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Franziskaner Mission 03/06 - Neue Provinzleitung der Deutschen ...

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Information o<strong>der</strong> Illusion – Medien verän<strong>der</strong>n — <strong>Franziskaner</strong> <strong>Mission</strong> 3 | 20<strong>06</strong><br />

Süchtig nach <strong>der</strong> heilen Welt<br />

Phänomen Telenovela<br />

Vor etwa 25 Jahren, als das Fernsehen<br />

im Nordosten Brasiliens begann, bis in<br />

die entferntesten Buschdörfer im Hinterland<br />

vom Maranhão vorzudringen,<br />

hat mir ein erfahrener brasilianischer<br />

Weltpriester, Padre Jocy Rodrigues,<br />

bekannt für seine Volksnähe und seine<br />

im brasilianischen Rhythmus gesungenen<br />

Kirchenlie<strong>der</strong>, gesagt: »Wenn<br />

du zu Beginn einer Predigt die ungeteilte<br />

Aufmerksamkeit deiner Zuhörer<br />

gewinnen willst, also einen guten<br />

›Aufhänger‹ brauchst, dann fang an<br />

mit einer Episode <strong>der</strong> im Moment im<br />

Fernsehen laufenden Telenovela. Alle<br />

Zuhörer spitzen die Ohren, recken die<br />

Hälse und sind gespannt, welche Meinung<br />

wohl <strong>der</strong> Priester über den Inhalt<br />

und Wert <strong>der</strong> am Vorabend gesendeten<br />

Fortsetzungsgeschichte äußern wird.«<br />

Telenovelas in Brasilien: ein Phänomen.<br />

Alle Fernsehkanäle setzen auf<br />

sie. Zuschauerprozente bestimmen,<br />

wie die Geschichte weitergeht. Die<br />

Fernsehkanäle achten sogar auf den<br />

Zeitpunkt ihrer Werbeunterbrechungen<br />

und senden sie zeitgleich mit<br />

ihrer Konkurrenz, damit niemand in<br />

Versuchung kommt, den Kanal zu<br />

wechseln. Die Telenovelas werden<br />

tagtäglich ausgestrahlt, sie laufen<br />

über Monate, eine folgt <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en.<br />

Zielgruppe ist vor allem die arme<br />

Bevölkerung, weil sie leicht manipulierbar<br />

ist und kritiklos schluckt,<br />

was in gefälliger Verpackung auf dem<br />

Tablett <strong>der</strong> Telenovela angeboten<br />

wird: Liebesgeschichten, Familiendramen,<br />

Generations-, Sozial- und<br />

Rassenkonflikte. Es geht um Leidenschaft,<br />

Rache, Intrige, Tragik, Glück,<br />

Geld, Homosexualität, Ehebruch,<br />

Abtreibung, Gewalt. Themen, die<br />

starke Emotionen wecken und – wie<br />

man in Brasilien sagt – den Leuten<br />

»den Kopf machen«, d.h. die Leute<br />

manipuliert. Werte wie Anstand,<br />

Charakterstärke, Ehrlichkeit,<br />

Treue, wahre Liebe, Gradlinigkeit,<br />

Verantwortungsbewusstsein, feste<br />

Prinzipien, religiöse Überzeugungen<br />

werden relativiert o<strong>der</strong> verdreht.<br />

Die Leidenschaft für die Telenovelas<br />

führt bei den Leuten dazu, dass <strong>der</strong><br />

Fernsehapparat bei <strong>der</strong> Anschaffung<br />

von Gebrauchsgegenständen<br />

an erster Stelle steht. Sobald in<br />

einem entlegenen Buschdorf die<br />

erste elektrische Hochleitung gelegt<br />

wird, sprießen auf den strohgedeckten<br />

Dächern <strong>der</strong> Lehmhütten die<br />

Fernsehantennen – ein bizarrer, oft<br />

schockieren<strong>der</strong> Anblick. Selbst wenn<br />

im Dorf die Schule o<strong>der</strong> eine kleine<br />

Gesundheitsstation fehlt, selbst wenn<br />

das Dorf wegen <strong>der</strong> miserablen Straßenverhältnisse<br />

vom Rest <strong>der</strong> Welt<br />

abgeschnitten ist, man kann darauf<br />

wetten, dass im nächsten Wahlkampf<br />

alle Kandidaten die Leute fragen<br />

werden: »Wollt ihr lieber eine Schule,<br />

einen Schotterweg, medizinische<br />

Versorgung, einen Kin<strong>der</strong>garten...<br />

o<strong>der</strong> Fernsehen?« Und es wird wie<br />

aus einem Mund die Antwort kommen:<br />

»Wir wollen das Fernsehen!«<br />

Dass die Politiker dann später das<br />

Fernsehen missbrauchen, um unter<br />

dem Deckmäntelchen <strong>der</strong> Telenovela<br />

ihre schmutzige und korrupte Politik<br />

unter das Volk zu bringen, merken<br />

die Leute nicht.<br />

Die Telenovela ist wie eine Droge.<br />

Wer einmal an <strong>der</strong> Angel hängt,<br />

kommt nicht mehr davon los. Hausfrauen<br />

und Dienstmädchen vertratschen<br />

manche Stunde damit, ob das<br />

arme, schöne Landarbeitermädchen<br />

sich dem reichen Sohn des Großgrundbesitzers<br />

hingeben soll, damit<br />

ihre Eltern <strong>der</strong> drohenden Vertreibung<br />

von ihrem Stückchen Land entgehen,<br />

o<strong>der</strong> ob sie doch lieber den dunkelhäutigen<br />

Sklavenabkömmling heiraten<br />

soll. Selbst das kirchliche Leben steht<br />

unter dem Einfluss <strong>der</strong> Telenovela.<br />

Versammlungen, Katechese, Veranstaltungen,<br />

Gottesdienst werden durch<br />

sie beeinträchtigt. Nachbarschaftsbeziehungen<br />

schlafen ein, Kin<strong>der</strong> spielen<br />

nicht mehr miteinan<strong>der</strong>, Jugendliche<br />

vernachlässigen ihr Lernpensum. Die<br />

Telenovela ist gemeinschaftsverän<strong>der</strong>nd.<br />

Aber in welche Richtung?<br />

Claudio Krämer<br />

P. Claudio Krämer ofm ist Pfarrer<br />

in <strong>der</strong> Gemeinde São Luis Gonzaga<br />

im Nordosten Brasiliens.<br />

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