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Entwicklungsverzögerte Heimkinder? - BSCW

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Theoretische Überlegungen und Fragestellungen – Kinderheim 12<br />

Theorie der Heimerziehung genutzt, was laut Schleiffer verwunderlich ist, da Bowlby seine<br />

Bindungstheorie vor ungefähr 50 Jahren im Kontext der Heimerziehung begründet hat. Die<br />

Bindungstheorie des englischen Psychoanalytikers und Kinderpsychiaters Bowlby wird von<br />

Dornes (2007) näher erläutert. Die Theorie besagt unter anderem, dass der menschliche<br />

Säugling über angeborene Neigung verfügt, die Nähe einer vertrauten Person zu suchen. Mit<br />

dem vom Säugling aktivierten Bindungsverhalten wie Schreien, Lächeln oder Anklammern<br />

wird die Nähe zur vertrauten Person hergestellt, woraus ein Gefühl der Sicherheit folgt.<br />

Aus den interaktiven und kommunikativen Erfahrungen, die der Säugling mit seinen Betreuungspersonen<br />

im Laufe des ersten Lebensjahres macht, resultiert schliesslich ein Gefühl der Bindung oder Gebundenheit,<br />

das, je nach Erfahrung, verschiedene 'Färbungen' annehmen kann, die als unterschiedliche Qualitäten<br />

von Bindung betrachtet werden. (Dornes, 2007, S. 44)<br />

Weiter erwähnt Dornes (2007) die Forschungsergebnisse der US-amerikanischen Psychologin<br />

Mary Ainsworth, die einen wichtigen Beitrag zur Bindungstheorie leistete. Sie erforschte<br />

die Mutter-Kind-Beziehung im ersten Lebensjahr und erstellte in den 60er Jahren eine Skala<br />

zur Messung mütterlicher Feinfühligkeit. Sie hat eine erste Klassifizierung einjähriger Kinder<br />

in sicher gebundene, unsicher gebundene und noch nicht gebundene Kinder vorgenommen.<br />

Kinder, die wenig schrien, wurden als sicher gebunden bezeichnet, solche, die viel schrien,<br />

als unsicher gebunden und jene Kinder, die kein spezifisches Bindungsverhalten zeigten, als<br />

noch nicht gebunden. Bei einem weiteren Projekt von Ainsworth, der Baltimore-Studie, wurden<br />

Familien unter anderem auf deren face-to-face-Interaktion untersucht. Der Häufigkeit<br />

kindlichen Weinens, den kindlichen Gehorsam, der Begrüssen der Mutter und den Folgen bei<br />

Trennungen wurde ebenfalls Beachtung geschenkt. „Für all diese Verhaltensweisen ergaben<br />

sich signifikante Unterschiede in Abhängigkeit von der mütterlichen Feinfühligkeit“ (Dornes,<br />

2007, S. 49). Die mütterliche Feinfühligkeit beinhaltet vier Merkmale: „1. Die Wahrnehmung<br />

der Verhaltensweisen des Säuglings; 2. die zutreffende Interpretation seiner Äusserungen; 3.<br />

die prompte Reaktion darauf; 4. die Angemessenheit der Reaktion“ (Grossmann et al.; zitiert<br />

nach Dornes, 2007, S. 53). Sicher gebundene Kinder mit feinfühligen Müttern waren beispielsweise<br />

viel kooperativer als unsicher gebundene.<br />

Daraus folgend konzipierte Ainsworth das quasiexperimentelle Setting, die Fremde Situation,<br />

die für die Bindungstheorie von grosser Bedeutung war. Die wichtigsten Erkenntnisse waren,<br />

dass Kinder von Bezugspersonen, die im ersten Jahr feinfühlig, also prompt und angemessen,<br />

auf die Signale ihres Kindes eingehen, mit einem Jahr in der Fremden Situation zu den<br />

sicher gebundenen Kindern gehören. Kinder, deren Bezugspersonen inkonsistent reagieren,<br />

werden später eher als ambivalent bezeichnet. Kinder, deren Bezugspersonen mit Kummer<br />

und Trostbedürfnissen eher zurückweisend umgehen, werden in der Fremden Situation als<br />

vermeidend angesehen (vgl. Dornes, 2007).<br />

Die folgende Beschreibung der Fremden Situation bezieht sich auf Ausführungen von Dornes<br />

(2007). Bei der Fremden Situation werden die Bezugsperson und ihr Kind in einen Untersuchungsraum<br />

geführt. Nach einigen Minuten betritt ein Fremder den Raum und nimmt mit der<br />

Bezugsperson und anschliessend mit dem Kind Kontakt auf. Danach verlässt die Bezugsperson<br />

unauffällig den Raum und kehrt nach einigen Minuten wieder zurück. In einem weiteren<br />

Schritt verlässt der Fremde und einige Minuten später auch die Bezugsperson erneut<br />

den Raum. Kurze Zeit später kommt der Fremde zurück in den Raum und macht dem Kind<br />

ein Spiel- oder Trostangebot. Danach betritt die Bezugsperson wieder den Raum und der<br />

Fremde verlässt den Raum. Als massgeblicher Indikator für die Bindungsqualität wird in diesen<br />

jeweils dreiminütigen Sequenzen die Reaktion des Kindes auf die Wiederkehr der Bezugsperson<br />

betrachtet. Dabei wurden drei typische Verhaltensweisen beobachtet. Die erste<br />

Gruppe der Kinder, die sicher gebundenen, zeigen Anzeichen von Kummer, wenn die Bezugsperson<br />

den Raum verlässt. Sie lassen sich von der fremden Person nicht gut trösten.

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