
Knotenpunkt von Handelswegen. Waren aus dem Orient, die man über Venedig den Po hinauf <strong>und</strong><br />
weiter über den Ticino transportiert hatte, wurden hier umgeschlagen. Wie Rom ist auch Pavia auf<br />
sieben Hügeln erbaut worden, wie dort der Papst die Kaiser krönte hier der Bischof die italienischen<br />
bzw. langobardischen Könige. Die Adelsfamilien der Visconti <strong>und</strong> Sforza haben die Stadt reich<br />
gemacht <strong>und</strong> vor allem in der Renaissance prachtvoll ausgestattet. Von den ursprünglich 100<br />
Geschlechtertürmen, die die Macht der Patrizier symbolisierten, stehen heute leider nur noch fünf.<br />
Aber allein die 12 mittelalterlichen Kirchen Pavias lassen den Besuch geboten erscheinen - zu sehen<br />
bekamen wir hier noch viel mehr.<br />
Das verdanken wir der ENIT (Ente Nazionale Italiano per il Turismo), die ab hier unsere<br />
Braunschweiger Otto-Reise organisiert, in jedem Ort, an dem wir Station machen, für Quartier,<br />
Ansprechpartner <strong>und</strong> Fremdenführer gesorgt hat. Vorbildlich - <strong>und</strong> dafür an dieser Stelle ein ebenso<br />
großes Lob wie Dankeschön!<br />
Um 10 Uhr steht Caterina in der Hotellobby <strong>und</strong> stellt sich als unser Vormittags-Guide vor. Wo mein<br />
<strong>Italien</strong>isch an Grenzen stößt, ist ihr Deutsch mehr als akzeptabel, ansonsten kommunizieren wir auf<br />
Englisch.<br />
Sie führt uns durch die beiden wichtigsten Gotteshäuser Pavias. Die Basilika San Michele von 1156 ist<br />
Krönungskirche u.a. von Friedrich Barbarossa gewesen. Er kniete in der Mitte der Kirche nieder, um<br />
auf die reich geschmückten Kapitäle aufzuschauen - also wollte man ihm sagen: Guck mal, du bist<br />
jetzt zwar der König, aber es gibt noch etwas Höheres als du! Du wirst sterben, aber dieses Andere<br />
bleibt ewig! Eine schöne Idee, findet Caterina <strong>und</strong> man merkt ihr an, dass sie diese Geschichte gern<br />
11
erzählt, nur leider muss sie flüstern.<br />
Gerade erklingt der Hochzeitsmarsch <strong>und</strong> wir nehmen in der Krypta Deckung. Dies ist meine erste<br />
Kirchenbesichtigung mit Hochzeit <strong>und</strong> ich danke der ENIT nochmals für diese perfekte Inszenierung.<br />
Sankt Michael als Erzengel der himmlischen Heerscharen war ein Krieger wie die Langobarden auch,<br />
die sich mit ihm identifizierten <strong>und</strong> deshalb die Kirche ihm geweiht haben. Faszinierend ist das große<br />
silberne Kruzifix aus dem 10.Jahrh<strong>und</strong>ert, das hier verwahrt wird: Es zeigt - dem Volto Santa in Lucca<br />
bzw. dem Imervard-Kreuz in Braunschweig ähnlich - einen lebensbejahend aufschauenden, aufrecht<br />
Stehenden statt einen leidenden Jesus dazu in Lucca mehr).<br />
Wir müssen uns beeilen, denn Pavias Kirchen (wer weiß warum) schließen um 12 Uhr. Schnell gehen<br />
in den Straßen fällt schwer, denn sie sind überwiegend mit Kieselsteinen aus dem Ticino gepflastert.<br />
Der Augustinermönch steht schon mit seinem Telefonino vor San Pietro in Ciel d'Oro von 1132, die so<br />
heißt, weil ursprünglich eine goldene Decke geplant war. Hier werden die Gebeine des Heiligen<br />
Augustinos verwahrt, die Langobardenkönig Luitprand 722 aus Sardinien herschaffen ließ. Der<br />
Altaraufsatz, in dem der Schrein steht, ist ein einzigartiges Meisterwerk.<br />
Am 28.August wird der Schrein geöffnet, für den vier Menschen einen Schlüssel besitzen. Seit Papst<br />
Benedikt XVI. dieser Prozedur beiwohnte, wird der gesamte Augustiner-Konvent hier wieder belebt.<br />
An die Fassade der Kirche ist die Gendarmarie angemauert - das gibt Sicherheit. Das Westwerk von<br />
San Pietro in Ciel d'Oro wirkt asymetrisch, <strong>und</strong> auch dafür hat Caterina eine Erklärung parat: Auch<br />
eine Kirche sollte nicht zu perfekt sein!<br />
Caterina führt uns auf dem Weg <strong>zum</strong> Mittagessen noch an dem Schloss der Visconti vorbei, in dem<br />
sich heute ein Museum befindet. An das Schloss schloss sich früher ein acht Kilometer langer Park<br />
an, der bis zur Certosa di Pavia reichte - wir besuchen sie am Nachmittag. Weiter führt der<br />
Stadtspaziergang an der Universität vorbei. Sie verschachtelt sich in mehreren hinter einander<br />
liegenden Arkaden umsäumten Höfen. Dabei lag das Hospital zu Forschungszwecken direkt neben<br />
der medizinischen Fakultät. Alessandro Volta, dem mit der Batterie, ist ein Denkmal gewidmet. In<br />
jüngere Zeit hat die Uni Pavia <strong>zum</strong> Beispiel den Wirtschafts-Nobelpreisträger Carlo Rubbia<br />
hervorgebracht.<br />
Wir bew<strong>und</strong>ern die erhalten gebliebenen Geschlechtertürme - in einem von ihnen ist heute ein<br />
Restaurant. Eine Konditorei bietet Vera Torta Paradiso an, <strong>und</strong> auf meine Frage, was das wohl sei,<br />
erfahre ich: ein Miracoli - ein W<strong>und</strong>er! Jemand wollte die Stadt erobern <strong>und</strong> in Schutt <strong>und</strong> Asche legen,<br />
da habe man ihm diesen Kuchen gebacken, der ihm so gut schmeckte, dass er Pavia verschonte.<br />
Okay: eine Legende.<br />
Renata Crotti erwartet uns im Ristorante Bardelli direkt am Fluss mit herrlichem Blick auf die Ponte<br />
Coperto. Crotti ist Landrätin für Tourismus in der Provinz Pavia <strong>und</strong> eine wahre Poetin. Das Vorwort<br />
<strong>zum</strong> Stadtporträt ist Dichtung par excellence: "Der Dunst der Morgenröte hat sich noch nicht ganz<br />
verzogen, als der leichte Schritt, das lautlose Rad <strong>und</strong> der Atem des Rosses in die schwebende<br />
Wirklichkeit einer Landschaft einzieht, wo sich Tradition, Geschichte <strong>und</strong> Natur vermischen <strong>und</strong> ein auf<br />
der Welt einzigartiges Gewebe aus Farben bildet."<br />
Sonst läuft das Gespräch mit Bodenhaftung. Auch sie beklagt, das H<strong>und</strong>ebesitzer die Geschäfte ihrer<br />
liebsten Vierbeiner in den Flussauen verrichten lassen. Auch sie beklagt, dass der Ticino alle fünf<br />
Jahre über seine Ufer tritt <strong>und</strong> das "Bardelli" dann unter Wasser setzt - der Kellner bringt wie bestellt<br />
das Aqua Alta Beweisfoto. Aber alle zusammen loben wir die Pavaneser Küche <strong>und</strong> eine Erfindung<br />
namens "Grancio da tavola per borsetta da signora", eine Halterung für Damenhandtaschen am Tisch,<br />
um sie nicht über die Stuhllehne hängen zu müssen - una novita di Pavia, scherzt Renata, denn<br />
gesichert ist das natürlich nicht.<br />
Pavia unternimmt enorme Anstrengungen zur Ankurbelung des Tourismus. Dazu gehört die<br />
Einbeziehung der Francigena ebenso wie Nachwuchsarbeit. Crotti hat ein Treffen mit Studentinnen<br />
der Tourismuswirtschaft organisiert, die uns allerhand Fragen stellen.<br />
Einen Lokalredakteur der hiesigen Zeitung haben sie auch mitgebracht, <strong>und</strong> wir verankern das Thema<br />
"800 Jahre Otto IV." In der lombardischen Tagespresse. Pavia ist Partnerstadt von Hildesheim <strong>und</strong><br />
man unterhält einen regen Austausch von Tourismus-Studenten. Wieder was gelernt.<br />
Unser Treffen findet auf der besagten überdachten Brücke statt. Solche kannte ich bislang nur aus<br />
dem Kino: Meryl Streep <strong>und</strong> Clint Eastwood, der die "Brücken am Fluss" fotografiert. Die von Pavia<br />
gab es schon 1400 <strong>und</strong> etwas, die Francigena verläuft drüberweg <strong>und</strong> im Zweiten Weltkrieg wurde sie<br />
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zerstört, aber bereits 1951 wieder aufgebaut. Beeindruckend. Ich erzähle von unserem<br />
Braunschweiger Residenzschloss!<br />
Am Nachmittag ist Chiara unser Guide. Wir sehen im Ortsteil Borgo Ticino die Kirche Santa Maria an,<br />
die die Pilger nach Süden aus der Stadt geleitet. Beeindruckend ist ohne Zweifel auch die halb<br />
gotische, halb in der Renaissance entstandene Certosa di Pavia, einst Karthäuser-, später<br />
Zisterzienserkloster. Ein bisschen zuviel Prunk, möchte man meinen, <strong>und</strong> in der Tat haben die<br />
Stifterfamilien der Visconti <strong>und</strong> Sforza hier mehr sich selbst gefeiert als Gott gelobt. Letzteres tun<br />
heute überwiegend äthiopische Mönche, während sich der gesamte weitläufige Klosterkomplex heute<br />
in Staatsbesitz befindet.<br />
"Es ist schon Abend als das Glockenläuten einer Abtei zur Vesperandacht ruft <strong>und</strong> in den Tavernen<br />
aus Bruchsteinmauern ein Licht entzündet wird, das den gedeckten Tisch beleuchtet, eine wahre<br />
Hymne an die Lebensqualität", heißt es abschließend bei Renata Crotti.<br />
Unser kleines Ristorante an der Straßenecke heißt Lampara <strong>und</strong> Antonio backt selbst um Mitternacht<br />
noch Pizza für uns. Das Bier dazu importiert er aus Warstein (gut, liebes Hofbrauhaus, da gibt es noch<br />
etwas zu tun). Antonio ist Neapolitaner, genauer von der Amalfiküste, <strong>und</strong> er zeigt uns mit Stolz alle<br />
Schiffsmodelle im Speisesaal. Ein Kräuterschnaps, eine Mischung aus Averna, Jägermeister <strong>und</strong><br />
Weihnachtsgebäck, beendet einen sehr intensiven Tag auf den Spuren Ottos IV.<br />
Wenn nichts dazwischen kommt, melde ich mich morgen aus der Emilia Romagna zwischen Piacenza<br />
<strong>und</strong> Parma.<br />
Mit fre<strong>und</strong>lichen Grüßen<br />
Dr. phil. Lutz Tantow<br />
8. Reisebericht: Po-Überquerung, Piacenza<br />
Antonio in meiner neuen Lieblings-Pizzeria Lampara sagte gestern <strong>zum</strong> Abschied: "Via Francigena -<br />
kenne ich, läuft genau vor unserer Tür vorbei!". Also verlassen wir Pavia über die SS234 <strong>und</strong> erleben<br />
zunächst nur Enttäuschungen.<br />
Auf der Strecke befanden sich früher zahlreiche Pilgerhospize, die meisten sind leider verfallen. In<br />
Corteolona gab es angeblich dereinst eine berühmte Kaiserpfalz der Karolinger, die dort glanzvolle<br />
Reichstage abgehalten haben - heute ist nichts mehr davon erhalten. In Santa Cristina soll es eine<br />
bedeutende Benediktinerabtei gegeben haben - weg! Dann kommt das schöne Castello di Chignolo<br />
Po, das aber erst nach der Zeit unseres Braunschweiger Ottos erbaut wurde. Und für einen Besuch im<br />
lombardischen Weinmuseum ist es noch zu früh am Tag.<br />
Dann endlich eine Entdeckung: Wir finden die Stelle, an der die alte<br />
Frankenstraße den Po überquert. Dafür müssen wir kilometerweit auf<br />
Deichen entlang. Der Gutshof, auf dem wohl auch Pilger beherbergt<br />
wurden, heißt Corte Sant'Andrea. Heute liegen die ersten realexistierenden<br />
Pilger, denen wir begegnen, neben ihren<br />
Wanderstiefeln im Gras <strong>und</strong> schlafen. Mittagstemperatur 26 Grad.<br />
Eine Madonna, ein Bootssteg mit Kreuz, eine womöglich heilige oder<br />
<strong>zum</strong>indest geweihte Barke oder Schute <strong>und</strong> eine Säule - sie markiert<br />
den Transitum Padi, den Sigeric von Canterbury vor mehr als<br />
tausend Jahren wählte. Mag sein, dass unser Otto weiter flussabwärts den Po querte. Heute macht<br />
das für die Pilger ein Fährmann namens Daniele Parisi auf Anruf.<br />
Wir warten nicht auf ihn, sondern umfahren das Hindernis mit dem Auto <strong>und</strong> landen kurz vor Piacenza<br />
in einer Straßensperre. Trotzdem erreichen wir den Treffpunkt mit unserem heutigen Fremdenführer<br />
am Palazzo Farnese rechtzeitig. Georg war Dozent an der Uni <strong>und</strong> hat das Cicerone-Patent gleich für<br />
mehrere Provinzen erworben. Vor allem aber hat er die Ruhe weg, er will uns nicht von einer<br />
Sehenswürdigkeit zu nächsten jagen. Er hat die Gabe zu erkennen, wie seine K<strong>und</strong>en eine Stadt<br />
kennenlernen wollen. Entsprechend dieser Expertise nehmen wir ganz gelassen auf der Piazza dei<br />
Cavalli Platz <strong>und</strong> jeweils einen Kaffee.<br />
Wir beobachten die Menschen <strong>und</strong> ihr Tun, solange es noch geht. Denn am Nachmittag, prophezeit<br />
Georg, ist hier buntes Treiben - jetzt ist Mittagsruhe, die nur durch ein sogenanntes Festival gestört<br />
wird, das man gegenwärtig vor dem Gemeindepalast, den man nur „Il Gotico“ nennt, meint abhalten<br />
zu müssen. Diesmal ist es ein Festival des Rechts in Pagodenzelten auf Kunstrasen mit blauen Sofas.<br />
Schön ist das nicht, <strong>und</strong> es macht auch wenig Sinn. In Mantua gibt es das Festival der Literatur, in<br />
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Modena eines der Philosophie, irgendwo anders - ich habe vergessen, worüber Georg schimpft - gibt<br />
es ein Festival der Wissen; dabei gebe es doch nur eines! Und überall verschandele die Festivalitis<br />
die imposantesten Plätze historischer Städte.<br />
Insofern fällt es schwer, die beiden w<strong>und</strong>erbaren Reiterstandbilder zu fotografieren, Bronzeplastiken<br />
vom Ende des 16.Jahrh<strong>und</strong>erts, die genau die Dynamik transportieren, die unseren Braunschweiger<br />
Reiterstandbildern vor dem Schloss fehlt. Uns scheint, das der lebensweise Georg viele Wahrheiten<br />
besitzt, dass er weiß, dass es für alles nicht nur eine Erklärung gibt <strong>und</strong> dass er immer wieder von der<br />
ihn umgebenden Wirklichkeit desillusioniert wird. Diese Stadtführung ist ein philosophischer Diskurs.<br />
Die gotische San Francesco-Kirche ist eingerüstet, darauf das Logo einer Bank. Die regionale<br />
Sparkasse, sagt Georg, ist die einzige, die sich engagiert. Dabei gebe es doch soviel zu tun. Jetzt<br />
habe auch in Piacenza ein IKEA aufgemacht, aber die großen Konzerne seien für lokales<br />
Kultursponsoring nicht zu gewinnen.<br />
In der romanischen Kathedrale, 1122 begonnen <strong>und</strong> 1233 gotisch<br />
beendet, bew<strong>und</strong>ern wir die Reliefs der Zünfte an den Säulen: Diejenige,<br />
die die jeweilige Säule bezahlt hatte, durfte sich daran verewigen.<br />
Schuhmacher kommen mehrfach vor - kein W<strong>und</strong>er, meint Georg, das<br />
waren ja auch die Hersteller der wichtigsten Fortbewegungsmittel des<br />
Mittelalters. Innungszeichen dieser Art gebe es sonst nur in Lodi, sagt<br />
Georg <strong>und</strong> fragt, weshalb ich den hässlichen Löwen am Portal<br />
fotografieren wollte - der Braunschweiger Burglöwe sie doch viel<br />
schöner. Dass nicht nur Exil-Trierer an Deutschland interessiert sind,<br />
zeigt die Corriere della Sera, die zur B<strong>und</strong>estagswahl titelt: "Merkel mit freien Händen kann auch Rom<br />
helfen".<br />
Bevor wir in unseren Bauernhof <strong>zum</strong> Übernachten aufbrechen -<br />
Stichwort Agriturismo - führt uns Georg noch zur Backsteinkirche<br />
Sant'Antonio. Als erstes mokiert sich unser Führer über Kirchen, in<br />
denen sakrale Musik vom Tonband dudelt, um die Besucher<br />
elektronisch einzustimmen. Platzten wir gestern in eine Hochzeit, ist<br />
es heute eine Taufe. Eine Tafel erinnert an Papst Urban II., der hier<br />
angeblich <strong>zum</strong> Kreuzzug aufgerufen habe. Das Detail, dem Georgs<br />
Augenmerk gilt, ist eine Säule in einem oberen Umlauf der Fassade,<br />
die eine menschliche Gestalt zeigt. "Der Architekt", meint Georg - das<br />
sei doch mal eine selbstbewusste Signatur ...<br />
Wenn wir den Bauernhof heute Nacht überleben, melde ich mich morgen aus der Lunigiana, dem<br />
nördlichsten Teil der Toskana, wieder.<br />
Mit fre<strong>und</strong>lichen Grüßen<br />
Dr. phil. Lutz Tantow<br />
9. Reisebericht: Zu Fuß in die Toscana – Cisapass<br />
Der Ferienbauernhof (Name wird verschwiegen, ist aber der Redaktion bekannt) aus dem<br />
19.Jahrh<strong>und</strong>ert wurde mit viel Liebe restauriert <strong>und</strong> im "Farmstil" wieder aufgebaut. Farmstil ist im<br />
<strong>Italien</strong>ischen ein Wort, das Georg wahrscheinlich ebenso ungern hört wie "Hobbyistica" oder<br />
"Jeanseria". Weiter heißt es von unserer kleinen Farm, dass sie nur 10 Minuten von Piacenza <strong>und</strong> 40<br />
Minuten von Mailand entfernt ist - stimmt, wenn man einen Hubschrauber besitzt.<br />
Ansonsten befinden wir uns - neu-italiensch gesprochen - in the middle of nowhere! Wer sich in alten<br />
Bauernmöbeln wohlfühlt <strong>und</strong> gern an rustikalen Spülsteinen wäscht, wer es liebt, im Morgentau<br />
draußen in einer zugigen Scheuer mit einem halben Dutzend Katzen hartes Brot zu frühstücken, der<br />
soll sich bei mir melden. Ich gebe ihm die Adresse gern.<br />
Über Grazzano Visconti - ein Mittelalter-Disneyland, das seit mehr als 100 Jahren die Ausflügler<br />
erfreut, gelangen wir zurück in Piacenzas Ortsteil Roncaglia. Hat schon mal wer von den<br />
Roncalischen Gefilden gehört? Wo sich traditionsgemäß das Kaiserheer <strong>zum</strong> Romzug sammelte? Wo<br />
Friedrich I. Mitte des 12.Jahrh<strong>und</strong>erts Hoftage abhielt <strong>und</strong> die Rechte der italienischen Kommunen<br />
einschränkte? Wo heute noch eine Bar mit Namen Barbarossa an einst erinnert?<br />
Genau dort zogen wir heute Morgen durch. Und zwar mit unserem niegelnagel neuen Alpha Romeo<br />
Mito in rot, den uns Avis dankenswerterweise für unsere Otto-Tour kostenlos zur Verfügung gestellt<br />
hat. Eine schöne Form des Kultursponsorings. Die Via Francigena ist in diesem Streckenabscnitt<br />
identisch mit der Via Emilia, jener Römerstraße, die seit 2200 Jahren Piacenza über Fidenza <strong>und</strong><br />
14
Parma mit Reggio, Modena, Bologna, Imola <strong>und</strong> schließlich Rimini verbindet. Ihren Namen hat sie<br />
vom römischen Konsul Marcus Aemilius Lepidus <strong>und</strong> gab ihn weiter an eine ganze Region: die Emilia<br />
Romagna.<br />
Wir besuchen als erstes heute das Zisterzienserkloster Abbazia Chiaravalle della Colomba, das erste<br />
Tochterkloster des französischen Ordens auf italienischem Boden, das Bernhard von Clairvaux 1135<br />
hier gründete. Großflächig ist mein erster Gedanke, mit genügend Platz drumherum um ein 15000<br />
Mann starkes Gefolge zu beherbergen.<br />
Schlicht im Vergleich zu allem zuvor auf dieser Tour Gesehenem - darin vielleicht nur Fontenay in<br />
Burg<strong>und</strong> vergleichbar. Ruhig, denn erstmals sind wir bei einer Besichtigung ganz allein. Und dann: Ein<br />
Kreuzgang <strong>zum</strong> Niederknien - Doppelsäulen, in den Ecken kunstvoll verknotet. Vor dem Ganzen ein<br />
Pilgerzentrum mit Seminarräumen <strong>und</strong> Fitnessgeräten. So hält man religiöse Wanderer bei Laune <strong>und</strong><br />
Kraft.<br />
Nächste Station: Fidenza, ein Panino auf der Piazza Garibaldi vor dem<br />
Stadtpalazzo, der auch hier noch die für norditalienische Skaligerburgen<br />
typischen Schwalbenschwanz-Zinnen kennt. Der Dom hat eher Bonsai-<br />
Format, selbst Gandersheim würde ihn überragen. Aber was für ein<br />
Portal! Es ist übersät von Reliefs. Die zeigen Jagdszenen <strong>und</strong><br />
Schlachtmotive, Reise- <strong>und</strong> Pilgermotive <strong>und</strong> - ja auch, wie für meine<br />
Otto IV.-Augen gemacht - ein Krönungszeremoniel.<br />
Gegenüber eine Fassade unter Rekonstruktion wirbt für ein Haus der<br />
Francigena. Bevor wir in Richtung Apennin abbiegen, noch ein kleiner<br />
Abstecher nach Parma - <strong>und</strong> sei es auch nur, um Otto aufzusammeln,<br />
wenn Hucker mit seiner Meinung der Po-überquerung rechthaben sollte.<br />
"Niemand sage, er habe <strong>Italien</strong> gesehen, wenn er nicht dich besucht hat,<br />
Parma, <strong>und</strong> deinen Dom", bemerkte Ludwig Tieck 200 Jahre vor uns <strong>und</strong><br />
600 Jahre später als Otto IV. Also folgen wir dem gestiefelten Kater auch<br />
hierher.<br />
Zu Parma heute fallen einem Parmaschinken, Parmesankäse <strong>und</strong> Milchprodukte von Parmalat ein,<br />
Barilla-Nudeln vielleicht noch <strong>und</strong> eine namhafte Universität. Leider haben wir nicht genügend Zeit für<br />
ausführliche Besichtigungen von Dom <strong>und</strong> Baptisterium - Otto hat beides (vor 1209 gebaut) sehen<br />
können. Wir lernen aus den Büchern, dass Papst Paul III. die Stadt seinem unehelichen Sohn Pier<br />
Luigi Farnese geschenkt haben soll - das mit "unehelich" glauben wir gern - aber wir beschließen,<br />
über einen Sohn des Papstes nicht länger nachzudenken.<br />
Uns zieht es am ebenfalls nur flüchtig gestreiften Fornovo vorbei nach Berceto in die Berge unterhalb<br />
des Cisa-Passes. Der Dom aus grauen Natursteinen versteckt sich im Inneren des Bergdorfes <strong>und</strong><br />
zeigt sich im Inneren von einer schlichten romanischen Klarheit. Auch ihn gibt es seit mehr als 800<br />
Jahren - <strong>und</strong> selbst wenn viele Wege sprichwörtlich nach Rom führen: Ottos Heer ist genau hier<br />
durchgezogen. Ein grüner Krönungsmantel - dem purpurnen von Otto aus St.Aegidien von Form <strong>und</strong><br />
Material nicht unähnlich - wird hier ausgestellt.<br />
Ansonsten geht's im Dorf gemächlich zu. Es macht den Eindruck, als warte es auf nichts mehr. Auf<br />
mich indes warten oben am Pass auf 1039 Meter Höhe Beatrice <strong>und</strong> Francesco, die mich zu Fuß in<br />
die Toskana geleiten wollen.<br />
Oben am Pass steht eine Kapelle, ein Hospiz <strong>und</strong> ein VW Golf. Heute hat man mir zur Sicherheit<br />
einen Bergführer <strong>und</strong> eine Dolmetscherin zur Seite gestellt. Francesco fährt uns mit seinem Auto <strong>zum</strong><br />
Ausgangspunkt. Seine stabilen Bergschuhe <strong>und</strong> der Überlebensrucksack machen mir ein bisschen<br />
Angst. Eigentlich wollte ich nur zu Fuß in die Toskana. Hier oben endet nämlich die Emilia Romagna.<br />
Der Passo della Cisa verbindet beide Provinzen über den Monte Bardone, den Berg der Langobarden.<br />
Wir gehen auf Eselspfaden zwischen terrassierten Hängen, an denen Oliven <strong>und</strong> Wein angebaut<br />
werden. Wir pflücken köstliche Brombeeren, die uns in die Quere kommen. Und wir werden von zwei<br />
Bauern zu einer Weinprobe eingeladen - der Most sei noch nicht soweit, also kredenzt man den<br />
Tropfen vom Vorjahr.<br />
An einer 1000 Jahre alten Steinbrücke über den Magra-Fluss macht Francesco halt. Hier führt die Via<br />
Francigena rüber, <strong>und</strong> ich stelle mir vor, wie die 15000 Mann von Ottos Gefolge hier entlang gezogen<br />
sind. Dieser nördlichste Teil der Toskana heißt Lunigiana, nach der alten römischen Hafenstadt Luni,<br />
dessen Porto aber schon zu Ottos Zeiten versandet war.<br />
Die Gegend ist arm, die jungen Leute ziehen weg. Wo in den Bergdörfern früher von 200 bis 300<br />
Menschen lebten, sind es heute vielleicht noch 20. Beatrice meint, dem Landstrich tue ein bisschen<br />
15
Reklame ganz gut. Aber was kann man hier tun? Wandern, die Natur <strong>und</strong> die Ruhe bew<strong>und</strong>ern,<br />
ausspannen <strong>und</strong> - zugegeben - exzellent essen. Das tun wir später!<br />
Im Moment genießen wir die Bewegung in w<strong>und</strong>erschöner Landschaft.<br />
Kastanienwälder sorgen für einen außerordentlichen Honig. Das<br />
Kaiserheer wird eher an die Strapazen zurückgedacht haben, als man<br />
endlich Pontremoli erreichte <strong>und</strong> das Schlimmste hinter sich hatte. Der<br />
Weg war nämlich auch beliebt bei Wegelagerern <strong>und</strong> Räubern, die Pilger<br />
regelmäßig überfielen. Es ist dokumentiert, dass man an diesem<br />
Streckenabschnitt links <strong>und</strong> rechts des Weges jeden Baum <strong>und</strong> jeden<br />
Strauch auf Armbrust-Schussweite abholzen ließ, um die Sicherheit der<br />
Passage zu erhöhen.<br />
An der Außenfassade der Kirche San Pietro hing früher ein Sandsteinrelief, das ein Labyrinth zeigte<br />
(im hässlichen Neubau, der den bei Bombenangriffen zerstörten alten Baukörper ersetzt, hängt es<br />
jetzt im Inneren hinter Glas). Es sollte die Pilger an die Irrwege des Lebens erinnern, die Suche nach<br />
Wahrheit <strong>und</strong> die Reise dahin. Sie konnten mit dem Finger die Rillen nachfahren <strong>und</strong> gelangten ins<br />
Zentrum, wo sie das Symbol Christi erwartete. Es ist eine Aufforderung <strong>zum</strong> Laufen <strong>und</strong> <strong>zum</strong><br />
Verstehen.<br />
In unserem 400 Jahre alten Quartier werden wir belohnt - die Gastfre<strong>und</strong>schaft im B&B Relais Caveau<br />
de Teatro ist sensationell. Zu Opernmusik wird uns ein einheimisches 4-Gang-Menü allererster Güte<br />
serviert. Torta herbe, mit Gemüse gefüllte Teigtaschen vorweg, testaroli (Lasagne mit Pesto) als<br />
primo, Ragout vom Lamm mit Polenta als secondo piatti. Dazu zuerst Vermentino Colle di Luni, später<br />
einen Merla von Ivan Granziani, einem Winzer ganz in der Nähe. Zum Dessert Früchte mit Creme,<br />
ach, soll ich das wirklich alles verraten?<br />
Unterschiedlicher als in dem Bauernhof gestern <strong>und</strong> dieser Oase heute kann man nicht bewirtet<br />
werden. Die Lunigiana ist eine Region, in der man nicht nur des Wanderns <strong>und</strong> des Essens wegen<br />
Station machen sollte. Morgen schauen wir uns die Sehenswürdigkeiten der Lunigiana an <strong>und</strong> ich<br />
melde mich, wenn nichts dazwischen kommt, aus Lucca wieder.<br />
Mit fre<strong>und</strong>lichen Grüßen<br />
Dr. phil. Lutz Tantow<br />
10. Reisebericht: Lunigiana, Pontremoli<br />
Pontremoli ist der Schlüssel zur Toskana. Haben wir gestern<br />
erfahren, wie die Pilger nach der mühevollen Überquerung des Monte<br />
Bardone hier ihre W<strong>und</strong>en lecken konnten <strong>und</strong> am Sinnbild des<br />
Labyrinths für das Leben geschult wurden, lernen wir heute, wie<br />
Städte sich entwickeln, nur weil ein Pilgerweg durch Sie<br />
hindurchführt. Richtig wäre zu sagen, Städte entstehen erst an dem<br />
Weg. Wir müssen uns vorstellen, dass Handwerker in diesem kleinen<br />
Gemeinwesen mit der ständigen Angst vor feindlichen Angriffen<br />
lebten. Plötzlich kommen Pilger in friedlicher Absicht, die<br />
Informationen mitbringen <strong>und</strong> etwas brauchen. Aus Handwerkern<br />
werden Händler, die Türen ihrer Häuser werden breiter. Sie<br />
erkennen: durch die Porte Parma kommen keine Feinde mehr,<br />
sondern K<strong>und</strong>en!<br />
Über die Ökonomie an der Via Francigena berichtet heute Gabriele<br />
mit einer sozialgeschichtlichen Führung. Wir sehen heute zwar<br />
sieben Kirchen an sieben verschiedenen Orten, aber jedesmal geht es<br />
um mehr als die religiöse Dimension. Gabriele ist in seiner Art wieder ein<br />
ganz anderer Guide <strong>und</strong> er bestärkt uns in dem Entschluss, nach der<br />
Reise eine Phänomenologie der Fremdenführung zu verfassen.<br />
Irgendwann, sagt Gabriele, kamen auch vermögende Händler mit<br />
Gefolge über den Pass, Kaufleute zu Pferde mit 20 beladenen Mulis. In<br />
Pontremoli gab es im Mittelalter sieben Karawansereien. Vom<br />
Wirtschafts-Tourismus habe die Stadt schon immer gelebt.<br />
Sieben Brücken geleiteten die Fremden ins Innere dieser kleinen Stadt,<br />
die ihren mittelalterlichen Charakter komplett erhalten hat. Ich kann mich<br />
nicht erinnern jemals durch ein Ensemble von 1200 Jahre alten Gassen<br />
16
<strong>und</strong> Häusern gestreift zu sein. Die sind übrigens mit Steinen gedeckt - wegen der Brandgefahr.<br />
Dachbalken aus Holz haben bei Feuer ganze Straßenzüge vernichtet; hier ist (fast) alles erhalten<br />
geblieben. Die Ponte Tremoli hat ihren Namen wahrscheinlich vom Holz der Zitterpappel oder weil<br />
beim überqueren die Brücke zitterte. Händler erwarben im Mittelalter keinen Gewerbeschein sondern<br />
eine banca, einen Steintresen für die Fensterbank, auf der sie ihre Waren pfeilboten,<br />
erklärt Gebriele. Wenn einer seine Schulden nicht bezahlen konnte, kamen die Schergen des<br />
Steuereintreiber <strong>und</strong> schlugen ihm mit Riesenhämmern die Verkaufsbank in Stücke - banca rotta,<br />
daher der Begriff bankrott.<br />
An der Nikolauskirche erklärt Gabriele, weshalb der Frankenweg die Datenautobahn des Mittelalters<br />
war. Der Heilige, der die Kinder beschützte, stammt aus dem Vorderen Orient, die Nachricht über<br />
seine Wohlfahrt verbreitete sich schon vor 1000 Jahren über die Pilger hierher. Ähnlich gelangte die<br />
Information über den Heiligen Michael bis nach Sizilien <strong>zum</strong> Porto Michele, wo sich die Pilger nach<br />
Jerusalem einschifften. Der Cisa-Pass liegt genau in der Mitte zwischen diesem Hafen <strong>und</strong> Mont Saint<br />
Michel in der Normandie.<br />
Vielleicht fühlen wir uns nicht nur wegen des hervorragenden Hotels Relais Caveau del Teatro hier so<br />
wohl sondern auch deshalb, weil Pontremoli schon immer eine papsttreue Welfenstadt gewesen ist.<br />
Und natürlich Gabrieles wegen, der jetzt erst richtig loslegt.<br />
Er verfrachtet uns in seinen Landrover, mit dem er sonst die Touristen durch die Marmorbrüche von<br />
Carrara kurvt, <strong>und</strong> fährt zur Kirche Santissima Annunziata. Die steht mitten auf der Via Francigena<br />
<strong>und</strong> das kam so: Es gab hier eine Marienerscheinung, die wurde auf einem Steinbild verewigt,<br />
drumherum baute man einen achteckigen Kiosk <strong>und</strong> um dieses Gehäuse auf der dem Altar<br />
abgewandten Seite entstand das Gotteshaus. Um während der Gottesdienste beides anbeten zu<br />
können, haben die Kirchenbänke umklappbare Rückenlehnen.<br />
Mit der Pieve von Sorano aus dem 9.Jahh<strong>und</strong>ert, die Otto mit Sicherheit<br />
besuchte, hat es wieder eine ganz andere Bewandnis. Sie entstand auf<br />
einem heidnischen Tempel, Skulpturenstelen aus der Bronze- <strong>und</strong><br />
Kupferzeit, die man hier fand, belegen das. Eine Pieve ist mehr als das,<br />
was wir heute Pfarrkirche nennen. Sie ist Sammelplatz der verstreut<br />
lebenden Bauern, Zentrum der Finanzbehörde, des Gerichtes, Hospital<br />
für Fremde, Lazarett für Kranke - alles in einem. Die Bevölkerung hat<br />
sich mit diesem Ort identifiziert <strong>und</strong> über ihn definiert, hier hat sie ihre<br />
Zugehörigkeit zu dem System gef<strong>und</strong>en.<br />
Oberhalb dieser Pfarrkirche San Stefano liegt die alte Festung Filattiera, in deren St.Georg-Kirche<br />
eine Steintafel aus dem 8.Jahrh<strong>und</strong>ert von den Hilfeleistungen für die Pilger kündet. In Villafranca in<br />
Lunigiana essen wir zu Mittag, Wildschwein mit Polenta. Der Ort wuchs schnell, weil Pilger, die von<br />
Rom zurückkehrten, sich hier für 30 Jahre steuerfrei ansiedeln konnten.<br />
Im archäologischen Museum des Klosters San Caprasio in Aulla finden<br />
wir Münzen aus der Tasche eines Pilgers, darunter eine von Otto IV., die<br />
in Parma geprägt wurde. Sie ist nur 0,3 gr schwer <strong>und</strong> hat 14 mm<br />
Durchmesser<br />
Im Restaurant erzählt uns Gabriele sein Leben. Der<br />
Fremdenführerverein, dem er angehört, hat sich nach dem Orden der<br />
Tau-Ritter benannt, deren Aufgabe in der Fürsorge für die Pilger<br />
bestand. "Wir sind die Tau-Ritter des 3.Jahrtausends", sagt Gabriele<br />
stolz. Dann klingelt das Handy <strong>und</strong> ich weiß, es ist wieder 15 Uhr. Jeden<br />
Nachmittag um die gleiche Zeit gebe ich Axel Uhde einen Erlebnis- <strong>und</strong> Sachstandsbericht über die<br />
Tour für Radio Okerwelle 104,6. Das wird mehrfach gesendet, hören Sie doch mal rein.<br />
Schließlich besichtigen wir die Ausgrabungsstätte am Kloster Abbazia di San Caprasio in Aulla von<br />
884. Professore Riccardo Boggi zeigt uns seine F<strong>und</strong>stücke höchstpersönlich, <strong>und</strong> Monsigniore Don<br />
Giovanni (der wirklich so heißt) bewirtet uns dabei. Karin entdeckt in einer Vitrine mit Münzen, die man<br />
bei einem Pilgerskelett gef<strong>und</strong>en hat, eine von 1209, die Otto IV. in Parma prägen ließ. Sie zeigt eine<br />
kleine Burg auf der einen <strong>und</strong> drei Türme zwischen fünf Kugeln auf der anderen Seite. Und jetzt<br />
können die Braunschweiger anfangen zu interpretieren.<br />
Wir haben uns lange in der Lunigiana aufgehalten <strong>und</strong> kommen heute<br />
deshalb nicht mehr ans Meer, das doch so nahe liegt <strong>und</strong> bei 27 Grad<br />
Lufttemperatur bestimmt zu einem Bad eingeladen hätte. Die Cinque<br />
Terre mit ihrem schmucken Ort Riomaggiore lohnen für einen Abstecher<br />
ganz bestimmt.<br />
17
Wir indes eilen nach Lucca, wo uns Alexandra <strong>und</strong> Carlo erwarten <strong>und</strong> angekündigt haben, das wir<br />
uns noch auf ein romantisches Dinner im Herzen der Altstadt freuen dürfen.<br />
Wenn nichts dazwischenkommt, melde ich mich morgen aus Siena, der heimlichen Hauptstadt der<br />
Toskana, wieder.<br />
Mit fre<strong>und</strong>lichen Grüßen<br />
Dr. phil. Lutz Tantow<br />
11. Reisebericht: Lucca, Imervard-Kreuz <strong>und</strong> Volto Santo<br />
Was für ein Tag! Am Morgen ein Stadtspaziergang durch Lucca <strong>zum</strong> Volto Santo im Dom,<br />
anschließend nach Altopascio, das im Mittelalter für seine Pilgerhospitäler berühmt war, über San<br />
Miniato, Vinci, Certaldo durchs Elsa-Tal nach San Gimignano <strong>und</strong> weiter Richtung Monteriggioni nach<br />
Siena.<br />
Ein strammes Programm, <strong>zum</strong>al die Blicke nach links <strong>und</strong> rechts in die w<strong>und</strong>erschöne toskanische<br />
Landschaft immer wieder <strong>zum</strong> Innehalten animieren. Am Abend hatten wir im Buca di Sant Antonio,<br />
einem Traditionsrestaurant von 1782 königlich gespeist. Es gibt unzählige Osterias im alten Stadtkern<br />
von Lucca <strong>und</strong> darunter finden sich gewiss auch einige Gourmettempelchen - aber dies hier ist ein<br />
ganz besonderer, sowohl was Küche <strong>und</strong> Service anlangt, aber auch hinsichtlich des Ambientes, <strong>und</strong><br />
deshalb sei er allen künftigen Lucca-Reisenden wärmstens ans Herz gelegt.<br />
Gleiches gilt für unser Quartier, die Loccanda S.Agostino in einem Palazzo aus dem 14. Jahrh<strong>und</strong>ert.<br />
Wir wohnen in einem sechs Meter hohen, dreischiffigen Gewölbe, in das zur Hälfte eine Schlafebene<br />
eingezogen ist. Allmählich kommen wir beim Kaiser an. Die Gastfre<strong>und</strong>lichkeit kennt keine Grenzen,<br />
<strong>und</strong> wir fragen uns: Sind Steigerungen eigentlich noch möglich?<br />
Ich bin ganz früh auf den Beinen <strong>und</strong> auf der Piazza Anfiteatro ganz<br />
allein. Die vier- bis fünfgeschossigen Häuser sind in einem Kreis von<br />
vielleicht 100 Metern Durchmesser aneinander gebaut <strong>und</strong> bilden somit<br />
eine fantastische Schauspielarena. Das Stück, was jetzt gerade<br />
einstudiert wird, heißt Läden öffnen, Waren anliefern, Stühle vor die<br />
Cafés <strong>und</strong> Bars stellen <strong>und</strong> sich langsam aber sicher vor den Touristen<br />
verstecken, die die einheimischen Händler <strong>und</strong> Wirte erwarten. Sie<br />
kommen in Busgruppengröße <strong>und</strong> ziehen jetzt mit ihren Fremdenführern<br />
durch die ganze Stadt.<br />
Am Torre Guinigi vorbei, dem höchsten Turm der Stadt, aus dem<br />
sogar Bäume in den Himmel ragen, gelange ich <strong>zum</strong> Domplatz. Im<br />
Dom der wegen gegenwärtiger Restaurierung den Besuch eigentlich<br />
nicht lohnt, befindet sich das Volto Santo, das vielleicht berühmteste<br />
Kruzifix überhaupt. Es zeigt Jesus nicht schmerzverzerrt leidend<br />
sondern voller Zuversicht. Seine Füße stehen neben einander <strong>und</strong><br />
liegen nicht durchnagelt übereinander.<br />
Das Kreuz ist offenbar byzantinischen Ursprungs <strong>und</strong> man nimmt an,<br />
dass der heilige Nikodemus es geschnitzt hat. Es ist hier in einem<br />
Marmortempel eingesperrt <strong>und</strong> schwer zu sehen. Ein prominentes Pilgerziel auf der Frankenstraße ist<br />
es allemal. Sein Pendant, das jüngere Imervardkreuz von 1150, hängt im Braunschweiger Dom freier<br />
<strong>und</strong> gefällt mir besser. Indes ist auch zu Hause das Rätsel, wer dieser Meister Imervard eigentlich war<br />
<strong>und</strong> was er sonst so gemacht hat - Otto IV. hätte es uns sagen können.<br />
Die APT (Fremdenverkehrsbüro) in Lucca hat mir eine<br />
Sondergenehmigung <strong>zum</strong> Fotografieren besorgt, aber ich habe nichts<br />
Schriftliches in der Hand. Und das Verbot gilt uneingeschränkt, man<br />
bewacht das Volto Santo wie Fort Knox. Der alte Knabe am<br />
Devotionalienstand wird ungehalten, wo ich es doch im Gr<strong>und</strong>e sein<br />
sollte. Selbst ein Telefonat mit Carlo lässt sein Polizistenherz nicht<br />
erweichen. Ich ziehe von dannen, will keinen Ärger machen, als plötzlich<br />
ein Monsigniore hinter mir hergelaufen kommt <strong>und</strong> mehr entschuldigend<br />
mit dem Kopf nickt. Eine solche Situation kenne ich sonst nur vom Bazar<br />
beim Feilschen.<br />
Lucca Nr.1 ist ein römisches Castrum, 180 v. Chr. als Kolonie gegründet, die Via Francigena führt<br />
quer hindurch. So kannte es Otto. Das immense Bollwerk mit Wällen <strong>und</strong> Stadtmauern kam erst im<br />
14. <strong>und</strong> 15. Jahrh<strong>und</strong>ert drum herum.<br />
18
Heute mietet man sich am Besten ein Fahrrad <strong>und</strong> umr<strong>und</strong>et so dem Stadtkern mit Aussicht.<br />
Außerhalb der Mauer liegt Lucca Nr.3 - von den heute r<strong>und</strong> <strong>90</strong>.000 Einwohnern leben nur 9.000 im<br />
Zentrum. Das verlassen wir jetzt Richtung Osten ins nur 16 Km entfernte Altopascio - nicht ohne die<br />
Grüße vom Braunschweiger Burgplatz an das berühmteste Kind der Stadt hinterlassen zu haben, an<br />
Puccini, dessen Madame Butterfly ja in diesem Sommer so hervorragend auf die Freilichtbühne bei<br />
uns kam.<br />
Der Ort ist headquarter der Tau-Ritter, seit Mitte des 11. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />
steht hier das Stammhaus des Ordens, der sich um Pilger in ganz<br />
Europa kümmerte. Nicht nur mit Herbergen <strong>und</strong><br />
Versorgungsstationen sondern auch durch Wege- <strong>und</strong> Brückenbau<br />
sowie Bereitstellung von Fähren. Der aufragende Glockenturm von<br />
San Jacopo, sagt man, half durch sein Geläut den in den Sümpfen<br />
verirrten Pilgern als Orientierung.<br />
Über San Miniato, auch "als tedesco" genannt, weil Barbarossa hier<br />
seine Finanzverwaltung installierte, kommt man nach Certaldo, wo<br />
ich eigentlich mit dem Fahrstuhl zu Boccacio fahren wollte (ein funiculare verbindet die untere<br />
Neustadt mit dem oben gelegenen Certaldo Alto). Aber das Geburtshaus des Dichter hat heute<br />
geschlossen <strong>und</strong> so muss ich die Geschichte, die davon handelt, wie Lessing für seinen "Nathan"<br />
beim "Decamerone" abkupferte, ein andermal erzählen. Ebenso die Story, wie Boccacio in seiner<br />
berühmten Novellensammlung unseren Otto von Braunschweig ein literarisches Denkmal setzte - sehr<br />
pikant, aber das führt hier zu weit.<br />
Am Manhattan des Mittelalters, wie San Gimignano wegen der<br />
patrizischen Machtsymbole der Geschlechtertürme genannt wird, ziehen<br />
wir vorbei über Badia a Isola <strong>und</strong> Monteriggione nach Siena. So<br />
verschlafen das eine, so lebendig das andere – was doppelt schade ist.<br />
Denn die Abtei, die kurz nach der Jahrtausendwende erbaut <strong>und</strong> jetzt<br />
gerade restauriert wird, war sicher ein Anlaufpunkt von Otto, während<br />
der malerische Burgring mit seinen 14 Türmen mehr als nur touristisch<br />
belebt ist: Monteriggione, nach 1220 von Siena erbaut, um diesen<br />
Streckenabschnitt zu kontrollieren, ist eben auch ein viel fotografiertes<br />
Motiv <strong>und</strong> deshalb so sehr populär.<br />
Um 15 Uhr - nach dem Okerwellen-Interview, treffen wir Gerhard Nestler an der Porte Camollia. "Weil<br />
Euer Otto genau hier in die Stadt eingezogen ist", sagt der deutsche Fremdenführer von Siena, der<br />
früher im Verlagswesen tätig war, bevor er sich in diese Stadt verliebte <strong>und</strong> blieb. Er ist ein<br />
wandelndes Siena-Lexikon aus Leidenschaft <strong>und</strong> bringt das auch rüber! Zu diesem Zeitpunkt ahnen<br />
wir noch nicht, dass wir neun St<strong>und</strong>en in der Altstadt verbringen <strong>und</strong> erst nach Mitternacht in unser<br />
Schloss-Hotel in den toskanischen Bergen zurückkehren werden.<br />
19
Aber brav der Reihe nach: Über dem Tor konnte Otto lesen (<strong>und</strong> wir auch) "weiter öffnet Siena dir sein<br />
Herz" - also nicht nur die Tore. Die Sienesen waren Staufer-Fre<strong>und</strong>e, doch nachdem Philip von<br />
Schwaben ermordet <strong>und</strong> Otto König von Deutschland wurde, schwenken die Sienesen ihr Mäntelchen<br />
in den Welfenwind. Ein Narr, der glaubt, so etwas gäbe es in unserer heutigen Politik nicht mehr. "Ihr<br />
lobt mich nur mit den Lippen, nicht mit dem Herzen", soll Otto entgegnet haben. Wenn er heute sehen<br />
könnte, wo überall hier in der Stadt <strong>und</strong> der Umgebung unser Löwenwappen prangt, er müsste seine<br />
skeptische Haltung ändern.<br />
Während Ottos Heer außerhalb auf dem Campo regio lagerte, wird Otto mit engstem Gefolge zuerst in<br />
die Chiesa San Pietro alla Magione <strong>zum</strong> Gebet gegangen sein, die sich gleich rechts auf der<br />
Frankenstraße befindet. Die zieht sich mehrere Kilometer durch die Stadt bis zur Porta Romana. An<br />
ihr erst ist Siena gewachsen <strong>und</strong> erblüht. Bereits im 9. Jahrh<strong>und</strong>ert wurde an der Via Francigena in<br />
Siena die erste Bank gegründet <strong>und</strong> überall an ihr entstanden Zweigstellen. Händler mussten schon<br />
bald kein Geld mehr mit sich führen; wenn sie in Franken Stoffe aus England kauften, bezahlten sie<br />
mit Wechseln <strong>und</strong> waren so <strong>zum</strong>indest auf einer Strecke vor Überfällen relativ sicher.<br />
Wir holen uns bei Gianna Nannini ein Eis oder besser bei ihrem Bruder bzw. der Familie, die in Siena<br />
ein Bäckerei- <strong>und</strong> Konditorei-Imperium gründete. Unser Guide spricht weiter sehr engagiert über die<br />
Entwicklung des Finanzwesens, die untrennbar mit Siena verb<strong>und</strong>en ist Die Salimbeni, die die älteste<br />
Bank der Welt gründeten, vergaben auch Kredite an Ottos Bruder in Köln, der damit die Adligen<br />
schmierte, um deren Stimme für Otto zu gewinnen. 1472 wurde die Bank verstaatlicht, heute firmiert<br />
sie als Monte dei Paschi di Siena, hat weltweit 750 Filialen <strong>und</strong> ist so unermesslich reich, dass allein<br />
ihre Stiftung jährlich 200 Mio. Euro für das Wohlergehen <strong>und</strong> die Kultur der Stadt Siena ausschütten<br />
kann.<br />
20
Der Mann, der vor uns durch die Fußgängerzone geht - die gesamte Innenstadt von Siena ist<br />
Fußgängerzone, sie war die erste der Welt, die Autos aus dem Zentrum verbannte -, ist vielleicht<br />
Banker, seine elegante Erscheinung mit Nadelstreifenanzug <strong>und</strong> allem Pipapo spricht dafür. Nur das<br />
bunte Tuch um seine Schultern mag nicht so ganz passen. "Doch", korrigiert Nestler, es seien doch<br />
die Farben seiner Contrade, die habe beim letzten Palio gewonnen <strong>und</strong> er trage sie deshalb jetzt ein<br />
Jahr lang stolz. Der Palio ist das berühmte Pferderennen der Stadtteile von Siena. Und schon sind wir<br />
am Tatort, dem Campo, wo der Wettbewerb jedes Jahr im August ausgetragen wird.<br />
Der Platz ist für mich - ich bekenne mich - der schönste der Welt. Vor<br />
mehr als 20 Jahren war ich <strong>zum</strong> ersten Mal hier, habe seitdem<br />
bestimmt viel von der Welt gesehen, aber nichts ragt heran an die<br />
Piazza di Campo von Siena.<br />
Wir sitzen lange im Café, während Nestler erzählt <strong>und</strong> erzählt, <strong>und</strong><br />
als er längst zu Hause ist, sitzen wir wieder hier <strong>und</strong> ich schreibe<br />
meinen Text für die website der Stadt Braunschweig hier vor Ort, weil<br />
ich mich einfach nicht trennen kann. Gegenüber am Stadtpalast<br />
hängt außer dem Medici-Wappen nur unser welfischer Löwe, selbst<br />
auf der maschinell ausgedruckten Restaurant-Rechnung ist unser Braunschweiger Wappen zu sehen<br />
- <strong>und</strong> das ist Heimat!<br />
Wir besuchen Santa Maria della Skala, ein über 1000 Jahre altes Krankenhaus, die Mutter aller Pilger-<br />
Hospize, eine Stadt für sich. Alle Kaiser wurden hierher geführt, weil Siena stolz auf diese Einrichtung<br />
war, die im Stadtstaat zahlreiche Dependancen unterhielt. Zu erkennen waren sie an dem Logo des<br />
Kreuzes über einer Leiter. Im so genannten Pilgersaal, heute Museen, sind Fresken zu bew<strong>und</strong>ern,<br />
die die Entstehungsgeschichte dieses Hospitals dokumentieren. Was erstaunt: keine sakrale sondern<br />
profane Malerei mit allen Details der Pellegrino.<br />
21
Letzte Station ist der Dom von Siena, nach dem Vorbild aus dem Morgenland mit abwechselnd<br />
schwarzem <strong>und</strong> weißem Marmor erbaut. Oben sind die Büsten der Päpste zu sehen, darunter jene der<br />
Kaiser - darunter! Unser Blick ist indes auf den Fußboden gerichtet, denn wir haben Glück: Die<br />
Mosaiken sind nur kurze Zeit im Jahr freigelegt, <strong>und</strong> diese Zeit ist jetzt. Erstaunlich finde ich, dass es<br />
im vorderen Teil des Gotteshauses nicht ein einziges religiöses Motiv sondern nur mythologische<br />
Allegorien zu sehen gibt. Vielleicht ist das den weltlichen Stiftern geschuldet, vielleicht aber auch Teil<br />
einer mittelalterlichen Marketingstrategie, mit der man die Besucher aus ihrer Welt ins Reich Gottes<br />
lockte. Man kann nicht alles aufzählen, was es im Dom von Siena zu sehen gibt - man sollte ihn sich<br />
nur nicht ohne einen Nestler ansehen wollen. Vielen Dank dafür an dieser Stelle.<br />
Wenn nichts dazwischen kommt, melde ich mich morgen vom Bolsena-See wieder.<br />
Mit fre<strong>und</strong>lichen Grüßen<br />
Dr. Lutz Tantow<br />
12. Reisebericht: Siena, Römerstraße nach Bolsena<br />
Castel Bigozzi liegt in einem kleinen Weiler im Herzen des Chianti-Gebietes mit langobardischen<br />
Ursprüngen, der Durchgangsort für die Pilger auf der Via Francigena <strong>und</strong> als Hotel unsere Unterkunft<br />
in der Nähe von Siena ist. Lucca war eigentlich nicht zu toppen, aber wenn es stimmt, dass die drei<br />
Hauptkriterien für eine gute Immobilie Lage, Lage <strong>und</strong> nochmals Lage heißen, sind wir hier genau<br />
richtig. Dass die Landschaft drumherum traumhaft schön ist, erkennen wir erst heute Morgen - <strong>und</strong> da<br />
müssen wir leider schon weiter Richtung Bolsena. Hier wären wir gern geblieben, <strong>und</strong> wer weiß,<br />
vielleicht kommen wir einmal wieder.<br />
Otto verließ Siena durch die Porta Romana gestärkt <strong>und</strong> mit guten<br />
Gefühlen. Seine nächste Station war Buonconvento, etwa 27<br />
Kilometer südöstlich. Auch hier begegnete man dem Welfen<br />
gastfre<strong>und</strong>lich. Die Stadtmauer aus Ziegelsteinen gab es zu seiner<br />
Zeit noch nicht, auch nicht das wehrhafte Stadttor mit dem<br />
Löwenwappen, aber dass es da heute hängt, ist sein Verdienst. Und<br />
die blaugelbe Fahne, die vor der Stadtkirche weht, assoziiert natürlich<br />
unsere Eintracht. 201 Kilometer sind es von hier noch nach Rom.<br />
Bis ins schmucke San Quirico d'Orcia sind es von hier nur 16 Kilometer,<br />
so dass das Heer den Ort bereits am Mittag erreichte. Vieles erinnert hier<br />
an San Gimignano, aber ohne den dortigen Touristen-Schnickschnack.<br />
Otto betrat <strong>zum</strong> Gebet die Stiftskirche Quirico e Giulitta <strong>und</strong> besuchte die<br />
Zweigstelle des Ospedale Santa Maria della Scala aus Siena.<br />
An der Mauer ist heute das Logo der Leiter mit Kreuz <strong>und</strong><br />
daneben das Braunschweiger Löwenwappen zu sehen. Allmählich wird es unheimlich mit<br />
soviel heimischen Symbolen. Also klären wir mal auf: Die welfenfre<strong>und</strong>lichen sieneser<br />
Bürger, nicht der Adel, wählten das Zeichen aus Verehrung von Otto IV. zu ihrem<br />
Popolo-Merkmal, deshalb findet man es hier so oft.<br />
Im nur fünf Kilometer entfernten Bagno Vignoni gibt es eine Besonderheit - statt eines<br />
Marktplatzes findet sich hier ein Wasserbecken, ähnlich dem von Cucuron im Luberon,<br />
wo der Film "Ein gutes Jahr" gedreht wurde. Hier ist aber der Gr<strong>und</strong> nicht die<br />
Schafstränke sondern eine Thermalquelle, die den kleinen Ort heute ein wenig mondän<br />
22
erscheinen lässt <strong>und</strong> seinen teuren Hotels eine gehobene Klientel beschert. Für Pilger ist das nur was<br />
<strong>zum</strong> Anschauen.<br />
Wäre Zeit, könnte man von hier aus einen Abstecher Richtung Grosetto ans Meer, <strong>zum</strong> Beispiel nach<br />
Castiglione machen <strong>und</strong> käme dabei durch das etruskische Vetulonia. Der Braunschweiger<br />
Weinhändler Harald L. Bremer hat dort sein Weingut, das heute von seinem Sohn Bodo erfolreich<br />
geführt wird <strong>und</strong> einen exzellenten Tropfen produziert, den man in Querum kaufen kann. Wir ziehen<br />
mit Otto auf der Via Cassia (heute Superstrada SS 2) weiter Richtung Latium, nicht ohne einen Blick<br />
hinauf nach Radicofani geworfen zu haben.<br />
Der Legende nach trieb hier ein gewisser Ghino di Tacco sein Unwesen. Er raubte die Reichen aus<br />
<strong>und</strong> gab den Armen, ein sozialer Raubritter, ein Rächer der Enterbten, Fre<strong>und</strong> der Witwen <strong>und</strong><br />
Waisen. Er wurde von der Bevölkerung als eine Art Robin Hood verehrt - <strong>und</strong> weil der Ottos<br />
Lieblingsonkel Richard Löwenherz unterstützte, wird diese Figur unserem Braunschweiger Kaiser<br />
sympathisch gewesen sein.<br />
Mit dem Überqueren des Baches Alvella verlassen wir die Toskana. Schlagartig ändert sich das<br />
Landschaftsbild. Hier gibt es nicht mehr die lieblichen Hügelchen, auf denen ein Podere steht, zu dem<br />
ein Zypressen gesäumter Feldweg führt <strong>und</strong> wo <strong>zum</strong>eist "Agriturismo" (da ist wieder dieser<br />
scheußliche Begriff) angeboten wird. Hier betreibt man richtige Landwirtschaft, die Böden scheinen<br />
fruchtbarer, das Bild ist grüner. Als wollten die Leute aus Latium denen in der Toskaner sagen:<br />
Vermietet ihr nur weiter eure Bauernhöfe an die Deutschen <strong>und</strong> die Amerikaner, wir kümmern uns<br />
derweil ums Original.<br />
Letzte Station vor dem größten Vulkankrater-See Europas ist Aquapendente. Es gibt solche Orte, die<br />
du völlig vergessen kannst, bis auf ein kleines Detail, <strong>und</strong> das haut dann alles raus. In diesem Fall ist<br />
es die Krypta der Ciesa del Santo Selpocro, in der unter sehenswerten 22 Säulen mit noch<br />
sehenswerteren Kapitälen eine ziemlich genaue Nachbildung des Grabmals von Jesus Christus aus<br />
der Grabkirche in Jerusalem zu bew<strong>und</strong>ern ist. Für einen Euro, den man in den Beleuchtungsautomat<br />
werfen muss. Otto bekam den Anblick sicher umsonst <strong>und</strong> wird den Ort wohl deshalb besucht haben,<br />
obgleich er Barbarossa fre<strong>und</strong>lich zu sein schien <strong>und</strong> scheint - ein Einkaufszentrum trägt heute den<br />
Namen des Staufers.<br />
Ich stelle mir vor, man wird auch meinem Landsmann vor 800 Jahren davon vorgeschwärmt haben,<br />
was für ein großartiges Panorama ihn erwarte, wenn er über den Hügel kommt, wo sich heute San<br />
Lorenzo Nuovo befindet. Pustekuchen! Nichts sieht man, der ersehnte Bolsena-See versteckt sich im<br />
Dunst. Mit Mühe nur kann man ihn erahnen. Heute wollte es auch hier in Mittelitalien Herbst werden,<br />
aber das Wetter hat es nicht geschafft.<br />
23
Wir erleben noch einmal einen lauschigen Abend <strong>und</strong> essen Pasta drei Meter von der dahin<br />
plätschernden Brandung des Sees entfernt. Otto gemäß sind wir im Hotel Royal abgestiegen. So lässt<br />
es sich leben, doch bitte nicht neidisch werden, liebe Braunschweiger daheim im Regen: Denn nach<br />
einer achtstündigen Besichtigungsfahrt <strong>und</strong> zwei St<strong>und</strong>en Schreiben haben wir uns das auch verdient.<br />
Und wenn nichts dazwischen kommt, melde ich mich morgen vom Monte Mario vor den Toren von<br />
Rom wieder.<br />
Mit fre<strong>und</strong>lichen Grüßen<br />
Dr. Lutz Tantow<br />
13. Reisebericht: Über Viterbo <strong>und</strong> Sutri <strong>zum</strong> Monte Mario<br />
Im Frühstücksraum treffen wir fünf Herren im fortgeschrittenen Alter. Und da sie Wanderschuhe<br />
tragen, spreche ich sie an. Sie kommen aus London <strong>und</strong>, ja, sie sind Pilger. Sie wohnen<br />
normalerweise in einfachen Unterkünften, bisweilen aber auch so wie hier. Sie gehen nur eine Woche.<br />
Letztes Jahr sind sie von San Gimignano hierher gegangen, jetzt laufen sie den Rest, 120 Kilometer.<br />
Es geht ihnen also nicht ums "Pilgerdiplom".<br />
Um in Besitz der Pilgerurk<strong>und</strong>e "Testimonium Peregrinationis Peractae Ad Limina Petri" zu gelangen,<br />
muss man über die Stempel in seinem Pilger-Pass nachweisen, mindestens die letzten 130 Kilometer<br />
gewandert zu sein (Acquapendente wäre somit für Minimalpilger auf der Francigena der geeignete<br />
Beginn). Uns erwartet in der Hotellobby Ingrid, die nur einen deutschen Namen hat, aber <strong>Italien</strong>erin<br />
aus Triest ist. Wir bekommen heute die Führung in der Version Geschichtenerzählen.<br />
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In Bolsena gibt es außer dem See, der im Gr<strong>und</strong>e schon ausreicht, das Castello Monaldeschi, das im<br />
12. <strong>und</strong> 13. Jahrh<strong>und</strong>ert von Leuten aus dem benachbarten Orvieto erbaut wurde (dort wo der<br />
bekannte Weißwein herkommt). Und es gibt drei Kirchen, die sich wie an einer Perlenkette aufreihen.<br />
Sie stammen aus dem 11., dem 12.-13. <strong>und</strong> dem 18.-19. Jahrh<strong>und</strong>ert <strong>und</strong> sind nichts Besonderes.<br />
Das Besondere befindet sich unter ihnen: die berühmten Katakomben von Bolsena, eine etruskische<br />
Nekropole, die auf die Zeit um 300 n.Chr. zurückkgeht.<br />
Angenehm kühl <strong>und</strong> auch ein wenig unheimlich ist es da unten, wo man ins Vulkangestein unzählige<br />
Gräber gemeißelt hat, die anschließend mit kunstvollen Grabplatten verschlossen wurden. Für ein<br />
paar Euro macht der Küster das Licht an <strong>und</strong> man kann auf eigene Faust durch das unterirdische<br />
Labyrinth streifen, die Beerdigungs-Architektur studieren, die Kunsttechnik bew<strong>und</strong>ern oder sich nur<br />
ganz einfach gruseln. Oft trifft man auf ein Fischsymbol, mit dem zu Zeiten, als das Christsein noch<br />
gefährlich war, die Glaubenszugehörigkeit verschlüsselt wurde: IKTOS ist das griechische Wort für<br />
Fisch <strong>und</strong> zugleich ein Akrostrichon für Jesus Christus Retter der Menschen.<br />
Über Tage fängt Ingrid an zu erzählen: Der Legende nach hatte sich die schöne Römertochter<br />
Christina in einen Christen verliebt, <strong>und</strong> das ging damals gar nicht. Ihr Vater setzte sie daraufhin<br />
einem grausamen Martyrium aus, doch die Liebe <strong>und</strong> die Liebe zu Gott war nicht totzukriegen. Da fuhr<br />
er kurzerhand mit ihr auf den See hinaus, band ihr einen Stein um den Hals <strong>und</strong> warf sie über Bord.<br />
Seemannschaftlich war das nicht gerade <strong>und</strong> es half auch nicht - denn der Stein schwamm auf dem<br />
Wasser <strong>und</strong> rettete Christina - vorübergehend.<br />
Dieses W<strong>und</strong>er bescherte Bolsena die heilige Christina, der eine Kirche geweiht ist. Das zweite<br />
Miracolo ereignete sich 1263, als während eines Abendmahls aus einer Hostie Blut auf den<br />
Marmorboden tropfte. Papst Urban IV. führte daraufhin das Fronleichnamfest ein, dessen Wiege also<br />
in Bolsena steht.<br />
Die nächste Geschichte ereignete sich im nächsten Ort,<br />
Montefiascone: Der deutsche Kardinal de Fuk (Giovanni Defugger)<br />
soll bekannt dafür gewesen sein, dass er gerne <strong>und</strong> viel Wein trank.<br />
Sein Diener Martin musste vorkosten <strong>und</strong> vergab Prädikate: "est"<br />
hieß es ist gut Herr, den könnt ihr trinken; "est est" hieß der ist<br />
besser. In Montefiascone vergab er dem Muscatel-Wein den<br />
Superlativ "est est est", der noch heute damit wirbt. Dummerweise<br />
hat sich der Kardinal hier in Montefiascone totgesoffen <strong>und</strong> liegt in<br />
der Kirche San Flavino von 1032 begraben. Otto, der dieses<br />
25
Gotteshaus auf der Frankenstraße besuchte, tat es ihm nicht nach. Bew<strong>und</strong>ern konnte er in dieser<br />
romanischen Kirche zwar noch nicht die Fresken, wohl aber das Matroneum, eine Frauen<br />
vorbehaltene eigene Galerie im Obergeschoß. Deshalb sieht man am Portal der Kirche einen Balkon.<br />
Montefiascone hat noch mehr zu bieten, <strong>zum</strong> Beispiel den Rocca dei<br />
Papi, einen Rückzugsort der Päpste, wenn es in Rom im doppelten<br />
Wortsinn zu heiß wurde. An diesem sehr geschützten Ort wurden auch<br />
päpstliche Gäste bewirtet, also wahrscheinlich auch der künftige Kaiser.<br />
Von den Terrassen hat man das, was wir gestern in San Lorenzo Nuova<br />
vermißten - einen gigantischen Blick auf den See <strong>und</strong> eine traumhafte<br />
Landschaft. Die hat auch Pasolini <strong>und</strong> Fellini, die beiden großen<br />
italienischen Filmregisseure inspiriert hier zu drehen: "Il Vangelo<br />
secondo Matteo" <strong>und</strong> "La Strada" entstanden in dieser Gegend. Nach<br />
Don Camillo <strong>und</strong> Pepone, die uns zwischen Mantua <strong>und</strong> Parma anlächelten, ist dies die zweite<br />
Begegnung mit dem italienischen Kino.<br />
In unserer nächsten Station, Viterbo, nur 15 Kilometer südlich, hielt sich Otto von Braunschweig länger<br />
auf, denn hier traf er am 15.September 1209 Papst Innozenz III. <strong>zum</strong> ersten Mal, um die<br />
Krönungsmodalitäten zu verhandeln. "Innozenz III. hat ihn freudig empfangen <strong>und</strong> geküsst", berichtet<br />
Hucker. "Einen Tag lang sind der Papst <strong>und</strong> der zukünftige Kaiser hier einträchtig (!) zusammen<br />
gewesen." Nach dennoch schwierigen Unterhandlungen musste Innozenz auf seine Forderung<br />
verzichten, dass sich Otto noch vor der Kaiserkrönung bereits hier eidlich verpflichtete, der Kirche<br />
alles zu erstatten, was vor 1197 zwischen ihr <strong>und</strong> dem Reich streitig gewesen war.<br />
Zwei Wochen ließ sich das Heer noch Zeit für die Weiterreise nach Rom,<br />
für die wir nur einen Nachmittag benötigen. Die ganz in der Nähe von<br />
Viterbo gelegenen Thermalquellen, die teilweise nicht nur für Pilger frei<br />
zugänglich, aber besonders für diese eine Wohltat sind, besichtigen wir<br />
zwar, wir benutzen sie aber nicht. Stattdessen geben wir uns im<br />
Traditionsristorante Tre Re (Drei Könige) den von Eleonora servierten<br />
Ravioli alla crema di tartufo nero hin. Schwarz sind in Viterbo auch die<br />
meisten Häuser. Das kommt vom Peperino, dem Trachitis, einem<br />
Tuffstein ähnlichen Baumaterial, das in Verbindung mit Luft hart wird.<br />
Aus diesem dunkelgrauen Vulkangestein ist auch das Geburtshaus von Galiana gebaut, an dem wir<br />
den für diese Gegend besonders typischen Treppenaufgang besichtigen, Profferlo genannt. Er<br />
schmiegt sich jeweils rechts an die Hauswand <strong>und</strong> hat nach links kein Geländer, so dass - wer in<br />
unfriedlicher Absicht kam <strong>und</strong> sein Schwert ziehen wollte - runtergeschupst werden konnte. Galiana,<br />
sagt man, war das schönste Mädchen der Gegend, <strong>und</strong> ihr erging es ähnlich wie Christina, nur mit<br />
anderen Vorzeichen: Sie wollte den jungen Römer, der sie minnte, eben nicht heiraten - <strong>und</strong> überlebt<br />
hat sie es auch nicht.<br />
26
Auf dem Weg hinauf <strong>zum</strong> Papstpalast finden wir überall Vorhängeschlösser an den unmöglichsten<br />
Stellen angebracht. Wir fragen Ingrid nach der Bewandnis? Es sei eine symbolische Handlung, die auf<br />
einen aktuellen italienischen Teenager-Roman von Federico Moccia zurückgeht, in dem ein<br />
Liebespaar sich aneinander kettet: "Scusa si ti chiamano amore" - zu deutsch: Entschuldige, dass ich<br />
dich Liebe nenne.<br />
Dann sind wir oben an der Piazza S.Lorenzo <strong>und</strong> am Papstpalast angelangt. 1268 quälten sich die<br />
Kardinäle hier schon drei Jahre lang mit der Wahl eines neuen Papstes. Da riss dem Bürgermeister<br />
der Geduldsfaden. Er strich die opulente Verpflegung <strong>und</strong> ließ das Dach des Versammlungsraumes<br />
abdecken. Außerdem wurden die Kardinäle mit dem Schlüssel eingesperrt, cum clave - woher sich der<br />
Begriff Konklave ableitet. Als es auch noch reinregnete, wurde Gregor X. gewählt. Noch heute hängt<br />
die Loggia des Papstpalastes relativ unbeholfen in der Luft, ist allerdings ein viel fotografiertes Motiv.<br />
27
Sutri, der letzte Ort auf der Via Francigena vor dem Ziel, gilt als Vorzimmer Roms. Etwas außerhalb<br />
findet man ein vollständig in Tuffstein gegrabenes Amphitheater, das 2000 Jahre alt ist <strong>und</strong> als eines<br />
der bedeutendsten antiken Monumente Latiums gilt. Unser Augenmerk gilt aber mehr der Kathedrale,<br />
die Otto mit Sicherheit besucht haben wird, weil sein neuer "Fre<strong>und</strong>" Innozenz sie erst zwei Jahre<br />
zuvor geweiht hat.<br />
Und dann begeben wir uns in die Hände römischer Wagenlenker. Wir wissen nicht, wie Otto mit dem<br />
Verkehr hierzulande umgegangen ist. Stoppschilder sind nur bunte Dekoration am Straßenrand,<br />
Zebrastreifen lästige Ornamente auf Fahrbahnen <strong>und</strong> Geschwindigkeitsbegrenzungen offenbar nur<br />
etwas für Schampoo-Anwärmer <strong>und</strong> Beckenrand-Schwimmer. Fragen Sie mich nicht wie, aber<br />
irgendwann stand ich doch tatsächlich vor unserem Hotel am Monte Mario. Und während hier so eine<br />
Art Musikwettbewerb wie "<strong>Italien</strong> sucht den Superstar" läuft, schreibe ich im Hotelgarten das vorletzte<br />
Kapitel.<br />
Am 4. Oktober geht's mit Otto zur Kaiserkrönung runter in die Innenstadt - <strong>und</strong> wenn nichts<br />
dazwischen kommt, melde ich mich morgen aus dem Vatikan.<br />
Mit fre<strong>und</strong>lichen Grüßen<br />
Dr. Lutz Tantow<br />
14. Reisebericht: Kaiserkrönung im Petersdom<br />
Der 4.Oktober 1209 (der 19. Sonntag nach Trinitatis) muss ein schöner Tag gewesen sein, für Otto,<br />
für die Welfen <strong>und</strong> für Braunschweig. 800 Jahre später ist der Tag <strong>zum</strong>indest auch für zwei<br />
Braunschweiger schön, die am Vormittag bei Sonne, wolkenlosem Himmel <strong>und</strong> Temperaturen um 25<br />
Grad im Lager am Monte Mario auf den Start nach Sankt Peter warten: Kaiserwetter!<br />
Im Gegensatz zu Otto, der von hier einen herrlichen Blick auf die<br />
Leonina (wie der Vatikan damals hieß) <strong>und</strong> die ganze Stadt Rom hatte,<br />
sehen wir nichts. Monte Mario wurde auch Monte Gaudi genannt, weil<br />
dieser Anblick für alle Pilger eine Freude war. Heute ist es nicht<br />
erbaulich. Wo einst Wiesen (Prate) waren, ist heute alles zugebaut. Auch<br />
die kleine Pilgerkirche San Lazaro in Borgo dei Lebbrosi, die später wie<br />
der Name schon andeutet ein Krankenhaus für Leprakranke wurde, lag<br />
naturgemäß weit draußen vor den Toren der Stadt - heute ist sie von<br />
Wohnblocks umgeben <strong>und</strong> wenn man in die kleine Seitengasse tritt, die<br />
Rom vergessen zu haben scheint, befindet man sich unvermittelt im Mittelalter. Bis 1870 war es hier<br />
noch so, wie Otto es gesehen hatte.<br />
Elisabeth Bruckner hat uns hierher geführt, unsere Fremdenführerin für Rom, die entgegen allen<br />
Erwartungen keine Deutsche, sondern gebürtige Römerin ist. Mit ihr wollte ich die letzten Kilometer<br />
28
vom Monte Mario zu Fuß in den Vatikan laufen - "Vergessen Sie's", war ihr Kommentar, die Straßen<br />
hier oben haben nicht einmal Fußwege. Wie überhaupt die seit mehr als 1000 Kilometern vortrefflich<br />
ausgeschildeterte Via Francigena hier nicht mehr aufzufinden ist. Wir müssen erst ein paar Stationen<br />
mit dem Bus fahren. Ab San Lazaro sind wir dann Pilger.<br />
Die kleine Kirche von 1187 gelangte zu einiger Berühmtheit, weil die Abgesandten des Papstes hier<br />
nochmals versuchten, Otto zu Zugeständnissen im Vorhinein zu bewegen. Wie selbstbewusst er<br />
gewesen sein muss, zeigt sich daran, dass er nach einem so langen Weg keinerlei Kompromisse<br />
eingeht. Zugegeben, er setzt wenig aufs Spiel, sein Heer ist übermächtig. Jetzt erst wird klar, warum<br />
ihm ein so enormes Gefolge wichtig war. Ein Teil von Ottos Leuten unter der Führung des Kanzlers<br />
Konrad von Speyer <strong>und</strong> Reichstruchseß Gunzelin hatte die Leon-Stadt besetzt, ein anderer Teil der<br />
Truppen hielt die Tiberbrücke besetzt, um einen Überfall der grollenden Römer zu verhindern. Solche<br />
Aufstände bei Kaiserkrönungen hatten Tradition.<br />
Als wollten uns die Staufer unser schönes Jubiläum versauen, ist Rom heute großflächig mit der<br />
Ankündigung eines neuen Kinofilms plakatiert: "Barbarossa" mit Abraham Murray, Motto: "Die Freiheit<br />
bekommst du nicht geschenkt, du musst sie dir erkämpfen!" Statt Kampf ist Geduld angesagt, denn<br />
auf dem Petersplatz heißt es Schlange stehen. Zeit um Ausschau zu halten. Zum zweiten Fenster von<br />
recht oben, wo sich das heutige Kirchenoberhaupt gelegentlich zeigt <strong>und</strong> meldet; zur leonischen<br />
Mauer, die noch heute existiert <strong>und</strong> den Papstpalast mit der Engelsburg verbindet; <strong>zum</strong> Obelisken<br />
mitten auf der Cortina, der das einzige war, was Otto vom gegenwärtig Erhaltenen auf dem Platz sah,<br />
<strong>und</strong> der stand weiter links.<br />
29
Die feierliche Prozedur hat Hucker ausführlich beschrieben, welche Gesänge das Jubelvolk<br />
anstimmte, welche Geschenke wer wem machte, welche Eide geschworen, welche Kronformeln<br />
abgespult werden mussten.<br />
Der Ort, an dem Otto niederkniete <strong>und</strong> erst die Mitra <strong>zum</strong> Zeichen der<br />
Priesterweihe <strong>und</strong> dann die Kaiserkrone erhielt, ist eine kreisr<strong>und</strong>e Platte<br />
von ca. 3 Metern Durchmesser aus rotem Porphyr, Rota genannt, die<br />
noch existiert, aber heute an einem anderen Platz im neuen Petersdom-<br />
Boden liegt. Niemand von den Touristen beachtet sie, wie auch keine der<br />
Fotoapparat behängten Besucher daran denkt sich hier zu bekreuzigen.<br />
Das größte Gotteshaus der Welt scheint zur bloßen Touristenattraktion<br />
geworden zu sein.<br />
Nach der Krönungsmesse hat Otto dem Papst geholfen das Pferd zu<br />
besteigen, indem er ihm den Steigbügel hielt. Von Rom selbst sahen Otto <strong>und</strong> sein Gefolge so gut wie<br />
nichts. Es ist eine sonderbare Tatsache, dass nur die wenigsten Kaiser die W<strong>und</strong>erwelt der Ewigen<br />
Stadt betreten haben, heißt es in der "Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter", neuntes Buch. Die<br />
Prozession nach vollendeter Krönung bewegte sich nur bis zur Engelsbrücke mühevoll durch die<br />
dichten Reihen der Krieger - <strong>und</strong> so erleben wir es am Ende unserer Reise auch. Die kleine<br />
Engelsburg von Neustift bei Brixen stand am Anfang, das weitaus größere Original von 125 n. Chr. ist<br />
unsere letzte Station.<br />
30
Der Papst trennte sich hier vom Kaiser <strong>und</strong> kehrte <strong>zum</strong> Lateran zurück. Er forderte Otto <strong>zum</strong><br />
Abschluss auf, das römische Gebiet am nächsten Tag zu verlassen - was ein offener Affront gegen<br />
die kaiserliche Majestät war. Trotzdem soll er dem folgenden Kaisermahl am Monte Mario beigewohnt<br />
haben. Den Hass der Römer setzte irgendein Streit in Gang, <strong>und</strong> die althergebrachte<br />
Krönungsschlacht wurde in der Leonina geschlagen. Nach schweren Verlusten auf beiden Seiten zog<br />
Otto in sein Lager zurück <strong>und</strong> begann fortan die päpstliche Macht zu demontieren. Innozenz schrieb<br />
später an die deutschen Bischöfe: "Das Schwert, das wir selbst geschmiedet, schlägt uns schwere<br />
W<strong>und</strong>en."<br />
Die aktuelle Börsen-Meldung, dass Silvio Berlusconis Fininvest 750 Mio. Euro zahlen soll, holt mich in<br />
die Wirklichkeit der Finanzwirtschaft zurück. Wenn nichts dazwischen kommt, werde ich morgen früh<br />
wieder an meinem Arbeitsplatz in Braunschweig sein.<br />
Mit fre<strong>und</strong>lichen Grüßen<br />
Dr. Lutz Tantow<br />
Abschlussbericht: Auf den Spuren Ottos IV. durch <strong>Italien</strong><br />
Wieder zu Hause nach dem Romzug mit Otto IV. zu seiner Kaiserkrönung nach Rom ziehen wir<br />
Bilanz: Was war gut, was war schlecht, was haben wir gelernt, erfahren, kennen gelernt, was hat uns<br />
begeistert, worauf könnten wir verzichten, was würden wir empfehlen oder gegebenenfalls beim<br />
nächsten Mal, sofern wir erneut zu einer solchen Tour aufbrechen, anders machen?<br />
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Zuallererst: Es war eine Bildungsreise <strong>und</strong> kein Urlaub. Hatten wir anfangs gehofft, abseits der<br />
Strecke auch einmal ein wenig ausspannen zu können, mussten wir bald erkennen, dass die Überfülle<br />
an neuen Eindrücken, die wir aufnehmen <strong>und</strong> verarbeiten mussten, kaum Freizeit zuließ.<br />
Der Tagesablauf sah so aus, dass ich morgens früher raus musste als zu Hause, wenn’s ins Büro<br />
geht. Es folgten Vorbereitungen auf den Tag, Einlesen in die Stationen, Kartenstudium, Kurs <strong>und</strong><br />
Kleidung festlegen, Ziel orten (wo legen wir heute Abend an)- wie beim Segeltörn, nur um das Wetter<br />
mussten wir uns nicht kümmern, das stimmte immer! Heißer dürfte es nicht sein, <strong>und</strong> ich kann<br />
empfehlen, diese Jahreszeit für eine solche Reise zu wählen.<br />
Nach dem Frühstück saß meistens schon ein Fremdenführer an der<br />
Rezeption, der ein Dreitages-Besichtigungsprogramm im Gepäck hatte,<br />
da musste erst mal abgespeckt werden; einigen mussten wir erzählen,<br />
was unser Interesse war, nämlich das zu sehen, was Otto sah - die<br />
wenigsten waren darauf vorbereitet, bisweilen wollten die örtlichen<br />
Fremdenverkehrsbüros ihr ganzes Schaufenster ausleuchten. Manchmal<br />
hatten sie die Mittagspause eingeplant, manchmal wartete im nächsten<br />
Ort aber schon der nächste Guide. So ging’s im Schweinsgalopp die Via<br />
Fancigena entlang. Die war für uns die ganz große Entdeckung,<br />
landschaftlich, historisch, religions- <strong>und</strong> kommunikationsgeschichtlich. Wir haben zugesehen, dass wir<br />
so gegen 18 Uhr unser nächstes Quartier erreichten, uns dort installierten <strong>und</strong> ich zu schreiben<br />
begann. Vor 21 Uhr kamen wir nie <strong>zum</strong> Abendessen. Danach war ich ziemlich platt.<br />
Unterwegs waren wir r<strong>und</strong> 1100 Kilometer <strong>und</strong> haben 50 Stationen<br />
besucht, sechs davon waren allerdings Städteführungen, in denen wir<br />
5-6 Orte angelaufen sind, so dass wir sicher 75 Stätten besichtigt<br />
haben. Was war diese Reise für mich? In jedem Fall anstrengend <strong>und</strong><br />
lohnend zugleich, ein Lehrstück in europäischer Geschichte,<br />
Kirchengeschichte, Sozialgeschichte der Städte. Ein Eintauchen in<br />
die Philosophie des Pilgerns war es allemal, eine Begegnung mit<br />
Orten, Landschaften <strong>und</strong> Menschen, die ich als "normaler" Tourist so<br />
niemals gehabt hätte. Würde ich das noch mal machen? In jedem<br />
Fall, aber anders, mit mehr Zeit, mehr zu Fuß als das diesmal möglich<br />
war. Manchmal würde ich einige Stationen nicht mehr anlaufen,<br />
insgesamt würde ich einen anderen Weg wählen.<br />
Ursprünglich hatte ich ja gedacht, Ottos Heer habe, wie andere<br />
Kaiserzüge auch, die Frankenstraße von Anfang an gewählt, über Köln<br />
den Rhein rauf, Lausanne, den St. Bernardpass, das Aosta-Tal hindurch<br />
<strong>und</strong> dann ab Pavia die Strecke, die wir auch gezogen sind. Aber Karin,<br />
die die meisten Recherchen gemacht hat, fand dann den Weg durchs<br />
Etschtal als authentische Otto-Route heraus.<br />
32
Wer hat geholfen? Die italienische Tourismus-Zentrale in Deutschland ENIT, vor allem Anette Rietz<br />
<strong>und</strong> Christiane Hübner, die APTs in den einzelnen Provinzen (Agenturen zur Promotion des<br />
Tourismus) <strong>und</strong> ihre hervorragenden Fremdenführer (Caterina <strong>und</strong> Ciara, Georg, Francesco <strong>und</strong><br />
Beatrice, ganz besonders Gabriele, Carlo <strong>und</strong> Alexandra, Gerhard, Ingrid <strong>und</strong> Elisabeth). Zu nennen<br />
ist auch Barbara Holzner von Auto Europe Deutschland <strong>und</strong> Avis, denen wir für den schicken Alpha<br />
Romeo danken. Ohne die Stadt Braunschweig als Anstifter (namentlich Dr. Annette Boldt-Stülzebach,<br />
Claudia Hartung <strong>und</strong> Goor Zankl sowie ihre Internet-Verbündete Constanze Erdmann) wäre gar nichts<br />
gegangen.<br />
Unser Dank gilt vielen netten Leuten am Wegesrand, die halfen,<br />
wenn man nicht mehr weiter wusste <strong>und</strong> vor allem meine Frau als<br />
Pfadfinder, Rechercheur, Kunstgeschichts-Sachverständige, Back-<br />
Office <strong>und</strong> Mädchen für alles. Und natürlich Axel Uhde von Radio<br />
Okerwelle 104,6 - irgendwann zog es ihn selbst in dieses Otto-Pilger-<br />
Fieber.<br />
Zeitungen aus Pavia <strong>und</strong> Peine waren die Printmedien, die das<br />
Highlight der städtischen Kulturaktivität zu Otto <strong>und</strong> <strong>Italien</strong><br />
redaktionell betreuten.<br />
Welches waren die Höhepunkte der Reise? Die longobardische<br />
Hauptstadt Pavia gewiss. Dass wir den Punkt ausfindig machten, wo die<br />
Francigena den Po querte. Dass wir Pilger trafen <strong>und</strong> sprachen. Die<br />
Lunigiana als eine Landschaft, die ich bislang nicht kannte, vor allem die<br />
Wanderung über den Cisa-Pass <strong>und</strong> Pontremoli waren beeindruckend.<br />
Die Stadt Siena wird immer mein Tipp Nummer eins sein; schon vor<br />
mehr als 20 Jahren empfand ich den Campo als schönsten Platz der<br />
Welt - das behaupte ich jetzt noch immer. Karin, zugereiste Saarländerin<br />
<strong>und</strong> vom barocken Saarbrücker St. Johanner-Markt verwöhnt, bringt<br />
dann immer wieder unseren Burgplatz ins Spiel, gerade weil er nicht so<br />
homogen sondern ein Schauplatz der Baustile über Jahrh<strong>und</strong>erte hinweg<br />
ist.<br />
Begeistert hat mich die Logistik, mit der man vor 800 Jahren diese Reise<br />
geplant haben muss. Welche strategischen Maßnahmen für<br />
Eventualitäten ergriffen wurden, die gefährlich werden könnten. Nicht so gut war manche chaotische<br />
Zeitabstimmung seitens der Programmmacher. Der Straßenverkehr in <strong>Italien</strong> ist bisweilen grenzwertig.<br />
Leider hat auch der Vatikan, der zu einer Touristenfalle zu drohen wird, wenn er nicht aufpasst, nicht<br />
gehalten, was er versprach.<br />
Mein persönliches Fazit lautet augenzwinkernd: Ich wollte niemals Hofberichterstattung machen <strong>und</strong><br />
nun bin ich sogar ein Hofberichterstatter geworden! Ich war es gern.<br />
Mit fre<strong>und</strong>lichen Grüßen<br />
Dr. Lutz Tantow<br />
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Sponsoren<br />
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