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3.1 Zur Psycho® und Sozlodynamlk des Kindes - elearning.hawk ...

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<strong>3.1</strong> <strong>Zur</strong> <strong>Psycho®</strong> <strong>und</strong> <strong>Sozlodynamlk</strong><br />

<strong>des</strong> Kin<strong>des</strong>- <strong>und</strong> Jugendalters<br />

as Aufwachsen von Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen verläuft nach<br />

einem Sozialisationsmodus, der vor allem durch die entwicklungsdynamische<br />

Auseinandersetzung mit sich selbst, in Interaktion<br />

mit einer auf diese Entwicklung eingestellten sozialen<br />

Umwelt, gekennzeichnet ist: Sozialisation 1 mit Schwerpunkt<br />

auf der Person also. Aber schon hier beginnen die geschlechtstypischen<br />

Probleme: Jungen werden in ihrem Selbstbezug<br />

eher nach außen gedrängt <strong>und</strong> suchen sich entsprechend<br />

mehr im Außen ihren geschlechtswirksamen Identifikationsraum.<br />

Das gesellschaftlich vermittelte männliche' Prinzip der<br />

Externalisierung (s.o.) spielt von Anfang an in das Sozialisationsgeschehen<br />

hinein. Damit kommt es für die männliche Sozialisation<br />

im Kin<strong>des</strong>- <strong>und</strong> Jugendalter darauf an, wie diese<br />

Außenräume strukturiert, geschützt oder der Gesellschaft ausgesetzt<br />

sind. Davon hängt es letztlich ab, wie sich das Jungesein<br />

<strong>und</strong> Mannwerden gestaltet bzw. ob <strong>und</strong> wie ungerichtete<br />

Maskulinität freigesetzt wird. Hier kommen früh die neuen<br />

Medien (s.o.) ins Spiel, deren verdeckte geschlechtsauffordernde<br />

Identifikationsaufgabe gerade angesichts der Entgrenzung<br />

der Jugend, d.h. der Erosion <strong>des</strong> lebensaltertypischen<br />

Moratoriums, sozialisationswirksam wird (Sozialisation 11).<br />

Dennoch bleibt Sozialisation I, der entwicklungsdynamische<br />

Prozess der umweltgerahmten Auseinandersetzung mit sich<br />

selbst, kennzeichnend für das Aufwachsen von Kindern <strong>und</strong><br />

Jugendlichen in unserer Gesellschaft. Dies hängt vor allem<br />

damit zusammen, dass dieser Prozess wesentlich bestimmt ist<br />

89


durch das physische <strong>und</strong> psychische Entwicklungs- <strong>und</strong> Reifungsgeschehen,<br />

das in der Interaktion mit der sozialen Umwelt<br />

sein eigentümliches Magnetfeld ausbildet. Deshalb will<br />

ich in einem ersten allgemeinen Schritt eine thematisch entsprechende<br />

Gr<strong>und</strong>schicht' anlegen, auf der dann das Argumentationsgebäude<br />

männlicher Sozialisation im Kin<strong>des</strong>- <strong>und</strong><br />

Jugendalter errichtet werden kann.<br />

Kinder müssen von Geburt an anerkannt bekommen, dass sie<br />

aus sich selbst heraus etwas sind, sie müssen fühlen können,<br />

dass das was aus ihnen kommt, nicht von vornherein abgewertet<br />

wird, sie brauchen die Erfahrung, dass ihre Gefühle aufgenommen<br />

werden <strong>und</strong> außen etwas bewirken, indem auf sie<br />

eingegangen wird, wie sie sind. Das meint Donald Winnicotts<br />

egriff von der „fördernden Umwelt" (1984). Rigide soziale<br />

Anpassung <strong>und</strong> Abwertung der kindlichen Gefühle erzeugt<br />

innere Hilflosigkeit, die abgespalten, von der abstrahiert werden<br />

muss <strong>und</strong> die sich dann als Hass auf das Schwache in sich<br />

selbst <strong>und</strong> Hass auf alles Hilflose, Schwache, fremde in der<br />

Umwelt äußert (so das Modell nach Gruen). Winnicott sieht in<br />

ähnlicher Weise die frühe Spannung von Aggressivität <strong>und</strong><br />

Kreativität: Wenn das Kind spürt, dass es seine Umwelt mit<br />

erschaffen kann, indem diese es versteht <strong>und</strong> seine Impulse<br />

aufnimmt <strong>und</strong> ihm neu (nun in der Interaktion sozial eingeb<strong>und</strong>en)<br />

zurückgibt, dann entsteht eine kreative Gefühlsspannung,<br />

in der das Aggressive der selbstbezogenen, narzisstischen<br />

Äußerung aufgeht. Aggressivität muss ja immer als auf<br />

die Wahrung der psychophysischen Integrität <strong>des</strong> Selbst bezogene<br />

Aktivität verstanden werden. Dieses Behauptungsmotiv<br />

durchzieht die gesamte Sozialisation <strong>des</strong> Kin<strong>des</strong>- <strong>und</strong> Jugendalters.<br />

Krappmann/®swald (1995) sehen z.B. das Verhalten<br />

von Schulkindern untereinander <strong>und</strong> den Kindergruppen durch<br />

dieses leibseelische Integritätsprinzip gesteuert <strong>und</strong> deuten die<br />

Aggression in Kindergruppen untereinander in diesem Sinne<br />

als Versuche der gegenseitigen Wahrung von räumlichen Integritätszonen.<br />

Solche selbstbezogene Aggressivität prägt<br />

auch das Bewältigungsverhalten in kritischen Lebenssituationen.<br />

So wird plausibel, wie eng das Problem der IIandlungsfcihigkeit<br />

in solchen Lebenssituationen rückgeb<strong>und</strong>en ist an<br />

die triebstrukturell gespeiste Aggressivität als Verteidigung<br />

<strong>des</strong> Selbst, <strong>und</strong> dass diese einem näher ist als die einzuhalten-<br />

9®<br />

de Norm. Vor allem Winnicott hat immer wieder darauf insistiert,<br />

dass Aggressivität erst einmal als triebgeb<strong>und</strong>ene Aktivität<br />

zu verstehen ist <strong>und</strong> dass es auf die Umwelt ankommt, wie<br />

sie diese Aggressivität zulässt <strong>und</strong> ob es ihr gelingt, mit zu<br />

helfen, Aggressivität in Kreativität umzuwandeln.<br />

Aggressive Aktivitäten (als sozial gerichtete Triebimpulse)<br />

entwickeln sich dann kreativ, wenn das Kind die soziale Umwelt,<br />

auf die sich seine Aktivität richtet als „unzerstörbar"<br />

(Winnicott) erfährt. Das heißt, seine (nach außen „zerstörerisehen")<br />

aggressiven Impulse werden für das Kind nicht gefährlich,<br />

schlagen nicht unvermittelt zurück, werden aufgenommen<br />

<strong>und</strong> in dieser nun an die Umwelt geb<strong>und</strong>ene Aufnahme<br />

zurückgegeben. Das Kind kann also mit seinen Aggressionen<br />

experimentieren, erfährt dabei Möglichkeiten <strong>und</strong><br />

Grenzen, entwickelt eine Gewissheit <strong>des</strong> Selbst, die nicht immer<br />

wieder neu aufgebaut werden muss, weil ja in ihm die Erfahrung<br />

<strong>des</strong> „begrenzten" Experimentierenkönnens gewachsen<br />

ist.<br />

Antisoziale Tendenzen dagegen treten dann ein, wenn das<br />

Kind seine Umwelt als zerstörbar erfährt, das heißt wenn seiner<br />

Aggression nichts entgegengesetzt wird, wenn die aggressiven<br />

Impulse für das Kind grenzenlos werden <strong>und</strong> irgendwann<br />

- aus einer nicht mehr überschaubaren Umwelt heraus<br />

auf ein nicht mehr beherrschbares Selbst - zurückschlagen.<br />

ies ist im Kinder-Familien-Bezug vor allem dann zu erwarten,<br />

wenn das Kind die bisher als unzerstörbar erlebte Umwelt<br />

verliert: Z.B. beim Auseinanderbrechen der Familie, bei extremer<br />

Entfremdung der Eltern, aber auch bei stetig zunehmender<br />

Inkonsistenz <strong>und</strong> Unüberschaubarkeit der Familienabläufe<br />

<strong>und</strong> der dadurch für das Kind entstehenden alltäglichen<br />

Überforderungskonstellationen. So büßt das Find eine familiale<br />

Umwelt ein, .,die dem Kind die Erforschung zerstörerischer<br />

Aktivitäten im Bezug auf Trieberfahrungen ermöglichte"<br />

(Winnicott, zit. nach Davis/Wallbridge 1983, S. 126).<br />

Das Gefühl <strong>des</strong> Verlustes einer unzerstörbaren Umwelt kann<br />

bei Kindern vor allem dann aufkommen, wenn Ängste <strong>und</strong><br />

Verwirrungen im Hinblick auf die Beziehungen zu Menschen,<br />

die einem nahe sind („Objektverluste") entstehen. Sie werden<br />

belastet, weil sie nun selbst die Kontrolle übernehmen sollen,<br />

9 1


die für sie vorher in der unzerstörbaren Umwelt gegeben war.<br />

In dieser diffusen Überforderung schlagen die Aggressivitätsantriebe<br />

auf das Kind zurück: Sowohl als Ängste angesichts<br />

<strong>des</strong> Kontrollverlustes als auch als Erfahrung der schutzlosen<br />

Preisgabe <strong>des</strong> Selbst, da die Aggression nicht mehr von sich<br />

aus bewältigbar erscheint.<br />

Selbstwert <strong>und</strong> Selbstbehauptung werden wieder zu fragilen<br />

ezügen, wenn das Kind aus der Familie <strong>und</strong> der familialen<br />

Nachwelt heraustritt <strong>und</strong> sich gleichermaßen seine „zweite"<br />

fördernde Umwelt machen muss. Gerade weil es als Kind im<br />

Alter von 10-14 Jahren schon früh beginnt sich von der Herkunftsfamilie<br />

abzulösen - gleichzeitig aber auf sie immer noch<br />

angewiesen bleibt -, gerät es in eine ambivalente Situation.<br />

Auch wenn in der Familie die Zuwendungsbalance klappt,<br />

muss das Kind auch „draußen" sozial-emotionale Anerkennung<br />

finden können. Gerade Jungen sind - spätestens im mittleren<br />

Kin<strong>des</strong>alter - zunehmend am außerfamilialen Nahraum<br />

orientiert. Finden sie dort keine das Selbst bestärkenden <strong>und</strong><br />

ermutigenden sozialen Bezüge, sind sie auf Wege angewiesen<br />

bzw. von solchen Wegen angezogen, die abseits der sozial legitimen<br />

<strong>und</strong> konformen Zugänge liegen, um Aufmerksamkeit<br />

<strong>und</strong> soziale Zuwendung zu erreichen. In der in diesem Alter<br />

bereits ausgeprägten Gleichaltrigenkultur finden sich solche<br />

sozial entmutigten Jungen dann oft in Cliquen, welche das<br />

psychosozial gesuchte abweichende Verhalten organisieren<br />

<strong>und</strong> ermutigend zurückspiegeln können. Dies alles wird dadurch<br />

verstärkt, dass es sich hier um ein frühpubertäres Alter<br />

handelt, in dem der fragile Übergangszustand der körperlichseelischen<br />

Entwicklung den Selbstbehauptungsdrang verstärkt<br />

<strong>und</strong> den biografisch bisher erworbenen Selbstwert schwächt.<br />

Der narzisstische Schub in der Pubertät in die Unwirklichkeit<br />

<strong>des</strong> Ichs verfängt sich so in einer bereits aufgebauten antisozialen<br />

Tendenz, wodurch das antisoziale <strong>und</strong> abweichende Verhalten<br />

für diese Kinder „unwirklich", d.h. den Realitätsprinzipien<br />

<strong>und</strong> Definitionen einer rationalen gesellschaftlichen<br />

Umwelt entzogen <strong>und</strong> daher wenig zugänglich ist.<br />

In der Jugendphase gerät der Selbstbehauptungstrieb - nach<br />

der Latenzzeit', in der sich die Intimsphäre ausbildet (vgl.<br />

Milhoffer 2000) - in der leibseelischen Eruption der Pubertät<br />

92<br />

aus der psychosozialen Balance <strong>und</strong> erfährt eine aggressive<br />

Freisetzung. Es spielen sich nun Dinge ab, die wir aus der<br />

Aggressionsthematik der frühen Kindheit kennen, die sich aber<br />

in der Adoleszenz nicht einfach wiederholen, sondern aus<br />

einem Selbst hervorbrechen, das inzwischen - über die Kindheit<br />

hinaus - sozial geworden ist, dieses Gewordensein aber<br />

nicht begreifen, für sich in Anspruch nehmen kann, weil es<br />

sich von seiner familialen Form lösen muss. Das Selbst ist nun<br />

gezwungen neu zu werden <strong>und</strong> - im Übergang von der emotionalen<br />

Geborgenheit der Familie zur rationalen Selbstständigkeitswelt<br />

der gesellschaftlichen Kultur, die sich nun in qualifikationsgerichteten<br />

Bildungs- <strong>und</strong> Arbeitsstrukturen manifestiert<br />

(Erdheim 1988) -, aus sich selbst heraus eine Lebensperspektive<br />

zu finden. Diese Suche richtet sich - im Schwebe<strong>und</strong><br />

Isolationszustand <strong>des</strong> Ablösenmüssens von einer vorangegangenen<br />

Realität (familiales Selbst) <strong>und</strong> im Suchen nach<br />

einer noch nicht feststehenden oder gekannten Realität (gesellschaftlich<br />

gerichtetes Selbst) - an dem eigenen „unfertigen"<br />

Zustand als Jugendliche(r) <strong>und</strong> damit an einer psychischen<br />

<strong>und</strong> sozialen „Unwirklichkeit" (Winnicott) aus. Dieses<br />

Unwirkliche ist aber die Wirklichkeit <strong>des</strong> Selbst. Getragen<br />

von einem in der Pubertät freigesetzten Aggressions-<br />

(Selbstbehauptungs-)trieb entsteht so jugendlicher Protest mit<br />

potentiell antisozialer Tendenz. Der ungehemmte Narziss wird<br />

zum hauptsächlichen Orientierungssinn, das unwirkliche<br />

Selbst zum Dreh- <strong>und</strong> Angelpunkt einer Welt in die man nicht<br />

mehr <strong>und</strong> noch nicht gehört (Erdheim 1988). Das von Karl<br />

Mannheim (1965) aufgestellte Theorem, die moderne Jugend<br />

zeichne sich durch Rücksichtslosigkeit gegenüber dem Alten<br />

<strong>und</strong> durch Bereitschaft für alles Neue aus (egal in welche<br />

ichtung es zeigt), hat hier seinen tiefenstrukturellen Gr<strong>und</strong>.<br />

iese Unwirklichkeit <strong>des</strong> Selbst strukturiert den inneren Protest,<br />

der nun aus der Familie heraustritt <strong>und</strong> sich - nicht mehr<br />

nur als Abwehr wie in der Kindheit - in die neue soziale<br />

Selbstständigkeit verlängert. Dem innerlich Unwirklichen entspricht<br />

äußerlich das von der gesellschaftlichen Wirklichkeit<br />

Abweichende, ihr Entgegengesetzte: „Weil alles in der<br />

Schwebe ist, fühlen sie sich unwirklich <strong>und</strong> tun <strong>des</strong>halb gewisse<br />

Dinge, die sie als wirklich empfinden <strong>und</strong> die nun allzu<br />

93


wirklich sind im Sinne, dass die Gesellschaft davon betroffen<br />

wird" (Winnicott, zit. nach Davis/Wallbridge 1983, S. 172).<br />

3.2 Dis Aufwachsen von Jungen e<br />

ein Strukturmodell<br />

Jungen müssen sich - anders als Mädchen - früh aus der symbiotischen<br />

Geborgenheit bei der Mutter lösen, um die Orientierung<br />

an einer männlichen Geschlechteridentität zu finden<br />

(vgl. Benjamin 1990) <strong>und</strong> werden dann auch in der Pubertät<br />

mit einer entsprechend anderen körperlich-seelischen Dramaturgie<br />

konfrontiert. Der Zweifel, ob man „ein richtiger Mann<br />

ist", sitzt im Durchschnitt bei Jungen <strong>und</strong> Männern tief.<br />

Die frühkindliche Suche nach männlicher Geschlechteridentität<br />

ist also zuerst durch das Bindungs-/Ablösungsverhältnis<br />

zur Mutter <strong>und</strong> dann durch das - mit ihm konkurrierenden <strong>und</strong><br />

ihn zugleich suchende - Verlangen nach dem „männlichen"<br />

Vater (oder einer vergleichbaren männlichen Bezugsperson)<br />

bestimmt. Für viele Jungen ist es aber schwer über den Vater -<br />

oder eine ähnlich nahe männliche Bezugsperson - jene Alltagsidentifikation<br />

zu bekommen, die er braucht, um in ein<br />

ganzheitliches - Stärken <strong>und</strong> Schwächen gleichermaßen verkörpern<strong>des</strong><br />

- Mannsein hineinwachsen zu können. Die Männer<br />

sind ja nicht nur räumlich (zum Beispiel über die Berufsrolle),<br />

sondern oft auch „mental" abwesend, wenn sie zu Hause sind,<br />

sich aber wenig um die häusliche Beziehungsarbeit kümmern.<br />

Diese obliegt meist der Mutter, die sich dem Jungen in ihren<br />

Stärken <strong>und</strong> Schwächen zeigt. Die Schwächen <strong>des</strong> Vaters <strong>und</strong><br />

seine alltäglichen Nöte <strong>des</strong> Mannseins - z.B. das Ausgesetztsein<br />

<strong>und</strong> die Verletzungen im Beruf - werden dagegen für den<br />

Jungen selten sichtbar. So erhält er ein einseitiges Vaterbild,<br />

das durch die „starken" Männerbilder, die der Junge mit zunehmendem<br />

Alter über die Medien wahrnimmt, noch verfestigt<br />

wird. Dies führt bei ihm zwangsläufig zur Idolisierung <strong>des</strong><br />

Mannseins <strong>und</strong> zur Abwertung <strong>des</strong> Gefühlsmäßigen, Schwachen,<br />

„Weiblichen", da er die eigenen weiblichen Gefühlsanteile,<br />

die er ja seit der frühkindlichen Verschmelzung mit der<br />

Mutter in sich trägt, immer weniger ausleben kann. Diesen<br />

Zusammenhang hat Nancy Chodorow in ihrem Modell der<br />

„IJmwegidentifkation" systematisiert (s. Kasten). Neuere Väterstudien<br />

(s.u.) zeigen, dass sich eine höhere Beziehungs- <strong>und</strong><br />

damit alltägliche Vorbildqualität entwickelt, wenn Väter zeitlich<br />

<strong>und</strong> emotional intensiver in der Sphäre der Familie auftauchen.<br />

Freilich hat sich dabei noch nicht viel Gr<strong>und</strong>legen<strong>des</strong><br />

an der Struktur väterlichen Familienengagements im Sinne<br />

männlicher Beziehungs- <strong>und</strong> Hausarbeit geändert. Dazu<br />

braucht es auch gesellschaftliche Vorgaben der Anerkennung<br />

<strong>und</strong> Förderung männlicher Hausarbeit. Denn mit der Entgrenzung<br />

der Arbeitsgesellschaft lässt auch die „Feminisierung"<br />

der Erwerbsarbeit in diesem Zusammenhang ambivalente Folgen<br />

erwarten. Indem das Normalarbeitsverhältnis erodiert,<br />

prekäre Arbeitsverhältnisse im Sinne von mangelnder sozialer<br />

Sicherung, schlechter Bezahlung <strong>und</strong> Arbeitsplatzunsicherheit<br />

auch die Männer erreichen, werden sich viele erst recht an die<br />

traditionelle Erwerbsarbeit klammern, wenn die alternativen<br />

Bereiche der Hausarbeit keine anerkannte Männerrolle versprechen.<br />

Deshalb ist es schon in der Kindheit für den Jungen<br />

wichtig, eine Mutter zu erleben, die sowohl dem Vater als auch<br />

dem -Jungen gegenüber anerkannte Selbstständigkeit über die<br />

Familie hinaus verkörpert <strong>und</strong> damit signalisiert, dass sie dem<br />

Jungen auch soziale Rollenvorbilder anbieten kann. Dies ist<br />

wohl auch der Punkt, an dem die Forderung von Sozialpolitikerinnen,<br />

die Frau in der Familie müsse eine exit-option haben<br />

(das heißt materiell <strong>und</strong> sozial gegenüber dem Mann unabhängig<br />

sein können, wenn die Partnerschaft selbstbestimmt funktionieren<br />

soll), für das Aufwachsen <strong>und</strong> die Erziehung von Jungen<br />

bedeutsam ist. Ist die Mutter dagegen eher abhängig <strong>und</strong><br />

daher mit schwachem Selbstwertgefühl ausgestattet, kann sich<br />

bei ihr die unbewusste Tendenz verstärken, den Sohn als<br />

männlich stark erleben zu wollen. Gleichzeitig ist sie aber in<br />

dieser Zumutung an den Jungen auch wieder nicht eindeutig.<br />

„Je wertloser sich die Frau als Subjekt fühlt, <strong>des</strong>to größer<br />

werden ihre Widerstände sein, sich auf die vielfältigen Anforderungen<br />

<strong>des</strong> außerordentlich komplexen Prozesses der Symbiose<br />

<strong>und</strong> ihrer Auflösung einzulassen, <strong>des</strong>to schwerer fällt es<br />

ihr, das Kind aus der Symbiose zu entlassen, weil die Verheißungen<br />

unerfüllt geblieben sind". Der Junge „soll ihren (unbewussten)<br />

Ängsten von Sinnentleerung <strong>und</strong> Identitätsverlust<br />

entgegenwirken, indem er unerfüllte erwachsene Bedürfnisse<br />

94 95


efriedigen helfen soll, was er nicht kann" (Menzel 1993, S.<br />

16). Diese gespürte Überforderung kann den Jungen weiter in<br />

den Sog der Idolisierung <strong>des</strong> Männlichen <strong>und</strong> Abwertung <strong>des</strong><br />

Weiblichen treiben lassen.<br />

96<br />

Umwegidentifikation<br />

Die alltägliche Bindungsintensität der Mutter <strong>und</strong> die mangelnde<br />

Alltagspräsenz <strong>des</strong> Vaters erschweren dem kleinen<br />

Jungen die männliche Geschlechteridentifikation, zu der ihn<br />

nicht zuletzt die frühe körperliche Entdeckung seines geschlechtlichen<br />

Andersseins zwingt. Da die Prozesse der Identitätsfindung<br />

von den Möglichkeiten der Alltogsidentifikation<br />

abhängig sind, rückt die Mutter als alltagspräsentes Identifikationsobjekt<br />

zwangsläufig in den Mittelpunkt der kindlichen<br />

Suche nach männlicher Geschlechteridentität. Die Mutter verhält<br />

sich hier meist ambivalent: Auf der einen Seite will sie<br />

den Sohn sich „als Mann" entwickeln sehen, andererseits kann<br />

sie aber - über das Mutter-Kind-Verhältnis hinaus - keine<br />

männlichkeitsauffordernde Geschlechterbeziehung zum Jungen<br />

bei sich zulassen. Der kleine Junge spürt, dass er von der<br />

Mutter gleichzeitig „zum Mann" ermuntert <strong>und</strong> zurückgewiesen<br />

wird. In dieser zwiespältigen Beziehungskonstellation ist<br />

der Junge - weil die Mutter ja alltagsverfügbares Identifikationsobjekt<br />

ist - auf eine „Umwegidentifikation" angewiesen<br />

(Ilagemann-White 1954, S. 90ff). „Mann sein" wird an dem<br />

gemessen, was man an sich selbst <strong>und</strong> den Männern seiner<br />

Umgebung sieht - bei sich selbst vor allem den Penis, bei den<br />

„großen" Männern das maskulin-dominante Auftreten -, <strong>und</strong><br />

mit dem verglichen, was die Mutter hat bzw. nicht hat. So<br />

wird die Mutter als „Nicht-Mann" erkannt. Die prägnanteste<br />

Wahrnehmung dabei ist, dass die Frau keinen Penis hat (ebd.,<br />

S. 82), später gilt der Blick <strong>des</strong> Jungen dem weiblichen Habitus<br />

<strong>und</strong> dem Rollenverhalten der Mutter <strong>und</strong> anderer Frauen in<br />

der näheren Umgebung. Da der Vater nur partiell in seinen<br />

demonstrierten Stärken (Ausnahmeverhalten) präsent ist <strong>und</strong><br />

zudem die Mutter oft auch stellvertretend für ihn, aber in seinem<br />

Namen, agiert, erscheint der Vater übermächtig. Der alltägliche<br />

Zwang zur Umwegidentifikation <strong>und</strong> die Idolisierung<br />

<strong>des</strong> Männlichen gehen beim Jungen ineinander über. Nancy<br />

Ghodorow (1985) hat versucht, die Ablaufslogik dieser Um-<br />

wegdefnition aufzuschließen <strong>und</strong> ist dabei zu einem erweiterten,<br />

kummulativen Modell der Mann = blicht-Nicht-Mann gekommen.<br />

Danach läuft die männliche Geschlechtsidentifikation<br />

nicht direkt über die Mutter als blicht-Mann, sondern über<br />

die Distanzierung, Negation <strong>und</strong> Abwertung von den sichtbaren<br />

weiblichen <strong>und</strong> damit nicht männlichen Geschlechtsmerkmalen<br />

<strong>und</strong> Ausdrucksformen ab. So ist dem Jungen eine<br />

männliche Perspektive eröffnet, da über die Nicht-Nicht-<br />

Mann-Perspektive - in mathematischer Analogie (minus mal<br />

minus ist gleich plus) - eine positive Wendung zur „männlichen<br />

Identifikation am Weiblichen" hin möglich wird.<br />

Eben aus diesem strukturellen Zwang zur Umwegidentifikation<br />

resultieren die Antriebe zur Idolisierung <strong>des</strong> Männlichen<br />

<strong>und</strong> Abwertung <strong>des</strong> Weiblichen, die dann später durch die soziale<br />

<strong>und</strong> mediale Umwelt verstärkt oder reduziert werden<br />

können. Eine Gegensteuerung ist vor allem dann erfolgversprechend,<br />

wenn der Vater früh <strong>und</strong> alltäglich seinen ganzheitlichen<br />

Anteil an der Beziehung zum Jungen übernimmt, die<br />

Mutter dem Sohn als selbstständige <strong>und</strong> egalitäre Instanz gegenübertreten<br />

kann <strong>und</strong> in den begleitenden Institutionen der<br />

Kindererziehung auch genügend männliche Erzieher vorhanden<br />

sind. Ganz wird sich dieses tiefenwirksame Strukturmodell<br />

der Umwegidentifikation aber nie auflösen lassen, ist es<br />

doch an die Naturtatsache <strong>des</strong> Gebärenkönnens <strong>und</strong> die daraus<br />

folgende Mutter-Kind-Symbiose geb<strong>und</strong>en. Das können auch<br />

Väter bestätigen, die die Möglichkeit <strong>des</strong> Erziehungsurlaubs<br />

voll ausgeschöpft haben. Das bedeutet aber nicht, dass Jungen<br />

<strong>und</strong> Männer dieser tiefenstrukturell-funktional wirksamen<br />

Konstellation <strong>des</strong> Mannwerdens ohnmächtig ausgesetzt sind.<br />

Denn es handelt sich hier nicht um einen deterministischen<br />

Sachverhalt, sondern um eine Spannung, die biografisch produktiv<br />

bewältigt werden kann, auch wenn sich jeder Junge <strong>und</strong><br />

Mann im Verlauf seines Lebens immer wieder dabei ertappt,<br />

dass solche Idolisierungs- <strong>und</strong> Abwertungsgefühle bei ihm<br />

aufkeimen <strong>und</strong> ihn anrühren, auch wenn er sonst für sich in<br />

Anspruch nimmt, sie rational überw<strong>und</strong>en zu haben.<br />

Die Idolisierung <strong>des</strong> Männlichen <strong>und</strong> Abwertung <strong>des</strong> Weiblichen<br />

wird auch durch das immer noch wirkende Homosexualitätstabu<br />

(s. Exkurs) eigentümlich verstärkt. Gerade weil ab<br />

97


Experten an die Jungen <strong>und</strong> den offenbarten Einstellungen der<br />

Jungen selbst. Die Ergebnisse legen die "These nahe, dass dort,<br />

wo Jungen ihre Jugend ausleben <strong>und</strong> sich mit sich selbst auseinandersetzen<br />

können, ihre - bisher sozial übergangenen - inneren<br />

Qualitäten frei werden können. Wenn allerdings in der<br />

Studie von gesellschaftlichen Bereichen die Rede ist, die jenseits<br />

der Jugendkultur liegen - zum Beispiel eben die Schule,<br />

die Berufsperspektive oder die kommunale Öffentlichkeit -<br />

haben die Jungen auch durchaus männliche Rollenbilder im<br />

Kopf: ,;Überraschend oft wird auch die hohe Bedeutung von<br />

Verantwortungsübernahme <strong>und</strong> Verantwortlichkeit genannt.<br />

Ein Mann sollte an die Zukunft denken <strong>und</strong> an die Familie`.<br />

[...] An manchen Stellen tauchen dabei Erwartungen an die<br />

Männlichkeit auf, die mit spezifischen Schwierigkeiten in<br />

Verbindung gebracht werden (können). So wird mit Blick auf<br />

die Bedrohung zwischen untergehen <strong>und</strong> ausgeschlossen werden<br />

auf das Spannungsverhältnis zwischen , Sich-durchsetzen-<br />

Können' <strong>und</strong> ,Sich-Integrieren' [...] verwiesen. An einigen<br />

Stellen wird betont, dass sich Männer im Griff haben müssen,<br />

also über ausreichende Selbstkontrolle verfügen sollen - dies<br />

allerdings nicht in Bezug auf Übergriffe oder Gewalt, sondern<br />

eher als Präsentation in der Öffentlichkeit oder gegenüber<br />

Mädchen" (ebd., S. 155/156).<br />

Auch bei diesen Jungen, die aktuell sehr stark, durch die Jugendkultur<br />

geprägt sind, hat sich bereits im Vorgriff auf einen<br />

männlichen Habitus eine Haltung ausgebildet, die sich auf das<br />

Erwachsenwerden bezieht, das ihnen ja bevorsteht. Hier zeigt<br />

sich, wie die Zweiseitigkeit der Jugendphase wirkt <strong>und</strong> was<br />

auch die Jugendforschung immer wieder betont: Dass Jugendliche<br />

zwar peer-orientiert in der Jugendkultur leben, aber immer<br />

auch in der Spannung zum Erwachsenwerden stehen.<br />

Maskuline Antriebe sind jugendkulturell überformt, Männlichkeitsbilder<br />

entsprechend aus der Gegenwart ,weggeschoben'<br />

aber dennoch wieder antizipiert. Dabei kommt es darauf<br />

an, ob die Jungen soziokulturell in der Tage sind, dieses Erwachsenwerden<br />

in jugendkultureller Unbefangenheit zu antizipieren<br />

oder ob Bewältigungsprobleme dieser Erwachsenenwelt<br />

schon in die Jugendzeit hineinragen. Denn vor allem<br />

dorrt, wo die Schatten der Arbeitswelt auftauchen <strong>und</strong> sich<br />

schon - wie in der Bildungskonkurrenz in der Schule, bei der<br />

100<br />

Suche nach einer Lehrstelle, beim Problem der Übernahme in<br />

einen Beruf, bei der Erfahrung von Arbeitslosigkeit in der<br />

Familie - andeuten, ahnen die Jungen, was ihnen als Männern<br />

einmal blüht. Jugendstudien, welche vor allem diese gesellschaftsbezogenen<br />

Segmente der Einstellungen von Jugendlichen<br />

ansprechen - zum Beispiel die zwölfte Shell-Studie Jugend<br />

1997 - haben dies deutlich gezeigt: Viele Jugendliche<br />

sind gespalten, sie möchten eigentlich ihre Jugendzeit ausleben,<br />

kommen aber nicht so richtig dazu, weil sie immer wieder<br />

<strong>und</strong> schon früh soziale Risiken <strong>und</strong> - da sie diese nicht<br />

kalkulieren können - Gefahren auf sich zukommen sehen. So<br />

stehen auch die Jungen heute mit einem Bein neben <strong>und</strong> mit<br />

dem anderen Bein schon mitten in der Gesellschaft. Deshalb<br />

ist auch ihre optimistische Gegenwartsorientierung (vgl. Jugend<br />

2002) so stark, sie dient dazu, diese Spaltung zu neutralisieren.<br />

So können zwar die Schatten der sozialen Risiken immer<br />

wieder vertrieben, Bedrohungen aber nicht aufgelöst werden.<br />

Setzt sich der soziale Bewältigungsdruck gegenüber der<br />

jugendkulturellen Unbefangenheit durch, dann kommen auch<br />

wieder maskuline Orientierungen ins Spiel. Dies wird vor allem<br />

aus der Praxis der Jugendarbeit berichtet, die es mit Jugendlichen<br />

aus sozial benachteiligten Milieus zu tun hat (vgl.<br />

dazu ausführlich Böhnisch/Funk 2002). Diese Jungen stehen<br />

früh unter Stress, <strong>und</strong> Stress ist eine Zustandsbefindlichkeit, in<br />

die sie getrieben werden, die bei ihnen typische Muster <strong>des</strong><br />

männlichen Bewältigungshandelns freisetzt. Sie versuchen<br />

Stress in hektisch wechselnden Aktivitäten zu vermindern -<br />

was den Stress oft noch erhöht - Aktivitäten, bei denen sie<br />

meinen, nicht unter Druck zu stehen. Spaß haben ist vor allem<br />

angesagt <strong>und</strong> - in der Dynamik der Abspaltung der eigenen<br />

Hilflosigkeit - wird es zum Spaß auf Mosten andere: Idolisierung<br />

männlicher Dominanz <strong>und</strong> Abwertung <strong>des</strong> Weiblichen,<br />

Schwachen speisen dann ein Gemisch aus jugendkultureller<br />

Selbstinszenierung <strong>und</strong> Bewältigungsverhalten.<br />

Dieser Zusammenhang von Geschlechternivellierung <strong>und</strong> Jugendkultur<br />

bewegt sich allerdings immer noch in Sozialisation 1<br />

<strong>und</strong> lässt die andere - maskulinitätsauffordemde - Seite <strong>des</strong><br />

Einflusses der neuen Medien auf die Jugendlichen (Sozialisation<br />

11) weitgehend außer Acht. Jugendkultur <strong>und</strong> Medienkultur<br />

gehen aber heute ineinander über. Auf den ersten Blick


sieht es auch so aus, dass hier die Geschlechterdifferenz erst<br />

recht aufgehoben ist, da Mädchen die neuen Möglichkeiten<br />

der Medienkommunikation genauso gebrauchen wie Jungen.<br />

Die Jugendlichen sind interaktiv eingeb<strong>und</strong>en in die neue<br />

Technik <strong>und</strong> ständig wechselnde technologische Innovationen<br />

geben ihnen das Gefühl, an dieser Entwicklung gestaltend<br />

teilzuhaben, selbst treibender Faktor zu sein. Der Zwang, mithalten<br />

zu müssen, wird durch das Gefühl aufgewogen, dabei<br />

zu sein. So verschiebt sich die gesellschaftliche Orientierung<br />

„unter der Irland" auf die Sozialisationssphäre von Technik 11<br />

(vgl. Tully 2003). Männlichkeit die ja - wie Geschlechterbezüge<br />

überhaupt - , erst im Kontext <strong>des</strong> Sozialen ihre Bedeutung<br />

erhält, wird für die in der Dynamik <strong>und</strong> Ästhetik <strong>des</strong><br />

Gebrauchs der neuen Technik gefangenen' Jugendlichen belanglos.<br />

Maskulinität erscheint in modularen Bildern, die gefallen<br />

oder nicht gefallen, anziehen oder abstoßen, die aber<br />

nicht mehr sozial rückgeb<strong>und</strong>en sind. So werden die medialen<br />

Geschlechterbilder, die - ob soap oder action -, durchaus<br />

geschlechtsdifferente <strong>und</strong> geschlechtshierarchische Profile haben<br />

von vielen Jugendlichen weder als Männlichkeits- oder<br />

Weiblichkeitsmuster aufgenommen, sondern als Stilbilder, die<br />

einem dann eher sozial attraktiv denn problematisch erscheinen.<br />

Die zweite, verdeckte Ebene der Geschiechterhierarchie<br />

<strong>und</strong> Geschlechterdifferenzierung, die ja in der sozialen Umwelt<br />

strukturell weiter wirkt <strong>und</strong> auch die psychodynamische<br />

Auseinandersetzung der Jugendlichen mit sich selbst weiter<br />

beherrscht, wird nun in parasozialen Bildern vermittelt, welche<br />

die innere Spannung der Jugendlichen gleichzeitig aufnehmen<br />

<strong>und</strong> sie sozial unverbindlich <strong>und</strong> situativ auflösen. So<br />

werden Konstellationen gefördert, dass Jugendliche - vor allem<br />

in den Mittelschichten - geschlechtsnivellierend auftreten<br />

können, gleichzeitig in ihren maskulinen Anmutungen medial<br />

„bedient" werden <strong>und</strong> sich <strong>des</strong>halb nicht geschlechtsreflexiv<br />

verhalten brauchen. Auch so ist das Phänomen der „neuen<br />

Mädchen" <strong>und</strong> „neuen Jungen", die nichts von ihren feministischen<br />

Müttern <strong>und</strong> erst recht nichts von ihren männerbewegten<br />

`Tätern annehmen wollen, erklärbar. Jugend ist <strong>des</strong>halb<br />

nicht automatisch die zweite Chance der männlichen Soziallsation,<br />

weil auch hier schon die parasozialen Verdeckungen<br />

von Sozialisation 11 wirken. Augenfällig wird dies inzwischen<br />

1 0 2<br />

bei vielen Jungen vor allem aus der Unterschicht, die Maskulinität<br />

über ihren Körper ausdrücken, dies aber medial als Fitnessprogramm<br />

gespiegelt bekommen. Aus den Jugendhäusern<br />

wird berichtet, dass gerade die Jungen, die schon viel Geld für<br />

Muskelnahrung bis hin zu Anabolika ausgeben, sich eben<br />

nicht mehr als Machos anmachen lassen, sondern sich als<br />

Teilhaber einer Erfolgskultur fühlen, in der Durchsetzungsfähigkeit<br />

<strong>und</strong> Maskulinität so ineinander übergehen, dass ein<br />

Lebensstil unter anderen daraus wird.<br />

Letztendlich ist also zu fragen, ob sich das pädagogische Vertrauen<br />

auf die geschlechternivellierende Kraft der Jugendkultur<br />

- die sich durchaus auch in den Jugendstudien der 1990er<br />

<strong>und</strong> beginnenden 2000er Jahre nachzeichnen lässt - nicht zu<br />

sehr den Haltungen der Unbefangenheit <strong>und</strong> dem Gegenwartsoptimismus<br />

aufsitzt, die ja für das Jugendalter charakteristisch<br />

sind. Denn gleichzeitig erhalten wir von der neuen Jugendforschung<br />

zunehmend Bef<strong>und</strong>e dahingehend, dass die Risiken<br />

der Arbeitsgesellschaft die Jugend erreicht haben, Jugendliche<br />

also früh mit sozialen Problemen konfrontiert werden<br />

- Konkurrenzdruck, Ausbildungsmisere -, von denen sie<br />

nach dem traditionellen Modell <strong>des</strong> Jugendmoratoriums eigentlich<br />

verschont sein sollten. Diese Entgrenzung der Jugend<br />

führt dazu, dass sich bei vielen Jugendlichen heute Orientierungsmuster<br />

entwickeln, die Stilelemente der Erwachsenen<strong>und</strong><br />

Jugendkultur miteinander verbinden. „Null Zoff <strong>und</strong> voll<br />

busy", so gibt sich diese Jugend (vgl. Zinnecker u.a. 2002),<br />

die eine Jugendzeit ohne Konflikte durchleben <strong>und</strong> dabei<br />

schon mit einem Bein in der Erwachsenengesellschaft stehen<br />

möchte. Flicht, weil sie schon Erwachsene sein wollen - da<br />

treffen sich die Ergebnisse der Jugendstudien mit denen von<br />

Winter/Neubauer -, sondern weil sie spüren, dass sie schon in<br />

der Jugendzeit Optionen auf später ausbilden müssen, obwohl<br />

sie sich von ihrem jugendkulturellen Empfinden her eigentlich<br />

dagegen sträuben. Entgrenzung der Jugend <strong>und</strong> Entgrenzung<br />

der Männlichkeit (s.o.) gehen dann ineinander über: Die Jungen<br />

empfinden sich noch nicht als angehende Männer, weil sie<br />

im Alltagsverhalten jugendkulturell gepolt sind, sie orientieren<br />

sich aber genauso an der Erfolgskultur der Erwachsenengesellschaft,<br />

in die - Sozialisation 11 - männlichkeitsauffordernde<br />

Elemente warenästhetisch eingeb<strong>und</strong>en sind, männli-<br />

103


che Dominanz aber nicht mehr stilprägend ist. Auch in diese<br />

Richtung kann die geschlechtsdiffuse Haltung der Jugendlichen<br />

gedeutet werden. Die geschlechtswirksame Auseinandersetzung<br />

mit sich selbst scheint sich nun - auch das ist ein Zeichen<br />

der Entgrenzung der Jugend - mehr in die Integritätsthematik<br />

der Altersphase der jungen Erwachsenen verschoben zu<br />

haben (vgl. Kap. 4.2).<br />

j „Balanciertes Jungeseln `<br />

Durch den Verlauf männlicher Sozialisation zieht sich die<br />

Problematik <strong>des</strong> „Verwehrtseins" der empathischen Potenziale,<br />

die Jungen haben, die aber unter dem latenten Druck der<br />

sozialisatorischen Außenfixierung oft nicht entfaltet werden<br />

können. Mehr noch: Je öfter solches verwehrt wird, <strong>des</strong>to eher<br />

bricht es in der Abspaltung dieser Frustration bei Überbetonung<br />

der maskulinen Seite auf. Wir können diesen gleichsam<br />

gesetzmäßigen Vorgang im Begriff der Bedürftigkeit (s.u.)<br />

aufschließen. Gleichzeitig drückt sich in diesen innerpsychisehen,<br />

aber sozial gerichteten Verarbeitungsprozessen eine typische<br />

Bewältigungsspannung aus: Die Jungen müssen immer<br />

wieder versuchen, ins Gleichgewicht zu kommen, handlungsfähig<br />

zu bleiben, um Selbstwert, soziale Anerkennung <strong>und</strong> soziale<br />

Wirksamkeit (als Voraussetzung positiver Identität) zu<br />

erreichen. Gunther Neubauer <strong>und</strong> Reinhard Winter sind in ihren<br />

pädagogisch-empirischen Zugängen zu Jungen immer<br />

wieder auf dieses balancierende Bewältigungsverhalten gestoßen<br />

<strong>und</strong> haben in diesem Zusammenhang ein sozialisatorischpädagogisches<br />

Modell <strong>des</strong> „balancierten Jungeseins" entwickelt.<br />

Es soll das Augenmerk auf die verdeckten, nicht zum<br />

Zuge kommenden Vermögen der Jungen richten, in den gezeigten<br />

Schwächen auch die verborgenen Stärken entdecken<br />

helfen. So kann die Defizitorientierung, die dem Blick auf das<br />

Aufwachsen von Jungen seit dem antisexistischen Diskurs der<br />

Frauenbewegung anhaftet, überw<strong>und</strong>en werden. „Ein Missverständnis<br />

wäre es allerdings, dass mit dem Modell schwierige<br />

Seiten oder problematisches Verhalten bei Jungen <strong>und</strong> Männern<br />

ausgeblendet oder verdeckt werden sollen, indem immer<br />

„nur das Positive" wahrgenommen wird. [...] Aber die Perspektive<br />

verändert bzw. erweitert sich mehr in die Richtung,<br />

was sein soll <strong>und</strong> was sein wird, wenn das Problematische an<br />

1 04<br />

Bedeutung verliert. [...] Das Modell betont gerade die Gestaltungsmöglichkeiten<br />

<strong>und</strong> Potenziale, auch wenn sie (noch)<br />

nicht genutzt sind" (Winter/Neubauer 2002, S. 32).<br />

In diesem Sinne bietet das Modell Variablenpaare an, die diese<br />

wechselnden Balancen beschreiben: Jungen, die permanent<br />

aktiv sein müssen <strong>und</strong> unter Stress stehen, sich darzustellen,<br />

darf nicht die Reflexionsfähigkeit <strong>und</strong> das Vermögen zum<br />

Selbstbezug <strong>und</strong> Innehalten abgesprochen werden. Sie haben<br />

nur wenig Gelegenheiten <strong>und</strong> Ermunterungen dafür, das Vermögen<br />

ist verschüttet oder es handelt sich um ein Abspaltungs-<br />

<strong>und</strong> Kompensationsverhalten. Maskulin überzogenes<br />

Konflikt- <strong>und</strong> Stärkeverhalten darf nicht darüber hinwegtäusehen.,<br />

dass das Bedürfnis nach Schutz <strong>und</strong> nach dem Erleben<br />

von Grenzen ebenso vorhanden ist. Bei meiner Arbeit mit<br />

Wiener Jungenarbeitern (vgl. Verein Wiener Jugendzentren<br />

2002) habe ich das pädagogische Gespür der Praktiker für diese<br />

Bewältigungsbalance <strong>und</strong> die übergangenen Potenziale bei<br />

Jungen erlebt, wenn sie schilderten, dass Jungen, die sich in<br />

vielen Situationen <strong>des</strong> Jugendhauses anderen gegenüber verantwortungslos<br />

<strong>und</strong> abwertend aufführten, dann doch wieder -<br />

in anderen, für sie geschützten Situationen - ein ausgeprägtes<br />

Gefühl für Gerechtigkeit entwickeln. Der Bewältigungszwang,<br />

unter dem Jungen oft stehen <strong>und</strong> in dem sozial produktive Anteile<br />

zurückgedrängt werden, lässt sich an alltäglichen Situationen<br />

- wie hier in einem Jugendhaus - darstellen: „Wird der,<br />

primär von männlichen Jugendlichen bespielte Tischfußbailtisch<br />

einmal von weiblichen Jugendlichen genutzt, versammeln<br />

sich häufig recht schnell einige Burschen, die durch ihr<br />

Auftreten - abwertende Kommentare, „gute Tipps" usw. - die<br />

spielenden Mädchen verdrängen. Der Zwang, dem männlichen<br />

Rollenverständnis zu entsprechen, der Wunsch, ihre Fähigkeiten<br />

beim Tischfußball zu präsentieren, arbeiten gegeneinander.<br />

Weder legen die Mädchen darauf Wert, mit ihnen zu spielen,<br />

noch ihnen dabei zuzusehen - <strong>und</strong> die Ratschläge sind auch<br />

nicht willkommen. Die Verdrängung ist häufig das Resultat<br />

eines missglückten Versuchs, wahrgenommen zu werden. Dieses<br />

Bedürfnis auf andere Weise zu artikulieren stellt für viele<br />

Burschen eine zu große Hürde dar" (ebd., S. 46). Ein anderes<br />

Beispiel aus der Wiener Jugendarbeit zeigt wiederum, wie<br />

solch spannungsgeladenen Situationen sich so drehen können,<br />

105


dass sich die psychosoziale Balance bei den Jungen in Richtung<br />

eines positiven Erlebens sonst verschütteter <strong>und</strong> übergangener<br />

produktiver Fähigkeiten verschieben kann. Es ging um<br />

ein Projekt „Snowboardfahren": .,,Von der Burschengruppe,<br />

die daran teilnahm, beherrschte nur ein Jugendlicher diese<br />

Sportart. Auch die Betreuerlnnen waren mehr oder minder<br />

Anfängerinnen. So war das Projekt von vornherein darauf angelegt,<br />

dass eine Dynamik <strong>des</strong> gegenseitigen Helfens entstehen<br />

musste. Sehr schnell wurde deutlich, dass niemand ohne<br />

Unterstützung der anderen Burschen die ersten Schwünge bewältigte<br />

oder den Lift benutzen konnte. Die „kollektive Hilflosigkeit"<br />

sorgte mitunter für große Heiterkeit uröd führte zu einer<br />

Form der Gegenseitigkeit, die einmal nicht durch die übliche<br />

Konkurrenz zwischen Burschen, sondern durch wechselseitige<br />

Stützung, Weitergabe von Erfahrung <strong>und</strong> Aufmunterung<br />

geprägt war, Morgens <strong>und</strong> abends wurde in gemeinsamen<br />

Besprechungen erarbeitet, was sich in dieser Dynamik<br />

entwickelt hat <strong>und</strong> wie die Gruppe darauf aufbauen kann"<br />

(ebd., S. 104).<br />

Das Konzept <strong>des</strong> „balancierten Jungeseins" ist aus der Praxiserfahrung<br />

der Pädagogik heraus entwickelt <strong>und</strong> als sozialisatorische<br />

Hypothese in das Bewältigungsmodell integrierbar.<br />

Sein Vorzug dabei ist, dass es nicht normativ abgehoben (Wie<br />

könnte ein gelingen<strong>des</strong> Junge- <strong>und</strong> Mannsein aussehen?), sondern<br />

in eine Empirie eingebettet ist: Das, was Jungen alternativ<br />

vermögen, ist da, wenn auch verdeckt <strong>und</strong> übergangen<br />

<strong>und</strong> kann aufgeschlossen werden, braucht aber entsprechende<br />

interaktive <strong>und</strong> soziale Bedingungen. So ist die Gefahr eines<br />

naiv-konstruktivistischen Optimismus gebannt, denn die empirische<br />

Einbettung verweist letztlich wieder auf die gesellschaftlichen<br />

Rahmenbedingungen <strong>und</strong> tiefenpsychischen Verstrickungen,<br />

in die Männlichkeit eingelassen ist <strong>und</strong> die maßgeblich<br />

dazu beitragen, dass Jungen <strong>und</strong> Männer in Abspaltungszwänge<br />

<strong>und</strong> Balanceprobleme der Handlungsfähigkeit kommen.<br />

106<br />

3,3 Der „triebbedrängte" Junge W<br />

fiefendilnensionen <strong>des</strong> Mainwerdens<br />

Die psychoanalytisch rückgeb<strong>und</strong>ene Sozialisationstheorie,<br />

wie sie hier vor allem in Anlehnung an 1Vancy Ghoderows Ansatz<br />

entwickelt wurde, schließt uns nicht nur auf, wie Jungen<br />

zu Männern sozial „gemacht" werden. Sie kann auch eine<br />

rücke zu den tiefenpsychischen Entwicklungsvorgängen<br />

schlagen, indem sie die inneren Bindungs- <strong>und</strong> Ablösungsprozesse<br />

zu den sozialen Zuschreibungen einerseits <strong>und</strong> ihren<br />

subjektiven Übernahmen durch die Jungen <strong>und</strong> Männer andererseits<br />

in Beziehung zu setzen vermag. Dennoch bleibt die<br />

tiefenpsychische, triebgedrängte Seite männlicher Sozialisation<br />

für sich unaufgeschlossen, da der psychoanalytischsoziologische<br />

Ansatz das Tiefenpsychische ins Soziale hineinzieht<br />

<strong>und</strong> dort die Entsprechungen sucht. Dies ist insoweit<br />

plausibel, als die tiefenpsychische Dimension erst im Vergeselischaftungsprozess<br />

freigesetzt (<strong>und</strong> gleichzeitig überformt)<br />

wird. Die Eigendynamik <strong>des</strong> Leib-Seelischen in seiner psychosexuellen<br />

Konstellation, die onto- <strong>und</strong> kulturgenetische<br />

Triebgedrängtheit <strong>des</strong> Männlichen wird also in dieser<br />

Perspektive zwar tangiert, aber nicht erfasst. Mass Jungen <strong>und</strong><br />

Männer männlich fühlen <strong>und</strong> von dieser Männlichkeit bisweilen<br />

„übermannt' werden, ohne dies psychosozial steuern zu<br />

können, ist mit dem Konzept der „Übernahme" sozialer Zuschreibungen<br />

<strong>und</strong> Deutungen nicht zu erklären. Hier wirkt<br />

vielmehr der Umstand, dass die Kategorie Geschlecht mehr<br />

als eine soziale, nämlich genauso eine leibgeb<strong>und</strong>ene Kategorie<br />

ist, die ihre somatische Eigenkraft entwickeln kann. Der<br />

Psychoanalytiker Fritz Morgenthaler spricht in diesem Zusammenhang<br />

vom „energetischen Potential", das in der<br />

„Triebhaftigkeit <strong>des</strong> Es" steckt, das drängend <strong>und</strong> „ungerichtet"<br />

ist (1984, S. 138). Marin ist diese Primärkategorie <strong>des</strong> Sexuellen<br />

abgesetzt von der psychosozialen Gesamtkategorie der<br />

Sexualität, die sich psychisch <strong>und</strong> sozial interaktiv in der Bewältigungsdynamik<br />

formt, in der sie aufgeht <strong>und</strong> in der sie besonders<br />

wirksam werden kann (vgl. dazu auch Reiche 1990).<br />

1n der Pubertät (s.u.) kommt dies wohl am spektakulärsten<br />

zum Ausdruck.<br />

107


Aber nicht nur in dieser Entwicklungsphase wirkt die psychosexuelle<br />

Eigenkraft <strong>des</strong> Geschlechts. Aus den Bef<strong>und</strong>en der<br />

modernen Stressforschung wissen wir, wie sich diese Primärkraft<br />

verselbstständigen <strong>und</strong> Befindlichkeit <strong>und</strong> Verhalten beeinflussen<br />

kann, wenn es darum geht, die körperlich-seelische<br />

Befindlichkeit einem wie immer auch gearteten somatischen<br />

Gleichgewicht zuzuführen. Wir spüren selbst, wie wir in kritischen<br />

Lebenssituationen, in denen die gewohnten psychischen<br />

<strong>und</strong> sozialen Mechanismen der Orientierung <strong>und</strong> Handlungsregulierung<br />

versagen, in „Zustände" kommen, in denen wir<br />

uns nicht mehr erkennen oder fassungslos auf unsere körperlich-seelischen<br />

Reaktionen sind, die sich augenscheinlich aus<br />

unserer Selbstkontrolle gelöst haben.<br />

Deshalb kommt die Soziologie - auch wenn sie sich mit der<br />

Psychoanalyse verbündet - immer dort an ihre Grenzen, wo<br />

sie die subjektive Erfahrung <strong>des</strong> Geschlechtlichen im Emotionalen<br />

ortet <strong>und</strong> mit Begriffen wie „Betroffenheit" <strong>und</strong> „Zustandsbefindlichkeit"<br />

zu arbeiten versucht. Solche Begriffe<br />

verweisen zwar - soziologisch gesehen - auf einen nicht mehr<br />

erklärbaren „psychophysischen Rest", können diesen aber<br />

höchstens nur mit psychoanalytischen Assoziationen beschreiben,<br />

seine - freilich zum Sozialen hin gebrochene - Eigenmächtigkeit<br />

aber nicht erklären. Diese interdisziplinäre<br />

Problematik lässt sich am besten am Beispiel der sozialisationstheoretischen<br />

Verwendung <strong>des</strong> Paradigmas der Geschlechtsidentität<br />

darstellen.<br />

Im Gender-Diskurs wird in der Regel der Identitätsbegriff <strong>des</strong><br />

Symbolischen Interaktionismus verwendet. Dieser sucht die<br />

Verbindung von personaler Befindlichkeit <strong>und</strong> sozialem<br />

Standort der Person. Es wird eine Identitätsgleichung aufgemacht,<br />

in der ein Zusammenspiel von gesellschaftlichen Verhaltenserwartungen<br />

<strong>und</strong> individueller, personaler Selbstäußerung<br />

zu jener psychosozialen Balance führt, in der die Identität<br />

ein mit sich <strong>und</strong> anderen im Einklang Sein` darstellt. Im<br />

Mittelpunkt dieser von G. H. Mead (1973) entwickelten Identitätstheorie<br />

steht der „generalisierte Andere", in den das Ich<br />

sich über sprachliche Interaktion hineinzuversetzen hat, um<br />

seinen Platz <strong>und</strong> seine Zustandsgewissheit, sein Selbst im Sozialen<br />

zu finden. Indern ich lerne mich sozial zu verhalten, bin<br />

l 08<br />

ich <strong>und</strong> gewinne ich meine Sicherheit <strong>des</strong> Selbst. Das bedeutet<br />

nicht, dass ich mich einfach sozial anpasse. Vielmehr wird in<br />

diesem Identitätskonzept davon ausgegangen, dass ich mich<br />

mit meinen personalen Angelegenheiten <strong>und</strong> meinem Eigensinn<br />

in der Interaktion mit Anderen auseinandersetze, dass ich<br />

mir ein Bild von mir über die Anderen mache, dabei aber<br />

meine eigene Personalität <strong>und</strong> Individualität ausspiele.<br />

Doch in diesem Konzept bleibt ungeklärt, ob <strong>und</strong> wie das vorsoziale,<br />

triebgeprägte Ich (dem psychoanalytischen Es nahe),<br />

das im sozialen Ich (Me) aufgeht, seine vorsoziale Kraft verloren<br />

oder vielleicht doch behalten hat: „Meads Gedanken zu<br />

Identität fügen sich zu einem Interpretationsmodell, in dem<br />

die Identität vor allem durch die Erwartung <strong>und</strong> Faltung der<br />

Anderen gebildet wird. Wegen der großen Bedeutung, die das<br />

Lernen von Sprache <strong>und</strong> die kognitive Dimension menschlichen<br />

Daseins in ihm haben, kann man auch von einem Wissensmodell<br />

sprechen. Von der "Triebnatur <strong>des</strong> Menschen wird<br />

in ihm also abgesehen" (Gottschalch 1988, S. 117). Das Problem<br />

einer soziologischen Annäherung an das Selbst besteht im<br />

Gr<strong>und</strong>e also darin, dass sich trotz entsprechendem Anspruch<br />

der Moderne die vorsozialen Strukturen, welche die erste Natur<br />

<strong>des</strong> Menschen bilden, nicht rational <strong>und</strong> linear von der<br />

zweiten Natur her, dem Sozialen <strong>des</strong> Menschen, aufschließen<br />

<strong>und</strong> entsprechend integrieren lassen. Die sozialwissenschaftlichen<br />

Zivilisationstheoretiker - allen voran Norbert Elias<br />

(1976) - haben in diesem Zusammenhang ja gezeigt, dass der<br />

ökonomische fortschritt <strong>und</strong> die soziale Strukturierung der<br />

modernen Industriegesellschaften mit der Unterdrückung <strong>und</strong><br />

Kanalisierung der menschlich-kreatürlichen Triebstrukturen<br />

einher gegangen sind. Jede soziale Regel, je<strong>des</strong> Recht <strong>und</strong> jede<br />

Institution : so zitiert Wilfried Gottschalch (1988, S. 114)<br />

den Soziologen Helmut Plessner - „artikuliert, kanalisiert <strong>und</strong><br />

unterdrückt die entsprechenden Triebregungen". In dieser<br />

psychohistorischen Verortung der menschlichen Triebstrukturen<br />

wird deutlich, dass die menschlichen Triebe, „die aus unbekannten<br />

Tiefen stammen" (Gottschalch) nie für sich allein,<br />

sondern immer in der Spannung zum Sozialen gesehen werden<br />

müssen. Eben wegen dieser sozialen Spannung, in der das<br />

Triebverhalten steht, stecken in ihm auch Widerständigkeit,<br />

Eigensinn <strong>und</strong> Protest gegen Verdrängung <strong>und</strong> Entmündigung<br />

109


<strong>des</strong> Menschen im Zwangscharakter gesellschaftlicher Entwicklungsmuster.<br />

Dieses Triebhandeln wird vor allem in kritischen<br />

Lebenssituationen, wo man auf sich gestellt ist <strong>und</strong> die<br />

sozialen Bewältigungsressourcen weitgehend versagen, freigesetzt.<br />

Die Suche nach einer neuen psychosozialen Balance<br />

kann dann nicht von der sozialen Seite, sondern muss von der<br />

innerpsychischen Seite <strong>des</strong> Betroffenseins, der triebgedrängten<br />

Konstellation selbst ausgehen.<br />

An dieser Stelle wird von Gottschalch das Identitätskonzept<br />

von H. Erikson ins Spiel gebracht: „Was Erikson vor allem<br />

von Mead unterscheidet ist, dass er die menschlichen Triebschicksale<br />

<strong>und</strong> ihre Bedeutung nicht verkennt. Nicht nur Unzulänglichkeiten<br />

der Gesellschaft sind es, die zu Identitätskrisen<br />

fuhren, sondern auch Unzulänglichkeiten der menschlichen<br />

Natur." (ebd., S. 118). Soziales wird bei Erikson durch<br />

Triebabwehr gebildet <strong>und</strong> immer wird er durch Triebausbruch<br />

herausgefordert. Von der ödipalen Krise im frühkindlichen<br />

Alter bis zur Pubertätskrise im Jugendalter führt eine Triebspur<br />

durch die Sozialisation, an deren Ende Ich-Identität steht:<br />

Als Zustand, in dem ich mich sozial dazugehörig weiß,<br />

gleichzeitig aber fähig bin, mich als einmaliges Individuum zu<br />

fühlen <strong>und</strong> mich über dieses leibseelische Fühlen selbst zu bejahen.<br />

Dennoch bemängelt die neuere psychoanalytische Kritik an<br />

Eriksons Identitätsbegriff, dass er das, was Mead ins Soziale<br />

hinein projiziert - die Suche nach Gleichgewicht <strong>und</strong> Ordnung<br />

im Verhältnis von Ich <strong>und</strong> sozialer Umgebung - nun ins Innen<br />

<strong>des</strong> Menschen hinein verlegt: „Das Risiko sowohl auf dem<br />

Gebiet <strong>des</strong> theoretischen Denkens wie der klinischen Arbeit<br />

ist, dass ein Begriff wie Identität eine Kohärenz <strong>und</strong> eine<br />

Konsistenz ausdrücken kann, die nicht dem aktuellen Fluss<br />

<strong>und</strong> dem Widerspruch der inneren Welt- <strong>und</strong> Selbsterfahrung<br />

<strong>des</strong> Menschen entspricht. Ich denke, wir nehmen sowohl bei<br />

dein Patienten als auch bei uns selbst Erscheinungsweisen der<br />

Identität, oder was auch immer für Identität gehalten wird,<br />

wahr, um uns gegen die Erfahrung von verschiedenen <strong>und</strong><br />

konflikthaften Wünschen <strong>und</strong> unterschiedlichen <strong>und</strong> konfliktreichen<br />

Aspekten <strong>des</strong> Selbst zu schützen. Ideen wie die von<br />

der „Identität" dienen als stützende Verblendung angesichts<br />

<strong>des</strong> äußeren Zerfalls <strong>und</strong> <strong>des</strong> inneren Chaos. Eine der Möglichkeiten,<br />

wie „Identität" gedacht werden kann, ist in der Tat<br />

diese: Als eine notwendige Abwehr, als unvermeidlicher <strong>und</strong><br />

universeller Ausdruck <strong>des</strong> psychischen Bedürfnisses nach<br />

Ordnung <strong>und</strong> Kohärenz in der Sicht <strong>des</strong> Einzelnen von sich<br />

selbst" (May 1991, S. 176). Damit rückt - im Begriff der Abwehr<br />

- das Streben nach , Handlungsfähigkeit', wie es im Bewältigungskonzept<br />

zentral ist, vor den Begriff der Identität<br />

<strong>und</strong> wir können in der psychosexuellen Perspektive ein wesentliches<br />

Antriebselement der Psychodynamik <strong>des</strong> Bewältigungshandelns<br />

identifizieren. Gerade in kritischen Lebenssituationen<br />

<strong>und</strong> biografischen Brüchen zeigt sich, dass hinter<br />

der Fassade gesuchter Identität Triebbedrängungen lauern<br />

<strong>und</strong>, dass eine „feste Vorstellung von uns selbst [...] oft Abwehrcharakter<br />

[hat]. Wenn beispielsweise ein junger Mann in<br />

der analytischen Therapie sich allmählich auf das Gebiet ,homosexueller'<br />

Vorstellungen einlässt, beteuert er häufig, dass<br />

er sich aber über seine sexuelle Identität im Klaren sei <strong>und</strong><br />

keine Zweifel diesbezüglich kenne. Die Vorstellung von einer<br />

einzigen sexuellen Identität dient dazu, einige dieser Gedanken<br />

von der Erfahrung auszuschließen. Die feste Vorstellung<br />

der einen Identität macht vielmehr <strong>und</strong> kategorisch das Brechen<br />

der Barrieren zur Bedrohung" (ebd., S. 182). Hier lässt<br />

sich natürlich eine konstruktivistische Nachfrage stellen. Ist es<br />

nicht so, dass die therapeutische Intervention den sozialen<br />

ruck, heterosexuell zu sein, dekonstruiert <strong>und</strong> so das Heterosexuelle<br />

als sozial Durchgesetztes entlarvt? Natürlich spielt<br />

die dominante soziale Definition ihre Rolle. Aber dies reicht<br />

nicht an den tiefendynamischen Vorgang der Abwehr heran.<br />

Es ist nicht nur die äußere Bedrohung, die wirkt, sondern auch<br />

der innere Triebkonflikt, der aufgebrochen wird. Hier kommt<br />

es darauf an, welche Chancen der junge Mann in seiner bisherigen<br />

Biografie hatte, seine homoerotischen Anteile harmonisch<br />

- über erlernte Empathie <strong>und</strong> zugelassenen Selbstbezug -<br />

zu integrieren, um handlungsfähig zu bleiben oder zu werden.<br />

Die Suche nach männlicher Geschlechtsidentität, welche das<br />

Aufwachsen <strong>des</strong> Jungen in der psychoanalytisch-soziologischen<br />

Interpretationsperspektive durchzieht ist also auch durch<br />

naturgeb<strong>und</strong>ene, tiefenwirksame Gr<strong>und</strong>segmente bestimmt, deren<br />

Wirken freilich davon abhängt, wie sich die Entwicklung


<strong>des</strong> Jungen zum Mann in den personalen Beziehungs- <strong>und</strong> sozialen<br />

Umweltbedingungen gestaltet. Ob <strong>und</strong> inwieweit diese<br />

naturgeb<strong>und</strong>enen maskulinen Anteile entwicklungsbestimmend<br />

werden, hängt also in der Regel von den Chancen ab,<br />

diese Anteile produktiv zu integrieren <strong>und</strong> sozial auszubalancieren.<br />

Diese naturbezogenen Anteile wurzeln in der psychosexuellen<br />

Tiefenstruktur <strong>des</strong> Jungen. Bevor ich mich mit der<br />

arstellung dieses Modells auf das psychoanalytische Glatteis<br />

begebe, ist es mir wichtig, diese Argumentation im neueren<br />

psychoanalytischen Diskurs zu verorten. Ich folge hier einer<br />

Linie, die sich einerseits von der in der freudschen Trieblehre<br />

vorherrschenden Genitalfixierung („Peniszentriertheit") der<br />

frühen Kindheitsempfindungen löst <strong>und</strong> mehr den Symbolgehalt<br />

der Geschlechtsorgane in der frühen Mutter-Kind(-<br />

Vater)-Interaktion betont, andererseits aber die Bedeutung der<br />

psychosexuellen Auseinandersetzung mit der körpergenitalen<br />

Entwicklung nicht unterschlägt. Sicher ist das Sexuelle „geradezu<br />

prä<strong>des</strong>tiniert, f<strong>und</strong>amentale soziale Reaktionen zum<br />

Ausdruck zu bringen. Das Geheimnis' der Symbolbildung -<br />

<strong>und</strong> damit auch die Bedeutung der Genitalien für die Symbolik<br />

- liegt in dem komplizierten Zusammenhang von Körperliebkeit<br />

<strong>und</strong> Gesellschaftlichkeit begründet" (Bran<strong>des</strong> 2002, S.<br />

38). Es sind eben hauptsächlich die Geschlechtsorgane, die die<br />

Geschlechterdifferenz symbolisieren <strong>und</strong> in dieser Symbolkraft<br />

sich in einen männlichen <strong>und</strong> weiblichen Habitus hinein sozial<br />

verlängern (vgl. zum Habitusbegriff 1.3). Gleichzeitig aber<br />

bleibt in diesem symboltheoretischen Zugang das leibseelische<br />

Eigenerlebnis <strong>des</strong> Jungen ungeklärt. Wir brauchen also genauso<br />

<strong>und</strong> weiterhin ein psychosexuelles Modell. In einem solchen<br />

Modell - korrespondierend. zum psychosozialen Modell der<br />

Entwicklung <strong>des</strong> Mannseins - kann nun aufgeschlossen werden,<br />

wie der kleine Junge sich in seinem Junge- <strong>und</strong> Mannwerden<br />

aus sich heraus erlebt. Während in den frühen soziaiisatorischen<br />

Interaktionen dem Jungen die Geschlechtlichkeit nach<br />

seinen körperlichen Geschlechtsmerkmalen von Eltern <strong>und</strong> anderen<br />

von Anfang an zugeschrieben wird, muss sie der Junge<br />

in seiner psychosexuellen Befangenheit erst selbst entdecken<br />

<strong>und</strong> erspüren. So erfährt er die Problematik, dass der Penis<br />

von ihm nicht beherrschbar ist, dass Erektionen unvorhersehbar<br />

<strong>und</strong> aus nicht kontrollierbaren Regungen auftreten. Hier<br />

ist früh das Dilemma angelegt, das auch später bei erwachsenen<br />

Männern in der Impotenzangst gipfelt: Er ist nicht Herr<br />

seiner Sexualität; seine Geschlechtlichkeit scheint auch unabhängig<br />

von ihm agieren zu können <strong>und</strong> so ist es ihm zeitlebens<br />

verwehrt, ein ganzheitliches Geschlechterbild von sich zu finden.<br />

Damit ist auch der Zugang zum Körper <strong>und</strong> zum Innen<br />

von der psychosexuellen Seite her gestört. Während Mädchen<br />

<strong>und</strong> Frauen über die Regelmäßigkeit der Menstruation <strong>und</strong> die<br />

körperliche Einheit <strong>des</strong> Gebärvorgangs diesen ganzheitlichen<br />

Zugang eher finden können, sind Jungen <strong>und</strong> Männer zeitlebens<br />

um das Funktionieren ihrer Geschlechtlichkeit <strong>und</strong> damit<br />

auch um ihr Funktionieren als Mann bemüht. Der Gr<strong>und</strong>antrieb<br />

der Selbstbehauptung (Aggression) ist <strong>des</strong>halb beim<br />

Mann deutlich mit diesem psychosexuellen Dilemma verb<strong>und</strong>en.<br />

Hierauf sind durchaus auch die psychosexuellen Anteile<br />

männlicher Aggressivität zurückzuführen. Dabei muss aber -<br />

vor allem auch im Hinblick auf das folgende psychosexuelle<br />

Modell - immer wieder beachtet werden, dass es sich hier<br />

nicht um einen biologischen Triebzwang' bzw. ein ,Triebschicksal'<br />

handelt, wie dies noch in der klassischen Psychoanalyse<br />

<strong>und</strong> ihrer Rezeption gedeutet wurde. Vielmehr haben<br />

wir es hier - ganz im Sinne <strong>des</strong> Bewältigungskonzeptes (vgl.<br />

2.3) mit einer sozial gerichteten, d.h. in die psychodynamische<br />

Bewältigungsdynamik eingeb<strong>und</strong>enen <strong>und</strong> über sie wirksamen<br />

Triebbewegung zu tun.<br />

Die erste Linie psychosexueller Entwicklung, die sich in der<br />

frühen Kindheit aufbaut, ist mit der Problematik der erzwungenen<br />

Objektwahl in den ersten Lebensjahren verb<strong>und</strong>en. Die<br />

Mutter ist in unserer Gesellschaft - davon geht ja auch das<br />

psychoanalytisch-soziologische Modell der männlichen Sozialisation<br />

aus - das zentrale Identifikationsobjekt für den kleinen<br />

Jungen. Kleinkinder imitieren ihre Mutter, später haben kleine<br />

Jungen den Wunsch, wie die Mutter Kinder zu bekommen.<br />

ie Mutter muss dies in der Kleinkindphase noch nicht abwehren,<br />

da sich der Junge noch eng mit ihr verb<strong>und</strong>en fühlt.<br />

Deshalb kann die Ablösung von der Mutter nur gelingen,<br />

wenn das männliche Objekt - in <strong>des</strong>- Regel der Vater - zu dem<br />

sich der Junge, nachdem er erkannt hat, dass er männlich ist,<br />

hingezogen fühlt, ähnlich innige Objektbeziehungen aufbauen<br />

kann wie die Mutter. Ein symbolischer Ausdruck für diesen


Übergang ist der Beginn <strong>des</strong> Urinierens im Stehen. An ihm<br />

kann man sehr gut beobachten - wenn er sich verzögert oder<br />

lange Zeit gar nicht gelingt - welche Schwierigkeiten der kleine<br />

Junge hat, in seiner Geschlechtsorientierung auf den Vater<br />

überzugehen. Bleibt der Vater abwesend, das heißt mental<br />

nicht erreichbar, dann kann der Junge in seiner psychosexuellen<br />

Entwicklung stehen bleiben (infantiles <strong>Zur</strong>ückbleiben) oder<br />

z.B. auch auf dem Wunsch, ein Mädchen zu sein, beharren.<br />

Dies wiederum kann zu erheblichen Störungen bei der<br />

Ablösung von der Mutter führen, zumal die Mutter - vor allem<br />

von der sozialen Seite her - in diesem Übergang von der frühkindlichen<br />

zur kindlichen Phase deutlich bemüht ist, den Jungen<br />

männlich zu definieren <strong>und</strong> von sich loszulassen.<br />

e zweite psychosexuelle Entwicklungsphase, die später einsetzt<br />

(3.-5. Jahr), ist die der Entwicklung einer triadischen Objektbeziehung.<br />

Der Junge strebt nach dem Vater, will von ihm<br />

geliebt werden, kann nun Beziehungen zu Frauen <strong>und</strong> Mädchen,<br />

Männern <strong>und</strong> Jungen in ihrer jeweiligen Eigenheit unterscheiden,<br />

erfährt die Verschiedenheit der Geschlechter.<br />

Hier entwickelt sich vor allem auch die ambivalente Seite der<br />

psychosexuellen Entwicklung, die Rivalität zwischen Vater<br />

<strong>und</strong> Sohn. Diese lebt im Unterbewussten der Gefühlswelt <strong>des</strong><br />

Vaters als Neid bis hin zu verborgenen To<strong>des</strong>wünschen. Sozial<br />

äußern sich solche psychosexuellen Komplexe z.B. in der<br />

autoritären Art <strong>und</strong> Weise, wie der Vater mit dem Sohn umgeht,<br />

wie er ihn zum Funktionieren drängt, wie er unerfüllbare<br />

Maßstäbe aufstellt, die der Sohn erfüllen soll (vgl. dazu ausf.<br />

ran<strong>des</strong> 2002, S. 32ff.).<br />

In der klassischen freudschen Psychoanalyse ist die Dramatik<br />

dieser Phase mehr auf die gegengeschlechtliche Anziehung<br />

zur Mutter <strong>und</strong> die daraus resultierende Rivalität zum Vater<br />

zentriert <strong>und</strong> wird - in der Symbolik <strong>des</strong> Inzestwunsches - mit<br />

dem Begriff <strong>des</strong> „ödipalen Konfliktes" belegt. Die moderne<br />

Psychoanalyse teilt zwar die damit verb<strong>und</strong>ene Annahme,<br />

dass sich zu dieser Zeit die Empfindungen <strong>und</strong> Erfahrungen<br />

der Grenzen der eigenen Geschlechtlichkeit ausbilden. Sie<br />

sieht diese psychosexuelle Entwicklungsphase aber nicht mehr<br />

so zwanghaft, triebgenetisch <strong>und</strong> konfliktreich auf sexuelle<br />

Phantasien fixiert, sondern als selbstbehauptende <strong>und</strong> diffe-<br />

renzierende Entwicklungsleistung <strong>des</strong> Jungen. Die ödipale<br />

amatik wird nach dieser Auffassung eher durch die Eltern<br />

ins Spiel gebracht: „Erst durch die offen oder verdeckt pathologischen<br />

Reaktionen der Eltern auf diese neue Qualität kindlicher<br />

Zuwendung gewinnt dieser Entwicklungsschritt sexuelle<br />

<strong>und</strong> die Inzestschranken der Familie bedrohende Züge"<br />

(Bran<strong>des</strong> 2002, S. 37). Diese Vorstellung von einer positiven<br />

Entwicklungsleistung <strong>des</strong> Kin<strong>des</strong> ist auch dem hier vorgestellten<br />

psychosexuellen Ablaufmodell unterlegt.<br />

Die dritte psychosexuelle Entwicklungsphase (6-11 Jahre)<br />

wird traditionell mit dem Begriff der Latenz` bezeichnet. Die<br />

klassische Psychoanalyse sah hier eine Desexualisierung der<br />

kindlichen Gefühle <strong>und</strong> ihre Sublimation in unerotische Beziehungsintensität<br />

<strong>und</strong> Ichsuche. Die neue Kindheitsforschung<br />

hat dieses Bild korrigiert. Sexuelle Vorgänge <strong>und</strong> „die Bewegtheit<br />

durch Liebesgefühle [lassen] in dieser Zeit jedoch<br />

keinesfalls nach. Sie werden dem Kind mit Beginn <strong>des</strong> Einschulungsalters<br />

lediglich bewusster, es lernt sie besser zu verbergen,<br />

um sich der sozialen Kontrolle <strong>und</strong> moralischen Sanktionen<br />

zu entziehen. Erste erotische Erfahrungen <strong>und</strong> körperliche<br />

Veränderungen werden <strong>des</strong>halb nicht mehr von den Erwachsenen<br />

wahrgenommen, weil sie zur „Geheimsache" werden.<br />

Da wird plötzlich das Badezimmer abgeschlossen oder<br />

eine einzelne Umkleidekabine im Schwimmbad oder im<br />

Kaufhaus verlangt. Über erotische Erlebnisse wird zu Hause<br />

nicht gesprochen" (Milhoffer 2000, S. 18). Der scheinbar geschlechtsneutrale<br />

<strong>und</strong> unbefangene Umgang miteinander, wie<br />

ihn Kinderforscher bei Mädchen <strong>und</strong> Jungen in diesem Alter<br />

beobachten, hat also so seine Hinterbühne, auf der sich sexuelle<br />

Befangenheit einzuschleichen beginnt. Kinder spüren die<br />

ersten Veränderungen ihres Körpers, die sie nicht mehr als<br />

kindlich empfinden, entwickeln Phantasien über die Liebesverhältnisse<br />

der Erwachsenen <strong>und</strong> stoßen zum ersten Mal<br />

selbst auf Tabus. Dieser verdeckte Prozess der Sexualisierung<br />

erhält seine ersten vorpubertären hormonellen Anschübe, so<br />

dass statt von einer Latenzzeit durchaus von einem kindlichen<br />

Pubertäts(vor)status gesprochen werden kann. Zudem ist diese<br />

Altersgruppe schon tief in den Medienkonsum eingetaucht<br />

<strong>und</strong> <strong>des</strong>halb früh von sexualisierten Bildern männlicher Dominanz<br />

<strong>und</strong> weiblicher <strong>Zur</strong>ücknahme berührt. Die Bilder


sprechen jetzt an, offerieren dem Jungen einen maskulinen<br />

Rahmen.<br />

e vierte psychosexuelle Entwicklungsphase <strong>des</strong> Jungen, in<br />

der die psychosoziale Auseinandersetzung mit der eigenen<br />

Sexualität ganz in den Vordergr<strong>und</strong> tritt, findet schließlich in<br />

der Pubertät ihren Höhepunkt. Die Pubertät beginnt bei Jungen<br />

zwischen dem 11. <strong>und</strong> 13. Lebensjahr <strong>und</strong> äußert sich<br />

körperlich im Wachsen der Boden, <strong>des</strong> Glie<strong>des</strong> <strong>und</strong> der mehr<br />

oder minder starken Behaarung von Brust, Gesicht, Armen,<br />

einen <strong>und</strong> <strong>des</strong> Körperbereiches um den Penis herum. Mit<br />

dem Wachsen <strong>des</strong> Kehlkopfes entsteht Stimmbruch, der Junge<br />

bekommt eine „männliche" Stimme. Es häufen sich Samenergüsse<br />

<strong>und</strong> die Jungen sind damit konfrontiert, dass sie eigentlich<br />

zeugungsfähig sind. Dazu kommt ein Wachstumsschub,<br />

der die Jugendlichen älter erscheinen lässt. Mit dieser stürmischen<br />

körperlichen Entwicklung kann die psychosoziale Befindlichkeit<br />

nicht Schritt halten, Konflikte in sich selbst sind<br />

unausweichlich. Zudem wirkt immer noch das gesellschaftliche<br />

Tabu <strong>des</strong> Geschlechtsverkehrs in dieser von der Gesellschaft<br />

noch als „kindlich" betrachteten Lebenszeit, obwohl<br />

inzwischen viele Jungen schon früh Koituserlebnisse haben.<br />

Insofern ist der Bef<strong>und</strong> Wilhelm Reichs aus den 1930er Jahren<br />

keineswegs aus der Welt: „Der Pubertätskonffikt entspricht<br />

[...] einer Rückentwicklung zu primitiveren, kindlichen<br />

Formen <strong>und</strong> Inhalten <strong>des</strong> Sexuallebens. Wenn sie nicht von<br />

vornherein durch pathologische Fixierung im Kindlichen bedingt<br />

ist, ist sie einzig <strong>und</strong> allein Folge der gesellschaftlichen<br />

Versagung der genitalen Befriedigung im Geschlechtsakt in<br />

der Reifezeit. Es gibt also prinzipiell zwei Möglichkeiten:<br />

Entweder tritt der Jugendliche in Folge seiner bisherigen Sexualentwicklung<br />

unfähig zur Findung eines Sexualpartners in<br />

die Pubertät ein, oder die gesellschaftliche Versagung der Sexualbefriedigung<br />

in der Pubertät drängt ihn in Onaniephantasien,<br />

mithin auch in die pathogene Situation <strong>des</strong> infantilen Konfliktes<br />

hinein." (Reich 1966, S. 118). Obwohl die Masturbation<br />

heute enttabuisiert ist, ist sie doch immer noch von Schuldgefühlen<br />

bzw. ihren Überkompensationen begleitet. Diese machen<br />

den regressiven (infantilisierenden) Charakter der Pubertät<br />

aus.<br />

Der Pubertätskonfliki erzeugt nicht nur typische sexuelle<br />

Spannungen, sondern vor allem auch heftige Gemütsschwankungen<br />

<strong>und</strong> Reizausbrüche der Umwelt gegenüber. „Dafür<br />

sind nicht nur hormonelle Veränderungen, sondern nach neueren<br />

Erkenntnissen auch neurophysiologische Wachstumsvorgänge<br />

im Gehirn selbst verantwortlich." So wurde herausgef<strong>und</strong>en,<br />

„dass das Gehirn <strong>des</strong> Menschen bis ins frühe Erwachsenenalter<br />

wächst <strong>und</strong> sich ausdifferenziert. [...] Erst in der<br />

Adoleszenz erhalten die Nervenbahnen, die für die Kontrolle<br />

von Emotionen <strong>und</strong> Aggressionen zuständig sind, allmählich<br />

ihre , Myelinhülle', eine Art Schutzmantel, der vor übermäßigen<br />

Reizen schützt <strong>und</strong> Reaktionen zu kontrollieren hilft. Die<br />

Nerven liegen daher in der Zeit der Geschlechtsreife im Wortsinn<br />

,blank- (Milhoffer 2000, S. 15/16). Das, was wir an pubertierenden<br />

Jugendlichen als irrational <strong>und</strong> unwirklich<br />

bewerten, ist für sie wirklich <strong>und</strong> verlängert sich in diesem Eigengefühl<br />

in die soziale Umwelt hinein, in der es prompt anecken<br />

muss. Gleichzeitig wird die pubertäre Hektik durch die<br />

unbewusste Angst geschürt, aus der Geborgenheit der Kindheit<br />

herausgeworfen zu werden. Unwirkliche omnipotentmännliche<br />

<strong>und</strong> infantile Ausdrucksformen gehen somit in der<br />

Jungenpubertät ineinander über. In der Konfrontation mit den<br />

Erwartungen <strong>und</strong> Zumutungen der sozialen Umwelt erzeugt<br />

dies bei den Jungen immer wieder Stress (s.u.).<br />

Uns interessiert nun in diesem Zusammenhang wieder der sozialisations-<br />

<strong>und</strong> bewältigungstheoretische Aspekt der Auseinandersetzung<br />

<strong>des</strong> Jungen mit der ihn übermannenden' Sexualität.<br />

Die kindlichen Reflexionen erscheinen dann als auch<br />

sozial ausgelöste Abwehrhaltungen <strong>und</strong> die (Omni)Potenzantriebe<br />

als so manifestierte Optionen auf die körperlich gespürte,<br />

aber sozial noch nicht fassbare Entwicklung zum Erwachsenen.<br />

Insofern ist die Pubertät nicht ein Rückfall, sondern<br />

ein Schwellenereignis, das in der Entwicklung nach vorne<br />

zeigt. In diesem Sinne interpretiert auch Marion Erdheim<br />

die psychosexuelle Dramatik der Pubertät als „zweite Chance"<br />

<strong>und</strong> lässt nun auch die produktive soziale Seite <strong>des</strong> Pubertätskonflikts<br />

zum Zuge kommen: „Der Triebdurchbruch der Pubertät<br />

lockert die vorher in der Familie gebildeten psychischen<br />

Strukturen auf <strong>und</strong> schafft damit die Voraussetzungen für eine<br />

nicht mehr auf den familiären Rahmen bezogene Umstruktu-


ierung der Persönlichkeit" (Erdheim 1988, S. 193). „Auf dieser<br />

Erschütterung <strong>des</strong> familiären Realitätsprinzips gründet die<br />

kulturelle Relevanz der Adoleszenz. Das Auftreten der Menstruation<br />

bei den Mädchen sowie die Unbeherrschbarkeit <strong>des</strong><br />

Phallus bei Knaben verändern das Selbstbild <strong>des</strong> Körpers <strong>und</strong><br />

damit auch den Bezug zur Umwelt. Die Verselbständigung<br />

innerer <strong>und</strong> äußerer Objekte ist eine befremdende Erfahrung,<br />

<strong>und</strong> der in der Pubertät neu aufblühende Narzissmus bekommt<br />

die kompensierende Funktion, die auseinander fallende Welt<br />

zusammenzuhalten" (ebd., S. 498).<br />

Idas soziale Gesicht der Jungenpubertüt<br />

Die Pubertät als spannungsgeladene leib-seelische <strong>und</strong> soziale<br />

Entwicklungs- <strong>und</strong> Übergangssituation verlangt von den Jugendlichen<br />

viel an Energien ab, in ihr ist Wirkliches <strong>und</strong> Unwirkliches<br />

miteinander vermischt. Vor allem haben die Jugendlichen<br />

keine Erfahrungen, auf die sie aufbauen können,<br />

sie erleben alles neu <strong>und</strong> klammern sich notgedrungen an ihre<br />

eigene Befindlichkeit. Das macht ihren Narzissmus in dieser<br />

Lebensphase aus. Sie schwanken zwischen Omnipotenzgefühlen,<br />

Ohnmacht, Ängsten <strong>und</strong> lustvollen Selbstinszenierungen.<br />

Gleichzeitig ist das eine Entwicklungszeit, in der die Jungen<br />

nach männlicher Identität suchen <strong>und</strong> damit in Spannung zu<br />

anderen Jungen geraten, sich gegenseitig aufladen. Diese<br />

Komplexität, Widersprüchlichkeit <strong>und</strong> Vielfältigkeit <strong>des</strong> Erlebens,<br />

der Wechsel zwischen Ausgesetztsein <strong>und</strong> Selbstbehauptung,<br />

lässt sich am besten mit dem Begriffskonstrukt „Stress"<br />

umschreiben: Stress als dynamische Befindlichkeit, in der man<br />

sich einem psychosozialen Druck ausgesetzt sieht, den man<br />

nicht „wegerklären" kann, auf den man aber mit Stimmungen<br />

reagiert, ohne diese Stimmungen selbst kontrollieren zu können.<br />

Im Stress gehen auch die typischen Ängste der Jungen<br />

auf, wie sie Sturzenhecker (2002) beschreibt: „Angst, kein<br />

richtiger Mann zu sein", „Versagensangst`, „Angst vor Gefühlen<br />

(vor Kummer, Rührung, Zärtlichkeit)", „Angst vor dem<br />

Urteil der Frauen <strong>und</strong> Mädchen", „Angst vor der Gewalt der<br />

anderen Jungen" (S. 43-45). Diese Ängste sind in Stresskonstellationen<br />

versteckt, werden von den Jungen <strong>und</strong> jungen Männern<br />

meist abgespalten, auf anderes <strong>und</strong> andere projiziert, sind<br />

eben nicht so erkennbar wie sie vom Fachmann benennbar<br />

bar sind. Sie gehen in Bewältigungsrauster ein, verpuppen sich<br />

in Umweg- <strong>und</strong> projektionsverhalten. Deshalb ist es notwendig,<br />

die dahinter liegenden Wirkmechanismen der inneren<br />

Hilflosigkeit <strong>und</strong> Bedürftigkeit bei Jungen <strong>und</strong> Männern (s.o.)<br />

zu kennen, sonst bleibt einem - bei allem kategorialen Wissen -<br />

der Zugang zur Psychodynamik <strong>des</strong> Jungenverhaltens verwehrt.<br />

„Unter Stress stehen" ist also eine Zustandsbefindlichkeit, in<br />

die Jungen oft „getrieben" werden, die bei ihnen typische<br />

Muster <strong>des</strong> Bewältigungshandelns <strong>und</strong> damit der Selbstbehauptung<br />

<strong>und</strong> der Suche nach Handlungsfähigkeit freisetzt. Sie<br />

stehen unter Stress <strong>und</strong> können gleichzeitig „nicht zu sich<br />

kommen", was aber wichtig wäre, um so Stress abzubauen.<br />

Also versuchen sie, Stress in hektisch wechselnden Aktivitäten<br />

zu vermindern - was den Stress oft noch erhöht - Aktivitäten,<br />

bei denen sie meinen, nicht unter Druck zu stehen. Spaß haben<br />

ist angesagt <strong>und</strong> sie merken in ihrer Männlichkeitssuche im<br />

Kreisel von Idolisierung <strong>und</strong> Abwertung nicht, dass es meist<br />

Spaß auf Mosten anderer ist, der sie nur zeitweise entlastet.<br />

Spaß haben, um jeden Preis, ist das Antriebsmotiv vieler Jugendlicher<br />

<strong>und</strong> hat auch sein geschlechtstypisches Gesicht.<br />

Spaß ist die emotionale Suche nach Wohlgefühl, das man(n)<br />

sich aber immer wieder in neuen äußeren Situationen holt.<br />

Abwertung <strong>und</strong> Idolisierung sind oft die Motoren <strong>des</strong> Spaßsuchens:<br />

Der Spaß als wechselnde Imitation Stärkerer <strong>und</strong> Abwertung<br />

Schwächerer. Der Spaß ist oft mit der Angst gepaart,<br />

sich zu blamieren. Deshalb gilt es entspannte Situationen zu<br />

schaffen, damit das Blamieren nicht an den Selbstwert geht.<br />

Pädagogen versuchen in solchen Situationen den Druck herauszunehmen,<br />

der die Spaßspirale, die Abwertung auf Kosten<br />

anderer, nach oben dreht. Die Jungen sollen spüren können,<br />

dass Spaß auf Kosten anderer ins Leere läuft, auch Unwohlsein<br />

erzeugen kann, betroffen machen kann. Gerade sozial<br />

benachteiligte Jugendliche sehen im Körper ihr einziges<br />

Kapital, das sie haben. Deshalb ist es schwierig, ihre männlich<br />

dominante Körperlichkeit von vornherein verändern zu wollen.<br />

Jeder pädagogische Versuch, den Körper anders als dominant<br />

zu erleben, wird von den Jugendlichen als Verlust empf<strong>und</strong>en.<br />

Sie inszenieren sich mit ihrem Körper <strong>und</strong> dies meist<br />

sehr stark auf Kosten anderer. Wie erreicht sie dann aber die


otschaft: Niemand will dir deine Körperlichkeit nehmen, es<br />

gibt aber auch andere, die wollen etwas von dir, auch wenn sie<br />

nicht so stark sind <strong>und</strong> fühlen sich wohler, wenn du dich zurücknimmst.<br />

Auch dann erhältst du Anerkennung! Drohgebärden<br />

sind aber oft Teil der Sprache der Jugendlichen, ein Umwegverhalten,<br />

mit dem sie erst ihren Raum abstecken (dabei<br />

oft hilflos sind) <strong>und</strong> dann etwas damit mitteilen. Die Mitarbeiter<br />

fühlen sich in dem Maße nicht bedroht, in dem sie merken,<br />

dass die Jugendlichen die Beziehung zu ihnen brauchen. Dominante<br />

Körperlichkeit wird ja vor allem auch dann demonstriert,<br />

wenn die Jugendlichen periodisch zeigen wollen, dass sie<br />

noch da sind <strong>und</strong> dass sie beachtet werden wollen.<br />

Jugendliche hängen Idolen nach. Sie gehören zur Szenerie der<br />

Unwirklichkeit (das Unwirkliche wirklich machen) der Pubertät.<br />

Idole kann man den Jugendlichen pädagogisch nicht nehmen,<br />

wenn man es versucht, ist die Wirkung eher kontraproduktiv.<br />

Idole symbolisieren Wünsche, Träume <strong>und</strong> Sehnsüchte<br />

der Jugendlichen im pubertären Spannungsfeld. Die Erreichbarkeit<br />

dieser Träume spielt in der Unwirklichkeit der Pubertät<br />

keine Rolle. Deswegen sind sie auch gegen pädagogische Beeinflussungen<br />

weitgehend immun. Sozialarbeiter sind keine<br />

Idole, sie können aber Vorbilder sein. Diese Vorbildwirkung<br />

entwickelt sich nach Erfahrung der Wiener Jungenarbeiter<br />

weniger in der normativen Vorbildwirkung - also vor allem<br />

moralisch-ethisch -, sondern eher funktionell. Es beeindruckt<br />

die Jungen, dass es „ihr" Jugendarbeiter geschafft hat mit dem,<br />

was er mit ihnen macht, einen Job zu kriegen, der den Jugendlichen<br />

auch noch zugute kommt. Man kann von ihm profitieren<br />

<strong>und</strong> mit der Zeit spielt sich auch das Gefühl ein, dass er<br />

wichtig für einen ist. Dann kann auch sein Verhalten für einen<br />

selbst attraktiv werden, wird man neugierig wie er sich als<br />

Mann, der sich von den gängigen Männerbildern der Väter,<br />

Lehrer, älterer Fre<strong>und</strong>e u.a. unterscheidet, verhält. Zu Idolen<br />

werden meist Schauspieler, Popstars, Fußballer. Bei Jugendlichen<br />

mit Migrationshintergr<strong>und</strong> - auch bei denen, die hier geboren<br />

sind - sind die Idole sehr stark an die Heimatländer geb<strong>und</strong>en.<br />

Es sind die Idole der „interkulturellen Zwischenwelten"<br />

(Gemende 2003), die man als eigene` in dem Land<br />

braucht, in dem man zwar geboren ist, in dem man aber immer<br />

wieder fühlt, dass man nicht so richtig zum Zuge kommt.<br />

120<br />

as Homosexualitätstabu sitzt heute - trotz aller Liberalisierung<br />

- noch tief. Gerade in der inneren Auseinandersetzung<br />

<strong>des</strong> Jungen mit sich selbst <strong>und</strong> seinem Mannwerden, aber genauso<br />

im Kontrollhandeln der Eltern sowie im Integrations<br />

druck der sozialen Umwelt entfaltet es seine blockierenden<br />

psychosozialen Wirkungen. In ihm ist die Verkettung der sexuellen<br />

Natur <strong>des</strong> Menschen mit sozialen <strong>und</strong> gesellschaftlichen<br />

Bezügen konfliktreich ausgeprägt. Dass dieses Tabu vor<br />

allem Jungen <strong>und</strong> junge Männer trifft, bei Mädchen eher übergangen<br />

wird, verweist auf die besondere Verfügbarkeit <strong>des</strong><br />

Mannes im industriekapitalistischen Verwertungsprozess.<br />

Nicht von ungefähr wurde das Homosexualitätstabu zu Beginn<br />

der industriellen Modernisierung <strong>und</strong> heterosexuellen<br />

Matrix der Arbeitsteilung virulent: „Die gleichgeschlechtliche<br />

Sexualpraxis wurde erst, als sie nicht mehr in eine zugespitzte<br />

Geschlechterdichotomie passte <strong>und</strong> sie zu sprengen drohte,<br />

massiv verrätselt. Die Konstruktion der Homosexualität bestand<br />

vor allem in der Etablierung eines Erklärungsbedarfs"<br />

(Hirschauer 1992, S. 338).<br />

Diese Spannung zur Heterosexualität ist bis heute das Gr<strong>und</strong>problem<br />

der Anerkennung der Homosexualität, aber auch der<br />

homosexuellen Lebensführung <strong>und</strong> Lebensbewältigung selbst,<br />

die darin befangen ist. Erst in der gegenwärtigen „modernwestlichen<br />

Homosexualität" beginnt sich dieser Konflikt zumin<strong>des</strong>t<br />

im subjektiven Sexualempfinden schwuler Männer<br />

aufzulösen. Die Menschen beziehen sich nun „in der vollen<br />

Bedeutung <strong>des</strong> Geschlechts aufeinander. Der Schwule begehrt<br />

in dem anderen den Mann, die Lesbe in der anderen die Frau -<br />

<strong>und</strong> keine Zwischenstufe' [...] Als Mann deal Mann [...] in sexuelle<br />

Interaktion zu verstricken - erst das macht die schwule<br />

[...] Situation aus" (Lautmann 2002, S. 396).<br />

Auch die Psychoanalyse, die sich seit Freud um die Bestimmung<br />

der Homosexualität primär aus den frühkindlichen Objektbeziehungen<br />

heraus bemüht hat <strong>und</strong> damit genauso heterosexuell<br />

befangen blieb, schwenkt heute in ein multifaktorielles<br />

Erklärungsmodell ein, in dem anlagebedingte Faktoren, psychosexuelle<br />

Entwicklungsmuster <strong>und</strong> familiale <strong>und</strong> gesellschaftliche<br />

Reaktionen aufeinander bezogen werden. Dabei


wird inzwischen argumentiert, dass die Annahme einer spezifischen<br />

Verstrickung in der Mutterbeziehung, die in der traditionellen<br />

Psychoanalyse als zentral für frühkindliche Konstitution<br />

von Homosexualität galt, nicht das ausschlaggebende<br />

Moment sei, sondern die <strong>Zur</strong>ückweisung der homosexuellen<br />

Disposition durch den Vater, dem sich der homosexuell veranlagte<br />

Junge ab der Phase der frühkindlichen Triangulation zuwendet.<br />

Erst dann können Verstärkungen in der Beziehung<br />

zur Mutter <strong>und</strong> negative Projektionen auf den Vater (<strong>und</strong> damit<br />

auf die eigene erwachte homoerotische Sehnsucht) entstehen.<br />

Die entstandene Abhängigkeit <strong>und</strong> Hilflosigkeit gegenüber<br />

der Mutter sowie die <strong>Zur</strong>ückweisung durch den Vater<br />

fuhren zu einem „autoerotischen" Entwicklungsmuster, in<br />

dem der Junge in der Distanz zu den Elternfiguren die Balance<br />

<strong>und</strong> das Wohlbefinden wieder für sich herstellt. Dieses sexuelle<br />

Autonomiestreben steht damit in einem deutlichen Kontrast<br />

zu dem heterosexuellen Identitätsmodell der friangulation<br />

(vgl. dazu Askitis 1996).<br />

Väter geraten dann auch in ihrer männlichen Außenorientierung<br />

in Panik, wenn sie glauben oder erfahren, dass ihr Junge<br />

schwul ist oder sein könnte, dass er also nicht funktioniert,<br />

dass damit die Familie nicht funktioniert <strong>und</strong> letztendlich auch<br />

er als Vater funktionell versagt hat. Die soziologische Dimension<br />

<strong>des</strong> Hornosexualitätstabus <strong>und</strong> die psychoanalytische<br />

imension der familialen <strong>Zur</strong>ückweisung können also ineinander<br />

übergehen. Bei dem Jungen, selbst wenn er später seine<br />

eigene Homosexualität entdeckt, kann sich im Banne der<br />

Empfindung dieser inneren <strong>und</strong> äußeren „Ausstoßung" massive<br />

Beschämung <strong>und</strong> Scham entwickeln, die aber im Kontakt<br />

mit der sozialen Umwelt - vor allem in der Gleichaltrigenkultur<br />

- verleugnet werden müssen, um sozial handlungsfähig zu<br />

bleiben. „Die Verleugnung der Scham ändert die reale Situation<br />

nicht, aber das Bewusstsein geht in phantasierte Höhen:<br />

ealität <strong>und</strong> Phantasie fallen immer weiter auseinander. Das<br />

wird auch in Beziehungen spürbar: Ein so gekränkter Mensch<br />

wird sich in Beziehungen sehr verletzbar fühlen, weil er im<br />

realen Kontakt wieder reit seinen abgewerteten Seiten in Kontakt<br />

kommen könnte" (Askitis 1996, S. 337). Dies wirkt wiederum<br />

auf die Beziehungen zurück, die dann so verzerrt sein<br />

können, dass sie die Scham auf der Seite <strong>des</strong> schwulen Jungen<br />

122<br />

<strong>und</strong> das entsprechende "Tabu bei seinen Fre<strong>und</strong>en nur noch<br />

weiter verstärken <strong>und</strong> verfestigen.<br />

Ausschlaggebend für das tiefenstrukturelle familiale <strong>und</strong> gesellschaftliche<br />

Wirken <strong>des</strong> Homosexualitätstabus ist aber nicht<br />

nur der Fakt Homosexualität, sondern das (zurückgedrängte)<br />

Missen darüber, dass nach der Logik der Konstitution der Geschlechter<br />

alle Männer im Verlauf der Geschlechtssozialisation<br />

homoerotische Anteile besitzen <strong>und</strong> entwickeln. Diese Anteile<br />

- die seelisch-körperliche Sehnsucht nach dem Vater in<br />

der frühkindlichen Phase, die gemeinsame autoerotische Praxis<br />

- z.B. Onanie - zwischen Fre<strong>und</strong>en in den Cliquen - dürfen<br />

nicht unterdrückt, sondern müssen gerade ausgelebt werden,<br />

auch um in eine heterosexuelle Identitätsbalance kommen zu<br />

können, die Maskulinität nicht nur über die Frau empfindet.<br />

as Homosexualitätstabu stört <strong>und</strong> blockiert dieses notwendige<br />

Entwicklungssegment, führt dazu, dass Jungen Gefühle<br />

<strong>und</strong> körperliche blähe untereinander verwehrt wird, dass sie es<br />

abspalten müssen, gerade weil sie sich danach sehnen.<br />

Im Erwachsenenalter scheinen die homoerotischen Segmente<br />

bei der Mehrheit der heterosexuellen Männer weitgehend sublimiert,<br />

d.h. in funktionelle Verhaltensintensitäten umgewandelt.<br />

blicht umsonst spricht man im globalisierten Kapitalismus<br />

mit seiner Shareholder-value-Mentalität von der Erotik<br />

<strong>des</strong> Gel<strong>des</strong>', so wie man im Alltag bei Männern von der Erotik<br />

der Autos' <strong>und</strong> der Geschwindigkeit spricht. Gleichzeitig<br />

wird auch im Konsum das homoerotische Element immer<br />

wieder ästhetisiert. Homosexualität ist heute vor allem in der<br />

sozialen Mitte leidlich toleriert - ausgenommen die sozialen<br />

Randgruppen, in denen Ablehnung <strong>und</strong> Abwertung der Homosexualität<br />

immer noch zum Aufbau von Männlichkeit gebraucht<br />

wird -, sie ist aber nicht gesellschaftsfähig geworden.<br />

Um dies erklären zu können, hilft uns unser Modell der Entkoppelung<br />

von Systemischem <strong>und</strong> Lebensweltlichem, weiter.<br />

In den Lebenswelten müssen heute die systemischen Imperative<br />

nicht mehr an den Menschen unvermittelt durchgesetzt<br />

werden, auch systemische dysfunktionale Prinzipien können<br />

im Alltag gelebt oder lebensweltlich toleriert werden. Zudem<br />

hat das Heraufziehen einer systemisch vorangetriebenen Erfolgskultur<br />

die Konkurrenzbeziehungen ästhetisiert <strong>und</strong> es<br />

123


macht in dieser Erfolgssymbolik keinen Unterschied mehr, ob<br />

die Gewinner oder Verlierer nun heterosexuelle Männer,<br />

Frauen oder homosexuelle Männer oder Frauen sind. Dennoch<br />

bleibt das Homosexualitätstabu weiter in den Familien hängen,<br />

denn es existiert ein diffuser systemischer Druck in der<br />

Durchsetzung von Heterosexualität. Dieser äußert sich vor allem<br />

dann, wenn es um die demographische Krise geht, wenn<br />

z.B. die „Babylücke" in dem Sinne öffentlich thematisiert<br />

wird, dass mit dem Rückgang der Geburten <strong>und</strong> der demographischen<br />

Schwächung der nachfolgenden Generation die Renten<br />

<strong>und</strong> die Ges<strong>und</strong>heitskosten nicht mehr bezahlbar seien.<br />

Aus dieser gesellschaftlichen Diskussion sind Schwule von<br />

vornherein - genannt oder ungenannt - ausgeschlossen. Die<br />

Mütter <strong>und</strong> Väter aber wollen ihre Jungen gesellschaftsfähig<br />

machen <strong>und</strong> bleiben so weiterhin gespalten: Während also in<br />

den privaten familialen Beziehungen die Tendenz zum Verständnis<br />

<strong>und</strong> Einfühlen in die Situation <strong>des</strong> Jungen steigt,<br />

bleibt dennoch die Hoffnung erhalten, dass der Junge ein gesellschaftsfähiger,<br />

d.h. ein ,richtiger', normaler' <strong>und</strong> damit<br />

ein heterosexuell orientierter Mann wird.<br />

Insofern bleibt gerade im Jugendalter nicht nur der soziale<br />

Druck auf die innere Spannung von homoerotischen Anmutungen<br />

<strong>und</strong> heterosexuellen Vergewisserungen erhalten, sie<br />

wird auch durch das somatische Verwirrspiel der Pubertät<br />

(s.o.) aufgeladen. Für Jungen selbst ist die Homosexualität<br />

immer noch eine heikle Zone der Körperlichkeit. „Schwul" ist<br />

ein weit verbreitetes Schimpfwort, aber es ist nicht mehr das<br />

Stigma, das alte Tabu, das es früher war. Dennoch ist Schwulenfeindlichkeit<br />

- nicht nur bei sozial benachteiligten Jungen -<br />

nicht verschw<strong>und</strong>en, sie taucht immer wieder dann auf, wenn<br />

die Jugendlichen mit ihrer eigenen Sexualität nicht zurecht<br />

kommen. In dem Schimpfwort „schwul" ist also bei<strong>des</strong> enthalten:<br />

Zum einen die Angst davor, nicht als heterosexueller<br />

Mann zu funktionieren, gleichzeitig aber auch die Neugier auf<br />

verwehrte Sexualität. Das Schimpfwort ist also eine Folie, mit<br />

der gar nicht so sehr die homosexuellen gemeint sind, obwohl<br />

es durchaus immer wieder Situationen gibt, die zu Aggressivität<br />

gegen Homosexuelle führen können. Hier wirkt wieder der<br />

Bewältigungsmechanismus der Abspaltung der eigenen Hilflosigkeit.<br />

„Schwul" bleibt aber ein Ausdruck für nicht nor-<br />

mal', nicht männlich', ist als tiefsitzender Abwertungsbegriff<br />

resistent, obwohl er gleichsam jugendkulturell auf der Kippe<br />

steht: Er wird einerseits unbefangen gebraucht lind ist andererseits<br />

wieder mit Angst <strong>und</strong> Unsicherheit besetzt. Die<br />

Gr<strong>und</strong>angst vieler männlicher Jugendlicher ist dabei, nicht als<br />

„richtiger Mann" zu funktionieren. Deshalb suchen sie auch<br />

immer wieder Bilder <strong>des</strong> Funktionierens, greifen auch zu Pornos,<br />

die ihnen aber dann nicht weiterhelfen, denn je eindeutiger<br />

die Milder sind, <strong>des</strong>to weniger taugen sie, um einem die<br />

eigene Angst vor dem Nichtfunktionieren zu nehmen. Die<br />

damit verb<strong>und</strong>ene latente Hilflosigkeit <strong>des</strong> männlichen Jugendlichen<br />

bleibt gerade auch in einer Welt bestehen, in der es<br />

keine sexuellen Tabus mehr gibt <strong>und</strong> alles aufs Erklärenkönnen<br />

<strong>und</strong> Funktionierenmüssen drängt. Gleichzeitig ist es angesichts<br />

eines nivellierten Geschlechterverhältnisses in den Bildungs-<br />

<strong>und</strong> Jugendkulturen für Jungen immer weniger möglich,<br />

ihre innere männliche Identitätsdiffusion in maskulinem<br />

ominanzverhalten abzuspalten. Deshalb sind - gerade auch<br />

in der Schule - Räume, Beziehungen <strong>und</strong> kulturelle Ausdruck,.,formen<br />

notwendig, in denen diese männliche Hilflosigkeit<br />

anerkannt <strong>und</strong> kreativ umgewandelt werden kann. Insofern<br />

ist das Jugendalter in der Phase der Pubertät trotz aller<br />

jugendkulturellen Überformung <strong>und</strong> Nivellierung immer noch<br />

die Zeit der „zweiten Chance", in der sich Männlichkeit <strong>und</strong><br />

Mannsein aus der Betroffenheit <strong>des</strong> eigenen Selbst heraus entwickeln<br />

können.<br />

3.4 Mütter <strong>und</strong> Söhne, Mädchen <strong>und</strong> Jungen,<br />

Frauen <strong>und</strong> Männer<br />

it der ambivalenten Familienposition <strong>des</strong> Vaters wächst die<br />

familiale Macht der Mutter, der man alltagswirklich begegnen<br />

kann, die den Jungen zwar loslassen, gleichzeitig aber auch<br />

den Vater in der Familie aufbauen <strong>und</strong> hochhalten muss. So<br />

ist ihre Macht eine doppelte geworden: Sie konfrontiert den<br />

Vater nicht nur mit ihrer Überlegenheit bei der Geburt <strong>des</strong><br />

Kin<strong>des</strong>, sondern auch damit, dass es von ihr abhängig ist, wie<br />

der Vater in die Familie eingeführt, wie er aufgebaut <strong>und</strong><br />

hochgehalten wird. Der Psychoanalytiker Martin Lukas Moel-


ler sprach <strong>des</strong>wegen von einem modernen Männermatriarchat<br />

im Kleinen: „Die Männergesellschaft hinterlässt zu Hause in<br />

Form einer Mutter-Kind-Union ein Miniaturmatriarchat. Da<br />

dieses Matriarchat doch das genetische Milieu der Kinder darstellt,<br />

prägt die Mutter fast ausschließlich ihre Söhne <strong>und</strong> damit<br />

die später herrschenden Männer. Mit anderen Worten: In<br />

der vaterlosen Gesellschaft, wider Willen isoliert, bestimmt<br />

nur noch die Mutter die Entwicklung zum Mann" (1983, S.<br />

214).<br />

Im Kapitel zur „Entgrenzung der Männlichkeit" wurde schon<br />

die Frage gestellt, ob der Strukturwandel der Arbeitsgesellschaft<br />

nicht Räume <strong>und</strong> Gelegenheiten schafft, die familialen<br />

Geschlechterkonstellationen so zu verändern, dass Väter mehr<br />

anwesend sein <strong>und</strong> früh in die alltäglichen Beziehungs- <strong>und</strong><br />

Erziehungsbereiche eintreten könnten, so dass die ideologisch<br />

tradierte Figur der Mutterliebe ihren Gegenpol in der Vaterliebe<br />

fanden, dadurch gleichsam entlastet werden <strong>und</strong> in eine<br />

,frühkindliche Elternschaft' münden kann. Die Aussichten dafür<br />

scheinen ganz unterschiedlich zu sein. Es gibt Familien,<br />

die von ihren ökonomischen <strong>und</strong> sozialen Möglichkeiten her<br />

dieses Ziel eher realisieren können, <strong>und</strong> es gibt wiederum eine<br />

Menge Familien, in die der Strukturwandel der Arbeitsgesellschaft<br />

nur noch mehr Druck hervorruft, der bewirkt, dass sich<br />

die Mütter noch mehr an ihre Kinder klammern <strong>und</strong> die Väter<br />

es noch schwerer haben, in die Familie hineinzukommen.<br />

Denn für viele, vielleicht für den Großteil der Bevölkerung,<br />

bringt die technologische Entwicklung der Arbeitsgesellschaft<br />

mit der gleichzeitigen Intensivierung der Arbeit <strong>und</strong> der Freisetzung<br />

von Menschen in die Arbeitslosigkeit eher eine weitere<br />

Überforderung denn Entlastung der Familie. Zum einen engen<br />

die Rationalisierungsprozesse der Arbeitswelt die betrieblichen<br />

Räume - vor allem bei weniger qualifizierten Arbeitsvorgängen<br />

- ein, in denen soziale <strong>und</strong> emotionale Beziehungen<br />

außerhalb <strong>des</strong> Produktionszwecks möglich waren, so dass<br />

die Familie zum zentralen <strong>und</strong> oft einzigen Ort der Verheißung<br />

geworden ist: Partnerschaft <strong>und</strong> Familie sollen das bringen,<br />

was in der Arbeitswelt nicht mehr möglich ist: Emotionalen<br />

Rückhalt, Zuwendung, Geborgenheit. Damit entsteht ein<br />

ruck in den Familien, vor allem dann, wenn die Familienmitglieder<br />

selbst Schwierigkeiten haben, sich als Familie zu<br />

12 6<br />

begreifen <strong>und</strong> eher ihre individuellen Interessen in der Familie<br />

zu verwirklichen versuchen. In solchen emotionalen Überforderungskonstellationen<br />

der Familie versuchen die einzelnen<br />

Mitglieder, ihre Interessen an Familie zu realisieren. Die Kinder<br />

sind dabei die schwächsten Glieder. Mütter forcieren dann<br />

oft die symbiotische Mutter-Sohn-Beziehung über das frühkindliche<br />

Alter hinaus, möchten sich im <strong>und</strong> am Kind<br />

verwirklichen, lassen nun erst recht nicht los. Väter reklamieren<br />

den emotionalen Besitz an der Familie nicht über<br />

Zuwendungen, sondern über Forderungen bis hin zur Gewalt.<br />

Arbeitslose Väter wiederum können selten ihre nun freigesetzte<br />

Zeit nutzen, um in der Familie <strong>und</strong> für den Sohn (bzw. die<br />

"Tochter) emotional anwesend zu sein. Aus entsprechenden<br />

Untersuchungen wissen wir, wie arbeitslose Väter weiterhin<br />

versuchen ihre externalisierte Arbeitsrolle, die sie nun verloren<br />

haben, durch Außenaktivitäten zu kompensieren <strong>und</strong> der<br />

Familie gegenüber das Bild <strong>des</strong> externen Vaters <strong>und</strong> damit das<br />

klassische hierarchische Modell der Familienmacht<br />

aufrechtzuerhalten (vgl. dazu Bründel/Hurrelmann 1999). Aber<br />

auch die arbeitslosen Väter, die sich emotional in die Familie<br />

hineinbegeben wollen, haben ihre Schwierigkeiten: Zum einen<br />

haben sie nicht gelernt, dieses Vatersein in Stärken <strong>und</strong><br />

Schwächen einzubringen, <strong>und</strong> es fällt ihnen erst recht in einer<br />

Zeit schwer, in der sie mit der Arbeit auch viel an Selbstwert<br />

verloren haben. Zum anderen verteidigen die Mütter Familie<br />

<strong>und</strong> Haushalt als ihre emotionale Machtbasis <strong>und</strong> sehen den<br />

nun darin eindringenden Vater mit seiner Bedürftigkeit erst<br />

einanal als Fremdkörper an.<br />

Angesichts dieser Einschätzungen zur Gesellschaftsentwicklung<br />

ist davon auszugehen, dass das problematische Mutter-<br />

Sohn-Modell <strong>und</strong> das aus ihm heraus verlängerte Männer- <strong>und</strong><br />

Frauenmodell in seiner Unfertigkeit <strong>und</strong> Gestörtheit auf unabsehbare<br />

Zeit weiterhin die Struktur <strong>des</strong> Geschlechterverhältnisses<br />

bestimmen wird. „Die Mutterherrschaft wirkt sich auf<br />

Söhne viel belastender aus als auf Töchter [...], diese haben es<br />

leichter, sich mit der einzig verbliebenen Person, der aus<br />

Ohnmacht dominanten Mutter, zu identifizieren. Die Söhne<br />

geraten in größere Widersprüche. Mit dem ausschließlichen<br />

Vorbild Mutter, die sie verinnerlichen, nimmt ihre Weiblichkeit<br />

zu. Schon heute ist zu fragen, inwieweit Männlichkeit<br />

127


nicht nur die Abwehr der notgedrungen weiblichen Verinnerlichungen<br />

ist, mit denen die Männer allein nicht auskommen"<br />

(Möller 1983, S. 232). Aus dieser Mangelsituation resultiert -<br />

wir haben es bereits am Fall <strong>des</strong> Aufwachsens von Jungen beschrieben<br />

- die Idolisierung <strong>des</strong> Männlichen <strong>und</strong> damit zwangsläufig<br />

die Abwertung <strong>des</strong> Weiblichen. Jungen <strong>und</strong> Männer haben<br />

es dadurch schwer, ein selbstbestimmtes, das heißt aus dem<br />

Selbst kommen<strong>des</strong> Verhältnis zwischen Männern <strong>und</strong> Frauen<br />

aufzubauen. Sie agieren - unterschiedlich bewältigt - immer<br />

wieder in Abhängigkeit von Müttem <strong>und</strong> Frauen oder besser:<br />

in Abhängigkeit von einer Konstellation, die nicht aus dem<br />

Machtstreben der Mutter, sondern ihrer Zwangslage heraus<br />

entspringt. Insofern ist die Abhängigkeit der Männer von<br />

Frauen <strong>und</strong> die gleichzeitige männliche Abwertung der Frau<br />

im Alltag schwer thematisierbar, weil es ein tiefenstrukturelles<br />

Phänomen ist, das den männlichen <strong>und</strong> weiblichen Akteuren<br />

so überhaupt nicht bewusst sein kann. Es tritt - wie alles Tiefenpsychische<br />

- an der Oberfläche der Verhaltensweise ganz<br />

anders auf <strong>und</strong> wird von den Menschen auch entsprechend<br />

anders gedeutet. So ist das Verhältnis von Männern <strong>und</strong> Frauen<br />

ein spannungsreiches Magnetfeld, <strong>des</strong>sen Kräfte im Verborgenen<br />

wirken <strong>und</strong> es so im Alltag oft zum grotesken Verwirrspiel<br />

werden lassen.<br />

as können wir früh beobachten, wenn sich Jungen <strong>und</strong> Mädchen<br />

einander nähern <strong>und</strong> damit - nach der frühkindlichen<br />

Phase - zum ersten Mal wieder hoffnungsvoll <strong>und</strong> hoffnungslos<br />

zugleich in das Magnetfeld Mann-Frau-Beziehung geraten.<br />

Schon im vorpubertären Kin<strong>des</strong>alter - zwischen 10 <strong>und</strong> 12<br />

Jahren - ist es mit der kindlichen Geschlechterharmonie vorbei.<br />

Da Mädchen sich schneller entwickeln <strong>und</strong> früher in die<br />

Pubertät eintreten, wenden sie sich älteren Jungen zu. Das<br />

versetzt die gleichaltrigen Buben in wütende Hilflosigkeit, die<br />

sie dann oft in sexistische Mädchenanmache <strong>und</strong> Frauenabwertung<br />

abspalten. Der Kreisel von Idolisierung <strong>des</strong> Maskulinen<br />

<strong>und</strong> Abwertung <strong>des</strong> Weiblichen beginnt sich nun stärker<br />

zu drehen. So hat sich dann zu Beginn der Pubertät bereits ein<br />

doppeldeutiges Mädchen- <strong>und</strong> Frauenbild festgesetzt, das in<br />

der Jungenclique seine Bestätigung <strong>und</strong> Verankerung sucht.<br />

Hier kommen Jungen zusammen, die fast alle in unterschiedlicher<br />

Weise das Problem mit sich herumtragen, dass sie im-<br />

128<br />

mer noch auf der Suche nach sich als Mann sind <strong>und</strong> in dieser<br />

Suche nicht fündig werden, weil sie in dieses Hin- <strong>und</strong> Hergerissensein<br />

zwischen der Anziehung hin zum <strong>und</strong> Abwertung<br />

<strong>des</strong> Weiblichen geraten sind (vgl. Kap. 3.7).<br />

In diesem Gruppenklima gedeihen auch jene stereotypen Einstellungen<br />

der männlichen Bewertung von Frauen, derer sich<br />

Männer im Laufe ihres Lebens immer wieder bedienen <strong>und</strong> in<br />

denen auch wieder das Gr<strong>und</strong>muster von Anziehung <strong>und</strong> Abwertung<br />

aufscheint: Die unnahbare, nie erreichbare "Traumfrau<br />

auf der einen Seite, das Sexualobjekt, die benutzbare Hure auf<br />

der anderen. Auch dies erschwert wieder Kommunikation mit<br />

Mädchen <strong>und</strong> Frauen, weil Jungen <strong>und</strong> Männer oft ihr Kontrollverhalten<br />

gegenüber Mädchen <strong>und</strong> Frauen an diesen Stereotypen<br />

<strong>und</strong> ihrer unüberbrückbaren Spannung ausrichten. In<br />

Krisensituationen der Partnerschaft <strong>und</strong> natürlich bei der<br />

Scheidung brechen diese Stereotype nicht selten wieder aus<br />

den Männern heraus.<br />

Die Urangst <strong>des</strong> männlichen Geschlechts<br />

„Gerade die körperliche Beschaffenheit <strong>des</strong> Mannes legt ihm<br />

Schranken auf, nur ihm, nicht aber der Frau. Seine Fähigkeit<br />

zum Sexualgenuss ist an die Erfüllung bestimmter physiologischer<br />

Bedingungen geknüpft, die ihre ist es nicht. Seine Funktionsmöglichkeit<br />

ist an das Steifwerden <strong>des</strong> männlichen Glie<strong>des</strong><br />

geb<strong>und</strong>en <strong>und</strong> daher beschränkt, die ihre ist unbeschränkt.<br />

[...] Damit liegt zweifellos eine Begünstigung der Frau vor.<br />

[...] Lind so hat sich auch in der männlichen Psyche eine starke<br />

Bewertung dieser Unterscheidung festgesetzt <strong>und</strong> damit<br />

zugleich ein Zwang zur Überkompensation. Aus dem Bewusstsein<br />

<strong>des</strong> Mannes von der physiologischen Überlegenheit<br />

der Frau im sexuellen Genuss hat sich bei ihm ein ganzer<br />

Angstkomplex entwickelt, <strong>des</strong>sen Ausstrahlung sich bis in die<br />

letzte Verästelung nicht nur unseres Sexual-, sondern <strong>des</strong> gesamten<br />

Kulturlebens fühlbar macht. Es ist die Angst vor dem<br />

Versagen, vor der sexuellen Niederlage. Als individuelle Erscheinung<br />

ist diese Angst <strong>des</strong> Mannes vor zeitweiliger oder<br />

dauernder Impotenz zur Genüge bekannt.[ ...] Aber durchaus<br />

nicht nur der einzelne Mann, sondern die männliche Psyche in<br />

ihrer Gesamtheit lebt unter dem Druck der gleichen Angst <strong>und</strong><br />

man kann das männliche Weltbild gar nicht verstehen, wenn<br />

129


man diesen Faktor übersieht, diese Urangst <strong>des</strong> männlichen<br />

Geschlechts." So ließ sich „der Mann durch die größere physiologisch-sexuelle<br />

Tüchtigkeit der Frau [...] in ein Gefühl der<br />

Angst vor Minderwertigkeit <strong>und</strong> in unzweckmäßige Überkompensation<br />

verlocken [...], die ihn zum Herabsetzungsprinzip<br />

gegenüber der weiblichen Sexualität [...] geführt hat" (Lazarsfeld<br />

1931, S. 80/81). Diese seit der sexualwissenschaftlichen<br />

Diskussion der 1920er Jahre (vgl. auch Hirschfeld 1930)<br />

so ausgemachte sexuelle „Urangst" <strong>des</strong> Mannes vor der Frau<br />

wird auch immer wieder mit der Gebärfähigkeit in Zusammenhang<br />

gebracht. Von den Naturvölkern wurde der weibliche<br />

Gebärvorgang als Ausdruck einer naturmythischen Macht<br />

der Frau gedeutet. Man hatte ja zurzeit der Stammeskulturen<br />

noch nicht die uns heute geläufigen medizinischen Kenntnisse<br />

<strong>und</strong> konnte sich Menstruation, Zeugung <strong>und</strong> Gebären nur mythologisch<br />

vorstellen. Entsprechend haben Männer seit dieser<br />

Zeit versucht, eine soziale Gegenmacht zu dieser „Naturmacht"<br />

der Frau aufzubauen, die später in der Weise kulturell<br />

institutionalisiert wurde, dass man(n) die weibliche ,Naturnähe'<br />

in eine Naturgeb<strong>und</strong>enheit' umdefinierte. Der konnte<br />

dann die männliche' Rationalität der Naturbeherrschung' gegenübergestellt<br />

<strong>und</strong> somit die geistige <strong>und</strong> soziale Unterlegenheit<br />

der Frau behauptet werden. „Aus dem Geschlechterunterschied<br />

folgt die Angst der Männer vor den Frauen, vor der<br />

mythischen Baubokratie. Das ist ein drängen<strong>des</strong> Motiv, das<br />

soziale Patriarchat, in welcher historischen Form auch immer,<br />

zu verteidigen <strong>und</strong> zu erneuern" (Gottschalch 1991, S. 115).<br />

Dass dies auch heute noch nicht ausgestanden ist, zeigt nicht<br />

nur die immer wieder neu aufblühende populistische Literatur<br />

zur genetischen Legitimation geschlechtsdichotomer Temperamente<br />

<strong>und</strong> Fähigkeiten, sondern auch die alltäglichen Dramen,<br />

in denen diese „Urangst" <strong>des</strong> Mannes gleichsam archetypisch<br />

durchscheint: Bei der Geburt <strong>des</strong> ersten Kin<strong>des</strong>; bei<br />

kritischen Lebensereignissen, wie der Scheidung, wo es um<br />

Mutterschafts- <strong>und</strong> Vaterschaftsrechte geht, aber auch in alltäglichen<br />

Konflikten, in denen sich konferenzdressierte Männer<br />

durch emotionale Ausbrüche von Frauen, welche die<br />

männlichen Rituale nicht mitmachen wollen, düpiert fühlen<br />

<strong>und</strong> schnell zu Etikierungen wie „unsachlich" oder „hysterisch"<br />

greifen.<br />

13 0<br />

Beziehungen zu Mädchen <strong>und</strong> später zu Frauen sind immer<br />

wieder von diesem Hin- <strong>und</strong> Hergerissensein bestimmt <strong>und</strong><br />

erscheinen <strong>des</strong>halb für viele Männer riskant, angstbesetzt.<br />

Diese Angst muss abgespalten <strong>und</strong> in äußeres Dominanzverhalten<br />

umgesetzt werden. Wo keine Verständigung mit den<br />

Frauen gelingt, wo das Dominanzverhalten nicht einschlägt,<br />

bleibt nur der Rückzug in die männliche Einsamkeit. Das<br />

Schweigen der Männer über sich selbst <strong>und</strong> Frauen gegenüber<br />

ist ein Ausdruck dieser Einsamkeit. Es ist aber nicht die Einsamkeit<br />

der Gefühle, sondern die harte Einsamkeit <strong>des</strong>sen, der<br />

allein gegenüber der (Frauen)Welt steht <strong>und</strong> <strong>des</strong>halb noch härter<br />

mit sich <strong>und</strong> anderen sein muss. Dicht von ungefähr ist das<br />

ild <strong>des</strong> „Lonesome Cowboy" bei sich dominant <strong>und</strong> hart gebenden<br />

Männern so beliebt.<br />

Wenn dann die feste Fre<strong>und</strong>in da ist, eine längere Partnerschaft<br />

beginnt oder nach einiger Zeit sogar geheiratet wird,<br />

glättet das Aufeinanderangewiesensein <strong>und</strong> der Verständigungszwang<br />

über das Gemeinsame die männlichen Wogen<br />

<strong>des</strong> Hin- <strong>und</strong> Hergerissenseins. Dennoch wirkt das zwiespältige<br />

Mutter-Sohn/Mann-Frau-Modell weiter. Denn in der Partnerschaft<br />

prallen ja zwei unterschiedliche Geschlechterkulturen<br />

aufeinander. Viele junge Männer schwanken weiterhin<br />

zwischen dem Hin- <strong>und</strong> Hergerissensein von Gefühlsbeziehung<br />

<strong>und</strong> umso heftigerer Abwertung der romantischen Liebe,<br />

die aber viele Mädchen/Frauen - zumin<strong>des</strong>t am Anfang der<br />

Partnerschaft oder Ehe - von den Männern erwarten. Und da<br />

es Männer - von ihren biografischen Erfahrungen in Kindheit<br />

<strong>und</strong> Jugend her - schwer haben, mit Gefühlsbeziehungen außerhalb<br />

von Sondersituationen, also im Alltag, umzugehen,<br />

pendelt sich bald das externalisierte Verhalten wieder ein: Die<br />

Beziehung, die Ehe <strong>und</strong> später die Familie soll „funktionieren",<br />

daran misst sich der Mann, daran - so glaubt er - wird er<br />

gemessen. Die Frauen - auch wenn sie berufstätig sind - ziehen<br />

sich dann oft wieder in das Innere der familialen Beziehungsarbeit<br />

zurück, festigen ihre emotionale Binnenmacht<br />

bewusst oder unbewusst auch gegenüber ihren Männern. Diese<br />

wiederum können - von ihrem externalisierten Funktionsverständnis<br />

her - die Gefühle <strong>und</strong> Sehnsüchte, die sie in der<br />

Familie stillen möchten, dann erst recht nicht entsprechend<br />

mitteilen. Männliche Bedürftigkeit <strong>und</strong> weibliche Enttäu-


schung machen sich in vielen Familien breit, können dann in<br />

kritischen Familiensituationen folgenreich aufbrechen.<br />

Männer können also - bildhaft gesprochen - Frauen nicht entrinnen.<br />

Die Macht der Mutter ist weiter in ihnen. Um gleich<br />

vorzubauen: Hier wird Müttern nicht die Schuld zugeschoben,<br />

dass sie dafür verantwortlich sind, wie sich Männer entwickeln.<br />

Moeller hat ja - in seinem Zitat zum Familienmatriarchat<br />

- auch ausdrücklich davon gesprochen, dass das „Widerwillen"<br />

der Beteiligten existiert, dass dies also ein struktureller<br />

Vorgang ist. Selbst Mütter, die ihre Söhne zu „anderen"<br />

Männern erziehen wollten, erzählen, dass sie irgendwann<br />

dann doch gemerkt haben, dass sie zwar von ihrer Intention<br />

her mit ihren Söhnen anders umgehen wollten, dass sie aber<br />

nicht über den Schatten ihrer widersprüchlichen Mutterrolle -<br />

den Jungen loslassen müssen <strong>und</strong> gesellschaftsfähig machen -<br />

springen konnten. So wird deutlich, wie diese für Söhne zwiespältige<br />

Rolle der Mütterlichkeit ein gesellschaftliches Muster<br />

ist. Daraufzielt auch der Bef<strong>und</strong> von Nancy Chodorow ab, die<br />

direkt den Begriff <strong>des</strong> „Mutteras" (mothering) gebraucht, um<br />

die typische Abhängigkeitskonstellation <strong>des</strong> Junge- <strong>und</strong><br />

Mannwerdens begreifen zu können: „In den isolierten Kleinfamilien<br />

heutiger kapitalistischer Gesellschaften erzeugt das<br />

Muttern der Frauen spezifische Persönlichkeitsmerkmale bei<br />

Männern [...] Es bereitet Männer auf ihre Teilnahme an einer<br />

männlich dominierten Familie <strong>und</strong> Gesellschaft vor, auf ihre<br />

geringere emotionale Beteiligung am Familienleben <strong>und</strong> auf<br />

ihre Mitwirkung in der kapitalistischen Arbeitswelt [...] Die<br />

Mütter führen die Väter bei den hindern als wichtige Figuren<br />

ein, sie bauen die Väter für die Kinder erst auf, um einen Ausgleich<br />

dafür zu schaffen, dass Kinder ihre Väter nicht im gleichen<br />

Maße wie ihre Mütter kennen lernen können. Gleichzeitig<br />

aber unterhöhlen sie seine Position sozialer Überlegenheit<br />

oder angemaßter Familienautorität" (1985, S. 234). Dies geschieht<br />

vor allem dadurch, dass die Mutter dem Jungen in ihrer<br />

alltäglichen Repräsentanz nahe ist <strong>und</strong> der Junge immer<br />

wieder spürt, dass der Vater in seiner emotionalen Bedürftigkeit<br />

im Binnenkreis der Familie letztlich doch immer wieder<br />

vom Entgegenkommen bzw. der Verweigerung der Mutter<br />

abhängig ist.<br />

132<br />

Die zwiespältige Abhängigkeit <strong>des</strong> Sohnes von der Mutter <strong>und</strong><br />

später <strong>des</strong> Mannes von der Frau bleibt auch dann, wenn sich<br />

die Jungen von der Mutter gelöst haben. Sie äußert sich darin,<br />

dass sie sich den emotionalen Zugang zu sich selbst immer<br />

wieder von der Mutter <strong>und</strong> später von der Frau erhoffen, weil<br />

sie ihn in ihrer externalisierten Welt selbst nicht herstellen<br />

können. Wird dann das verwehrte Selbst als Hilflosigkeit erlebt,<br />

äußert es sich nach außen in jenen Abspaltungen als Aggression<br />

Schwächeren gegenüber, wie wir sie bereits beschrieben<br />

haben oder nach innen in der Enttäuschung an der<br />

Mutter. Ich habe bei der Begleitung von Projekten, die mit<br />

kriminell gewordenen Jugendlichen gearbeitet haben, immer<br />

wieder diese übergroße <strong>und</strong> doppeldeutige Bedeutung der<br />

Mutter für den Jungen erlebt. Wenn es einmal gelungen war,<br />

mit den Jungen über sich selbst ins Gespräch zu kommen, nicht<br />

über das Delikt, sondern über ihre eigenen Ängste <strong>und</strong> Sehnsüchte,<br />

dann stand immer wieder die Enttäuschung an der Mutter<br />

im Vordergr<strong>und</strong>, vom Mater war so gut wie keine Rede.<br />

„Wie dem auch sei, der Hintergrand der Männlichkeit ist<br />

weiblich. Wir kommen alle aus dem Frauenschoß <strong>und</strong> sind in<br />

den ersten Jahren unseres Lebens auf Gedeih <strong>und</strong> Verderb von<br />

Frauen abhängig. Unser Selbst entdecken wir, wenn es einigermaßen<br />

gut geht, in den Augen unserer Mutter. Sie ist denn<br />

auch unser erstes Identifikationsobjekt. Natürlich ist der Junge<br />

von Geburt an männlichen Geschlechts, aber er erlebt sich zu<br />

Beginn seines Lebens seiner Mutter näher als dem Vater. Nur<br />

langsam <strong>und</strong> mühsam entwickelt er seine Geschlechtsidentität<br />

<strong>und</strong> bleibt auch später in seiner Sexualität oft unsicher, was er<br />

häufig unter demonstrativer Männlichkeit verbirgt. Das „Urgestein"<br />

der Männlichkeit ist eine [...] dünne Kruste" (Wilfried<br />

Gottschalch: Männlichkeit <strong>und</strong> Gewalt 1997, S. 27).<br />

Die Mutter-Sohn-Beziehung ambivalenter Abhängigkeit ist<br />

gleichsam zum Modell <strong>des</strong> durchschnittlichen Männer-<br />

Frauen-Verhältnisses in unserer Gesellschaft geworden. Es ist<br />

wiederum ein tiefendynamisches Verhältnis, das der Oberfläche<br />

sozialen Lebens verborgen bleibt <strong>und</strong> sich in den alltäglichen<br />

Handlungen der Männer so nicht äußert, sondern hinter<br />

ihnen versteckt ist. Barbara Franck hat in ihren Anfang der<br />

1980er Jahre veröffentlichten Gesprächsprotokollen mit Män-<br />

133


nerv zum Thema „Mütter <strong>und</strong> Söhne" das anhaltende Wirken<br />

dieser Beziehung in der Biografie von Männern herausgearbeitet.<br />

Dabei wird deutlich, dass das „Muttern" <strong>und</strong> die damit<br />

zusammenhängenden Abhängigkeiten <strong>des</strong> Sohnes in dem Maße<br />

das Leben von Jungen <strong>und</strong> später von Männern prägt, als<br />

der Vater abwesend <strong>und</strong> nicht greifbar ist. Man darf also nicht<br />

isoliert von der Mutter ausgehen, sondern muss die Stellung<br />

<strong>des</strong> Vaters zur Familie genauso in den Mittelpunkt der Argumentation<br />

stellen. Denn dort, wo die Väter früh in die familialen<br />

Beziehungen zum bind mit Gefühl <strong>und</strong> Zuwendung eintraten<br />

<strong>und</strong> sich den Jungen nicht nur in Stärken, sondern auch<br />

in Schwächen öffneten, hat sich bei den Jungen <strong>und</strong> später bei<br />

den Männern eine produktive Distanz zur Mutter entwickelt.<br />

Geborgenheit konnte hier bei Mutter <strong>und</strong> Vater erlebt werden.<br />

Diese gelungene „Triangulation" verhilft dem Jungen dazu,<br />

dass er zu sich selbst kommen kann, dass er die Mutter nicht<br />

abwerten muss, weil er von ihr abhängig ist <strong>und</strong> er das Männliche<br />

nicht idolisieren muss, weil der Vater für ihn über Gefühle<br />

nicht erreichbar ist.<br />

Häufiger ist bei uns aber immer noch jene Konstellation, in<br />

der die Mutter das kindliche Erleben der sozialen Beziehungswelt<br />

bestimmt <strong>und</strong> für den späteren Lebensweg beeinflusst:<br />

„Die Beziehung zur Mutter prägt die Frauenbeziehung<br />

also auf doppeltem Weg: Einmal wird die Frau wie die Mutter<br />

erlebt, das heißt, die Paar- bzw. Ehebeziehung wird wie eine<br />

Mutterbeziehung wahrgenommen. liier setzt sich die Mutter-<br />

Sohn-Beziehung schlichtweg fort. Darüber hinaus ist der Sohn<br />

jedoch auch mit der Mutter identifiziert <strong>und</strong> verhält sich<br />

manchmal den Frauen gegenüber so, wie seine Mutter sich<br />

ihm gegenüber verhalten hat" (Moeller 1983, S. 228/229).<br />

Wie bei allem, was wir hier an tiefenpsychischen Mechanismen<br />

diskutieren, hängt es von den sozialen Umständen ab,<br />

wie der Junge damit umgehen, dies bewältigen kann. Es muss<br />

nicht immer alles ausbrechen, aber es darf auch nicht vergessen<br />

werden, dass diese Mechanismen da sind <strong>und</strong> dass man<br />

sich mit ihnen immer wieder - wenn auch meist unbewusst -<br />

auseinandersetzen muss. Das Problematische an der Mutter-<br />

Kind-Dyade ist wohl, dass sie zu einer Zeit gesellschaftlich<br />

hochgehalten <strong>und</strong> verklärt wird, in der die gesellschaftlichen<br />

Systeme sich immer mehr von den Menschen entfernen <strong>und</strong><br />

<strong>und</strong>urchschaubarer werden. Je weiter aber dieser Prozess fortschreitet,<br />

<strong>des</strong>to mehr klammert man sich an das Feststehende,<br />

Unverrückbare, Verlässliche, das den Menschen immer noch<br />

Mensch sein lässt. Muttersein <strong>und</strong> Mütterlichkeit ist angesichts<br />

der steigenden Rationalisierung der gesellschaftszugewandten<br />

Lebensbereiche ausgangs <strong>des</strong> zwanzigsten Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

wieder ein hoher privater Wert geworden. Damit ist die<br />

Macht der Frauen über die Männer zu einer Zeit wieder im<br />

Ansteigen, zu der die gesellschaftlich-ökonomische Entwicklung<br />

externalisierter abläuft denn je. Dies geht zusammen,<br />

wenn das Weiblich-Mütterliche weiter zu einer Naturkonstante<br />

erklärt wird. So kann die Mütterlichkeit hochgehalten werden,<br />

ohne den externalisierten Fortschrittsgedanken zu <strong>des</strong>avouieren.<br />

3.5 Die ab- <strong>und</strong> anwesenden Väter<br />

In der von Männern über die Zeiten weg immer wieder neu<br />

thematisierten Zuschreibung der „Muttermacht" hat sich ein<br />

typisches Spannungsverhältnis zwischen Mutterschaft <strong>und</strong><br />

Vaterschaft aufgebaut: Die Vaterrolle war damit gleichsam in<br />

den Sog geraten, eine soziale <strong>und</strong> kulturelle Gegenmacht zur<br />

weiblichen Naturmacht' der Mutter aufzubauen. Indem der<br />

Mann seine Zeugungsmacht entgegenhielt <strong>und</strong> diese früh als<br />

lebenszeitüberdauernde Generationsmacht der Abkunft' <strong>und</strong><br />

der Nachkommenschaft' definierte, hat er versucht, symbolische<br />

Macht über Natur <strong>und</strong> Tod der Naturnähe <strong>und</strong> Naturverb<strong>und</strong>enheit<br />

der gebärfähigen Frau gegenüberzustellen. Diese<br />

männliche Mentalität, die Zeugungsmacht auszuspielen, ist<br />

zwar heute zivilisatorisch überformt, wirkt aber weiter <strong>und</strong><br />

wird vor allem in Konflikten <strong>des</strong> Geschlechterverhältnisses<br />

bloßgelegt. Gerade bei Scheidungen, wo es darum geht, wem<br />

die Kinder zugesprochen werden, steigt dieses Gefühl <strong>und</strong><br />

gleichzeitig die Bedrohung der gleichsam stammesväterlichen<br />

Zeugungsmacht bei vielen Männern auf. Wenn die Kinder der<br />

Frau zugesprochen werden, fühlen sich nicht wenige Männer<br />

dieser Generationsmacht beraubt <strong>und</strong> reagieren entsprechend<br />

aggressiv oder panisch. Dies wird aus Männerberatungsstellen<br />

immer wieder berichtet.<br />

13 5


er britische Natur- <strong>und</strong> Sozialphilosoph Bertrand Russell hat<br />

in den 1920er Jahren - damals als ein Zeitschema - auf diese<br />

nun gleichfalls naturmythische' Gegenkonstruktion der Vaterschaft<br />

hingewiesen: „Die Leistungen der Nachkommen eines<br />

Mannes sind gewissermaßen seine eigenen Leistungen<br />

<strong>und</strong> ihr Leben ist die Fortsetzung seines Lebens. her Ehrgeiz<br />

findet sein Ende nicht am Grabe, sondern kann durch die Geschlechterfolge<br />

der Nachkommen hindurch unbegrenzt verlängert<br />

werden [...] Das rein instinktive Element in der Eifersucht<br />

ist nicht annähernd so stark wie die meisten modernen<br />

Menschen annehmen. Die übertrieben starke Eifersucht bei<br />

patriarchalen Gesellschaften beruht auf der Furcht vor der Fälschung<br />

der Abkunft" (1929, S. 21122).<br />

hier finden wir wieder die naturmythische' Angst vor der<br />

Frau, die sich in der tiefenpsychischen Figur <strong>des</strong> Gebärneids<br />

ausdrückt. In der bürgerlichen Familie, in der Mann <strong>und</strong> Frau<br />

als Vater <strong>und</strong> Mutter eng aufeinander bezogen sind, ist dieses<br />

Motiv <strong>des</strong> Gebärneids alltäglich überformt, bricht aber bei<br />

einschneidenden oder kritischen partnerschaftlichen Lebensereignissen<br />

- Geburt, "Trennung - eigenartig, aber typisch wieder<br />

auf. Nicht umsonst ist die Figur <strong>des</strong> Gebärneids in der<br />

Psychoanalyse, die ja auf der Krisenthematik der bürgerlichen<br />

Kleinfamilie fußt, eines der zentralen Interpretationsmuster<br />

der väterlichen Statusangst. her männliche Machtanspruch als<br />

esitzanspruch auf die Nachkommenschaft war so immer<br />

wieder in fragiler Spannung gehalten durch diese ,naturmythische'<br />

Angst vor der Frau.<br />

Nun ist in diesen Zusammenhängen mehr enthalten, als nur<br />

eine familiale Autoritätskrise <strong>des</strong> Vaters. Väter, die für solche<br />

Spannungen in der Beziehung zur Partnerin <strong>und</strong> zu dem in der<br />

Mutter-Kind-Dyade verschmolzenem Kind sensibel sind,<br />

werden in ihrem Mannsein angerührt. Sie fühlen sich plötzlich<br />

draußen, aus der Familie vertrieben. In solchen Krisensituationen<br />

wird deutlich, dass die Verankerung <strong>des</strong> Vaters in der<br />

Familie der Industriegesellschaft auf der patriarchalen Ideologie<br />

<strong>und</strong> weniger auf einer Beziehungspraxis beruht. Die<br />

Selbstverständlichkeit <strong>des</strong> Vaters als Familienoberhaupt war<br />

in der Vergangenheit vom patriarchal strukturierten Staat gestützt.<br />

Dies gehörte zu den zentralen Bedingungen, um die ge-<br />

13 6<br />

sellschaftliche Reproduktionsaufgabe der Familie abzusichern.<br />

Die Familie sollte darauf ausgerichtet sein, die Arbeitskraft<br />

<strong>des</strong> Vaters alltäglich sozial <strong>und</strong> mental wiederherzustellen.<br />

Die Mutter hatte sich dieser ideologisch gestützten Vaterrolle<br />

unterzuordnen, sie hatte sich nicht selbst in der Familie<br />

zu entfalten, sondern den Vater zu vertreten, seine Normen<br />

durchzusetzen. Noch heute drohen Mütter mit dem Vater,<br />

wenn sie ihren Kindern etwas verbieten, sie zurechtweisen<br />

wollen.<br />

iese Selbstverständlichkeit der mütterlich immer wieder hergestellten<br />

familialen Anwesenheit` <strong>des</strong> räumlich abwesenden<br />

Vaters ist nicht erst in den letzten Jahren durchbrochen worden.<br />

Sie begann zu der Zeit brüchig zu werden, in der die Modernisierung<br />

der Industriegesellschaft zur Krise der Familie<br />

geführt hat. Dabei ging es nicht nur um eine Überforderung<br />

der Familie durch die psychischen <strong>und</strong> sozialen Probleme,<br />

welche die fortschreitende Industrialisierung mit ihren Brüchen<br />

<strong>und</strong> Verwerfungen hervorbrachte, sondern auch darum,<br />

dass die moderne Entwicklung schon damals die Geschlossenheit<br />

der Familie aufbrach. Wir können am Beispiel der Jugendbewegung<br />

sehen, wie sich Jugendliche früher von der<br />

Familie absetzten <strong>und</strong> ihren eigenen gesellschaftlichen Weg<br />

suchten <strong>und</strong> können am Beispiel der bürgerlichen Frauenbewegung<br />

nachzeichnen, dass Frauen sich nun nicht mehr einfach<br />

der Familienrolle unterordneten, sich mit ihrer Identität<br />

als Mutter beschieden, sondern eine neue Identität als Frau in<br />

der <strong>und</strong> über die Familie hinaus suchten. Dieser frühe Prozess<br />

der „Individualisierung" bildete also den Hintergr<strong>und</strong> nicht<br />

nur der Familienkrise der damaligen Zeit, sondern auch der<br />

Autoritätskrise <strong>des</strong> Vaters <strong>und</strong> damit der Krise <strong>des</strong> Mannseins.<br />

Hinzu kommt die gesellschaftliche Entwertung <strong>des</strong> Vaters.<br />

Während vor der Jahrh<strong>und</strong>ertwende vom 19. zum 20. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

- im wilhelminischen Deutschland also - die Autoritätsfigur<br />

<strong>des</strong> Vaters noch unangetastet war, begann sie nach<br />

dieser Jahrh<strong>und</strong>ertwende deutlich abzubröckeln. Dies hing mit<br />

den sozialökonomischen Entwicklungsschüben der industriekapitalistischen<br />

Modernisierung zusammen, die ihre zweite<br />

Phase in Deutschland um diese Jahrh<strong>und</strong>ertwende erreichte.<br />

ie Väter, bisher Vorbilder dafür, wie sich die Jungen in der<br />

137


Gesellschaft zu verhalten hatten, wurden auf einmal von den<br />

sozialen <strong>und</strong> ökonomischen Entwicklungen dieser zweiten Modernisierung<br />

überrollt. Es entstanden nicht nur neue industrielle<br />

Produktionsstrukturen <strong>und</strong> Berufe, sondern auch bisher nicht<br />

gekannte soziale Wandlungsprozesse: Nicht mehr der tradierte,<br />

autoritätsfixierte Mann wurde im Wirtschaftsleben verlangt,<br />

sondern der mobile, flexible, dem Neuen aufgeschlossene. Die<br />

Väter konnten nicht mehr als Vorbild dienen, die Jungen<br />

mussten sich aus der Familie <strong>und</strong> ihren patriarchalen Strukturen<br />

lösen, denn sie war nicht mehr richtungsweisend <strong>und</strong> stilbildend<br />

für das moderne Berufs- <strong>und</strong> Sozialleben. Zwar wurde<br />

die patriarchale Autorität vom Staat immer noch hochgehalten,<br />

ihre lebensweltlichen Vorbilder suchten aber die Jugendlichen<br />

woanders: Vor allem unter Ihresgleichen. Die Jugendbewegung<br />

zu Beginn <strong>des</strong> 20. Jahrh<strong>und</strong>erts symbolisierte die<br />

gleichsam gesellschaftlich zwingende Abwendung vom Muster<br />

der väterlichen Autorität. Bertrand Russell drückte dies in<br />

den 1920er Jahren noch drastischer aus: „Die Funktionen <strong>des</strong><br />

Vaters sind [...] auf ein Minimum verringert, weil die meisten<br />

Funktionen vom Staat übernommen werden. Mit dem Fortschritt<br />

der Zivilisation ist dies unvermeidlich [...] die wirtschaftliche<br />

Funktion <strong>des</strong> Vaters kann bei den wohlhabenden<br />

Schichten wirksamer erfüllt werden, wenn er tot ist, als wenn<br />

er lebt, da er sein Vermögen den Kindern hinterlassen kann,<br />

ohne ein Teil davon für seinen eigenen Unterhalt verbrauchen<br />

zu müssen" (1929, S. 122).<br />

Mit der sozialökonomischen Entmachtung <strong>des</strong> Vaters geht also<br />

auch eine massive Entwertung der Vaterfunktion im Erziehungsbereich<br />

der Familie einher. In den 1920er Jahren, im<br />

Zuge der weiteren Ausdifferenzierung der arbeitsteiligen Produktion<br />

<strong>und</strong> der totalen Bindung der Arbeiter <strong>und</strong> Angestellten<br />

an die Betriebe <strong>und</strong> deren Produktionsrhythmus kommt zu<br />

der Entwertung <strong>des</strong> Vaters seine kontinuierliche Abwesenheit<br />

hinzu. Der in der Familie schwache Vater, <strong>des</strong>sen Autorität<br />

nur noch ideologisch <strong>und</strong> über die Mutter aufrechterhalten<br />

wird, ist nun durch seine Verfügbarkeit im modernisierten industriekapitalistischen<br />

Prozess weiter geschwächt. Je mehr er<br />

aber in der seelenlosen Rationalität der industriellen Produktionsweise<br />

aufgeht, <strong>des</strong>to stärker ist er auf die emotionale Kraft<br />

<strong>und</strong> den Rückhalt in der Familie angewiesen. Der abwesende<br />

Vater wird so auch zum bedürftigen Vater, der wieder in die<br />

Familie hineinkommen will, aber nicht die entsprechende Resonanz<br />

findet. Bertrand Russell hat dies schon so beobachtet:<br />

„Itn modernen heben ist die große Mehrzahl der Väter von<br />

ihrem Beruf so sehr in Anspruch genommen, dass sie von ihren<br />

Kindern nicht viel zu sehen bekommen. Morgens haben<br />

sie es so eilig, an ihre Arbeitsstelle zu gelangen, als dass sie<br />

Zeit zur Unterhaltung hätten. Wenn sie abends heim kommen,<br />

sind die Kinder schon im Bett oder sollten es sein. Man hört<br />

Geschichten von Kindern, die ihren Vater nur als den „Mann,<br />

der zum Wochenende kommt" kennen. An dem wichtigen Geschäft<br />

der Betreuung <strong>des</strong> Kin<strong>des</strong> kann der Vater selten teilnehmen.<br />

Diese Pflicht teilen sich die Mütter <strong>und</strong> der Staat. Es<br />

ist richtig, dass der Vater seine Kinder auch sehr lieb hat, trotz<br />

der wenigen Zeit, die mit ihnen zusammen sein kann. Jeden<br />

Sonntag kann man in den ärmeren Gegenden Londons zahlreiche<br />

Väter mit ihren Kleinkindern beobachten, die offensichtlich<br />

an der kurzen Gelegenheit, ihre Buben <strong>und</strong> Mädchen<br />

kennen zu lernen, riesige Freude haben. Aber wie sich das<br />

auch vom Gesichtspunkt <strong>des</strong> Vaters ansehen mag, für das<br />

Find ist das lediglich eine Spielbeziehung ohne ernsthafte Bedeutung"<br />

(ebd., S. 122f). Im Prinzip gilt das oft noch heute,<br />

auch wenn die Väter sich ihrer Situation mehr bewusst sind:<br />

Väter kommen oft nur in Sondersituationen mit den Kindern<br />

zusammen, es fehlt die Alltagsidentifikation mit den väterlichen<br />

Schwächen <strong>und</strong> Stärken gleichermaßen.<br />

Alexander Mitscherlich hat in seinem Klassiker „Auf dem<br />

Weg zur vaterlosen Gesellschaft` (1963) diesen Zusammenhang<br />

zwischen steigender Arbeitsteilung im Zuge der industriellen<br />

Modernisierung, Herausziehen <strong>des</strong> Vaters aus der Familie<br />

<strong>und</strong> der sozialen <strong>und</strong> pädagogischen Vaterentwertung<br />

allgemein zusammengefasst: „Wo man sich dem erfindungsbeschleunigten<br />

Fortschritt der technischen Zivilisation anvertraut,<br />

dort zerfällt die Hierarchie der alten Sozialordnungen<br />

bis in die [...] der Familie hinein. [...] Die Trennung der väterlichen<br />

von der kindlichen Welt in unserer Zivilisation lässt eine<br />

[...] anschauliche Erfahrung auf beiden Seiten nicht zu; ja<br />

das Kind weiß nicht, was der Vater tut, der Vater nicht wie<br />

das Kind in seine Fertigkeiten hereinwächst [...]. Die Identität<br />

ist für das Kind schwierig zu finden, weil es zu viel seinen<br />

13 9


Phantasien über den Vater überlassen bleibt, statt ihn in einer<br />

Welt erfahren zu können, in der es ihn durch Mittätigkeit kennen<br />

lernen kann" (1967, S. 193f). Hier ist schon das gemeint,<br />

was wir als Idolisierung von Männlichkeit durch die Jungen<br />

bezeichnen <strong>und</strong> das - so müssen wir hinzufügen - die Abwertung<br />

<strong>des</strong> Weiblichen fast zwangsläufig nach sich zieht.<br />

Heute drängen viele Männer aus eigenen biografischen Antrieben<br />

in die Familie hinein, werden aber gleichzeitig im Zuge<br />

der Intensivierung der Arbeit (bei höherer ökonomischer<br />

Verfügbarkeit <strong>des</strong> Mannes) wieder von der Familie weggezogen.<br />

Der Traum der männerbewegten Zirkel der 1990er Jahre,<br />

der „neue Mann" könne sich biografisch durchsetzen, auch<br />

wenn ihn das ökonomische System weiter vereinnahme, konnte<br />

sich so nicht erfüllen. Vielmehr hat sich ein bezeichnender<br />

Spannungszustand entwickelt, der sich in der neueren empirischen<br />

Väterforschung gut abbildet: Väter beteiligen sich deutlich<br />

mehr in den Familien, aber es scheint nicht für einen<br />

strukturellen Wandel hin zur Familienvaterschaft zu reichen.<br />

So hat sich zwar der entsprechende zeitliche Aufwand bei den<br />

Vätern im Durchschnitt wesentlich erhöht, er konzentriert sich<br />

aber vor allem auf das arbeitsfreie Wochenende sowie sportliche<br />

<strong>und</strong> spielerische Aktivitäten, während die Mithilfe bei<br />

pflegerischen <strong>und</strong> haushaltsbezogenen Arbeiten deutlich weniger<br />

zugenommen hat (vgl. Gonser 1994, Fthenakis 1999).<br />

Auch die Erwerbstätigkeit der Frau führt nicht zwingend zur<br />

partnerschaftlichen Teilung der Haushalts- <strong>und</strong> Familienaufgaben<br />

(vgl. BMFSJ 1997). Erhärtet werden diese Bef<strong>und</strong>e von<br />

der Kinderseite her. Der deutsche Kinder-Eltern-Survey Mitte<br />

der 1990er Jahre zeigte, dass Väter über den Alltag, die Einstellungen<br />

<strong>und</strong> die sozialen Beziehungen ihrer Finder wesentlich<br />

weniger Bescheid wissen als die Mütter (Zinnecker/Silbereisen<br />

1996). Viele Väter können also die für das<br />

Mannwerden notwendige Geschlechteridentifikation nicht anbieten.<br />

So sind es in der überwiegenden Mehrheit (85%) die<br />

Mütter, die über die Woche hinweg für die Kinder zuständig<br />

sind (BMSFJ 1997). Gisela Notz spricht in ihrer Väterstudie<br />

anfangs der 1990er Jahre sogar noch vom „Vater als Märchenprinz",<br />

der nur für „Action" zuständig ist <strong>und</strong> die alltägliche<br />

Pflege, in der sich ja Versorgung, Zuwendung <strong>und</strong> Identi-<br />

140<br />

fikationsdynamik miteinander verbinden, weiterhin der Mutter<br />

überlässt, auch wenn am Wochenende die Väter mehr als früher<br />

Pflegetätigkeiten übernehmen (Fthenakis 1999). Dass diese<br />

Mütterzentrierung in der frühkindlichen Phase von der<br />

Mehrheit der Bevölkerung als nicht problematisch, ja als<br />

selbstverständlich positiv angesehen wird, zeigt eine Repräsentativerhebung<br />

<strong>des</strong> Deutschen Jugendinstituts von<br />

1991/1992, nach der über zwei Drittel der westdeutschen Väter<br />

<strong>und</strong> Mütter der Antwortvorgabe „Kleinkinder sollten in<br />

den ersten drei Jahren bei der Mutter/in der Familie sein" zustimmten.<br />

Dem entspricht, dass viele der kinderbetreuenden<br />

Mütter mit ihrer Familienrolle so zufrieden sind, dass sie freiwillig<br />

auf die Erwerbstätigkeit verzichten <strong>und</strong> die ersten Lebensjahre<br />

ausschließlich für das Kind da sein wollen (Matzner<br />

1998; vgl. auch Döge/Volz 2002). Auch dies ist eine nicht zu<br />

unterschätzende Barriere für Männer, in die alltägliche Familienarbeit<br />

einzusteigen. So entsteht ein Verwehrungskreisel,<br />

der aber nicht als solcher erkannt, höchstens in anderen Bezügen<br />

(Bedürftigkeit) gespürt wird: Wird ein Kind geboren,<br />

kommen die Paare unter den Druck der Aushandlung, aus arbeitsorganisatorischen<br />

Gründen (Zusammenspiel zwischen<br />

externer männlicher Verfügbarkeit <strong>und</strong> Karriere), aber auch<br />

unter dem Einfluss geschlechtsdifferenter Lebenszufriedenheit<br />

zur traditionellen Rollenteilung zurück. Dies geschieht auch,<br />

wenn sie vorher in ihren Einstellungen <strong>und</strong> ihrer Lebenspraxis<br />

eine partnerschaftliche Rollenteilung in Haushalt <strong>und</strong> Beruf<br />

bevorzugt hatten (vgl. Notz 1991, Gonser 1994). Im Nachhinein<br />

- so zeigt eine entsprechende Väterstudie - wird dann die<br />

„verpasste Gelegenheit", das Auslassen <strong>des</strong> väterlichen Erziehungsurlaubs<br />

von einigen (allerdings im Gesamtsample eher<br />

wenigen) Männern nicht nur als Ursache für die mangelnde<br />

Intensität der weiteren Beziehung <strong>des</strong> Vaters zu dem Kind,<br />

sondern auch als Ursache für Unzufriedenheiten in der Partnerschaft<br />

gesehen (Vascovics/Rost 1999, S. 162f). Auch diese widersprüchlichen<br />

Konstellationen - viele Männer möchten gerne<br />

in die Familien hinein, können es aber nicht <strong>und</strong> rationalisieren<br />

dann zwangsläufig diese Verwehrung - verweisen wieder auf<br />

die Probleme der Entgrenzung der Männlichkeit. Die Rationalisierung<br />

geschieht dann vor allem über Begründungen wie Eingeb<strong>und</strong>ensein<br />

in die Arbeit <strong>und</strong> drohender Karriereverlust, zu


niedriges Einkommen der Partnerin <strong>und</strong> eben Verweis auf die<br />

Prä<strong>des</strong>tination der Frau für die Mutterrolle.<br />

abei kann die neuere Väterforschung zeigen, wie wichtig die<br />

partnerschaftliche, alltagszugewandte Teilhabe <strong>des</strong> Vaters an<br />

der frühkindlichen Erziehung für den Sozialisationsprozess<br />

<strong>des</strong> Jungen ist. Für die Entwicklung <strong>des</strong> Jungen ist es „günstig,<br />

in einem sozialisatorischen Interaktionssystem, das durch<br />

die Verschränkung von Paar- <strong>und</strong> Eltern-Kind-Beziehung gekennzeichnet<br />

ist, aufzuwachsen." (Hildenbrand 2000, S. 177).<br />

iese Triade muss nicht immer präsent, für das Kind, aber<br />

erwartbar sein (vgl. auch Winnicotts [1984] „unzerstörbare<br />

Umwelt"). Auch ist sie nicht mit der bürgerlichen' Kleinfamilie<br />

gleichzusetzen (Hildenbrand 2000, S. 176). Der Vater<br />

soll dabei nicht nur die Mutter-Kind-Symbiose frühzeitig lösen<br />

<strong>und</strong> damit die Eigenständigkeit <strong>des</strong> Jungen fördern können<br />

(Pruett 1988), er steht auch dafür, dass das Kind früh zwei<br />

wesentlich unterschiedliche Bezugspersonen erleben <strong>und</strong> somit<br />

die „Eingleisigkeit" der Erziehung verhindert werden<br />

kann (Matzner 1998, S. 25). Väter sind wie Mütter in der Lage<br />

„ein Kind von Geburt an mit der notwendigen Sensitivität angemessen<br />

zu betreuen <strong>und</strong> zu versorgen, sein Bedürfnis nach<br />

Kommunikation zu stillen <strong>und</strong> seine Entwicklung entsprechend<br />

zu fördern. Beide Eltern entwickeln unter entsprechenden<br />

Bedingungen enge emotionale Beziehungen zum Kind.<br />

as Kind seinerseits entwickelt enge emotionale Beziehungen<br />

zu beiden Elternteilen, <strong>und</strong> zwar individuelle Beziehungen,<br />

die eigenständig zu sehen sind" (Fthenakis 1988, S. 283). Vor<br />

allem aber ist von Bedeutung, dass eine frühe Involvierung<br />

<strong>des</strong> Vaters die Problematik von Idolisierung <strong>und</strong> Abwertung<br />

bei den Jungen entschärfen kann (vgl. dazu wieder 3.2). Sie<br />

erhalten dann eher ein reales Männerbild <strong>und</strong> sind nicht so<br />

sehr auf die Medien angewiesen (Matzner 1998, S. 28f). In<br />

diesem Zusammenhang ist auch der Bef<strong>und</strong> aus einer früheren<br />

Längsschnittstudie (über fünf Jahre angelegt) interessant, aus<br />

der hervorgeht, dass die „Vaterbinder" (Vater als Hauptbezugsperson)<br />

keine Probleme damit hatten, zwischen weiblichen<br />

<strong>und</strong> männlichen Rollen zu wechseln (Pruett 1988, S.<br />

177). Allerdings: Auch wenn es wohl erwiesen ist, dass „bereits<br />

mit vier Monaten [...1 die Fähigkeit <strong>des</strong> Kin<strong>des</strong>, in eine<br />

Drei-Personen-Beziehung einzutreten <strong>und</strong> diese eigenständig<br />

142<br />

mitzugestalten" ausgebildet ist, hängt die Realisierung letztlich<br />

doch „entscheidend von der elterlichen Repräsentanzenwelt<br />

<strong>und</strong> damit vom Ausmaß <strong>und</strong> der Qualität triadischer Interaktionen,<br />

welche sie dem Kind anbieten, ab" (von Klitzing<br />

2000, S. 167). Damit wird auch wichtig, ob Väter selbst gute<br />

triadische Erfahrungen - mit ihrem eigenen Vater - hatten<br />

<strong>und</strong>/oder ob sie mit einer Partnerin zusammen sind, die bereit<br />

ist, sich relativ früh nach der Geburt in kontinuierliche<br />

triadische Alltagsprojekte einzulassen. Das setzt natürlich<br />

wieder eine alltagszugewandte Anwesenheit <strong>des</strong> Vaters voraus.<br />

Eine alltagsselbstverständliche Vater-Kind-Interaktion bringt<br />

auch enorme Vorteile für die Entwicklung <strong>und</strong> Selbstfindung<br />

der Väter als Männer. Sie erhalten über die in der Beziehung<br />

zum Jungen gelebte Emotionalität <strong>und</strong> „Unverstelltheit" einen<br />

Ausgleich zur „instrumentellen Realität" konkurrenter <strong>und</strong><br />

rollenfixierter Arbeitsbeziehungen (Gonser 1994, S. 20f).<br />

ennoch bleibt die Vaterschaft, auch wenn sie sich früh auf<br />

das triadische Projekt einlässt, für die Männer immer noch<br />

zwiespältig. Denn die Mutter-Kind-Beziehung behält durch<br />

den existenziellen Vorsprung' der Geburt durch die Frau'<br />

ihre tiefenpsychische Ausstrahlung auf den Mann. So können<br />

mit der Vaterschaft typische Konflikte im Mann aufbrechen.<br />

Auf den ersten Blick scheint es dabei paradox, dass der Gebärneid<br />

gerade bei denjenigen Männern offener aufzutreten<br />

scheint, „für die das klassische männliche Selbst- <strong>und</strong> Weltbild<br />

seine Selbstverständlichkeit verloren hat" (Bullinger<br />

1984). Dies ist wohl darauf zurückzuführen, dass diese Männer<br />

in Bezug auf sich selbst hoch sozialemotional sensibilisiert<br />

sind <strong>und</strong> dabei ihre eigenen, wenn auch rational unterdrückten<br />

Gefühle - wie eben den Kleid - wahrnehmen <strong>und</strong> empfinden.<br />

Gleichzeitig sind solche geburtsnahen Väter stärker der Konfrontation<br />

mit der eigenen frühkindlichen Biografie <strong>und</strong> ihren<br />

Reaktualisierungen ausgesetzt, so wie sie durch die Geburt<br />

ausgelöst werden. Darauf ist der Mann nicht vorbereitet. Geschürt<br />

wird dies durch die alltägliche Wahrnehmung <strong>des</strong> symbiotischen<br />

Kontaktes zwischen Mutter <strong>und</strong> Kind <strong>und</strong> der fast<br />

bedingungslosen Hingabe der Frau an das Kind, z.B. beim<br />

Stillen. In dieser Aktualisierung erlebt der Mann in schmerzlicher,<br />

aber unbewusster Erinnerung die eigene Verbindung mit<br />

1 43


der Mutter, das Einfach-so-sein-Dürfen <strong>und</strong> die spätere Abtrennung<br />

von ihr, die mit einem nicht mehr Zugestehen der<br />

eigenen Gefühle verb<strong>und</strong>en war. So kann sich wieder eine<br />

Kränkung <strong>des</strong> Mannes angesichts seines erneuten Ausgeschlossenseins<br />

entwickeln. Der männliche Mangel' <strong>des</strong><br />

Nichtgebärens <strong>und</strong> Nicht-stillen-Könnens wird bloßgelegt, die<br />

symbolischen Schutz- <strong>und</strong> Projektionsmechanismen überlegener<br />

Männlichkeit verlieren angesichts dieses dem Mann entzogenen<br />

„Naturrechts" ihre Macht.<br />

So ist es kein W<strong>und</strong>er, dass sich Väter dann doch diesem Bewältigungsdilemma<br />

dadurch entziehen, dass sie sich wieder in<br />

ihr Außen - Arbeit, Freizeit, Männerbünde - stürzen <strong>und</strong> in<br />

den Sog <strong>des</strong> unbezogenen Ausagierens' geraten. Andere wiederum<br />

demonstrieren überbetont ihre neue Väterlichkeit,<br />

schnallen sich ihr Kind um den Bauch, um ihm auch öffentlich<br />

nahe zu sein, wie sonst nur die Mütter, demonstrieren so<br />

ihr anderes Verständnis vom Vatersein. So gesehen bleibt diese<br />

Väterlichkeit beim Nachahmen der Mütterlichkeit stehen.<br />

Aktive Väterlichkeit macht sich aber weniger an solchen Außendemonstrationen<br />

fest, sondern an der Art <strong>und</strong> Weise, wie<br />

der Mann mit seinen Gefühlen <strong>des</strong> Schmerzes, <strong>des</strong> Ausgestoßenseins,<br />

der damit verb<strong>und</strong>enen Trauer <strong>und</strong> dem Hass auf<br />

Mütter' umgehen kann. Er muss die damit verb<strong>und</strong>ene Hilflosigkeit<br />

annehmen können, denn dies ist eine Voraussetzung<br />

für das Gelingen in der Interaktion mit dem Kind: Sowohl was<br />

das Einfühlen in das Kind als auch das Hereinlassen' <strong>des</strong><br />

Kin<strong>des</strong> in sich anbelangt. Dies ist auch die Voraussetzung für<br />

die Entwicklung der notwendigen Empathie im Kontakt zur<br />

Partnerin <strong>und</strong> zum Kind, damit sich eine gemeinsame Nähe<br />

einstellen <strong>und</strong> der Vater die Beziehung durchhalten kann (vgl.<br />

öhnisch/Winter 1993).<br />

iese Entfaltung <strong>des</strong> neuen, aktiven Vaters stößt aber heute -<br />

nicht immer noch, sondern wieder neu - an die Grenzen der ökonomisch-gesellschaftlichen<br />

Rahmenbedingungen. Die Hoffnung<br />

der Männerbewegung, die Männer könnten sich ungeachtet<br />

dieser Bedingungen lebensweltlich-biografisch zu neuen<br />

Vätern emanzipieren, ist angesichts <strong>des</strong> Externalisierungs<strong>und</strong><br />

Verfügbarkeitsdruckes im neuen Kapitalismus weiter trügerisch.<br />

Männerrolle <strong>und</strong> Vaterrolle stehen sich in unserer Ge-<br />

sellschaft immer noch gegenseitig im Wege. So kann sich<br />

auch kein neues, für eine Mehrheit der Männer greifbares Vatervorbild<br />

entwickeln, an dem sie sich sozial einvernehmlich<br />

orientieren könnten. Dieses aber ist überfällig, denn viele<br />

Männer wollen <strong>und</strong> können sich nicht mehr an ihren Vätern<br />

orientieren (vgl. Kropp 1995), finden aber auch wenig gesellschaftliche<br />

<strong>und</strong> institutionelle Resonanz auf ihre Bedürftigkeit.<br />

Die Geschlechtstypik <strong>des</strong> Aufwachsens ist im Alltag in der<br />

Regel verdeckt, erst auf den zweiten oder dritten dick sichtbar.<br />

Das hängt zum einen damit zusammen, dass die Beteiligten<br />

- Erzieher, Eltern, Nachbarn, Fre<strong>und</strong>e, Öffentlichkeit, aber<br />

auch die Jungen selbst - ihr Verhalten als der Normalität entsprechend<br />

betrachten. L,ehrerInnen <strong>und</strong> KindergärtnerInnen<br />

schwören darauf, dass sie Jungen <strong>und</strong> Mädchen gleich behandeln<br />

<strong>und</strong> dass sie alles tun, um die außenorientierte Aggressivität<br />

der Jungen einzudämmen <strong>und</strong> den Mädchen beziehungsvolle<br />

Unterstützung zukommen zu lassen. Oft bleiben sie dabei<br />

einer folgenreichen Paradoxie verhaftet: Selbst wenn Jungen<br />

immer wieder wegen ihres aggressiven Verhaltens bestraft<br />

werden, fühlen sie sich subjektiv belohnt, weil sie merken,<br />

dass sie damit auch Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Die<br />

Mädchen dagegen werden eher an die Person <strong>des</strong> Erziehers<br />

oder der Erzieherin geb<strong>und</strong>en. Quer durch alle Koedukationsnormen<br />

in Kindergarten <strong>und</strong> Schule zieht sich also eine räumlich<br />

strukturierte männliche Durchsetzungskultur, die zwar in<br />

der Schule negativ sanktioniert, von der Konkurrenzgesellschaft<br />

aber später belohnt wird. Mädchen schreiben die besseren<br />

Noten, Jungen setzen sich aber eher am Arbeits- <strong>und</strong> Jobmarkt<br />

durch. Dem wohnt eine Grammatik inne, die bei Jungen<br />

wieder in der Matrix von Anziehung <strong>und</strong> Abstoßung beschreibbar<br />

ist. Dies beginnt in der Familie <strong>und</strong> lässt sich entsprechend<br />

aufschließen, wenn wir die Familie als besonderen<br />

145


- durch Intimität gekennzeichneten - Rahmen sozialisatorischer<br />

Interaktion verstehen.<br />

Probleme der familialen Unübersichtlichkeit, Inkonsistenz <strong>und</strong><br />

wechselnde Familienkonstellationen, wie z.B. eine Stiefvaterkonstellation,<br />

wirken sich bei Jungen vor allem <strong>des</strong>halb so folgenreich<br />

aus, weil sie früh <strong>und</strong> oft abrupt zur Ablösung von<br />

der innerfamilialen Geborgenheit der Mutter-Kind-I3yade gezwungen<br />

sind. Um die Sozialisationsbalance zwischen sozialem<br />

Außen <strong>und</strong> innerfamilialem Rückhalt wahren zu können,<br />

ist der Junge darauf angewiesen, dass die Familie bzw. die elterlichen<br />

Beziehungen - auch wenn er nach außen gedrängt<br />

wird - für ihn stabil <strong>und</strong> überschaubar bleiben. Unübersichtliche<br />

<strong>und</strong> inkonsistente Familienstrukturen können beim Kind<br />

innere Hilflosigkeit <strong>und</strong> verstärkte narzisstische Antriebe erzeugen,<br />

aus denen heraus sich nicht selten antisoziale Abspaltungen<br />

(dieser Hilflosigkeit) <strong>und</strong> sozial <strong>des</strong>integrative Dynamiken<br />

entwickeln. Diese Gr<strong>und</strong>problematik familialer Überforderung<br />

macht Jungen vor allem dann zu schaffen, wenn sie<br />

ihre emotionalen, inneren Signale nicht mehr in der Familie<br />

setzen können. So kann es im Extremfall dazu kommen, dass<br />

sich Jungen aus der Familie hinausgedrängt, ausgegrenzt fühlen.<br />

Aus der sozialpädagogischen Arbeit mit Straßenkindern,<br />

die meist aus solchen inkonsistenten Familien kommen, wissen<br />

wir, wie Jungen unter diesem Ausgrenzungsdruck leiden.<br />

Aber gerade auch alltäglich wiederkehrende Situationen, in<br />

denen die Eltern keine Zeit für die Kinder haben, sie zwar materiell<br />

überversorgen, aber emotional vernachlässigen, treffen<br />

Jungen in einer besonderen Art <strong>und</strong> Weise. Es gehört zu den<br />

Schattenseiten männlicher Sozialisation, dass viele Eltern -<br />

vor allem Väter - immer noch glauben, Jungen bräuchten keine<br />

emotionale Zuwendung, müssten lernen, sich durchzubeißen.<br />

Vor allem die elterliche Anerkennung <strong>und</strong> Wertschätzung<br />

<strong>des</strong>sen, was dem Jungen wichtig ist, fehlt in dieser Konstellation.<br />

Die Eltern erkennen in der Regel primär an, dass sich der<br />

Junge so gut allein um sich kümmert <strong>und</strong> übergehen damit<br />

seine Befindlichkeit <strong>und</strong> seine individuellen Alltagsprobleme.<br />

Straßenszene <strong>und</strong> Clique werden dann zu emotionalen Be-<br />

14 6<br />

zugspunkten, die dann Ausschließlichkeitscharakter gewinnen<br />

können, wenn die Eltern - trotz Abwesenheit - diese Außenbeziehungen<br />

misstrauisch betrachten oder gegenüber dem Sohn<br />

gar abwerten.<br />

ie Familie, als in der Regel auf Abstammung <strong>und</strong> Verwandtschaft<br />

beruhende Primärgruppe, ist durch intime persönliche<br />

Beziehungen definiert, die Gesellschaft ist durch das rationale<br />

System der Arbeit geprägt. Zusammenhalt <strong>und</strong> Konflikt haben<br />

dadurch in der Familie ein anderes Gesicht als in der Gesellschaft.<br />

In der Familie herrschen tiefenpsychische Llynamiken,<br />

in der Gesellschaft institutionalisierte Verfahren vor. Familien<br />

sind durch basale Zugehörigkeit <strong>und</strong> Bindung, hiebe <strong>und</strong> vorsoziale<br />

Empathie zusammengehalten, werden durch Hass,<br />

Schuldgefühle <strong>und</strong> Verlustängste auseinander getrieben. Kiese<br />

tiefenpsychischen Komplexe sind auch geschlechtstypisch geprägt.<br />

Wenn sich also die Gesellschaft der Familie als Reproduktionsort<br />

bedient, dann setzt sie das Wirken dieser geschlechtstypischen<br />

Intimstrukturen voraus. Soziale Reproduktion<br />

im Sinne der Bearbeitung gesellschaftlich erfahrener Lebensprobleme<br />

in der Familie bedeutet also, dass diese Probleme<br />

zu Intimproblemen der Familie werden <strong>und</strong> dass gesellschaftlich<br />

davon ausgegangen wird, dass sie dort geschlechtstypisch<br />

bearbeitet werden. In der Familie bildet sich also nicht<br />

nur die geschlechtshierarchische Arbeitsteilung mit ihrer entsprechenden<br />

Rollenstruktur ab, sondern wirken auch männliche<br />

<strong>und</strong> weibliche Bewältigungsmuster, die zwar immer in<br />

einer sozialen Spannung zu den rationalen Verfahren der<br />

Problemlösung <strong>und</strong> Konfliktbewältigung der Gesellschaft stehen,<br />

dennoch aber - besonders in kritischen Situationen, in<br />

denen die bisherigen sozialen Ressourcen versagen - ihre Eigenkraft<br />

entfalten. Wenn Familien nachhaltig überfordert<br />

werden, dann werden in ihren Intimstrukturen diese männlichen<br />

<strong>und</strong> weiblichen Bewältigungsmuster in ihrer Eigendynamik<br />

freigesetzt. Die Familie enthüllt ihr männliches <strong>und</strong><br />

weibliches Gesicht.<br />

Heute wird in der Familiensoziologie <strong>und</strong> Familienforschung<br />

konstatiert, dass die klassische hierarchische Generationenfamilie<br />

zunehmend dem "Typ der Aushandlungsfainife weicht,<br />

dass aber dennoch beide nebeneinander bestehen (wobei in<br />

147


sozial benachteiligten Milieus der Generationenfamilientypus<br />

noch eher vorherrscht) <strong>und</strong> in Krisensituationen das generationenhierarchische<br />

Moment immer wieder hervorbricht. Üblicherweise<br />

aber werden beide Familientypen meist nur allgemein<br />

im Verhältnis der Mitgliedsrollen oder der Subjekte zueinander<br />

thematisiert (vgl. dazu im Überblick Böhnisch/Lenz<br />

1997). Dass es sich bei beiden um geschlechtsgeprägte Verhältnisse<br />

handelt, kommt meist nicht oder nicht ausreichend<br />

zur Sprache. Dies ist uns erst möglich, wenn wir die Familie<br />

als verdecktes geschlechtshierarchisches Gewaltverhältnis begreifen,<br />

das im Alltag produktiv ausbalancierbar ist, das aber<br />

in Krisensituationen <strong>des</strong>truktiv aufbrechen kann. Dann verhalten<br />

sich Männer <strong>und</strong> Frauen oft „geschlechtstypisch" <strong>und</strong> versuchen<br />

die Familie in den Sog dieser geschlechtstypischen<br />

ewältigungsdynamik zu ziehen: Die Männer, indem sie von<br />

der Familie wie selbstverständlich emotionale Stützungen verlangen<br />

<strong>und</strong> diese manchmal auch mit Gewalt bei Frauen <strong>und</strong><br />

Kindern holen wollen, die Frauen, indem sie die Folgen der<br />

Gewaltdynamik auf sich <strong>und</strong> die Kinder ziehen.<br />

Die Familie in der modernen Gesellschaft ist unter einen doppelten<br />

Überforderungsdruck geraten (vgl. allgemein Rerrich<br />

1988). Zum einen wird mit der zunehmenden sozialen Entbettung<br />

der Arbeit (durch Abstraktion <strong>und</strong> Digitalisierung der<br />

Arbeitsvorgänge) der Druck auf die Familie, dies emotional<br />

auszugleichen, verstärkt. All das, was Männer <strong>und</strong> Frauen <strong>und</strong><br />

später auch Jungen <strong>und</strong> Mädchen in einer emotional einseitigen<br />

Funktionswelt (vgl. 4.4) nicht finden, sollen die intimen<br />

eziehungen in der Familie bringen. Und wenn es die eigene<br />

Familie nicht gebracht hat, dann soll dies über die neue,<br />

selbstgegründete Familie gelingen. Viele Konflikte <strong>und</strong> Überforderungen<br />

aus Frühverheiratungen sind darauf zurückzuführen,<br />

dass sich die Frauen <strong>und</strong> Männer etwas von ihrer frühen<br />

Ehe <strong>und</strong> ihren Kindern erwarten, das sie selbst in ihren Familien<br />

entbehrt haben. So wie sie aber selbst Vernachlässigung<br />

<strong>und</strong> Gewalt in ihrer Herkunftsfamilie erfahren haben, haben<br />

sie nicht gelernt, ihre Beziehungen <strong>und</strong> ihre Erziehungsstile<br />

anders zu gestalten. So werden Überforderungskonflikte<br />

gleichsam über die Generationen hinweg vererbt.<br />

as zweite Überforderungsproblem liegt in dem bereits hergeleiteten<br />

Umstand, dass die Verständigungs- <strong>und</strong> Konfliktstruktur<br />

der Familie anderen Logiken folgt, als denen der Arbeitswelt.<br />

So werden soziale Konflikte, die außerhalb der Familie<br />

eigentlich durch Verfahren gelöst werden müssten, in die Intimstruktur<br />

der Familie umgesetzt, werden zu tiefenpsychischen<br />

Ängsten <strong>und</strong> Bedürftigkeiten, die dann nicht mehr rational<br />

entwirrbar sind.<br />

edürftigkeit <strong>und</strong> Gewalt liegen <strong>des</strong>halb in den geschlechtstypischen<br />

Krisenszenarien familialer Konflikte eng zusammen.<br />

edürftigkeit entsteht, wenn einem etwas verwehrt wird, das<br />

einem - so meint man - selbstverständlich zusteht (s.u.). Familiale<br />

Geborgenheit wird gesucht, ist aber so selbstverständlich<br />

nicht zu finden, erscheint verwehrt <strong>und</strong> mehrt den Antrieb sie<br />

sich dann eben mit Gewalt zu holen. Bedürftigkeiten können<br />

nur durch Kommunikation, Empathie <strong>und</strong> Respekt voreinander<br />

aufgelöst werden. Das setzt aber voraus, dass Männer <strong>und</strong><br />

Frauen lernen, zu sich zu kommen, die Quelle der Bedürftigkeit<br />

bei sich zu suchen <strong>und</strong> nicht auf andere abzuspalten oder<br />

sich selbst zum Feind zu machen.<br />

in dieser Verbindung von familiensysternischem <strong>und</strong> geschlechtsdifferentem<br />

Zugang lassen sich zwei typische Kristallisationspunkte<br />

<strong>des</strong> Zusammenhalts <strong>und</strong> <strong>des</strong> Zusammenbruchs<br />

von Familien erkennen. Der frauentypische Kristallisationspunkt<br />

ist mit dem landläufigen Sprichwort „die Frau hält<br />

die Familie zusammen" umschrieben. Aus Frauenhäusern<br />

wird immer wieder berichtet, dass Frauen, auch wenn sie vom<br />

Mann stark unter Druck gesetzt oder geschlagen werden, aus<br />

Schuldbewusstsein wieder in ihre Familie (zu ihrem Mann)<br />

zurückkehren, weil sie denken, sie würden durch ihr Weglaufen<br />

die Familie auseinander bringen. Männer interessiert dagegen<br />

vor allem, ob ihre Familie „funktioniert". Sie fühlen<br />

sich immer noch in einer gewissen Ernährerrolle für die Absicherung<br />

der Familie zuständig, sind sie doch auch auf das<br />

Funktionieren der Familie angewiesen: Die Familie muss<br />

funktionieren, damit der Mann draußen arbeiten kann, <strong>und</strong><br />

darin muss er sich auf die Familie verlassen können. Aus diesem<br />

einseitigen Funktionsverständnis heraus haben es viele<br />

Männer nicht gelernt, sich in die Rolle <strong>und</strong> die Befindlichkei-<br />

14 9


ten der anderen Familienmitglieder hineinzuversetzen <strong>und</strong><br />

können es <strong>des</strong>halb oft nicht verstehen, dass ihnen Zuwendungen,<br />

die sie in selbstverständliche Funktionsansprüche kleiden,<br />

von der Ehefrau oder den Kindern verwehrt werden. Hier<br />

sitzt ein Keim von Männern ausgeübter familialer Gewalt gegen<br />

Frauen <strong>und</strong> "Töchter genauso wie gegenüber den Söhnen:<br />

Söhne stehen unter besonderem Funktionsdruck von Vätern<br />

<strong>und</strong> da liegt auch der Bezugspunkt männlichen Konkurrenzverhaltens<br />

in der Familie. Kinder als Jungen (<strong>und</strong> Mädchen)<br />

sind in dieser Konstellation immer das schwächste Glied, da<br />

ihre Geschlechterbefindlichkeit noch stärker von der geschlechtsneutralen<br />

Kinderrolle verdeckt <strong>und</strong> <strong>des</strong>halb am wenigsten<br />

thematisiert wird. Wenn Partnerkonflikte auf die Kinder<br />

projiziert werden, dann kommt es oft zu geschlechtstypischen<br />

Demütigungen <strong>des</strong> Kin<strong>des</strong>: Das Abwehrverhalten der<br />

Jungen gegenüber den Eltern wird dann funktionell entwertet<br />

(„zu nichts nutze"). Damit werden die Jungen ins Mark von<br />

Selbstwert <strong>und</strong> Anerkennung getroffen, worauf sie dann meist<br />

wieder geschlechtstypisch reagieren.<br />

Der Kindergarten ist der Ort der ersten - partiellen - Ablösung<br />

<strong>des</strong> Jungen von der Familie. Da diese Ablösung aber nur teilweise<br />

ist, da das Kind materiell <strong>und</strong> sozial noch ganz abhängig<br />

von der Familie bleibt, ist es angemessener, nicht von Ablösung,<br />

sondern von einem ersten verbindlichen Heraustreten<br />

<strong>des</strong> Kin<strong>des</strong> aus der Familie zu sprechen. Da das Kind noch<br />

fest in der Familie verwurzelt ist, muss die erste außerfamiliale<br />

Institution, in die es hinaustritt auch familienzugewandt, das<br />

heißt familienähnlich strukturiert sein. Deshalb ist die Kindergärtnerin<br />

als Frau eine so zentrale Figur, ist es - angesichts<br />

der Geschlechterrollenverteilung in der Familie - auch (immer<br />

noch) plausibel, dass es so wenig oder so gut wie keine Männer<br />

im Kindergärtnerberuf gibt. Denn die Kindergärtnerin<br />

spielt gleichsam eine Übergangsrolle: Sie ähnelt der Mutter,<br />

ist aber gleichzeitig familienunabhängig. Für das drei- bis<br />

vierjährige Kind, ganz gleich ob Junge oder Mädchen, das<br />

noch sehr stark mutterzentriert ausgerichtet ist, verkörpert sie<br />

gleichermaßen die Mutterfigur wie die „andere" Frau. Damit<br />

15 0<br />

er(rauend®minierte Kindergarten<br />

erhalten die Jungen <strong>und</strong> Mädchen über diese Gleichzeitigkeit<br />

der Verkörperung von Mütterlichkeit <strong>und</strong> familienweggewandter,<br />

sozialgerichteter Weiblichkeit einen ersten - freilich<br />

familienrückgeb<strong>und</strong>enen - Zugang zur außerfamilialen sozialen<br />

Welt.<br />

Gleichzeitig wird im Kindergarten für viele Kinder zum ersten<br />

Mal eine Gleichaltrigenkultur hergestellt. Die Kindergärtnerin<br />

gehört dem Jungen (oder Mädchen) nicht allein (oder zusammen<br />

mit den Geschwistern) wie die Mutter, sondern er spürt,<br />

dass sie auch die Bezugsperson der anderen Kinder ist <strong>und</strong> so<br />

erlebt sich das Kind zum ersten Mal in einer außerfamiliälen<br />

Vergleichs-, Konkurrenz- <strong>und</strong> Gruppenkultur. In ihr wirken<br />

dann auch die ersten außerfamilialen Definitionen, wie Mädchen<br />

<strong>und</strong> wie Jungen sich zu verhalten haben. Hier kommt es<br />

auch darauf an, wie die Kindergärtnerin <strong>und</strong> andere Bezugspersonen<br />

im Kindergarten das Kinderverhalten als erstes <strong>und</strong><br />

frühes Geschlechterverhalten wahrnehmen <strong>und</strong> reflektieren<br />

<strong>und</strong> wie sie selbst die Herausbildung von Geschlechterrollen<br />

zulassen, das heißt als Ordnungsschemata <strong>des</strong> Kinderalltags<br />

übernehmen.<br />

In Kindergärten lässt sich durchaus schon ein geschlechtstypisches<br />

räumliches Feld beobachten, denn es zeigt sich früh, wie<br />

unterschiedlich Jungen <strong>und</strong> Mädchen sich Räume aneignen.<br />

Die Mädchen sieht man oft um die Erzieherin geschart oder in<br />

festen Spielecken, während die Jungen ihren Raum dauernd<br />

verändern, unruhig sind, toben. Dadurch ziehen sie die Aufmerksamkeit<br />

der Erzieherin immer wieder auf sich. Auch<br />

wenn sie zurechtgewiesen werden, lernen sie: Wenn man sich<br />

auffällig verhält, erregt man Aufmerksamkeit, man kann sich<br />

präsentieren, bewirkt etwas von sich aus, verändert Situationen.<br />

Die Mädchen dagegen passen sich eher den „ruhenden"<br />

Regeln an, werden von der Kindergärtnerin darin bestärkt,<br />

weil sie die Mädchen als ordnende Gruppe, als Ruhepol für<br />

einen strukturierten Arbeitsalltag braucht. Deshalb ist es im<br />

Kindergarten so wichtig, früh die Rollen zu vertauschen, den<br />

Mädchen Raum zu geben, dass auch sie sich einmal „gehen<br />

lassen" können <strong>und</strong> Umgebung verändern lernen; die Jungen<br />

dagegen, dass sie mehr zu sich kommen lernen, sich in Gegenseitigkeit<br />

<strong>und</strong> nicht nur in Konkurrenz zu bewegen.


152 153


immer noch zu gelten, dass Jungen stärker konkurrenzorientiert<br />

<strong>und</strong> „agonal" spielen, während Mädchen eher „mimetisches"<br />

Spielen bevorzugen, indem sie sich gegenseitig einbeziehen<br />

<strong>und</strong> gemeinsame Gestaltungsideen entwickeln (vgl.<br />

Gebauer 1997). Besonders wichtig wird die geschlechtsreflektierende<br />

Arbeit, wenn der Kindergarten - im Sinne <strong>des</strong> Situationsansatzes<br />

(vgl. Zimmer 2000) - Explorationen in die Alltags-<br />

<strong>und</strong> Arbeitswelt der Erwachsenen unternimmt. Inzwischen<br />

gibt es auch im kleinstädtischen Bereich genug Konstellationen,<br />

wo Männer <strong>und</strong> Frauen das Gleiche tun (zum Beispiel<br />

bei der Polizei, der Post, im Irlandwerk) <strong>und</strong> die Kinder<br />

erleben können, dass Männer <strong>und</strong> Frauen Gleichwertiges tun,<br />

obwohl sie oft unterschiedlich an dieses Gleiche herangehen.<br />

ie Kinder lernen so produktive Differenz, nicht aber Hierarchie<br />

kennen.<br />

ie geschlechtsneutrale' Schule<br />

Die Schule ist von ihrer Struktur her diesen Problemen gegenüber<br />

zweifach blind: Einerseits hat sie nur die Schülerrolle im<br />

Visier, also nur den Ausschnitt der Persönlichkeit der Jugendlichen,<br />

der sich auf die Lern- <strong>und</strong> Leistungserwartungen sowie<br />

die Verhaltensanpassung an die Unterrichtsorganisation bezieht,<br />

zum andern glaubt sie mit ihrem Koedukationsedikt, geschlechtstypische<br />

Unterschiede im Sinne von Benachteiligungen<br />

ausgeglichen zu haben. Dabei zeigen aber geschlechtsspezifische<br />

Schüleruntersuchungen, dass in der Schule - wie<br />

schon im Kindergarten angelegt - ähnlich geschlechtstypisches<br />

Verhalten freigesetzt wird: Mädchen sind im Durchschnitt<br />

mehr unterrichtszentriert, Jungen aktivitätsgedrängter<br />

<strong>und</strong> <strong>des</strong>wegen unterrichtsstörender (vgl. dazu Enders-<br />

Dragässer/Fuchs 1989, Breidenstein/Keller 1998). Jungen<br />

werden wegen ihres Verhaltens im Durchschnitt auch mehr<br />

bestraft als die Mädchen. Das führen Lehrer <strong>und</strong> Lehrerinnen<br />

gerne an, wenn ihnen von der Geschlechterforschung vorgehalten<br />

wird, dass sie den Jungen mehr Aufmerksamkeit zukommen<br />

lassen als den Mädchen-, sie strafen sie ja! Dass sich<br />

dabei ein verdecktes soziales Curriculum entwickelt, können<br />

die meisten nicht verstehen: Jungen erfahren unbewusst, dass<br />

sie durch antisoziales Verhalten Aufmerksamkeit auf sich zie-<br />

15 4-<br />

hen, das Unterrichtsklima ändern <strong>und</strong> sich - indem sich Lehrerinnen<br />

<strong>und</strong> Klasse ihnen zuwenden - zumin<strong>des</strong>t situativ durchsetzen<br />

können. In der Struktur der Schule ist also angelegt,<br />

dass sie eine männliche Durchsetzungskultur <strong>und</strong> eine Kultur<br />

der weiblichen <strong>Zur</strong>ücknahme fördert. Die Mädchen erbringen<br />

zwar im Durchschnitt die besseren Leistungen, wenn es aber<br />

um das Sozialverhalten <strong>und</strong> das soziale Durchsetzungsvermögen<br />

geht, vor allem nach der Schule in der Konkurrenz um die<br />

beruflichen Chancen, wirkt sich die männliche Dominanz<strong>und</strong><br />

Durchsetzungskultur deutlich aus, zumal sie sich in der<br />

sozialen Umgebung <strong>und</strong> der Gesellschaft spiegeln kann.<br />

Solche geschlechtstypischen Effekte treten in der Schule umso<br />

stärker hervor, je mehr sie für viele Kids <strong>und</strong> Jugendliche zum<br />

alltäglichen Sozial- <strong>und</strong> Beziehungsraum wird, in dem Gruppenerlebnis,<br />

soziale Anerkennung <strong>und</strong> Wirkmöglichkeiten<br />

auch jenseits <strong>des</strong> Unterrichts gesucht werden. Diese Versozialräumlichung<br />

der Schule hält in dem Maße an, in dem die<br />

Räume für Kids in der Freizeit enger, die Möglichkeiten,<br />

Gruppen zu bilden, kleiner <strong>und</strong> die Aufnahme von gegenseitigen<br />

Beziehungen auf der Straße schwieriger werden. Sie setzt<br />

geschlechtstypisches Verhalten, das bisher verdeckt war oder<br />

außerhalb der Schule ausgelebt wurde, nun im Schulalltag frei<br />

(vgl. auch Faulstich-Wieland u.a. 2004).<br />

Gr<strong>und</strong>sätzlich bleibt der Schule aber auch in ihrer inneren<br />

Schulorganisation die Aufgabe, dass in den Lerninhalten <strong>und</strong><br />

den unterrichtlichen Umgangsformen eine größere Solidarität<br />

unter den Geschlechtern übermittelt <strong>und</strong> vorgelebt wird. Das<br />

bedeutet auch, dass Lehrer <strong>und</strong> Lehrerinnen die Chance bekommen,<br />

die Spannung zwischen der Lehrerrolle (die auch<br />

wieder nur ein Ausschnitt ihrer Persönlichkeit ist), welche die<br />

Schule ihnen abverlangt <strong>und</strong> der Lehrerpersönlichkeit, die die<br />

Schüler herausfordern, zu reflektieren. In der Lehrerrolle tritt<br />

der Umstand zurück, dass Lehrer auch Männer <strong>und</strong> Frauen<br />

sind; dieses wiederum wird aber in dem Maße freigesetzt, in<br />

dem die Schüler sozialräumlich agieren <strong>und</strong> Lehrerinnen entsprechende<br />

Beziehungsaufforderungen erfahren. Wenn LehrerIrcnen<br />

mit ihrem Mann- <strong>und</strong> Frausem nicht im Kontext ihres<br />

Lehrerseins umgehen können, dann müssen sie zwangsläufig -<br />

von ihrer Rollenorientierung her - in traditionale, das heißt<br />

155


von der Schulorganisation her praktikable Geschlechterorientierungen<br />

verfallen (vgl. dazu Keller 1997). Dann suchen sie<br />

weiter die Mädchen als ruhenden Leistungspol <strong>und</strong> überlassen<br />

den Jungen den Auffälligkeitspol.<br />

Der Übergang in den Beruf<br />

fieses geheime Geschlechtercurriculum der Schule bricht in<br />

dem Maße in der Übergangsphase in den Beruf auf, in dem<br />

diese neue Bewältigungsprobleme mit sich bringt. Denn der<br />

ökonomische <strong>und</strong> technologische Strukturwandel der Arbeitsgesellschaft<br />

hat nicht nur zu einem relativ gleich bleibenden<br />

Sockel von struktureller Massenarbeitslosigkeit geführt, sondern<br />

auch die Übergänge in den Beruf <strong>und</strong> Berufsperspektiven<br />

insgesamt für viele junge Leute fragil gemacht. Auf der einen<br />

Seite gibt es Familien, die genug ökonomisches <strong>und</strong> kulturelles<br />

Kapital besitzen, um ihren Kindern Umwege zu gestatten,<br />

damit sie nicht der negativen Dynamik <strong>des</strong> beruflichen Scheiterns<br />

<strong>und</strong> der Aussichtslosigkeit von Berufsperspektiven ausgesetzt<br />

sind: Sie sollen experimentieren können, Unterschiedliches<br />

ausprobieren, bis in die Mitte <strong>des</strong> zweiten Lebensjahrzehntes<br />

oder gar bis zum dreißigsten Lebensjahr sich ein soli<strong>des</strong><br />

<strong>und</strong> reflexives biografisches F<strong>und</strong>ament geschaffen haben,<br />

von dem aus sie für die zukünftigen Wechselfälle einer flexibilisierten<br />

Arbeitsgesellschaft gerüstet sind. Auf der anderen<br />

Seite stehen die vielen Familien, die diesen ökonomischen<br />

<strong>und</strong> kulturellen Kapitalstock nicht besitzen <strong>und</strong> die ihre Jugendlichen<br />

früh den neuen Risiken der Arbeitsgesellschaft<br />

aussetzen müssen.<br />

iese Risiken haben sich inzwischen so verdichtet, dass<br />

durchaus von einer Entstrukturierung bis Entgrenzung beruflicher<br />

Sozialisation gesprochen werden kann. Im deutschen<br />

Ausbildungssystem spielt der Beruf <strong>und</strong> seine klar umrissene<br />

qualifikatorische wie institutionelle Profilierung immer noch<br />

die zentrale Rolle. „Etwas (im Leben) werden" ist - für Jungen<br />

<strong>und</strong> Männer seit jeher besonders - zentral auf den Beruf fixiert.<br />

Nun droht der Strukturwandel der Arbeitsgesellschaft<br />

von zwei Seiten her diese Konstruktion auszuhebeln. Zum einen<br />

hat sich die Zahl der Ausbildungsberufe in den letzten<br />

Jahren dramatisch (von ca. 900 auf 350) verringert. Entweder<br />

156<br />

wurden die darin enthaltenen Tätigkeiten computerisiert oder/<strong>und</strong><br />

sind aus früher verschiedenen in ein heute einziges<br />

erufsprofil zusammengeflossen. Gleichzeitig ist mit dem raschen<br />

<strong>und</strong> stetigen technologischen Wandel in der Branchen<strong>und</strong><br />

Marktstruktur nicht mehr die Selbstverständlichkeit gegeben,<br />

später einmal in dem erlernten Beruf arbeiten zu können.<br />

Nur knapp die Hälfte der Erwerbstätigen in Deutschland ist<br />

heute noch in ihrem Ausbildungsberuf tätig. Der Beruf ist aber<br />

weiter die Eingangsvoraussetzung in den Arbeitsmarkt. Andere<br />

europäische Länder (z.B. die Niederlande oder auch Dänemark)<br />

haben hier die Konsequenzen gezogen <strong>und</strong> sind von der<br />

starren Ausbildung in Berufe zur biografisch flexiblen <strong>und</strong><br />

ausbaufähigen modularen Ausbildung übergegangen. Damit<br />

wird auch eine Entkoppelung von biografischer <strong>und</strong> beruflieher<br />

Integration in die Gesellschaft erreicht. Wir werden im<br />

Kapitel über das Junge-Erwachsenenalter sehen, dass für viele<br />

junge Männer Identitätsfindung <strong>und</strong> soziale Integration in dieser<br />

Lebensphase längst nicht mehr in eins gehen, obwohl der<br />

Beruf weiterhin als Fokus beider Entwicklungsperspektiven<br />

gilt. Gleichzeitig zeigen die biografischen Bef<strong>und</strong>e aus unseren<br />

Dresdner Projekten zur Übergangsforschung (Arnold u.a.<br />

2004), dass - gerade bei jungen Männern - der verwehrte Zugang<br />

zum Arbeitsmarkt auch den Zugang zum Selbst einschränkt,,d.h.<br />

dass es eher zur Abspaltung der damit verb<strong>und</strong>enen<br />

Hilflosigkeit <strong>und</strong> eben zur Freisetzung naturalistischmaskuliner<br />

Durchsetzungsorientierung in der Geschlechterkonkurrenz<br />

kommen kann, die angesichts der gleichberechtigten<br />

Bildungschancen <strong>und</strong> vergleichbaren Bildungsabschlüsse<br />

von Jungen <strong>und</strong> Mädchen schon aufgehoben schien. Das, was<br />

wir am Beispiel <strong>des</strong> versteckten Geschlechtercurriculums der<br />

Schule diskutiert haben, dass Jungen unter der Hand antisoziales<br />

Durchsetzungsverhalten lernen, kommt nun zum Zuge. So<br />

ist es auch plausibel, dass sich bei denen, die im mittleren Bereich<br />

der qualifizierten Berufe reüssiert haben, eine deutlich<br />

stärkere Geschlechterangleichung vollzogen hat als in der<br />

breiten Peripherie niedrig qualifizierter <strong>und</strong> prekärer Arbeitsverhältnisse,<br />

in der erzwungene Mobilität <strong>und</strong> Flexibilität<br />

herrscht: Man verliert einen Job, findet woanders einen neuen<br />

<strong>und</strong> es kommt darauf an, wie ungeb<strong>und</strong>ene man ist. Fier haben<br />

wieder die Männer die besseren Karten als die Frauen: Diese<br />

157


sind stärker ans )-laus <strong>und</strong> die Familie geb<strong>und</strong>en oder schon in<br />

der Vorstellung von der zukünftigen Schwierigkeit, Kinder<br />

<strong>und</strong> Beruf zu vereinbaren, gefangen.<br />

ennoch droht jungen Männern ein Orientierungsdilemma,<br />

das sich im Jungen-Erwachsenen-Alter zum Integritätsproblem<br />

aufschaukeln kann. Thomas Kreher hat in seiner empirisehen<br />

Studie zur Kompetenzentwicklung junger Männer<br />

(2004) gerade bei Jugendlichen mit prekären Ausbildungs<strong>und</strong><br />

Berufsperspektiven biografische Orientierungsmuster angetroffen,<br />

die immer noch auf das Normalarbeitsverhältnis mit<br />

entsprechend lebenslang gesichertem Lebensstandard fixiert<br />

sind, obwohl ihre prekäre aktuelle Lage diese Prognose überhaupt<br />

nicht hergibt. Wenn sie schließlich dieses Dilemma spüren,<br />

entwickeln sie typische männliche Bewältigungsformen:<br />

Sie spalten das Problem ab, rationalisieren es als außenverursacht<br />

<strong>und</strong> positionieren sich über die Abwertung anderer (z.B.<br />

Sozialhilfeempfänger). Aber auch junge Männer, die nicht in<br />

solchen prekären Situationen sind, haben es heute schwer, Lebenswunsch<br />

<strong>und</strong> Lebenswirklichkeit rechtzeitig so miteinander<br />

in Einklang zu bringen, dass sie mit dem Ende <strong>des</strong> zwanzigsten<br />

Lebensjahres auf ein tragfähiges F<strong>und</strong>ament für ihre<br />

weitere Lebensphase bauen können. Der Strukturwandel der<br />

Arbeitsgesellschaft zwingt viele in immer wieder neue Versuche<br />

<strong>und</strong> Abbrüche, so dass heute schon der Slogan von der<br />

,quarter-life-erisis' (s.u.) die R<strong>und</strong>e macht. Für junge Männer<br />

sind solche frühen Integritätskrisen immer auch Sinnkrisen, da<br />

sich viele von ihnen ja weiterhin in einem möglichst gut dotierten<br />

Arbeitsverhältnis <strong>und</strong> in ihrer männlichen Verantwortung<br />

für eine Familie erfüllen möchten. Der Sinnbezug Kinder<br />

großziehen', der jungen Frauen neben dem Beruf offen<br />

steht, scheint ihnen dagegen subjektiv wie von den gesellschaftlichen<br />

Bedingungen her immer noch verwehrt.<br />

3.7 Die männliche Clique<br />

Das Bestreben, sich aus seinem unwirklichen' Selbst heraus<br />

wirklich zu fühlen <strong>und</strong> dies sozial durchsetzen zu können, bildet<br />

die emotionale Hintergr<strong>und</strong>struktur riskanter bis antisozialer<br />

Haltungen bei Jugendlichen. Dieses Streben erhält seinen<br />

sozialen Rahmen in der subkulturellen Szenerie der Jugendkultur<br />

(Gleichaltrigenkultur), welche die Gelegenheit bietet,<br />

das Unwirkliche sozial wirklich werden zu lassen <strong>und</strong> die ihm<br />

innewohnende antisoziale Tendenz zu kanalisieren. So entsteht<br />

der „kulturelle Block" (Winnicott) der Jugend in eigener<br />

Musik, Kleidung, eigenen sozialen Verkehrsformen <strong>und</strong> Abgrenzungsritualen.<br />

Der subkulturelle Mechanismus der<br />

Gleichaltrigenkultur erlaubt es, dass das Unwirkliche sozial<br />

gelebt <strong>und</strong> dennoch - in Schule <strong>und</strong> Ausbildung - die zentralen<br />

Entwicklungsaufgaben <strong>des</strong> Übergangs in die gesellschaftliche<br />

Kultur (Arbeit) angepackt <strong>und</strong> gelöst werden können. Wo die<br />

Subkultur diese Balance zur Gesellschaft allerdings nicht hat,<br />

wirkt sie nur nach innen auf die Anerkennung <strong>des</strong> Selbst so<br />

wie es in seiner Unwirklichkeit ist, nach außen aber verstärkt<br />

sie die antisoziale Tendenz <strong>des</strong> unwirklichen jugendlichen<br />

Protests. Der gesellschaftliche Faden reißt, wenn der jugendliehe<br />

Protest sozial übergangen wird, wenn Schule <strong>und</strong> Arbeit<br />

„zerstörbar" sind, das heißt den Jugendlichen nichts entgegensetzen<br />

<strong>und</strong> somit keinen Realitätsgewinn erzeugen können.<br />

ies geschieht dann, wenn die Schule nicht mehr sozial verbindlich,<br />

die Arbeitsperspektive bedroht scheint. Die subkulturelle<br />

Gruppe dient dann als Ersatz für eine fördernde Umwelt,<br />

an die man sich klammert, weil sie als der einzige Ort<br />

scheint, wo noch das gilt, was aus einem selbst kommt.<br />

Nun wissen wir aus der Jugendforschung, dass Straßencliquen<br />

meist von Jungen aus der Unterschicht dominiert sind. Jungen<br />

- so haben wir in den bisherigen Hinweisen zur männlichen<br />

Sozialisation erfahren - werden in der Erziehung früh nach<br />

außen gedrängt <strong>und</strong> sind auf ihrer Suche nach männlicher Geschlechteridentität<br />

dem strukturellen Mechanismus von Idolisierung<br />

(<strong>des</strong> Männlichen) <strong>und</strong> Abwertung (<strong>des</strong> Weiblichen,<br />

Schwachen) ausgesetzt. Das Streben nach einem „unwirklichen<br />

Selbst" ist bei den Jungen <strong>des</strong>halb stärker nach außen<br />

verwiesen als bei den Mädchen, die männliche Antriebsstruktur<br />

von Idolisierung <strong>und</strong> Abwertung hat in der pubertären<br />

Konstellation von Unwirklichkeit <strong>und</strong> narzisstischer Ausrichtung<br />

<strong>des</strong> Selbst eine verblüffende Entsprechung. In der Verbindung<br />

von Unwirklichkeit <strong>des</strong> Selbst <strong>und</strong> der Suche nach<br />

Wirklichkeit wird das männliche Idol <strong>und</strong> die Abwertung <strong>des</strong><br />

Weiblichen zum Wirklichen.<br />

159


ies alles bedeutet wiederum nicht, dass die (männliche) Clique<br />

deviant werden muss. Es kommt wieder darauf an, von<br />

welchen biografischen Ausgangssituationen aus die Jugendlichen<br />

in die Clique gehen (z.B. Jungen mit gestörter männlicher<br />

Geschlechtsidentifikation <strong>und</strong> verhärteten familialen Verlusterfahrungen)<br />

<strong>und</strong> wie sich die Struktur der Clique entwickelt<br />

(autoritär oder unterschiedliche individuelle Strömungen<br />

zulassend). Cliquen sind aus psychoanalytischer, soziologischer<br />

<strong>und</strong> pädagogischer Gesamtsicht alterstypische bedien<br />

der Regulation, mit denen Triebdynamik kanalisiert, soziale<br />

Differenzierung entwickelt <strong>und</strong> Übergangssituationen bewältigt<br />

werden. Sie sind <strong>des</strong>halb potenziell' deviant, weil sie<br />

subkulturell angelegt sind (sein müssen). In ihnen symbolisieren<br />

sich die Ablösung von der Herkunftsfamilie (das Nicht<br />

mehr) <strong>und</strong> der unstrukturierte <strong>und</strong> <strong>des</strong>halb normdiffuse bis<br />

normverweigernde Übergang in das spätere Erwachsenenalter<br />

(das von sich weggeschobene Noch-nicht) gleichermaßen.<br />

Die Jugendlichen in der Clique sind alle im gleichen Gefühl<br />

gefangen: Sie haben sich von den Eltern in ihrer Gefühlswelt<br />

gelöst, sie geben die Eltern als Liebesobjekte auf <strong>und</strong> haben<br />

gleichzeitig noch Angst <strong>und</strong> Scheu vor der eigenverantwortlichen<br />

sozial gerichteten <strong>und</strong> verbindlichen Sexualität. Dadurch<br />

erhält die Clique eine hohe emotionale Dichte: „In der starken<br />

libidinösen Besetzung der Gruppe liegt offensichtlich auch die<br />

Ursache für ihre spätere Mystifizierung" (Schröder 1991, S.<br />

94/95). Kieses Zusammenspiel von Sexualangst <strong>und</strong> emotionaler<br />

Dichte lässt die Idolisierung <strong>des</strong> Männlichen erst recht<br />

aufblühen, auch wenn man sich als Einzelner eher als Jugendlicher<br />

denn als junger Mann fühlt. In der Clique aber wird<br />

Maskulinität freigesetzt, wird zum Strukturierungsprinzip <strong>des</strong><br />

Cliquenverhaltens nach innen wie außen.<br />

Die geschlechtstypische Dynamik solcher Jungencliquen ist -<br />

offen oder versteckt - vom Mechanismus der Abwertung <strong>und</strong><br />

Idolisierung geprägt. Gleichzeitig spielen oft die Mädchen, die<br />

in solchen Cliquen sind, eine bezeichnende Rolle: Bei den äußeren<br />

Aktivitäten der Gruppe, im äußeren Machtgefüge spielen<br />

sie eine untergeordnete Rolle. Die Jungen lassen an ihnen<br />

ihr männliches Überlegenheitsgefühl aus <strong>und</strong> werten sie immer<br />

wieder ab oder weisen sie zurück, demütigen sie. Im inne-<br />

160<br />

ren Gefüge solcher Cliquen spielen dagegen Mädchen eine<br />

sehr dominante Rolle, sie tragen vor allem zum Zusammenhalt<br />

der Clique bei, sie vermitteln bei Streitigkeiten <strong>und</strong> Konflikten<br />

nach innen <strong>und</strong> außen, sie sind es auch - <strong>und</strong> das ist in<br />

Jugendcliquen immer gefürchtet -, welche durch das Einfädeln<br />

einer Partnerbeziehung einzelne Jugendliche aus der Clique<br />

herausbrechen: Mit der festen Fre<strong>und</strong>in scheint der Junge für<br />

die Clique verloren. So ist die Jungenciique, die doch so wichtig<br />

ist für den Übergang <strong>des</strong> Jungen von der Familie in die gesellschaftliche<br />

Realität <strong>und</strong> in der die meisten Jungen nach ihrer<br />

Familien-, Kinder- <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>schulzeit, in der sie meist<br />

von Frauen begleitet wurden, zum ersten Mal unter Männern<br />

sind, kein echter Haltepunkt in der Findung männlicher Identität<br />

<strong>und</strong> selbstbestimmter Verhältnisse zu Frauen, sondern kann<br />

zu einem weiteren Kristallisationspunkt <strong>des</strong> männlichen Dilemmas<br />

im Lebenslauf werden. Viele Jungen haben auch hier<br />

wieder keine Beziehung zu sich selbst, keine Ruhe auf der Suche<br />

nach Männlichkeit, keine Gewissheit im Verhältnis zu<br />

Mädchen <strong>und</strong> Frauen gef<strong>und</strong>en. Im Gegenteil: Es spielen sich<br />

hier oft Verhaltensmuster gegenüber Mädchen ein, die dann<br />

auch im späteren Leben im Verhältnis zu Frauen immer wiederkehren.<br />

Jungen spüren, wie sie sich nach Emotionalität <strong>und</strong><br />

Bindung sehnen, wollen sich Mädchen entsprechend nähern,<br />

sind aber nicht imstande, dieses Gefühl in entsprechen<strong>des</strong> soziales<br />

Verhalten umzusetzen, da ihnen dies seit der Kindheit<br />

immer wieder manifest oder latent verwehrt wurde. Sie fühlen<br />

weiblich, nähern sich aber den Mädchen männlich, mit Imponiergesten<br />

oder einer verbalen bis hin zur körperlichen Anmache,<br />

auf die heute viele selbstbewusste Mädchen nicht mehr<br />

reagieren. So kann sich ein missverständliches „Umwegverhalten"<br />

Mädchen gegenüber entwickeln.<br />

Umwegverhalten<br />

Um eigene Schwächen <strong>und</strong> Unsicherheiten zu verbergen, ,verstecken`<br />

sich Jungen nicht selten hinter Verhaltensweisen, die<br />

Bedürfnisse nicht direkt, sondern über einen Umweg ausdrücken.<br />

Sie werden als symbolisch` bezeichnet, weil das Gegenüber<br />

die Aufgabe erhält, die jeweilige Strategie zu entschlüsseln.<br />

Strategisches Verhalten äußert sich vor allem im<br />

Umgang mit Mädchen: Die Annäherung an Fädchen läuft


häufig über Anmache (positives Moment: Zuneigung zu Mädchen,<br />

Suche von Nähe <strong>und</strong> Geborgenheit; negatives Moment:<br />

Der Junge muss vor anderen, insbesondere vor der Clique, seinen<br />

Mann stehen, er darf sich nicht dem Mädchen ,unterwerfen').<br />

Oft wird dieses Verhalten von Mädchen gefördert` <strong>und</strong><br />

unterstützt, z.B. durch Kichern oder durch das Zulassen solcher<br />

Annäherungen. Strategisches Jungenverhaiten ist also ambivalentes<br />

Verhalten. Jungen lassen ihre innere männliche Hilflosigkeit<br />

nicht nur in frauenabwertenden Abstraktionen <strong>und</strong> Projektionen<br />

aufgehen, sondern senden durchaus empathische Signale<br />

nach außen, die aber in der Regel missachtet oder nicht so entschlüsselt<br />

werden. Strategisches Verhalten ist meist ritualisiert,<br />

dies gibt dem Jungen Sicherheit: Er muss sich nicht offenbaren,<br />

sich nicht stellen, so kann man vor der Clique das<br />

Gesicht wahren. Jungen, die nicht in einer festen Gleichaltrigengruppe<br />

sind, werden dennoch über die Ausstrahlung der<br />

Gleichaltrigenkultur entsprechend beeinflusst. Allerdings sind<br />

sie der permanenten Gruppenkontrolle <strong>und</strong> ihrem Konformitätsdruck<br />

nicht so stark ausgesetzt. Jungen, die gern viel mit<br />

Mädchen zusammen sind, sind offener für ein anderes als das<br />

gängige männliche Verhalten.<br />

(Überarbeiteter Auszug aus Böhnisch, L./Winter, R.: Männliche<br />

Sozialisation 1993, S. 86/87)<br />

In Cliquen wird auch Risikoverhalten kultiviert, es hält sie zusammen.<br />

Der Begriff <strong>des</strong> Risikoverhaltens drückt zweierlei<br />

aus. Zum einen signalisiert er den Experimentaleharakter der<br />

Jugendphase, zum anderen, dass die Jugendzeit sich von der<br />

gesellschaftlich eingerichteten Schonphase Jugend hin zur Risikophase<br />

Jugend entwickelt hat. Jugendliche verhalten sich<br />

„riskant", wenn sie sich selbst (aber auch andere) in ihrer leibseelischen<br />

Integrität gefährden oder diese gar zerstören, weil<br />

sie nicht mehr die Grenzen zwischen kulturellem Experiment<br />

<strong>und</strong> sozialem Bewältigungsdruck kalkulieren können. Deshalb<br />

hat Risikoverhalten heute vielfach die jugendkulturelle Unbefangenheit<br />

verloren, weil die Jugendphase längst nicht mehr<br />

den Schutz <strong>des</strong> Moratoriums genießt (Entgrenzung der Jugend)<br />

<strong>und</strong> früh unter sozialem Problemdruck steht. Dennoch<br />

gehört Risikoverhalten zum Spezifikum männlicher Sozialisation.<br />

In ihrem Bestseller „Kleine IJelden in Not" (1990) füh-<br />

162<br />

ren Schnack/Neutzling plastisch vor, wie Jungen Anerkennung<br />

oft nur durch Risikoverhalten <strong>und</strong> die „mannhafte" Bewältigung<br />

seiner Folgen (,Ein Indianer kennt keinen Schmerz')<br />

erlangen können, auch wenn sie eigentlich darauf nicht abfahren<br />

bzw. Angst davor haben. Männliches Risikoverhalten<br />

zeigt sich dabei stärker in der Selbst- <strong>und</strong> Fremdgefährdung<br />

nach außen (Alkohol- <strong>und</strong> Verkehrsrausch, Einlassen in Gewaltszenen),<br />

weibliches Risikoverhalten richtet sich eher nach<br />

innen (Medikamentenmissbrauch, Magersucht). Beide treffen<br />

sich in der Drogenkultur. Mieses Risikoverhalten ist durch die<br />

Unwirklichkeits-Wirklichkeits-Spannung <strong>des</strong> pubertären Jugendalters<br />

besonders aufgeladen. Es vermittelt ein Lebensgefühl,<br />

in dem Wohlsein <strong>und</strong> Unwohlsein, Omnipotenzerleben<br />

<strong>und</strong> (dennoch nicht zu verscheuchende) psychosoziale Belastung<br />

gegeneinander bestehen. Solange sich - in der jugendkulturellen<br />

Dynamik - die Grenzen <strong>des</strong> Selbsterlebens hinausschieben<br />

lassen, so lange überwiegt der Rauschzustand <strong>des</strong><br />

jugendkulturellen Kicks. Sind solche Grenzen aber subkulturell<br />

<strong>und</strong> sozialräumlich überschritten, droht Auffälligkeit <strong>und</strong><br />

damit Kriminalisierung <strong>des</strong> Verhaltens.<br />

In dieser räumlichen Perspektive zeigt sich auf, wie ambivalent<br />

die Außenzentrierung männlicher Sozialisation sein kann.<br />

Auf der einen Seite erwerben Jungen früh sozialräumliche<br />

Kompetenzen, auf der anderen Seite geraten sie damit auch<br />

eher in Zonen sozialer Auffälligkeit <strong>und</strong> Kontrolle. Eine Jungenclique<br />

entsteht im ausdrücklichen räumlichen Bezug einer<br />

Gleichaltrigengruppe. Jungen besetzen' <strong>und</strong> kontrollieren<br />

Räume, ihr Verhalten ist ,Territorialverhalten'. Männliche<br />

ominanz drückt sich hier schon früh in den verschiedensten<br />

Formen jugendkultureller räumlicher Dominanz aus. Dieses<br />

Raumverhalten strukturiert sich nämlich auch über Ausgrenzung,<br />

<strong>Zur</strong>ückdrängung anderer Jungen, die nicht der Clique<br />

angehören <strong>und</strong> äußert sich nicht zuletzt auch in der räumlichen<br />

<strong>Zur</strong>ücksetzung von Mädchen. Die männliche Abwertung<br />

der Frau setzt ihre ersten Zeichen im räumlichen Jungenverhalten<br />

der ,Anmache', aber auch in der räumlich demonstrierten<br />

Beschützerpositur' der Jungen.<br />

ie raumgreifende Jungenclique ist somit der soziale Ort, wo<br />

sich die Muster männlichen Bewältigungsverhaltens, wie wir


165


len Ordnung <strong>und</strong> Rollenteilung. In Anlehnung an Werner<br />

Schiffauers berühmte Studie „Die Gewalt der Ehre" (1953)<br />

sieht Tertilt darin die Matrix <strong>des</strong> „Spiel(s) von Herausforderung<br />

<strong>und</strong> Gegenherausforderung", in dem sich Selbstwert <strong>und</strong><br />

Status der jungen Männer aufbauen: „Die Verteidigung der<br />

eigenen wie auch der Familienehre erfordere die ständige Bereitschaft<br />

<strong>des</strong> Mannes, Provokationen, die an ihn <strong>und</strong> seinen<br />

Haushalt herangetragen werden, phallisch aggressiv zu beantworten.<br />

Wieder geht es darum, die Grenzen der Integrität<br />

<strong>und</strong> damit den Schutz der Person zu behaupten" (Tertilt 1996,<br />

S. 197).<br />

Dies muss man wissen, um die maskuline Aggressivität junger<br />

Migranten einordnen zu können, die eben dann einsetzt, wenn<br />

die Jugendlichen das Gefühl haben, dass sie nicht mehr Herr<br />

ihrer Grenze <strong>und</strong> damit ihrer Ehre sind. „Wer als Mann die<br />

eigene Ehre sowie die seiner Familie nicht bewahren kann,<br />

wer sie durch passiv-unterwürfiges Verhalten preisgibt, anstatt<br />

der Herausforderung entschieden entgegenzutreten, [...] wird<br />

aus der Männerwelt ausgeschlossen" (ebd., S. 215). Die damit<br />

verb<strong>und</strong>enen Rituale gelten als Strukturübungen' der Clique,<br />

die sich darüber ihres Zusammenhaltes, ihrer Rangordnung<br />

<strong>und</strong> ihrer Abgrenzung nach außen versichert.<br />

Zwei Bef<strong>und</strong>e lassen in diesem Zusammenhang die besondere<br />

Bewältigungslage junger Männer mit Migrationshintergr<strong>und</strong><br />

in einem jugendspezifischen Licht erscheinen. Zum einen die<br />

Ergebnisse einer nationalitätenvergieichenden Studie aus dem<br />

Sechsten Familienbericht (vgl. Nauck 2000), nach denen diese<br />

normativ überhöhten Männlichkeitsorientierungen bei Jugendlichen<br />

mit Migrationshintergr<strong>und</strong> wesentlich stärker ausgeprägt<br />

sind als bei ihren Vätern. Zum anderen die Beobachtung,<br />

dass diese Fixierung auf die männliche Ehre auch bei<br />

türkischen Jugendlichen, die in Deutschland aufgewachsen<br />

sind <strong>und</strong> in zentralen Belangen der Lebensführung als kulturell<br />

integriert gelten, anzutreffen ist (vgl. dazu Bohnsack<br />

2002). Dies verweist auf ein Zusammenspiel von sozialer Benachteiligung<br />

<strong>und</strong> ethnischer Abwertung, dem sich Jungen<br />

ausländischer Herkunft emotional <strong>und</strong> sozial gerade in den<br />

ethnozentristischen Milieus der Gleichaltrigenkultur ausgesetzt<br />

sehen, dem sie mit dieser normativ überhöhten Maskuli-<br />

16 6<br />

nität zu begegnen versuchen. Denn in der eigenen bedrohlichen<br />

Psychodynamik <strong>des</strong> Mannwerdens <strong>und</strong> der gleichzeitigen<br />

Bedrohung durch die soziale Entwertung in der deutschen<br />

Gleichaltrigenkultur kann diese Maskulinität der türkischen<br />

Jugendlichen handlungsfähig machen, weil sie für den einheimischen<br />

Jugendlichen in dieser Eindeutigkeit <strong>und</strong> Konsequenz<br />

nicht erreichbar ist. Dadurch können die, die einen als<br />

Türken abwerten, nun selbst abgewertet werden. In der in diesem<br />

Zusammenhang häufig gebrauchten Provokation, den anderen<br />

als „schwul" anzumachen, bildet sich diese Bewältigungslogik<br />

ab. Denn dabei „geht es [...] weder um eine Abwertung<br />

im Sinne traditioneller Moral noch um die Unterstellung<br />

gleichgeschlechtlichen Sexualverhaltens. In erster Linie<br />

zielte sein [<strong>des</strong> türkischen Jungen, d. A.] Vorwurf auf meine<br />

Weigerung, seinen Herausforderungen auf eine männliche'<br />

Weise, das heißt, durch eine ebenso klare wie entschiedene<br />

Grenzziehung zu begegnen. Seinem Angebot, die Kräfte zu<br />

messen, hatte ich mich vollständig entzogen <strong>und</strong> war damit<br />

einer Konfrontation aus dem Weg gegangen. In seinen Augen<br />

erwies ich mich als unmännlich' <strong>und</strong> damit typisch<br />

deutsch"` (Tertilt 1996, S. 193). Dieses Muster der Verstrickung<br />

von jugendpubertärer <strong>und</strong> sozialer Hilflosigkeit <strong>und</strong> ihrer<br />

Abspaltung in überhöhte Maskulinität lässt sich in Gr<strong>und</strong>zügen<br />

auch bei deutschen Jugendlichen gerade aus sozial benachteiligten<br />

Milieus ausmachen. Dies ist ein Indiz dafür, dass<br />

der Faktor soziale Benachteiligung wesentlich auslösend für<br />

dieses Verhalten ist.<br />

3.8 Der männliche RechtsextremismUs<br />

Eine exemplarische Zuspitzung<br />

Rechtsextrem aufgeladene Cliquen beziehen ihr Zusammengehörigkeitsgefühl<br />

aus der Abgrenzung gegenüber <strong>und</strong> der<br />

Abwertung von Schwächeren, vor allem auch Migranten.<br />

Ausländerfeindlichkeit ist nachgewiesenermaßen der Dreh<strong>und</strong><br />

Angelpunkt <strong>des</strong> Gruppenprozesses. Sie muss immer wieder<br />

verbal <strong>und</strong> in der öffentlichen Anmache demonstriert werden.<br />

Ausländerfeindliche Alltagsflipps <strong>und</strong> Events, meist von<br />

Einzelnen aus der Clique heraus angezettelt, steigern das An-<br />

167


sehen in der Gruppe <strong>und</strong> damit den fragilen Selbstwert. So ist<br />

es nicht verw<strong>und</strong>erlich, dass die Jugendrichter kein Unrechtsbewusstsein<br />

entdecken können; die Jungs tun es ja für die<br />

Gruppe, viele von ihnen sehen im Delikt gar nicht so sehr das<br />

Unrecht an anderen, sondern möchten sich vor der Gruppe<br />

beweisen, auch wenn es ihnen dabei mulmig ist.<br />

Auch von einem anderen Stereotyp der Interpretation können<br />

wir uns verabschieden. Unter den rechtsextremistisch auftretenden<br />

jungen Männern - so die Statistik - sind die arbeitslosen<br />

nicht überrepräsentiert. Es sind eher Bindungsstörungen,<br />

die aus der Familie resultieren, die durch die sozialen Schichten<br />

hindurch eine Konstante bilden. Natürlich spielen die sozialökonomischen<br />

Verhältnisse eine Rolle. Wenn man bedenkt,<br />

dass in der segmentierten Arbeitsgesellschaft (s.u.) in<br />

Deutschland zu Beginn <strong>des</strong> 21. Jahrh<strong>und</strong>erts fast die Hälfte<br />

der Erwerbsbevölkerung keinen gesicherten Arbeitsplatz im<br />

Sinne <strong>des</strong> bisher gewohnten Normalarbeitsverhältnisses hat<br />

<strong>und</strong> dass die Berufs- <strong>und</strong> Arbeitsplatzunsicherheit schon das<br />

enken der Jugend erfasst, dann wird plausibel, dass junge<br />

Männer bei früher Arbeitsplatzunsicherheit <strong>und</strong> Ausbildungskonkurrenz<br />

<strong>und</strong> damit verb<strong>und</strong>ener gestörter sozialer Integrationsperspektive<br />

fürchten, sozial isoliert zu werden. Zu der<br />

Einsamkeit <strong>des</strong> Alters ist die Einsamkeit der Jugend gekommen.<br />

Solche jungen Männer suchen sozialen Anschluss <strong>und</strong><br />

vor allem auch Gewissheit - „ich möchte einen festen Platz<br />

haben" - <strong>und</strong> landen in autoritären bis rechtsextremen Gruppierungen,<br />

die ihnen mit ihrer rigiden Eindeutigkeit <strong>und</strong> Unterordnung<br />

bei<strong>des</strong> bieten können. Das sind dann nicht nur junge<br />

Männer aus sozial benachteiligten Milieus, sondern genauso<br />

Jugendliche aus anderen Schichten. So ist es inzwischen<br />

nichts Ungewöhnliches, dass Jungen, die unter der Woche unauffällig<br />

in monotonen, kontaktarmen Arbeitsverhältnissen<br />

stehen, am Wochenende als Fußball- oder Straßenhooligans<br />

zu ausländerfeindlichen <strong>und</strong> gewaltbereiten Szenen stoßen.<br />

Wenn man an solche Jugendliche herankommt, merkt man<br />

bald, dass sie Orte suchen, wo sie ihre Männlichkeit ausleben<br />

<strong>und</strong> demonstrieren können. Denn die Arbeitsvorgänge über<br />

die Woche hinweg sind bei den meisten so von Körperlichkeit<br />

<strong>und</strong> Maskulinität entleert, dass sie bei denen, die in puncto<br />

Selbstwert <strong>und</strong> Anerkennung auf Maskulinität angewiesen<br />

sind, eine Suche nach solchen sozialen Orten der aggressiven<br />

Maskulinität auslösen. Sie verfügen nicht über andere kulturelle<br />

<strong>und</strong> soziale Ressourcen um Selbstwert zu erlangen <strong>und</strong><br />

sich sozial auszudrücken. Da die jungen Männer der Gleichaltrigenkultur<br />

der Jugend schon entwachsen sind, machen sie<br />

sich oft mit ihrer Maskulinität in der Öffentlichkeit lächerlich.<br />

Auch Mädchen <strong>und</strong> jungen Frauen kann man damit nicht<br />

mehr so wie in früheren Zeiten imponieren. Also werden jene<br />

jungen Männer von offensichtlich „männlichen" Orten, wie<br />

sie fremdenfeindliche Cliquen darstellen, fast magisch angezogen.<br />

Hier handelt es sich um Gruppen, die durch Abgrenzung<br />

<strong>und</strong> Abwertung von Ausländern zusammengehalten <strong>und</strong><br />

bewegt werden. Gehört man einmal solch einer Gruppe oder<br />

situativ wechselnden Szene an, entwickelt diese nicht nur ihre<br />

eigene ethnozentrische Dynamik, sondern wird auch noch<br />

durch eine typische Irritation angeheizt. Denn die jungen<br />

Männer ausländischer Herkunft, die von Deutschen abgewertet<br />

werden, haben den Deutschen eines voraus: Viele von ihnen<br />

leben ihre Männlichkeit öffentlich <strong>und</strong> selbstverständlich<br />

aus, ihr Habitus der männlichen Ehre, <strong>des</strong> nationalen Stolzes<br />

<strong>und</strong> ihre Beschützerpose gegenüber Mädchen aus dem eigenen<br />

ethnischen Milieu ist unübersehbar (vgl. dazu Farin/Seidel-fielen<br />

1994). Darin ist auch die Selbstverständlichkeit<br />

eingewoben, mit der z.D. junge Türken ihre Maskulinität<br />

demonstrieren (s.o.), eine Selbstverständlichkeit, die junge<br />

Deutsche weder aufbieten, noch herstellen können. So kann<br />

sich in deutschen Cliquen ein Aufschaukelungsmuster von<br />

Fremdenfeindlichkeit <strong>und</strong> Maskulinität entwickeln, das dann<br />

an einem bestimmten Punkt nicht mehr beherrschbar ist.<br />

Was bleibt, <strong>und</strong> was von jungen Deutschen nicht selten als<br />

Gegenmittel gleicher Art aktiviert <strong>und</strong> zelebriert wird, ist die<br />

Regression, das <strong>Zur</strong>ückfallen in übersteigerte Maskulinität,<br />

mit der man(n) sich aus den Alltagsmustern der Zivilisation<br />

ausklinkt <strong>und</strong> in der sozialen Umwelt Abwehr <strong>und</strong> Furcht heraufbeschwört.<br />

Öffentliche Regressionen, die aus den Rollenmustem <strong>des</strong> zivilisierten<br />

Alltags herausfallen, erzeugen Angst oder zumin<strong>des</strong>t<br />

Unbehagen. Der Rückfall in die archaisch-körperliche Maskulinität<br />

gehört zu solchen unbewältigten <strong>und</strong> wiederkehrenden<br />

169


Entwicklungsbrüchen, die unter der Decke aufgeklärter Zivilisation<br />

schwelen <strong>und</strong> immer wieder hervorbrechen. Außerdem<br />

kommt hier noch ein neues Phänomen hinzu. Diese archaischaggressive<br />

Männlichkeit gibt sich öffentlich, ignoriert die gesellschaftlichen<br />

Ausgrenzungsversuche, zelebriert alltägliche<br />

Provokation: , Stigmaaktivisten'. Und meist gelingen diese<br />

Provokationen auch - auf der Straße, in der Tram <strong>und</strong> der Metro,<br />

auf Bahnhöfen. Die Passanten huschen ängstlich oder verhalten<br />

empört vorbei, die jungen Männer scheinen die Spannung,<br />

die sie erzeugen, zu genießen. All diese Beobachtungen<br />

lassen den Schluss zu, dass es ein diffuses gesellschaftliches<br />

Klima geben muss, das diese Provokationen trägt, auch wenn<br />

die meisten Bürger subjektiv peinlichst berührt sind.<br />

In der Spaßgesellschaft hat auch die soziale Provokation ihren<br />

neuen Platz <strong>und</strong> ihre entsprechende Bedeutung gef<strong>und</strong>en. Mit<br />

gewaltnahen Provokationen kann man nicht nur auf sich aufmerksam<br />

machen, sie können einem auch den emotionalen<br />

Kick geben, der mit den üblichen Alltagsflipps nicht mehr zu<br />

bekommen ist. In die ungenierte Provokationsszenerie der<br />

Medien - Gewaltfilme <strong>und</strong> Talkshows - den Verdrängungskampf<br />

am Arbeitsplatz <strong>und</strong> auf der Autobahn, der Armut im<br />

Reichtum, kann sich auch der alltägliche Rechtsextremismus<br />

junger Männer einfügen. Die Medien warten ja gerade darauf,<br />

sind richtig geil' auf extremistische Events. Somit ist es nicht<br />

abwegig, den Regressions-Provokations-Habitus junger Männer<br />

als paradoxes Muster gesellschaftlicher Teilhabe zu interpretieren<br />

<strong>und</strong> weniger als Mechanismus der Selbstausgrenzung.<br />

Auf sich aufmerksam machen, soziale Orientierung, Geborgenheit<br />

<strong>und</strong> Gewissheit suchen <strong>und</strong> erfahren wollen, dass man<br />

etwas losmachen kann <strong>und</strong> sei es über Gewalt <strong>und</strong> Provokation,<br />

das alles sind Charakteristika der Lebensphase Jugendlicher<br />

<strong>und</strong> junger Erwachsener im Übergang in die Arbeitsgesellschaft.<br />

Dieser Übergang ist in der Krise der Arbeitsgesellschaft<br />

für viele erschwert, ungewiss, für manche - im wiederkehrenden<br />

subjektiven Gefühl - aussichtslos geworden. Ein<br />

Pessimismus auf Zukunft ist aber in der Gegenwartsdynamik<br />

der Jugendzeit schwer lebbar. Deshalb die Abspaltung in unbedingten<br />

Gegenwartsoptimismus, den Jugendliche heute be-<br />

170<br />

tont suchen (vgl. Jugend 2002). Die jungen Männer, von denen<br />

hier die Rede ist, versuchen, sich auch im Alter von 25<br />

Jahren noch jugendkulturell auszuleben, obwohl sie mitten in<br />

gravierenden sozialen Belastungen <strong>und</strong> Bewältigungsproblemen<br />

stecken. Die Gesellschaft, die sie hilflos macht, bekommt<br />

diese Hilflosigkeit als Gewalt gegen die Schwächeren zurück.<br />

amit wären wir wieder bei den von Anno Gruen angebotenen<br />

Interpretationsmustern.<br />

Es ist ein brisantes Gemisch, das sich da im sozialstaatlich unzureichend<br />

flankierten <strong>und</strong> <strong>des</strong>halb sozial rücksichtslosen<br />

Umbruch der Arbeitsgesellschaft bei der Jugend zusammenbraut.<br />

Denn das Modell „Jugend" der industriekapitalistischen<br />

oderne funktioniert nicht mehr so selbstverständlich <strong>und</strong><br />

durchgängig wie früher <strong>und</strong> wird auch weiterhin seine Integrationskraft<br />

verlieren. Dieses Modell - Integration durch Separation`<br />

- enthält ein typisches Funktionsmuster der modernen<br />

Vergesellschaftung von Jugend: Jugendliche werden aus der<br />

Gesellschaft zum Zwecke <strong>des</strong> Lernens, der Qualifikation <strong>und</strong><br />

damit zusammenhängend auf Gr<strong>und</strong> der Besonderheiten ihrer<br />

leibseelischen Entwicklung (Pubertät) ausgegliedert, um später<br />

- nun gereift` <strong>und</strong> qualifiziert - in die Arbeitsgesellschaft<br />

eingegliedert, integriert werden zu können. Voraussetzung dafür<br />

aber ist, dass dieser Mechanismus auch funktioniert, die<br />

von der Gesellschaft verantwortete <strong>und</strong> gewährte Sicherheit<br />

<strong>und</strong> Verlässlichkeit, dass die Integration in die Arbeitsgesellschaft<br />

klappt, Beruf <strong>und</strong> Arbeitsplatz einigermaßen sicher <strong>und</strong><br />

erreichbar sind <strong>und</strong> der Sonder- <strong>und</strong> Schonraum Jugend nicht<br />

schon früh von sozialen Problemen überschattet wird. Bei<strong>des</strong><br />

ist aber heute nicht mehr so gegeben. Jugendliche <strong>und</strong> junge<br />

Erwachsene experimentieren immer noch relativ unbefangen<br />

<strong>und</strong> riskant, geraten aber früh unter sozialen Druck - Bitdungs-<br />

<strong>und</strong> Ausbildungskonkurrenz, sozialer Stress bei den<br />

Eltern - <strong>und</strong> merken dabei gar nicht, wie ihr riskantes Sozialverhalten,<br />

das ja eigentlich der sozialen Erprobung dienen<br />

soll, in riskantes Bewältigungsverhalten umschlägt (s.o.). Wir<br />

beobachten dies in der Drogenszene, wenn Jugendliche in unbefangener<br />

jugendkultureller Gewissheit behaupten, für sie sei<br />

es doch kein Problem, mit Drogen umzugehen, sie wollen sie<br />

ja nur ausprobieren, auch wenn sie dann - oft über Nacht -<br />

nicht mehr davon loskommen, weil sie sie zur Bewältigung


von sozialem Alltagsstress brauchen. Der Übergang vom Experimentierer<br />

zum User ist vollzogen, ohne dass es ihnen rational<br />

bewusst, dafür aber körperlich - somatisch zwangsläufig<br />

ist.<br />

Wenn dies eintritt, darin ist Jugend nicht mehr der Übergangsraum,<br />

in dem ohne großes Risiko <strong>und</strong> gesellschaftlich geschützt<br />

mit der gesellschaftlichen Gewissheit experimentiert<br />

werden kann, dass dies nur vorübergehend <strong>und</strong> im Erwachsenenalter<br />

zu Ende ist. Die statistischen Verlaufskurven zur Jugendkriminalität<br />

bestätigen: Mit Ende der Jugendphase - um<br />

das zwanzigste Lebensjahr - flacht die Kurve ab, das jugendtypische<br />

Muster <strong>des</strong> Risiko- <strong>und</strong> Deliktverhaltens verschwindet.<br />

Bei der zunehmenden Zahl derer aber, die im Jugendalter<br />

schon massive soziale Probleme wie Arbeitslosigkeit, Scheitern<br />

an der Schulkarriere oder soziale Isolation erfahren <strong>und</strong><br />

bei denen jugendexperimentelles Verhalten <strong>und</strong> soziales Bewältigungsverhalten<br />

ineinander übergehen, droht eine Verstetigung<br />

<strong>des</strong> riskanten Bewältigungsverhaltens - geht auch das<br />

Gewaltverhalten über die Jugendphase hinaus.<br />

Dabei trifft es vor allem die jungen Männer, die außenfixiert<br />

agieren <strong>und</strong> in Gewaltzonen als letztmögliche Bewältigungsräume<br />

rutschen. In dem Maße, in dem der soziale Druck der<br />

arbeitsgesellschaftlichen Krise - schon in der Schule über die<br />

Eltern vermittelt - in die Jugendzeit hineinreicht, wird externalisiertes<br />

Verhalten zum Bewältigungsverhalten, spalten manche<br />

Jugendliche ihre soziale Hilflosigkeit in Gewalt - vermischt<br />

mit jugendkulturellem Experimentier- <strong>und</strong> Demonstrationsverhalten<br />

- ab. Bei den Schulabbrechern <strong>und</strong> den Herumirrern<br />

zwischen Aushilfs- <strong>und</strong> Billigjobs sind es vor allem die<br />

jungen Männer, die sich selbst nicht finden können <strong>und</strong> <strong>des</strong>halb,<br />

in der Suche nach identitätsstiftender Handlungssicherheit<br />

unter dem Zwang stehen, auf rigide Männlichkeitsmuster<br />

zurückzugreifen. Mit dem Empfinden <strong>und</strong> der Demonstration<br />

von Maskulinität als zentralem Habituskern rechtsextremistisch<br />

eingestellter junger Männer tritt auch das latente Muster<br />

männlicher Sozialisation, das Zusammenspiel von Idolisierung<br />

<strong>des</strong> Maskulinen <strong>und</strong> Abwertung <strong>des</strong> Weiblichen (s.o.)<br />

orientierungs- <strong>und</strong> verhaltensleitend hervor. Frauen werden<br />

extrem abgewertet, benutzt <strong>und</strong> gleichzeitig sind es Frauen,<br />

die gebraucht <strong>und</strong> gesucht werden, wenn es darum geht, Geborgenheit<br />

<strong>und</strong> gefühlvollen Schutz zu erlangen. Die „eigenen"<br />

Frauen werden <strong>des</strong>halb wie Eigentum gegenüber Fremdgruppen<br />

geschützt. Hier wirkt ein Huster, das ähnlich auch für<br />

Hooligan-Gruppen beschrieben wird: „Ein Fan, der nicht<br />

Manns genug ist, seine Fre<strong>und</strong>in zu verteidigen, muss auch<br />

mit dem Verlust seiner sozialen Position rechnen. [...] Wenn<br />

Mädchen in der Szene auftauchen, dann erwartet man von ihnen<br />

auch die Eigenschaften <strong>des</strong> weiblichen Rollenstereotyps:<br />

Fürsorglichkeit, Opferbereitschaft, Selbständigkeit." „Ihre<br />

Hilfe wird [...] genau in den Bruchstellen der Männlichkeit<br />

gebraucht" (Becker 1990, S. 149f).<br />

ie rechtsextremistische Gruppenkultur wird durch Maskulinität<br />

strukturiert <strong>und</strong> zusammengehalten, ein Zusammenhalt<br />

der immer wieder neu inszeniert <strong>und</strong> demonstriert werden<br />

muss. Jochen Fersten (1993) hat diesen archaischen Aufbruch<br />

aggressiver Maskulinität in ein projektives Schema gebracht.<br />

anach werden männlich beanspruchte, historisch überkommene<br />

Gr<strong>und</strong>funktionen der Nachwuchszeugung (Generativität),<br />

<strong>des</strong> Schutzes <strong>und</strong> der Versorgung in Selbstwertkrisen<br />

wirkungsverkehrt aktiviert: Die öffentliche Betonung männlicher<br />

Potenz, gepaart mit Homophobie <strong>und</strong> Frauenfeindlichkeit<br />

verweist in dieser Interpretation auf die Erzeugerfunktion. Die<br />

öffentliche Betonung von Risikoverhalten, Kampfesmut <strong>und</strong><br />

der Hang zur Konfrontation spiegeln das Schutzmotiv umgekehrt<br />

wider. Und die „Ersatz-Skills" wie gefährliches Fahren<br />

oder Diebstahl von Autos, Teilnahme an organisierter Kriminalität<br />

<strong>und</strong> Bewegen in der Schattenökonomie lassen auf einen<br />

Negativabzug der männlich beanspruchten Tugend <strong>des</strong> Versorgens<br />

schließen (Kernten 1993, S. 53). Hier liegt der Kern<br />

für die Beantwortung der Frage, warum öffentlich demonstrierte<br />

Ausländerfeindlichkeit vor allem männlich ist, denn hier<br />

wirkt der Projektions- <strong>und</strong> Abspaltungsmechanismus wie ihn<br />

Arno Gruen aufgeschlossen hat: Innere Hilflosigkeit wird als<br />

edrohung von Männlichkeit erlebt <strong>und</strong> entsprechend abgespalten<br />

<strong>und</strong> auf „unmännliche" Objekte projiziert. Schließlich<br />

wirkt der Abstraktionsmechanismus: Die Opfer rechtsextremer<br />

männlicher Gewalt erscheinen den Tätern nicht als Opfer,<br />

sondern als eigengeschaffene Bezugssymbole wiederer-<br />

17 3


langter Männlichkeit mit hegemonialer (hier nationalistischer<br />

oder rassistischer) Rahmung.<br />

Schließlich spielt die Art <strong>und</strong> Weise, wie sich der jugendkulturelle<br />

Generationenkonflikt heute „gedreht` hat, bei der Entstehung<br />

rechtsextremer Gewaltdispositionen eine gewisse<br />

Rolle. Bei Jungen wendet er sich wiederum mehr nach außen<br />

als bei Mädchen. Dabei ist nicht zu übersehen, dass sich in<br />

unserer Gesellschaft der typische Generationenkonflikt als<br />

Ablösungskonflikt von den Eltern entstrukturiert, entdramatisiert<br />

hat. Die früheren brisanten Auseinandersetzungen zwischen<br />

Jugendlichen <strong>und</strong> Eltern um Lebensstile, Werte <strong>und</strong> soziales<br />

Anpasssungsverhalten sind einer familialen Praxis <strong>des</strong><br />

Verständigens <strong>und</strong> <strong>des</strong> Aushandelns gewichen. Die Generationen<br />

leben heute in den Familien eher miteinander <strong>und</strong> nebeneinander<br />

als im Konflikt. Gleichzeitig gibt es aber auch in<br />

unserer Gesellschaft so gut wie keine Tabus mehr. Die klassischen<br />

Tabus als Reibungsflächen öffentlicher Generationenkonflikte<br />

- Sexualität <strong>und</strong> Sitte, Arbeitsmoral, Ordnung <strong>und</strong><br />

Unterordnung, abweichende Lebensformen - sind längst aufgelöst.<br />

Gerade dies aber wird in der Jugendforschung dann als<br />

problematisch angesehen, wenn Gesellschaft <strong>und</strong> Politik keine<br />

(respektierende) Auseinandersetzung mit der Jugend suchen,<br />

sondern sie links liegen lassen oder Teile von ihr kriminalisieren.<br />

Dies ist um so prekärer, als das Modell Jugend, nach dem<br />

zu leben die Gesellschaft von den Jugendlichen erwartet, für<br />

viele nicht mehr tragfähig <strong>und</strong> nur schwer lebbar ist. Deshalb<br />

ist es wohl kein W<strong>und</strong>er, wenn es Jugendliche gibt, die von<br />

den letzten gesellschaftlichen Tabus angezogen werden <strong>und</strong><br />

sich an ihnen aggressiv zu reiben versuchen. Das immer währende<br />

unbewältigte Tabu der b<strong>und</strong>esrepublikanischen Gesellschaft<br />

ist das „Auschwitz-Tabu", das von Generation zu Generation<br />

neu aufbricht <strong>und</strong> Jugendliche - einmal in linker, in<br />

den 1990er Jahren bis heute dann in rechter Tendenz - magisch<br />

anzieht. Auch so werden rechtsextreme Gewaltszenen<br />

für junge Männer attraktiv.<br />

So stellt sich insgesamt der Rechtsextremismus <strong>und</strong> die<br />

rechtsextreme Gewaltbereitschaft einer - allerdings nicht zu<br />

übersehenden - Minderheit junger Männer in Deutschland als<br />

komplexe Bewältigungskonstellation dar, in der die einzelnen<br />

174<br />

Einflussgrößen verschieden gewicheet sind <strong>und</strong> unterschiedlich<br />

zusammenspielen. Die Tiefenstruktur der männlichen Sozialisation,<br />

die im Aufwachsen <strong>und</strong> in der Erziehung von Jungen<br />

im Kin<strong>des</strong>- <strong>und</strong> Jugendalter angelegt ist, spielt dabei eine<br />

relative Rolle. Denn die Tendenz zur Abwertung von Schwächeren<br />

<strong>und</strong> die Idolisierung einer außenfixierten Männlichkeit,<br />

die der männlichen Sozialisation in unserer Gesellschaft strukturell<br />

innewohnt (s.u.), kann von den meisten Jugendlichen im<br />

Laufe ihrer Biografie sozial einigermaßen ausbalanciert werden.<br />

Bei den rechtsextremen jungen Männern dagegen schlägt<br />

innere Hilflosigkeit in manifeste Einstellungs- <strong>und</strong> Verhaltensweisen<br />

um, da diese Jugendlichen in ihren Familien <strong>und</strong><br />

ihrem sozialen Umfeld biografisch wenig Möglichkeiten hatten,<br />

diese tiefenstrukturellen Antriebe aus sich heraus <strong>und</strong> für<br />

sich zu thematisieren <strong>und</strong> sozial verträglich umzuformen. In<br />

den Szenen rechtsgepolter Jugendkultur finden sie ihre Resonanz<br />

<strong>und</strong> das entsprechende Lernfeld für rechtsextremes Verhalten.<br />

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