Treffpunkt 02/2005 - Ministerium für Integration, Familie, Kinder ...
Treffpunkt 02/2005 - Ministerium für Integration, Familie, Kinder ...
Treffpunkt 02/2005 - Ministerium für Integration, Familie, Kinder ...
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Jobangst<br />
bestimmt<br />
Der Mädchentreff des<br />
Mainzer Neustadt-Projekts<br />
gibt Raum <strong>für</strong> Gespräche<br />
Einmal in der Woche ganz ohne Jungs<br />
über die wirklich wichtigen Sachen reden.<br />
Einmal in der Woche die Zeit und den<br />
Rahmen finden, um mit gleichaltrigen<br />
Mädchen und einer Betreuerin die Themen<br />
anzusprechen, die einem selber am wichtigsten<br />
erscheinen. Dass dieses Bedürfnis<br />
bei Schülerinnen eines bestimmten Alters<br />
sehr ausgeprägt ist, ist nur allzu verständlich<br />
– egal, welchen sozialen oder ethnischen<br />
Hintergrund das Mädchen hat.<br />
Das Mainzer Neustadt-Projekt von<br />
„Arbeit & Leben“ bietet Fünf- bis<br />
Achtklässlerinnen deshalb einmal in der<br />
Woche einen offenen Treff an, der dieses<br />
Bedürfnis erfüllen soll. Ein Angebot, das<br />
bei der sozialen Struktur des einwohnerstärksten<br />
Mainzer Stadtteils automatisch<br />
zu einem Projekt mit Migrationsthematik<br />
wird. Nationalitäten und Sprachen sind im<br />
Mädchentreff bunt gemischt, wie es in der<br />
ausländerstarken Neustadt eben der Fall<br />
ist. Was haben die Mädchen auf dem Herzen?<br />
Egal, mit welchem sie in die Gruppe<br />
kommen, beherrscht die Furcht vor einem<br />
Leben ohne Chance auf einen Arbeitsplatz<br />
die Gedanken der 10 bis 14-Jährigen,<br />
berichten die beiden Betreuerinnen der<br />
Gruppe, Silke Nardello und Aysegül Güler.<br />
Mit einzelnen Mädchen, die dies von sich<br />
aus wünschen, führen die beiden angehenden<br />
Pädagoginnen zwar auch öfter Gespräche<br />
über religiöse Themen. Aber das<br />
greift nicht so tief ins Politische ein, wie<br />
die öffentlichen Debatten,die zum Beispiel<br />
über das Leben als Muslima in<br />
Deutschland geführt werden, vermuten<br />
lassen. „Das Thema ist viel zu aufgebauscht<br />
worden in den Medien“, sagt Nardello.<br />
Klassische „Ausländerthemen“ wie<br />
Diskriminierung oder Fremdenfeindlichkeit<br />
spielen dagegen keine Rolle<br />
im Gruppenalltag. Die Kopftuch-Debatte<br />
etwa nervt die Mädchen nur an, das The-<br />
<strong>Treffpunkt</strong> 2/<strong>2005</strong><br />
Raum <strong>für</strong> Fünft- bis Achtklässlerinnen im Mädchenprojekt: A. Güler und S. Nardello<br />
ma ist weder <strong>für</strong> die betroffenen islamischen<br />
Mädchen, noch <strong>für</strong> die nichtislamischen<br />
Gruppenmitglieder interessant.<br />
Und daher gibt es auch keine Probleme<br />
<strong>für</strong> die Mädchen, die ein Kopftuch tragen.<br />
„Die <strong>Kinder</strong> haben viel mehr Toleranz<br />
als ihre Eltern und akzeptieren sich,<br />
wie sie sind. Die Vorurteile werden zu<br />
Hause aufgebaut“, sagt Güler. Wenn jemand<br />
anecke, „dann hat das was mit der<br />
Persönlichkeit zu tun“.<br />
In den vier Jahren, die Nardello in der<br />
Mädchenarbeit im Projekt tätig ist, „da habe<br />
ich nur ein mal bei einer Teilnehmerin das<br />
Gefühl gehabt, dass sie gegen ihren Willen<br />
das Kopftuch tragen muss.“ Die Unlust,<br />
über das Thema zu reden, nährt allerdings<br />
offenbar auch das ungute Gefühl<br />
der Mädchen, beim Eintritt in die Arbeitswelt<br />
könnte ein Kopftuch eine Benachteiligung<br />
auslösen. Doch auch das ist eher<br />
zweitrangig, denn die Jobfrage ist in vielen<br />
Facetten das beherrschende Thema,<br />
über das die Mädchen von sich aus reden<br />
wollen. Und das ist sehr realistisch gewählt,<br />
betonen die Pädagoginnen. „Schon ab der<br />
ersten Schulklasse stehen die Schüler heute<br />
unter Druck und be<strong>für</strong>chten, später einmal<br />
keinen Arbeitsplatz zu bekommen.“<br />
Das wissen die Betreuerinnen nur zur<br />
gut von einem weiteren Angebot des Neustadt-Projekts,<br />
der Hausaufgabenbetreuung<br />
<strong>für</strong> Erst- bis Achtklässler. Viele der<br />
im Schnitt rund zehn Schützlinge<br />
Nardellos und Gülers sind über diese <strong>Kinder</strong>-Eltern-Hilfe,<br />
die eine Stunde Nachhilfeunterricht<br />
und eine weitere Stunde Freizeitangebot<br />
miteinander verknüpft, in die<br />
Mädchengruppe gewechselt.<br />
Es gibt sie zwar, die Nachteile und besonderen<br />
Probleme von Migrantenkindern<br />
in der deutschen Schule, besonders wenn<br />
es Sprachdefizite gibt. Viele angebliche<br />
<strong>Integration</strong>sprobleme, die sie in einer erfolgreichen<br />
Schullaufbahn behindern, haben<br />
nach Gülers Ansicht aber weniger mit<br />
dem Migrationshintergrund der Schülerin<br />
oder des Schülers selbst zu tun, sondern<br />
mit der deutschen Leistungsgesellschaft.<br />
„Die <strong>Kinder</strong> lernen heute in der ersten<br />
Klasse Dinge, die die <strong>Kinder</strong> vor 20 Jahren<br />
noch nicht lernen mussten“, erläutert<br />
Güler. In den Ländern, aus denen die<br />
Mädchen oder ihre <strong>Familie</strong>n stammen,<br />
seien die Ansprüche an das Vorwissen der<br />
<strong>Kinder</strong> eben noch deutlich geringer.<br />
Viel war in den vergangenen Jahren zu<br />
lesen von einem angeblichen Rückzug der<br />
jüngeren Migrantengenerationen aus der<br />
<strong>Integration</strong> und einer Abschottung gegenüber<br />
der deutschen Mehrheitsgesellschaft.<br />
Die Pädagogin Nardello hat diese These<br />
in ihrer Diplomarbeit gründlich auseinander<br />
genommen. Ihre Antwort: „Es gibt<br />
keine Rückbesinnung auf alte Werte.“<br />
Auch ihre Erfahrungen im Mädchen-<br />
11<br />
GUIDO STEINACKER