SOZIALES - Berliner Behindertenzeitung
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10 <strong>SOZIALES</strong><br />
BBZ – September 2006<br />
Seit Februar 2006 qualifiziert die<br />
Gesellschaft für Integration, Sozialforschung<br />
und Betriebspädagogik<br />
(ISB) ein gutes Dutzend arbeitsloser,<br />
engagierter Frauen und Männer, deren<br />
Ziel es ist, als persönliche bzw.<br />
Alltags-Assistenten mit behinderten<br />
Menschen zusammenzuarbeiten. Das<br />
Konzept entstand im vergangenen<br />
Jahr im Sachverständigenbüro Seifert<br />
& Schröder „Barrierefreies Leben“.<br />
Es geht darum, den Ansatz der persönlichen<br />
Assistenz – einen zentralen<br />
Begriff der emanzipatorischen Behindertenbewegung<br />
– auch von der Seite<br />
der (potentiellen) Assistentinnen und<br />
Assistenten her auszufüllen. Bisher<br />
steht einseitig der Wunsch, nein: die<br />
(berechtigte) Forderung betroffener<br />
behinderter Menschen im Raum, sich<br />
ihre (zukünftigen) Assistentinnen<br />
und Assistenten selbst auszuwählen,<br />
sie selbst auszubilden und anschließend<br />
auch selbst anzuleiten.<br />
In der Praxis zeigt sich jedoch<br />
nicht selten, dass es gar nicht so einfach<br />
ist, geeignete Kandidatinnen<br />
und Kandidaten (Bewerberinnen<br />
und Bewerber) für diese Tätigkeit<br />
zu finden. Und wenn, dann handelt<br />
es sich häufig um Studentinnen und<br />
Studenten oder andere junge Leute,<br />
die nur einen gewissen Zeitraum<br />
überbrücken und/oder sich neben ihrem<br />
Studium einige Euro verdienen<br />
wollen/müssen. Kontinuierliche und<br />
auf langfristiger Vertrauensbasis beruhende<br />
Beschäftigung – die beiden<br />
Seiten Befriedigung verschafft, den<br />
behinderten Menschen ebenso wie<br />
den Assistentinnen und Assistenten –<br />
ist bisher eher die Ausnahme. Nunmehr<br />
versucht dieses Projekt, diesem<br />
selbstbestimmten Ansatz insofern<br />
entgegen zu kommen, als es Frauen<br />
und Männer, die sich eine solche berufliche<br />
Perspektive auf Dauer wünschen,<br />
genau darauf vorbereitet. Damit<br />
will es die Lücke zwischen dem<br />
hohen Bedarf an geeigneten Assistentinnen<br />
und Assistenten einerseits<br />
und der realen Möglichkeit, sie zu<br />
a n z e i g e<br />
P-ASS – ein Begriff, den man sich merken sollte<br />
P-ASS heißt: Persönliche Assistenz und Alltagshilfe<br />
finden (und zu beschäftigen), anderseits<br />
schließen helfen.<br />
Investition in ambulante Strukturen<br />
statt in Beton lenken<br />
Wenn wir – in Berlin und bundesweit<br />
– tatsächlich dazu kommen wollen,<br />
zukünftig nicht mehr in Beton<br />
(Heime) sondern in funktionierende<br />
ambulante Strukturen (Alltagsassistenz)<br />
zu investieren, muss sich eine<br />
regelrechte Berufsgruppe der persönlichen<br />
bzw. Alltagsassistenten<br />
etablieren. Mit eigenen Strukturen.<br />
Mit wem sonst sollten wir – z.B. als<br />
behinderte Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber<br />
– denn sonst Tarifverhandlungen<br />
führen? Wo sollte ansonsten<br />
der Erfahrungsaustausch unter den<br />
Assistentinnen und Assistenten stattfinden?<br />
Schließlich können wir – die<br />
emanzipatorische Behindertenbewegung<br />
– nicht wollen, dass unsere<br />
Assistentinnen und Assistenten, mit<br />
denen wir ja z.T. sehr intime und<br />
höchstpersönliche Erfahrungen teilen<br />
(müssen), ungebildet, unorganisiert<br />
und quasi unmündig bleiben.<br />
Ausgangspunkt der jetzigen Ausbildung<br />
– die durchaus Testcharakter<br />
hat – war, ist und wird wohl noch<br />
etliche Zeit bleiben, dass Menschen<br />
mit Einschränkungen, darunter auch<br />
Menschen mit Behinderungen und<br />
deren Angehörige oftmals über das<br />
Maß der Belastbarkeit beansprucht<br />
sind. Daneben steigt die Zahl der<br />
Menschen, die unverschuldet aus<br />
dem Arbeitsleben gerissen werden<br />
und in ein soziales Abseits gelangen.<br />
Beide Gruppen zusammenzuführen<br />
und in eine sinnvolle Ergänzung hineinwachsen<br />
zu lassen, erscheint als<br />
lohnendes Ziel.<br />
Das Projekt entwickelt gewissermaßen<br />
die Grundlage für ein neues<br />
Berufsbild: Persönlicher bzw. Alltagsassistent.<br />
In einer zunehmend<br />
auf Dienstleistungen – nicht zuletzt<br />
im sozialen Bereich – orientierten<br />
Gesellschaft kann es ein angemessen<br />
passendes Glied gleichberechtigter<br />
Teilhabe werden. Ein neues Berufsbild<br />
zu entwickeln – und schließlich<br />
offiziell anerkennen zu lassen –, setzt<br />
auf vielen Seiten Bereitschaft und<br />
Engagement voraus. Die Teilnehmerinnen<br />
und Teilnehmern des ersten<br />
Kurses sind von hoher Motivation<br />
getragen. Gleiches kann von den Ausbilderinnen<br />
und Ausbildern – auch<br />
vom ISB als Träger – gesagt werden.<br />
Mit diesem Erfahrungshintergrund ist<br />
nun auch eine breitere Öffentlichkeit –<br />
insbesondere potentieller Assistenz-<br />
Nehmerinnen und -nehmer – aufgerufen,<br />
ihre Erfahrungen, Wünsche,<br />
Anregungen einzubringen. Letztendlich<br />
müssen Betroffene selbst ihren<br />
Bedarf an unterstützender Begleitung<br />
benennen und auch einfordern.<br />
Was soll und will P-ASS?<br />
Oder: was will und soll P-ASS nicht?<br />
Die Ausbildung beinhaltet das<br />
theoretische Bekanntmachen mit<br />
Lebensbedingungen von Menschen<br />
mit Beeinträchtigungen, deren Lebensumstände<br />
und deren berechtigte<br />
Ansprüche auf gleichberechtigte<br />
Teilhabe am gesellschaftlichen Leben<br />
und individuelle Persönlichkeitsentfaltung.<br />
Mehreren Praktikums-Perioden<br />
vertiefen und verbreitern dieses<br />
Wissen. Der Kernsatz: „Menschen<br />
mit Behinderungen sind nicht krank,<br />
sie bedürfen nicht der „Pflege“ sondern<br />
der begleitenden Unterstützung<br />
zur aktiven Teilhabe am gesellschaftlichen<br />
Leben und der individuellen<br />
Persönlichkeitsentfaltung“ steht als<br />
Leitmotiv über der Ausbildung.<br />
Es wird also vermittelt, dass auch<br />
für Assistentinnen und Assistenten<br />
in erster Linie die Selbstbestimmung<br />
und Selbständigkeit der Betroffenen<br />
(Behinderten) im Mittelpunkt<br />
zu stehen hat. Das schließt ein, den<br />
unterschiedlichen Unterstützungsbedarf<br />
darzustellen. Die Bedeutung<br />
des Aufbaus einer individuell abgestimmten<br />
Kommunikationsebene,<br />
die für beide Seiten zur Verständigung<br />
und zum Verständnis führt,<br />
nimmt einen zentralen Platz ein. Das<br />
soll die zukünftigen Alltagsassistentinnen<br />
und Alltagsassistenten auch<br />
befähigen, ihren Beruf mit Menschen<br />
auszuüben, deren Lern- und sonstigen<br />
Kommunikationsschwierigkeiten<br />
bisher immer noch als „Argument“<br />
gegen die flächendeckende Einführung<br />
selbstbestimmter ambulanter<br />
Assistenz-Strukturen ins Feld geführt<br />
werden. Deshalb vermittelt die<br />
Ausbildung auch die Kleine Kran-<br />
kenpflege, Einführung in die Psychologie,<br />
in das Recht, die häusliche<br />
Hilfe, Mobilitätshilfe, um nur einiges<br />
zu nennen. Das bildet aber nicht den<br />
Schwerpunkt, sondern ist ergänzendes<br />
Begleitwissen. Dieser Kurs verabschiedet<br />
also alles andere als neue<br />
Pflegehelferinnen und Pflegehelfer.<br />
Dafür steht im Vordergrund, dass ein<br />
Vertrauensverhältnis zwischen Assistenznehmerinnen<br />
und Assistenznehmern<br />
und deren Assistentinnen und<br />
Assistenten aufgebaut und gepflegt<br />
werden muss. Von beiden Seiten.<br />
Was dieses Projekt nicht leisten<br />
kann, ist die Klärung der Finanzierungsprobleme.<br />
Noch bleibt also<br />
offen, woher die zukünftigen Assistentinnen<br />
und Assistenten ihren<br />
angemessenen Lohn erhalten. Diese<br />
Fragen müssen wir – die Behindertenbewegung<br />
– politisch klären. Das<br />
wird noch ein gutes Stück Arbeit.<br />
Bietet Praktikums-Plätze!<br />
Die bisherige Praxis, zeitweilig<br />
Beschäftigte Dienste ausführen<br />
zu lassen, wird durch die Arbeitsmarktpolitik,<br />
aber auch durch den<br />
Abbau von Zivildienstleistenden<br />
beeinträchtigt. Da der Gesetzgeber<br />
die persönliche Assistenz als einforderbares<br />
Recht beschrieb, müssen<br />
solche Dienste höhere Anerkennung<br />
erhalten, darunter materielle und<br />
strukturelle Sicherheit. Um diesem<br />
neuen Berufsbild den Weg zu ebnen<br />
und zur Anerkennung zu verhelfen,<br />
bedarf es der Unterstützung aller<br />
Beteiligten, vor allem der potentiellen<br />
Assistenznehmerinnen und Assistenznehmer.<br />
Deshalb will dieser Artikel nicht<br />
nur ein Berufsbild mit Zukunft vorstellen,<br />
sondern gleichzeitig um die<br />
Bereitschaft werben, individuelle<br />
Praktikummöglichkeiten zu schaffen.<br />
So lernen zukünftige behinderte<br />
Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber<br />
vielleicht geeignete Assistentinnen<br />
und Assistenten kennen. Vor allem<br />
aber versetzen sie sich dadurch in die<br />
Lage, ihre persönlichen Erfahrungen<br />
qualifiziert einzubringen. So kann<br />
unsere Vision vom selbstbestimmten<br />
Leben mit Alltagsassistenz wieder<br />
ein Stückchen realistischer werden.<br />
So können wir Vorurteile abbauen<br />
helfen, eigene Unzulänglichkeiten erkennen<br />
und korrigieren und schließlich<br />
auch die – noch immer äußerst<br />
schwierigen – Finanzierungsfragen<br />
mit wesentlich zuverlässigeren Erfahrungswerten<br />
klären.<br />
Ilja Seifert und Christian Schröder