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Geschlecht und esellschaf eraus e geben v® Ilse Lenz ichik® Sigrid ...

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<strong>Geschlecht</strong> <strong>und</strong> <strong>esellschaf</strong><br />

<strong>eraus</strong> e <strong>geben</strong> <strong>v®</strong><br />

<strong>Ilse</strong> <strong>Lenz</strong><br />

<strong>ichik®</strong> ae<br />

<strong>Sigrid</strong> etz-G®ckel<br />

Ursula üller<br />

rlene Stein-Hilbers


Titelgrafik: Tremezza von Brentano: Männer mit Kopfbedeckungen (Vier Hüte <strong>und</strong> eine<br />

Dornenkrone).<br />

Gedruckt auf säurefreiem <strong>und</strong> alterungsbeständigem Papier<br />

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme<br />

Connell, Robert W.:<br />

Der gemachte Mann : Konstruktion <strong>und</strong> Krise von Männlichkeiten / Robert W. Connell.<br />

[Übers.: Christian Stahl]. 2. Aufl. - Opladen : Leske + Budrich, 2000<br />

( <strong>Geschlecht</strong> <strong>und</strong> G<strong>esellschaf</strong>t: Bd. 8)<br />

Einheitssacht.: Masculinities <br />

ISBN 3-8100-2765-0<br />

© 2000 by Leske + Budrich, Opladen<br />

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung<br />

außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages<br />

unzulässig <strong>und</strong> strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen,<br />

Mikroverfilmungen <strong>und</strong> die Einspeicherung <strong>und</strong> Verarbeitung in elektronischen Systemen.<br />

Satz: Leske + Budrich, Opladen<br />

Druck: Druck Partner Rübelmann, Hernsbach<br />

Printed in Germany<br />

Männerforschung in Bewegung<br />

Zum Geleit ................................................................................................ 9<br />

Vorwort zur deutschsprachigen Ausgabe ..... ...................................... -...... 13<br />

Vorwort zur englischsprachigen Ausgabe................................................. 16<br />

Erster Teäl: Wissen im Widerstreit........................................................ 19<br />

1. Die Wissenschaft von der Männlichkeit.............................................<br />

Konkurrierendes Wissen ....................................................................<br />

21<br />

21<br />

Klinisches Wissen .............................................................................. 26<br />

Die männliche Rolle........................................................................... 39<br />

Die neuen Sozialwissenschaften.........................................................<br />

Politisches Wissen..............................................................................<br />

Der Gegenstand des Wissens..............................................................<br />

47<br />

58<br />

62<br />

2. Die Körper von Männern ................................................................... Wahre Männlichkeit...........................................................................<br />

Maschine, Landschaft <strong>und</strong> Kompromiß .............................................<br />

Der unentrinnbare Körper ..................................................................<br />

65<br />

65<br />

66<br />

73<br />

Die Komplexität von Schlamm <strong>und</strong> Blut ........................................... 76<br />

Banquos Geist: Körperreflexive Praxen.............................................<br />

Die Welt gestalten ..............................................................................<br />

7<br />

84<br />

3. Die soziale Organisation von Männlichkeit ....................................... 87<br />

Männlichkeit definieren ..........................................:.......................... 87<br />

Das soziale <strong>Geschlecht</strong> als Struktur der sozialen Praxis..................... 92<br />

Beziehungen zwischen Männlichkeiten: Hegenomie,<br />

Unterordnung, Komplizenschaft, Marginalisierung........................... 97<br />

Historische Dynamik, Gewalt <strong>und</strong> Krisenanfälligkeit........................ 102


Zw&hr T&h Vier Untersuchungen der Männgichkeitsdynamik... 109 0. Männlichkeitspolitik. .......................... ...... ................................... 235<br />

EbJehun8................................................................. ll\ Männerpolitik <strong>und</strong> Männlichkeitspolitik ............... 225<br />

Männlichkeitstherapie ............................ .............. ............................ 2%?<br />

4. Lebe wild uadgefährlich (Live Fast audDie Young) ........ 117 Die Waffeu-LobbyabBastion hegemonialer, Männlichkeit..... 233<br />

Gruppe <strong>und</strong> Kontext ............................................. 118 _......................................................................... 338<br />

Abstrakte Arbeit ................................................................................. 119 Politik des Austritts ............................................................................ 241<br />

Gewalt <strong>und</strong> das Gesetz ............................. 122<br />

Zwangsheterosexualität ........... ...................... ................................... {26 lO. -----.................. 247<br />

Männlichkeit abkollektive Praxis .................. 128<br />

Dritter Teil: Geschichte <strong>und</strong> Politik .................. 203<br />

8. Die Geschichte der Männlichkeit .............................. 205<br />

Die Herstellung von Männlichkeit in der Entstehung<br />

der mndoruou ................. 208<br />

liansännaadonen........................... 211<br />

Die gegenwärtige Lage. ...................................................................... 219<br />

Historisches Bowo8tsein....................... %4?<br />

Protestierende Männlichkeit ..................... 133 251<br />

Andere Entwicklungslinien ...................... 135 Praktische Dekonstruktion <strong>und</strong> Neugestaltung von „<strong>Geschlecht</strong> 255<br />

Divergente Männlichkeiten <strong>und</strong> <strong>Geschlecht</strong>erpolitik ......... 137 Formen des Handelns ......................................................................... 257<br />

____________------------------. 281<br />

1 Eine ganz(e) neue Welt .... ................. ................. ............................. 143 Ausblick ....... ............................ ........................................... ............ %84<br />

Die Moment des ................... 145<br />

.................................... 147<br />

Die ................. 148<br />

Die Bewegung mit dem Feminismus ................................................. 151<br />

DerKÖomautdc Abwendung ............................................................. ............................................................. 152<br />

pauutme Villalllse <strong>Lenz</strong><br />

Partnerschaftliche <strong>Geschlecht</strong>erforschung?<br />

Ein erfahrungsgesättigtes Nachwort zur zweiten Auflage .......... 267<br />

Die Annulierung von Mäuolic6keit ................. 156<br />

Der Moment der H<strong>eraus</strong>forderung ..................................................... 161<br />

Literatur. ................. ..........................................................................<br />

Personenregister ........ ............................................................................. .<br />

%?l<br />

%R7<br />

O. Ein sehr normaler Schwuler ........ ..... ............................................ 165 Sachregister ........................................................... ............. ..................... 38%<br />

Der Moment ................... 167<br />

Sexualität als Initialzündung .............................................................. 170<br />

ScbwulseözIdentität uod ............... l?3<br />

Relationen zwischen .-......... .......... ..................... 1?G<br />

Veränderungen ins Auge .................. 179<br />

Schwule Männlichkeit als Entwurf <strong>und</strong> Geschichte ........................... 181<br />

T Männer von Vernunft ................................. 185<br />

Konstruktion vouMännlichkeit................... 187<br />

Konstruktion vonRationalität.................... 190<br />

Karrieren <strong>und</strong> Arbeitsplätze .................................. 192<br />

Das lnuhouae............................ 195<br />

Vernunft uoJVoräodoruu8...... ....................................................... 198


In den Sozial- <strong>und</strong> Kulturwissenschaften wissen wir noch wenig über Männer<br />

als individuelle <strong>und</strong> g<strong>esellschaf</strong>tliche Wesen, obwohl die Wissenschaft traditionell<br />

männlich dominiert ist <strong>und</strong> meist unbewußt vom Männlichen als dem<br />

Allgemeinen ausgeht. Dieser schon länger verfügbare Bef<strong>und</strong> der feministischen<br />

Wissenschaftskritik hat zwischenzeitlich zu einiger Anstrengung geführt,<br />

diese Wissenslücke zu füllen. Die Autorinnen <strong>und</strong> Autoren, die in dieser<br />

Diskussion aktiv sind, beziehen sich fast alle, wenn auch mit verschiedenen<br />

Schwerpunkten <strong>und</strong> unterschiedlicher Detailliertheit, auf das Werk von<br />

Robert W. Connell. Sein Konzept der „hegemonialen Männlichkeit", erstmals<br />

in einem breit angelegten theoretischen Kontext 1987 präsentiert (R.W.<br />

Connell, „Gerader and Power", Cambridge), hat sich in Windeseile um den<br />

Erdball verbreitet <strong>und</strong> bereits, oft losgelöst vom ursprünglichen Theorierahmen,<br />

eine Fülle von empirischen Untersuchungen, pädagogischen Anwendungen<br />

<strong>und</strong> wissenschaftlichen Abschlußarbeiten angeregt. Auch sein<br />

Gedanke, daß die in seinem Konzept zentralen drei Strukturen Macht, Arbeitsteilung<br />

<strong>und</strong> emotionale Bindungsmuster (Kathexis) sich zu „<strong>Geschlecht</strong>erregimes"<br />

konstellieren, die in verschieden nationalstaatlich verfaßten G<strong>esellschaf</strong>ten<br />

unterschiedlich ausfallen, ist hin <strong>und</strong> wieder aufgegriffen worden.<br />

Noch weniger stark rezipiert worden sind diese drei Strukturen selbst;<br />

insbesondere die „Kathexis" als Struktur emotionaler Besetzungs- <strong>und</strong> Bindungsmuster<br />

mit ihren vorherrschenden Elementen der Zwangs-Heterosexualität<br />

<strong>und</strong> der bürgerlichen Ehe ist bisher kaum aufgegriffen <strong>und</strong> zu anderen<br />

Strukturen in Beziehung gesetzt worden.<br />

Dies ist bedauerlich, weil die Zusammenschau ökonomischer, institutioneller<br />

<strong>und</strong> emotionaler Strukturen eine Fülle von weiterführenden Perspektiven<br />

bietet, die in der deutsch- <strong>und</strong> englischsprachigen Diskussion zu Wand<br />

lungs- <strong>und</strong> Beharrungstendenzen im <strong>Geschlecht</strong>erverhältnis noch unentwickelt<br />

sind. Diese lassen sich beispielsweise nur schwer ohne Rekurs auf die strukturelle<br />

Macht emotionaler Beharrungstendenzen erklären (siehe hierzu am<br />

Beispiel „männliche Gewaltbereitschaft" auch Angela Minssen/Ursula Müller,<br />

„Attraktion <strong>und</strong> Gewalt", in dieser Buchreihe, i.E.).


„ Gender and Power" ist nicht auf deutsch erschienen, so daß es nur von<br />

einschlägig Vorgebildeten im Ganzen rezipiert werden konnte; alle anderen<br />

waren auf einzelne Aufsätze verwiesen, die an verstreuten Stellen im<br />

deutschsprachigen Raum erschienen sind (auch in dieser Buchreihe: Robert<br />

W. Connell, Neue Richtungen für <strong>Geschlecht</strong>ertheorie, Männlichkeitsforschung<br />

<strong>und</strong> <strong>Geschlecht</strong>erpolitik, in: Christof Armbruster/Ursula Müller/Marlene Stein-<br />

Hilbers (Hg.), „Neue Horizonte? Sozialwissenschaftliche Forschung über <strong>Geschlecht</strong>er<br />

<strong>und</strong> <strong>Geschlecht</strong>erverhältnisse", ®pladen 1995, Reihe „<strong>Geschlecht</strong><br />

<strong>und</strong> G<strong>esellschaf</strong>t" Band 1).<br />

Das hier vorliegende Werk „Der gemachte Mann" (i.®. „Masculinities",<br />

Cambridge, 1995) bietet eine komprimierte Einführung in Connells theoretisches<br />

Konzept <strong>und</strong> zugleich eine Weiterführung. Gemeinsam mit dem Autor<br />

be<strong>geben</strong> wir uns auf die Suche nach den möglichen Ansatzpunkten für eine<br />

Soziologie der Männlichkeit in einigen Gr<strong>und</strong>lagenwerken der Sozialwissenschaften,<br />

wobei insbesondere die praxisphilosophisch orientierten Werke Beachtung<br />

finden. Dies hängt zum einen damit zusammen, daß R.W. Connell<br />

sich kritisch zum „kategorialen Denken" verhält <strong>und</strong> von daher eine strukturdeterministische<br />

F<strong>und</strong>ierung ihm nicht entspräche; zum anderen ist er aber<br />

auch kein nur wissenschaftlich orientierter Autor. Soziale <strong>und</strong> kulturelle Veränderungen<br />

in den westlichen G<strong>esellschaf</strong>ten, wie sie durch die Frauen- <strong>und</strong><br />

die Schwulenbewegung teils angezeigt, teils durchgesetzt wurden, interessieren<br />

ihn ebensosehr als Erkenntnisquelle („Bewegungswissen") wie „anerkannt"<br />

wissenschaftliche Wissensbestände. Der Autor verfügt auch selbst über<br />

einige „Bewegungserfahrung", hat eine Reihe von Bewegungsprojekten beraten<br />

<strong>und</strong> ist an vielfältigen Vernetzungsaktivitäten beteiligt. - Nach der Reise<br />

durch die Theorie bietet das vorliegende Buch Einblick in die Bef<strong>und</strong>e von vier<br />

empirischen Studien zur Differenzierung von Männlichkeit in verschiedenen<br />

sozialen Kontexten, die die empirische Bedeutsamkeit des theoretischen Konzepts<br />

unter Beweis <strong>und</strong> auch zur Diskussion stellen. Daß es neben der schon<br />

weit entwickelten Diskussion über die Vervielfältigung <strong>und</strong> Differenzierung<br />

von „Weiblichkeit` nun an der Zeit wäre, auch die Wandlungstendenzen <strong>und</strong><br />

Veränderungsbedingungen von „ Männlichkeit" zur Kenntnis zu nehmen, wird<br />

eindrucksvoll deutlich. - Der dritte <strong>und</strong> letzte Teil schließlich widmet sich den<br />

g<strong>esellschaf</strong>tlichen <strong>und</strong> historischen Bedingungen der Konstruktion von Männlichkeiten<br />

in international vergleichender Perspektive <strong>und</strong> beleuchtet dabei u.a.<br />

die Bedeutung von Imperialismus <strong>und</strong> Kolonialismus für die Entwicklung <strong>und</strong><br />

Durchsetzung eines für lange Zeit hegemonialen Typs von Männlichkeit. Diese<br />

historische Kontextuierung <strong>und</strong> Internationalisierung wird m.E. wichtige Impulse<br />

in die deutschsprachige Diskussion hineinbringen, indem sie deren<br />

Selbstbezüglichkeit sprengt.<br />

Im Unterschied zu großen Teilen der „Neuen Männerliteratur" haben wir<br />

es also bei dem vorliegenden Werk nicht mit einer nochmals errichteten Klagemauer<br />

des modernen Mannes zu tun, der durch die Frauenemanzipation in<br />

seiner „Identität" gefährdet <strong>und</strong> aus der Bahn geworfen wird. In diesem<br />

10<br />

Buch finden wir ferner keine Verabschiedung des Körpers aus der sozialwissenschaftlichen<br />

<strong>Geschlecht</strong>ertheorie; Körperlichkeit wird in Connells Konzept<br />

nicht diskursiv aufgelöst, sondern erhält einen eigenen Stellenwert: als<br />

Basis von Erfahrung <strong>und</strong> Element von Praxis. Und schließlich begegnen wir<br />

einem anregenden <strong>und</strong> entschieden vorgetragenen, aber keineswegs geschlossenen<br />

Konzept. Der Autor präsentiert sich mit einer einladenden Geste:<br />

Wir können mitgestalten <strong>und</strong> mitdenken, die Tragfähigkeit des Konzepts<br />

durch Kontroversen hindurch prüfen <strong>und</strong> an seiner Ausarbeitung mitwirken.<br />

Diese Haltung Robert W. Connells wurde auch in einem Seminar des<br />

DFG-Graduiertenkollegs „<strong>Geschlecht</strong>erverhältnis <strong>und</strong> sozialer Wandel" im<br />

Winter 1996 deutlich, in dessen Verlauf u.a. die Ergänzung der drei Strukturen<br />

„Macht", „Arbeitsteilung" <strong>und</strong> „Kathexis" durch eine vierte, die symbolisch—<br />

kulturelle Repräsentation der <strong>Geschlecht</strong>er, diskutiert wurde.<br />

Es ist das erklärte Interesse der H<strong>eraus</strong>geberinnen dieser Buchreihe,<br />

Schriften zu publizieren, die neue Wege weisen oder bereits bekannte auf<br />

neue Weise gehen <strong>und</strong> dabei diese Wege selbst verändern. Das vorliegende<br />

Werk erfüllt diese Anforderung in besonderer Weise. Es bietet die Gelegenheit,<br />

die Klageebene über das „Elend der Männlichkeit" zu verlassen, indem<br />

es eine rationalere Basis der historisch-sozialwissenschaftlichen Reflexion<br />

bereitstellt, <strong>und</strong> es ist - im Unterschied zu Teilen der deutschsprachigen „<strong>Geschlecht</strong>erforschung"<br />

- nicht darauf angewiesen, die feministische Kritik als<br />

verdienstvolle, aber heute veraltete Vorläuferin abzuwerten. Die Frauenforschung<br />

wird vielmehr in ihren historischen Verdiensten wie auch mit ihren<br />

aktuellen Bef<strong>und</strong>en <strong>und</strong> Anregungen ernst genommen - ein heute noch unüblicher<br />

Vorgriff auf einen partnerschaftlichen Umgang, dem zu wünschen<br />

ist, daß er modellhaft wirkt, <strong>und</strong> für den zu hoffen ist, daß sich die g<strong>esellschaf</strong>tlichen<br />

Bedingungen für sein Zustandekommen zügig verbessern.<br />

Bielefeld, im Herbst 1998<br />

Ursula Müller<br />

für die H<strong>eraus</strong>geberinnen der Reihe<br />

„ <strong>Geschlecht</strong> <strong>und</strong> G<strong>esellschaf</strong>t"


Vorwort zur deutschsprachigen Aasgabe<br />

Unsere Generation ist daran gewöhnt, über „Frauenthemen" zu sprechen.<br />

Unter dieser Flagge diskutieren wir über sexuelle Gewalt, Lohnungleichheit,<br />

Barrieren auf dem Arbeitsmarkt <strong>und</strong> eine Reihe anderer Probleme.<br />

Heute wird jedoch immer häufiger wahrgenommen, daß die meisten<br />

„Frauenthemen" auch Männerthemen sind. Frauen sind nicht von ökonomischer<br />

Diskriminierung betroffen, ohne daß Männer hi<strong>eraus</strong> ökonomischen<br />

Vorteil zögen. Es sind Männer (auch heute in den 90ern gibt es nur wenige<br />

Ausnahmen), die den Staat, die Großunternehmen <strong>und</strong> die Mittel der Gewaltausübung<br />

kontrollieren.<br />

Männer erhalten zwei Drittel des privaten Einkommens in fortgeschrittenen<br />

Volkswirtschaften, besitzen den größten Teil der vorhandenen Waffen<br />

<strong>und</strong> dominieren die meisten Berufe. Wie Männer diese Ressourcen nutzen,<br />

ist eine Frage von großem Gewicht für Frauen, für Kinder, für Männer selbst<br />

<strong>und</strong> für die Zukunft unserer G<strong>esellschaf</strong>t.<br />

Aber die meisten Männer fühlen sich nicht privilegiert. Und die meisten<br />

Männer fühlen sich nicht besonders mächtig - oder sie fühlen sich nur mächtig<br />

in der Phantasie, beim Konsum von Pornographie, als Zuschauer eines Motorrennens<br />

oder beim Videospiel.<br />

Sehr viele Männer fühlen sich stark von Frauen h<strong>eraus</strong>gefordert, <strong>und</strong> sie<br />

sind sich im unklaren darüber, wie sie Mann sein sollen in der neuen Welt<br />

der Massenarbeitslosigkeit, der wechselhaften globalen Märkte, der selbstsicheren<br />

Frauen <strong>und</strong> der sich wandelnden sexuellen Kodierungen.<br />

Der dramatische Kontrast zwischen kollektiver Privilegiertheit <strong>und</strong> persönlicher<br />

Unsicherheit ist eine Schlüsselsituation der gegenwärtigen Männlichkeitspolitik.<br />

Obwohl dieser Kontrast von viel Konfusion um<strong>geben</strong> ist<br />

(<strong>und</strong> einige wilde Fehlinterpretationen von Populär-Psychologen verbreitet<br />

werden), kann sein Gr<strong>und</strong>thema durchaus verstanden werden. Um aber dieses<br />

Problem zu verstehen, sind zwei Dinge erforderlich: eine ernsthafte Bereitschaft<br />

zu geduldiger sozialwissenschaftlicher Analyse, <strong>und</strong> ein Interesse<br />

an den praktischen Problemen des Alltagslebens. Ich hoffe, daß etwas von<br />

beidem in diesem Buch vorhanden ist, so daß es ein tieferes Verständnis der<br />

1 3


gegenwärtigen Dilemmata von Männlichkeit wie auch der praktischen Antworten,<br />

die wir <strong>geben</strong> können, möglich macht.<br />

Der gemachte Mann wurde in Australien <strong>und</strong> den USA geschrieben. Das<br />

Buch beschäftigt sich überwiegend mit Debatten <strong>und</strong> Bef<strong>und</strong>en aus englischsprachigen<br />

Ländern, in geringerem Masse auch mit Arbeiten in anderen<br />

Sprachen. Ich bin besonders erfreut, daß es nun deutschsprachigen Leserinnen<br />

<strong>und</strong> Lesern zugänglich sein wird, <strong>und</strong> zwar aus mehreren Gründen.<br />

Die wissenschaftliche Analyse von Fragen der Männlichkeit entwickelt<br />

sich heute besonders rapide in englischsprachigen Ländern, hat aber tiefe<br />

Wurzeln in Mitteleuropa. Wie Kap. 1 deutlich macht, ist das Werk von Freud,<br />

Adler <strong>und</strong> Jung der Ausgangspunkt des modernen Denkens über die Psychologie<br />

der Männlichkeit. Auch ist es unmöglich, sich die moderne sozialwissenschaftliche<br />

<strong>Geschlecht</strong>erforschung (Kap. 3) ohne den intellektuellen Hintergr<strong>und</strong><br />

der deutschen Soziologie vorzustellen.<br />

Die moderne deutsche Geschichte gibt ferner prägnante Muster an die<br />

Hand für das Verstehen von Männlichkeit. Unter den europäischen Großmächten<br />

war Deutschland am geringsten beteiligt an der kolonialen Expansion,<br />

deren Bedeutung für die <strong>Geschlecht</strong>ergeschichte in Kap. 8 diskutiert<br />

wird. Deutschland war dann jedoch am tiefsten verstrickt in die <strong>Geschlecht</strong>erkrisen<br />

des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts um Krieg, Militarismus <strong>und</strong> Faschismus, in<br />

denen außergewöhnlich gewalttätige Modelle von Männlichkeit in den Vordergr<strong>und</strong><br />

traten. In der zweiten Hälfte des Jahrh<strong>und</strong>erts ist Deutschland jedoch<br />

diejenige Großmacht geworden, die sich am stärksten der kulturellen<br />

Demokratisierung verpflichtet fühlt. Niemand, der mit der gegenwärtigen<br />

politischen Szene vertraut ist, kann erfreut sein über den wachsenden Neonazismus<br />

<strong>und</strong> den Rückschlag in <strong>Geschlecht</strong>erfragen, die mit dem Niedergang<br />

der DDR einhergingen. Aber ein Außenstehender wie ich kann nur beeindruckt<br />

sein von der Transformation des alten Autoritarismus im Familienleben<br />

<strong>und</strong> in der Erziehung, <strong>und</strong> von der kraftvollen progressiven Kultur in den<br />

deutschsprachigen Ländern.<br />

Politische <strong>und</strong> intellektuelle Arbeit über Männlichkeit ist eng verb<strong>und</strong>en<br />

mit dem Projekt des Feminismus (sei sie nun dafür oder dagegen ausgerichtet).<br />

Der deutsche Feminismus, noch nicht sehr bekannt in der englischsprachigen<br />

Welt, hat seine eigenen Merkmale - unter anderem eine bedeutende<br />

Theorietradition, ein Interesse für Massenpolitik <strong>und</strong> Alltag der arbeitenden<br />

Bevölkerung, <strong>und</strong> eine enge Verbindung zur Praxis in Bildungs- <strong>und</strong> anderen<br />

Fragen des Wohlfahrtstaats. Dies scheint mir ein äußerst fruchtbarer Hintergr<strong>und</strong><br />

zu sein für Arbeiten über Männlichkeit, <strong>und</strong> einige prägnante <strong>und</strong><br />

wegweisende Arbeiten sind hier schon entstanden (wie Der Mann von Metz-<br />

GöckeI/Müller <strong>und</strong> FrauenMännerBilder von Hagemann-White/Rerrich).<br />

In den letzten Jahren hat sich in den deutschsprachigen Ländern eine<br />

große Bandbreite von Forschung <strong>und</strong> Diskussion entwickelt, von Männern<br />

wie von Frauen getragen. In diesem Spektrum findet sich die Männlich<br />

keitstherapie (z.B. das Werk von Hollstein) ebenso wie Vorschläge zur Ver-<br />

1 4<br />

änderung der kritischen Jugendarbeit (z.B. Kindlers Maske(r)ade) sowie kritische<br />

Forschung (z.B. Widersprüche 56 <strong>und</strong> 67 sowie Kritische Männerforschung<br />

von BauSteineMänner). Ich hoffe, die Publikation von Der gemachte<br />

Mann kann dazu beitragen, diese neuen Arbeitsrichtungen voranzutreiben<br />

<strong>und</strong> unsere Denktraditionen miteinander zu verbinden. Ich bin sicher, daß der<br />

deutsche Beitrag zu diesen Fragen eine kräftige Stimme in der beginnenden<br />

internationalen Diskussion haben wird. Ich hoffe, er wird ebenso dazu beitragen,<br />

eine neue, friedliche <strong>und</strong> konstruktive <strong>Geschlecht</strong>erpraxis für Männer<br />

zu entwickeln.<br />

Bob Connell<br />

Sydney, im Herbst 1998<br />

(Übersetzung: Ursula Müller)<br />

15


Vorwort zur englischsprachigen Ausgabe<br />

In den letzten Jahren ist Männlichkeit in fortgeschrittenen kapitalistischen<br />

G<strong>esellschaf</strong>ten zu einem populären Thema geworden, vor allem in den Vereinigten<br />

Staaten von Amerika. Jene von uns, die schon länger versuchen, diesem<br />

Thema Aufmerksamkeit zu verschaffen, haben mit Erstaunen beobachtet,<br />

wie Männerbücher die Bestsellerlisten hochgewandert sind, wie sich<br />

Talkshows mit Männerthemen abmühten, <strong>und</strong> die Zahl der Tagungen, „Männertreffen"<br />

, Zeitschriften <strong>und</strong> Zeitungsartikel sich vervielfachte.<br />

Manche der Inhalte, die nun die verstärkte Aufmerksamkeit der Medien<br />

erfahren, sind allerdings eher bestürzend. Die meisten Männerbücher stecken<br />

voll wirrem Gedankengut, das den Stand der Forschung entweder ignoriert<br />

oder verzerrt darstellt. Der Ansturm öffentlichen Interesses hat veraltete Vorstellungen<br />

über die natürlichen Unterschiede zwischen den <strong>Geschlecht</strong>ern<br />

oder über eine „wahre" Männlichkeit wieder aufleben lassen. Damit einher<br />

gingen neo-konservative Kampagnen, um die ohnehin kleinen Fortschritte<br />

der letzten zwei Jahrzehnte gegen die Diskriminierung von Frauen <strong>und</strong> Schwulen<br />

wieder rückgängig zu machen.<br />

Die sozialwissenschaftliche Forschung zum Thema „Männlichkeit" hat<br />

in der letzten Dekade eine beeindruckende Entwicklung durchgemacht <strong>und</strong><br />

ist zu Bef<strong>und</strong>en gekommen, die sich sehr deutlich von denen der Männerbü<br />

cher in den Bestsellerlisten unterscheiden. Obwohl ich mich auch an dieser<br />

„Männerforschung" beteiligt habe, war ich nicht gerade begeistert von dem<br />

Gedanken, der Masse von Männerbüchern noch ein weiteres hinzuzufügen.<br />

Männerbücher gehen von einer Einheitlichkeit männlicher Lebenslagen aus,<br />

die es nicht gibt. Die vorhandene Problematik verlangt aber nach einer Neubewertung<br />

der Forschungsergebnisse <strong>und</strong> Theorien zum Thema „Männlichkeit<br />

° . Und auch nach einem neuen Versuch, das vorhandene Wissen mit<br />

Veränderungsstrategien zu verbinden.<br />

Dieses Buch ist in drei Abschnitte eingeteilt. Im ersten werden die verschiedenen<br />

Versuche, Männlichkeit zu begreifen, untersucht. Dabei werden<br />

die wichtigsten Ansätze einer Männlichkeitswissenschaft in diesem Jahrhun<br />

dert betrachtet, vor allem in der psychoanalytischen <strong>und</strong> sozialwissenschaftli-<br />

16<br />

chen Forschung. Außerdem werden Erkenntnisse über Männlichkeit berücksichtigt,<br />

die politische Bewegungen hervorgebracht haben. Ebenso wird die<br />

Frage erörtert, ob „Männlichkeit" überhaupt ein kohärentes Erkenntnisobjekt<br />

sein kann. Und es geht auch um den Körper, der für eine Wissenschaft des<br />

sozialen <strong>Geschlecht</strong>s den großen Stolperstein darstellt, <strong>und</strong> dessen Bedeutung<br />

im Leben des Menschen. Es schließt sich der Entwurf eines knappgefaßten,<br />

aber systematischen Rahmens für eine Erforschung von Männlichkeit an, die<br />

auf der Analyse der derzeitigen <strong>Geschlecht</strong>erordnung westlicher G<strong>esellschaf</strong>ten<br />

basieren muß.<br />

Meine Gedanken über Männlichkeit haben sich im Lauf einer Untersuchung<br />

entwickelt, die im zweiten Abschnitt des Buches vorgestellt wird. Sie<br />

basiert auf biographischen Interviews mit vier Gruppen von Männern, die<br />

sich unter ganz verschiedenen Umständen mit einem veränderten Verhältnis<br />

der <strong>Geschlecht</strong>er auseinandersetzen mußten. Ich habe bei dieser Studie versucht,<br />

die Lebenserfahrungen der Männer systematisch mit sozialen Strukturen<br />

in Verbindung zu setzen. Und ich glaube, daß sowohl die Komplexität<br />

des Wandels von Männlichkeit deutlich werden, als auch die Vielfalt von<br />

Veränderungsmöglichkeiten.<br />

Im dritten Abschnitt geht es um umfassende Zusammenhänge: Die weltweite<br />

Geschichte verschiedener Formen von Männlichkeit in den vergangenen<br />

Jahrh<strong>und</strong>erten <strong>und</strong> spezifische Ausprägungen von Männlichkeitspolitik<br />

in der westlichen Kultur von heute. Unter anderem werden auch die Hintergründe<br />

der „Männerbewegung" <strong>und</strong> des Medieninteresses am Thema „Männlichkeit"<br />

beleuchtet. Schließlich geht es um die politischen Implikationen des<br />

heutigen Wissens über Männlichkeit, <strong>und</strong> zwar hinsichtlich eines sozial gerechteren<br />

Verhältnisses zwischen den <strong>Geschlecht</strong>ern.<br />

Es war nicht einfach, dieses Buch zu schreiben, auch nicht für einen erfahrenen<br />

Autor. Die Thematik enthält jede Menge Zündstoff <strong>und</strong> Gelegenheiten,<br />

zu falschen Schlüssen zu gelangen. Ich habe an anderer Stelle die Ar<br />

beit an dieser Thematik mit dem Versuch verglichen, sich die eigenen Haare<br />

mit einer schlecht eingestellten Mähmaschine zu schneiden. Ich vergaß hinzuzufügen,<br />

daß die Mähmaschine auch noch nie geölt worden war.<br />

Und dennoch ist die Thematik von großer Bedeutung. Um nicht aufzu<strong>geben</strong>,<br />

war ich auf Hilfe von beiden Seiten des Erdballs angewiesen. Die<br />

Ratschläge <strong>und</strong> Unterstützung von Pam Benton <strong>und</strong> Kylie Benton-Connell<br />

waren unersetzlich. Norm Radican <strong>und</strong> Pip Martin haben als Interviewer an<br />

der Studie mitgearbeitet, die im zweiten Abschnitt vorgestellt wird. Ich<br />

möchte ihnen danken <strong>und</strong> auch allen Männern, die sich für dieses Projekt zur<br />

Verfügung gestellt haben. Tim Carrigan <strong>und</strong> John Lee haben mir bei einer<br />

theoretischen Arbeit geholfen, die dem ersten Kapitel zugr<strong>und</strong>eliegt. Und<br />

Mark Davis war an einer späteren empirischen Studie beteiligt, die meine<br />

Analyse von Klasse <strong>und</strong> Sexualität beeinflußte. Die ausufernden Tipparbeiten<br />

lagen in den Händen von Marie O'Brien, Yvonne Roberts <strong>und</strong> Alice<br />

Mellian. Unterstützt wurde die Untersuchung vor allem vom Australian Re-<br />

17


search Grants Committee, aber auch von der Macquarie University, der Harvard<br />

University <strong>und</strong> der University of California in Santa Cruz.<br />

Geistige Arbeit stellt immer einen sozialen Prozeß dar, <strong>und</strong> an dieser Arbeit<br />

haben viele Menschen direkt oder indirekt einen Anteil gehabt. Spezifische<br />

Hinweise habe ich in den Fußnoten vermerkt, aber für ihre gr<strong>und</strong>sätzli<br />

che Unterstützung <strong>und</strong> für ihre Ideen möchte ich Mike Donaldson, Gary<br />

Dowsett, Jim Messerschmidt, Mike Messner, Rosemary Pringle, Lynne<br />

Segal, Barrie Thorne <strong>und</strong> Lin Walker meinen Dank aussprechen. Sie gehören<br />

zu den Vorreitern einer neuen Ära der <strong>Geschlecht</strong>erforschung. Ich hoffe, daß<br />

ihre Arbeit (ebenso wie meine) dazu beitragen kann, auch die g<strong>esellschaf</strong>tliche<br />

Praxis der <strong>Geschlecht</strong>er neu zu gestalten.<br />

Teile dieses Buches wurden zuvor schon an anderer Stelle veröffentlicht:<br />

Der Abschnitt über „Klinisches Wissen" aus dem ersten Kapitel unter dem<br />

Titel „Psychoanalysis an Masculinity" in der von Michael Kaufman <strong>und</strong><br />

Harry Brod h<strong>eraus</strong>ge<strong>geben</strong>en Anthologie „Theorizing Masculinity" (Sage<br />

Publications 1994). Teile des Interviewmaterials aus dem zweiten Kapitel erschienen<br />

unter dem Titel „I threw it like a girl: some difficulties with male<br />

bodies" in der von Cheryl L. Cole, John W. Loy Jr. <strong>und</strong> Michael A. Messner<br />

h<strong>eraus</strong>ge<strong>geben</strong> Anthologie „Exercising Power: The Making and Remaking of<br />

the Body" (State University of New York Press 1994). Das vierte Kapitel erschien<br />

unter dem Titel „Live fast and die young: the construction of masculinity<br />

among young working-class men an the margin of the labour market"<br />

im „Australian and New Zealand Journal of Sociology" (1991, vol. 27, no.<br />

2). Das fünfte Kapitel erschien unter dem Titel „A whole new world: remaking<br />

masculinity in the context of the environmental movement" in der Zeitschrift<br />

„Gender and Society" (1993, vol. 22, No. 5). Das sechste Kapitel erschien<br />

unter dem Titel „A very straight gay: masculinity, homosexual experience<br />

and the dynamics of gender" in der Zeitschrift „American Sociological<br />

Review" (1992, vol. 57, no. 6). Ich danke den H<strong>eraus</strong>gebern <strong>und</strong> Zeitschriften<br />

für die Erlaubnis, die Texte in dieser Form noch einmal zu veröffentlichen.<br />

Bob Connell<br />

Santa Cruz, Juni 1994


ankurrnererades Wissen<br />

Die Begriffe „männlich" <strong>und</strong> „weiblich" gehören - wie Sigm<strong>und</strong> Freud in<br />

einer melancholischen Fußnote feststellte - „in der Wissenschaft zu den verworrensten"'.<br />

In den meisten Alltagssituationen sind die Begriffe „männlich"<br />

<strong>und</strong> „weiblich" ziemlich klar. Der Unterschied zwischen den <strong>Geschlecht</strong>ern<br />

dient uns als Gr<strong>und</strong>lage für einen großen Teil unserer Kommunikation<br />

<strong>und</strong> unseres Handelns. Aber dieselben Begriffe beginnen zu wabern<br />

wie der Nebel über der Donau, wenn wir beginnen, sie logisch zu hinterfragen.<br />

Sie erweisen sich dann als schwer zu fassen <strong>und</strong> zu bestimmen.<br />

Warum ist das so? Im Verlauf dieses Buches will ich aufzeigen, daß dafür<br />

der Charakter des sozialen <strong>Geschlecht</strong>s an sich verantwortlich ist, seine<br />

Wandlungen im Verlauf der Geschichte <strong>und</strong> seine politische Bedeutung. Das<br />

alltägliche Leben ist keine politikfreie Zone, sondern eine Arena der <strong>Geschlecht</strong>erpolitik.<br />

Die Begriffe für das <strong>Geschlecht</strong>liche sind umstritten, weil es so widersprüchliche<br />

Erklärungsansätze <strong>und</strong> Theorien gibt, die alle Gültigkeit beanspruchen,<br />

im Alltag ebenso wie in der Wissenschaft.<br />

Vor mir auf meinem Schreibtisch ließt ein Zeitungsausschnitt aus dem<br />

Sydneyer Lokalblatt „The Glebe" mit der Uberschrift:<br />

Warum Frauen nach dem Weg fragen<br />

Frauen halten öfter als Männer Leute auf der Straße an, um nach dem Weg<br />

zu fragen - einfach weil die <strong>Geschlecht</strong>er unterschiedlich denken.<br />

Der Artikel zitiert die Psychologin <strong>und</strong> Beraterin Mary Beth Longmore, die<br />

erklärt, daß Frauen <strong>und</strong> Männer beim Sprechen unterschiedliche Absichten<br />

verfolgen.<br />

„Frauen verstehen auch nicht, daß das Verfügen über Informationen für Männer eine<br />

Form der Hierarchie darstellt - je besser informiert man ist, desto höher steht man [...]<br />

Deshalb würden Männer - so Miss Longmore - seltener Fremde nach dem Weg fragen,<br />

weil sie damit in gewissem Sinne eine Unterlegenheit offenbaren."<br />

1 Freud [1900] 1972.<br />

21


Alle Leser, die die unterschiedlichen Sprachen von Männern <strong>und</strong> Frauen verstehen<br />

möchten, werden zu einem Workshop unter Leitung von Miss Longmore<br />

am folgenden Freitag eingeladen.'<br />

Die Lokalpresse ist immer auf der Suche nach Neuem <strong>und</strong> Berichtenswertem.<br />

Aber dieser Artikel fiel mir besonders auf, weil er deutlich macht,<br />

welche verschiedenen Arten von Wissen es über das soziale <strong>Geschlecht</strong> gibt.<br />

Vor allem wird hier der ges<strong>und</strong>e Menschenverstand angesprochen: Männer<br />

<strong>und</strong> Frauen verhalten sich verschieden („Frauen halten öfter als Männer Leute<br />

auf der Straße an"), weil sie eben verschieden sind (,weil die <strong>Geschlecht</strong>er<br />

unterschiedlich denken"). Ohne diesen Bezug zu einer allgemein anerkannten<br />

<strong>Geschlecht</strong>erpolarität wäre die Geschichte völlig uninteressant.<br />

Aber der Artikel stellt den ges<strong>und</strong>en Menschenverstand auch in Frage.<br />

„Männer <strong>und</strong> Frauen verstehen oft nicht, worauf der andere in einem Gespräch<br />

eigentlich hinauswill... Frauen verstehen auch nicht..." Diese Kritik<br />

ist wissenschaftlich f<strong>und</strong>iert, eine Psychologin präsentiert hier ihre „Ergebnisse",<br />

<strong>und</strong> am Ende des Artikels findet sich eine Einschränkung, wie sie für<br />

die Wissenschaft typisch ist (,ihre Ergebnisse trafen für die Mehrheit zu,<br />

aber nicht für alle Männer <strong>und</strong> Frauen"). Die Wissenschaft kritisiert somit<br />

die landläufige Auffassung über die <strong>Geschlecht</strong>sunterschiede. Verhaltensänderungen<br />

erscheinen nötig <strong>und</strong> können in einem Workshop erarbeitet werden.<br />

Was für eine Art von Wissenschaft das ist, geht aus dem Artikel nicht<br />

hervor, aber wahrscheinlich stammen Miss Longmores Behauptungen aus ihrer<br />

Beratungspraxis.<br />

In diesem kurzen Artikel tauchen zwei verschiedene Arten von Wissen<br />

über Männlichkeit <strong>und</strong> Weiblichkeit auf: Ges<strong>und</strong>er Menschenverstand <strong>und</strong><br />

wissenschaftliche Psychologie, die sich teilweise gegenseitig verstärken, teil<br />

weise widersprechen. Außerdem bekommen wir einen Eindruck von zwei<br />

Bereichen, in denen psychologisches Wissen entsteht <strong>und</strong> angewandt wird:<br />

Einzelberatung <strong>und</strong> Workshops.<br />

Auf indirekte Weise führt uns der Artikel auch zu anderen Formen des<br />

Wissens über Männlichkeit <strong>und</strong> Weiblichkeit. Solche Workshops entstammen<br />

einem therapeutischen Milieu, das auch die „Männerbewegung" her<br />

vorgebracht hat. Diese Männerbewegung beruft sich auf ein Wissen, das über<br />

Wissenschaft <strong>und</strong> ges<strong>und</strong>en Menschenverstand hinausgeht, eine intuitiv erfahrbare<br />

„Tiefenstruktur von Männlichkeit",'<br />

Wenn sich Psychologen <strong>und</strong> Journalisten genötigt sehen, <strong>Geschlecht</strong>sunterschiede<br />

zu erklären, berufen sie sich letztlich vor allem auf die Biologie;<br />

auf Untersuchungen der körperlichen <strong>Geschlecht</strong>sunterschiede, Unterschiede<br />

bezüglich Verhalten, Gehirnstrukturen, Hormonen <strong>und</strong> genetischer Informationen.<br />

Das alles taucht massenhaft in den Medien auf.<br />

Wenn dieses australische Lokalblatt recherchiert hätte <strong>und</strong> die Verfasserin<br />

des Artikels sich zur nur jenseits der Parramatta Road gelegenen Universität<br />

von Sydney be<strong>geben</strong> hätte, wäre ihr klar geworden, daß dieser Stand<br />

punkt zwar in der Biologie anerkannt, aber in den Human- <strong>und</strong> Sozialwissenschaften<br />

sehr umstritten ist; nämlich dort, wo Akademiker <strong>und</strong> Akademikerinnen<br />

über „<strong>Geschlecht</strong>srollen" <strong>und</strong> das „<strong>Geschlecht</strong>erverhältnis" sprechen,<br />

<strong>und</strong> Männlichkeit <strong>und</strong> Weiblichkeit für „sozial konstruiert" oder für „in Diskursen<br />

konstituiert" halten.<br />

Wenn umgekehrt Biologen <strong>und</strong> Biologinnen, ebenso wie Sozialwissenschaftler,<br />

die Universität verlassen <strong>und</strong> die Parramatta Road entlangfahren,<br />

kommen sie an einer rußgeschwärzten Kirche vorbei. Der Vikar von St. Barna<br />

bas verkündet der Welt an einer ortsbekannten Anschlagtafel, daß die <strong>Geschlecht</strong>erordnung<br />

von Gott bestimmt sei, <strong>und</strong> daß es gefährlich sei, Gott ins<br />

Handwerk zu pfuschen. Die göttliche Anschlagtafel wird ihrerseits kommentiert<br />

von Schildern, die der Wirt des gegenüberliegenden Hotels aufstellt.<br />

Dieser Wirt antwortet auf die biblischen Botschaften mit dem eher weltlichen<br />

Hedonismus der Arbeiterklasse."<br />

Ich könnte noch mehr Beispiele dieser Art anführen. Aber man sieht<br />

schon, daß unser Alltagswissen über das soziale <strong>Geschlecht</strong> widerstreitenden<br />

Standpunkten ausgesetzt ist, die alle wissen, erklären, urteilen.<br />

Diese Formen von Wissen stehen - wie der Zeitungsartikel gezeigt hat -<br />

in Verbindung mit einer bestimmten sozialen Praxis. Das trifft generell auf<br />

Wissen zu, auch wenn intellektuelle Debatten oft so geführt werden, als wä<br />

ren die Ideen direkt vom Himmel gefallen. Die Wissenssoziologie zeigte<br />

schon vor zwei Generationen, inwieweit die vorherrschenden Weltanschauungen<br />

von den Interessen <strong>und</strong> Erfahrungen der bestimmenden g<strong>esellschaf</strong>tlichen<br />

Gruppen geprägt werden. Die Wissenschaftssoziologie hat faszinierende<br />

Einblicke in das Laborleben von Wissenschaftlern <strong>und</strong> deren Prestige-<br />

Hierarchien geliefert <strong>und</strong> zudem gezeigt, wie soziale Verhältnisse die Ergebnisse<br />

der Naturwissenschaften beeinflussen. Diesen Punkt hat auch Michel<br />

Foucault in seinen berühmten Untersuchungen über „Wissen <strong>und</strong> Macht° h<strong>eraus</strong>gearbeitet:<br />

die subtile Verflechtung von neuen Wissenschaften (wie Medizin,<br />

Kriminologie <strong>und</strong> Sexualwissenschaft) mit neuen Institutionen <strong>und</strong> Formen<br />

sozialer Kontrolle (Kliniken, Gefängnisse, Fabriken, Psychotherapie).'<br />

Konkurrierende Wissensformen verweisen auch auf unterschiedliche <strong>Geschlecht</strong>erpraktiken.<br />

Um Alltagserklärungen <strong>und</strong> wissenschaftliche Theorien<br />

über Männlichkeit zu verstehen, müssen wir die abstrakte Ebene der reinen<br />

Ideen verlassen <strong>und</strong> ihre praktischen Gr<strong>und</strong>lagen näher betrachten.<br />

4 Eine etwas arg mythologisierte Version dieser zu lokaler Berühmtheit gelangten<br />

Wortwechsel hat nun der Wirt h<strong>eraus</strong>ge<strong>geben</strong>: Elliott 1992.<br />

5 Mannheim 1985 gilt als der Klassiker in der Wissenssoziologie. Eine Feldstudie bei<br />

2 „The Glebe and Western Weekly" (Sydney) 7. Juli 1993. Wissenschaftlern findet man bei Charlesworth et al. 1989. Foucault 1995 bietet eine<br />

3 Eine nützliche Sammlung solcher Behauptungen findet sich bei K. Thompson 1991. ausgezeichnete geschichtliche Untersuchung des praktischen Kontexts des Wissens.<br />

22 23


Das Alltagsverständnis des sozialen <strong>Geschlecht</strong>s ist beispielsweise überhaupt<br />

nicht festgelegt. Es wird eher als Begründung wechselnder Praktiken<br />

benutzt, durch welches das soziale <strong>Geschlecht</strong> im Alltag erst „gemacht" oder<br />

„konstruiert" wird - Praktiken, die Ethnologen in beeindruckenden Untersuchungen<br />

beschrieben haben.' Das Wissen über soziales <strong>Geschlecht</strong>, wie wir<br />

es bei Sigm<strong>und</strong> Freud oder auch Mary Beth Longmore finden, hat viel mit<br />

deren beruflicher Praxis als Psychotherapeuten zu tun. Was uns hingegen der<br />

Konstruktivismus über das soziale <strong>Geschlecht</strong> mitteilt, hat zwei Ursprünge:<br />

Widerstandsbewegungen wie die der Frauen <strong>und</strong> Schwulen <strong>und</strong> die Methoden<br />

der sozialwissenschaftlichen Forschung.<br />

Wenn ich also die verschiedenen Ansätze von Männlichkeitstheorien<br />

diskutiere, muß ich auch nach den verschiedenen Praxen fragen, die dieses<br />

Wissen erst hervorbringen, <strong>und</strong> inwieweit die Praxen das resultierende Wissen<br />

formen <strong>und</strong> beschränken.<br />

Verschiedene Wissensformen haben nicht den gleichen Stellenwert. In<br />

den meisten Kontexten besitzen wissenschaftliche Thesen zweifelsfrei die<br />

größere Autorität. In dem zitierten Zeitungsartikel genügte ein Hauch von<br />

Wissenschaftlichkeit, um unser Alltagsverständnis in Frage zu stellen, <strong>und</strong><br />

nicht umgekehrt. Die Wissenschaft dominiert im Erziehungssystem <strong>und</strong> in<br />

den Medien eindeutig.<br />

Diese Vorherrschaft hat die Entwicklung von Männlichkeitsvorstellungen<br />

im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert geprägt. Alle bestimmenden Diskurse <strong>geben</strong> sich<br />

mehr oder weniger wissenschaftlich oder benutzen wissenschaftliche „Ergebnisse",<br />

wie grotesk das im einzelnen auch sein mag. Sogar Robert Bly benutzt<br />

im „Eisenpans" eine wissenschaftliche Sprache für seine berückende<br />

These, daß ein Drittel unseres Gehirns ein „Kriegerhirn" ist <strong>und</strong> daß in unserer<br />

DNS Kriegerinstinkte stecken.<br />

Aber dieser Verweis auf die Wissenschaft führt uns in eine Zirkularität.<br />

Denn die Naturwissenschaft unterliegt - wie überzeugend nachgewiesen worden<br />

ist - selbst auch der <strong>Geschlecht</strong>erstruktur. Westliche Wissenschaft <strong>und</strong><br />

Technologie sind männlich geprägt. Das hat nicht nur damit zu tun, daß die<br />

Mehrzahl der in Wissenschaft <strong>und</strong> Technik Arbeitenden Männer sind. Die leitenden<br />

Metaphern der Forschung, die Unpersönlichkeit des wissenschaftlichen<br />

Diskurses, die Macht- <strong>und</strong> Kommunikationsstrukturen, die Reproduktion<br />

der wissenschaftlichen Kultur haben allesamt mit der g<strong>esellschaf</strong>tlich<br />

überlegenen Position des Mannes in einer geschlechtsstrukturierten Welt zu<br />

tun. Die Dominanz der Wissenschaft in den Diskussionen über Männlichkeit<br />

spiegelt den Stellenwert von Männlichkeit (bzw. spezifischer Männlichkeiten)<br />

im <strong>Geschlecht</strong>erverhältnis wider.'<br />

Was können wir aber von einer Männlichkeitswissenschaft erwarten, die<br />

eben jene Machtstrukturen erforschen will, von denen sie selbst durchdrungen<br />

ist? Die Ergebnisse werden genauso verzerrt sein, als wenn Imperialisten<br />

die Rassenthematik oder Kapitalisten den Kapitalismus erforschen würden.<br />

Und es gibt auch tatsächlich einen wissenschaftlichen Diskurs über Männlichkeit,<br />

der vor den herrschenden Interessen kapituliert hat, so wie wissenschaftlicher<br />

Rassismus oder die neokonservative Okonomie.<br />

Aber es finden sich durchaus auch andere Potentiale in der Wissenschaft.<br />

Die Naturwissenschaft entstand als Kritik: Von Kopernikus, der die Idee ablehnte,<br />

die Sonne würde sich um die Erde drehen, bis zu Darwin, der die<br />

christliche Schöpfungslehre der Arten in Frage stellte. Jede bedeutende wissenschaftliche<br />

Umwälzung entsprang einer b<strong>eraus</strong>chenden Mischung aus<br />

Kritik, Empirie <strong>und</strong> Phantasie. Wissenschaft ist schließlich mehr als die bloße<br />

Reflexion des Bestehenden. Denn der wissenschaftliche Forschungsalltag,<br />

wo es um das Überprüfen von Hypothesen <strong>und</strong> die Generalisierung von Ergebnissen<br />

geht, führt permanent über das gerade Ge<strong>geben</strong>e hinaus.'<br />

Können wir einen Schritt weitergehen <strong>und</strong> dieses kritische Potential der<br />

Wissenschaft mit einer sozialkritischen Analyse von Männlichkeit verbinden?<br />

Oder den Drang nach Generalisierung auf soziale Interessen übertragen<br />

<strong>und</strong> somit zu sozialer Gerechtigkeit gelangen? Vorschläge dieser Art müssen<br />

den Angriffen postmoderner Skepsis hinsichtlich „großer Erzählungen" <strong>und</strong><br />

der ökonomisch-rationalen Skepsis gegenüber der Gerechtigkeitsidee standhalten.'<br />

Auf die Kritik von Männlichkeit werde ich im letzten Teil des Buches<br />

zurückkommen. An dieser Stelle geht es mir darum, die politische<br />

Zweischneidigkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse festzuhalten. Eine Männlichkeitswissenschaft<br />

könnte emanzipatorisch sein, oder sie könnte sozial<br />

kontrollierend wirken. Oder sogar beides gleichzeitig.<br />

Im Verlauf des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts gab es drei bedeutende Ansätze für eine<br />

Männlichkeitswissenschaft. Einer davon stützte sich auf klinisch-therapeutisches<br />

Wissen, wobei die entscheidenden Ideen aus der Psychoanalyse<br />

stammten. Ein zweiter Ansatz aus der Sozialpsychologie konzentrierte sich<br />

auf die äußerst populäre Theorie der „<strong>Geschlecht</strong>srolle". Der dritte Ansatz<br />

stützte sich auf neuere Entwicklungen in Anthropologie, Geschichte <strong>und</strong> Soziologie.<br />

Im folgenden werde ich untersuchen, welche Art von Wissen über<br />

Männlichkeit in jedem dieser drei Ansätze entstanden ist. Dann wende ich<br />

mich Widerstandsbewegungen geschlechts- <strong>und</strong> sexualpolitischer Art zu <strong>und</strong><br />

deren Männlichkeitsverständnissen. Die Ungereimtheiten zwischen den verschiedenen<br />

Ansätzen werfen die Frage auf, worauf sich Wissen über Männ-<br />

8 Der Zusammenhang von Evolutionstheorie <strong>und</strong> G<strong>esellschaf</strong>tskritik wird klar in der<br />

6 Kessler <strong>und</strong> McKenna 1978; West <strong>und</strong> Zimmermann 1987. Darwin-Biographie von Desmond <strong>und</strong> Moore 1992. Zum gr<strong>und</strong>sätzlich rekonstrukti-<br />

7 Die Krieger-DNS stammt aus Bly 1991, S. 212. Für die mittlerweile umfangreiche ven Charakter der Wissenschaft hat Lakatos 1970 einen klassischen Beitrag geliefert.<br />

Literatur zu <strong>Geschlecht</strong> <strong>und</strong> Wissenschaft siehe Keller 1986;~Harding 1991; speziell 9 Große Erzählungen, siehe Lyotard 1984; ökonomischer Rationalismus, siehe Pusey<br />

zu Männlichkeit siehe Easlea 1983. 1991.<br />

24 25


lichkeit eigentlich genau bezieht. Diese Frage versuche ich im letzten Abschnitt<br />

dieses Kapitels zu beantworten.<br />

Sigm<strong>und</strong> Freuds Tiefenpsychologie unternahm um die Jahrh<strong>und</strong>ertwende den<br />

ersten ernsthaften Versuch, Männlichkeit wissenschaftlich zu erklären. Die<br />

Entstehungsgeschichte der Psychoanalyse ist so verworren, ihr Einfluß auf<br />

die moderne Kultur so enorm, daß ihre Ursprünge leicht in Vergessenheit geraten.<br />

Ihr Gründer war sich immer im Klaren darüber, daß sich psychoanalytisches<br />

Wissen auf klinische Beobachtungen stützt <strong>und</strong> sich in der therapeutischen<br />

Praxis bewähren muß.<br />

Die enge <strong>und</strong> dauerhafte Verbindung mit der Medizin hat in der Psychoanalyse<br />

jedoch Tendenzen zu sozialer Kontrolle <strong>und</strong> Normierung verstärkt.<br />

Von Anfang an gab es aber auch ein radikales Potential." Freuds frühe Ar<br />

beiten stammen aus einer Zeit des Aufbruchs in der europäischen Kultur: literarische<br />

Moderne, avantgardistische Malerei <strong>und</strong> Musik, radikale soziale<br />

Ideen, beherzte feministische <strong>und</strong> sozialistische Bewegungen <strong>und</strong> die erste<br />

Bewegung für die Rechte Homosexueller nahmen damals ihren Anfang.<br />

Freud war soweit empfänglich für diesen Aufbruchsgeist, daß er so ziemlich<br />

alles in Frage stellte, was bis dahin in der europäischen Kultur als gesicherte<br />

Erkenntnis über <strong>Geschlecht</strong>lichkeit galt; um so mehr, als ihn die therapeutische<br />

Praxis von der herrschenden Wissenschaftsauffassung wegführte.<br />

Seine Arbeiten wurde zum Ausgangspunkt modernen Denkens über<br />

Männlichkeit, auch wenn die meisten späteren Männlichkeitsforscher Freuds<br />

Ideen weder genau kannten, noch ihnen besondere Bedeutung beimaßen. Es<br />

war Freud, der die Katze aus dem Sack ließ. Er sprengte dieses scheinbar so<br />

natürliche Gebilde „Männlichkeit" <strong>und</strong> machte eine Untersuchung seiner<br />

Konstruktionsprinzipien nicht nur möglich, sondern gewissermaßen auch<br />

notwendig.<br />

Freud hat „Männlichkeit" nirgendwo systematisch erörtert, aber sie blieb<br />

über dreißig Jahre ein beständiges Thema seiner Schriften. Seine Ideen entwickelten<br />

sich in drei Schritten.<br />

Die Ausgangsthesen der Psychoanalyse bilden den ersten Schritt: Die<br />

Annahme eines Kontinuums zwischen normalem <strong>und</strong> neurotischem Erleben,<br />

das Konzept des Unbewußten <strong>und</strong> dessen Unterdrückung, <strong>und</strong> eine Methode,<br />

die es möglich machte, unbewußte mentale Prozesse aus Träumen, Witzen,<br />

Versprechern <strong>und</strong> Symptomen h<strong>eraus</strong>zulesen. Freud war klar, daß Sexualität<br />

10 Wie Marcuse 1990 <strong>und</strong> Mitthell 1984 argumentieren.<br />

<strong>und</strong> soziales <strong>Geschlecht</strong> nicht naturge<strong>geben</strong> sind, sondern in einem langen<br />

<strong>und</strong> konfliktreichen Prozeß erst konstruiert werden.<br />

Den entscheidenden Moment dieser Entwicklung erkannte er nach <strong>und</strong><br />

nach im ®dipuskomlex - diesem kindlichen Gefühlswirrwarr aus Verlangen<br />

nach dem einen Elternteil <strong>und</strong> Haßgefühlen für den anderen. Rivalität mit<br />

dem Vater <strong>und</strong> Kastrationsangst verstärken die ödipale Krise für Jungen, wie<br />

in den zwei berühmten Fallstudien „Der kleine Hans" <strong>und</strong> „Rattenmann"<br />

von 1909 dokumentiert wird. In diesen Studien gelang es Freud, ein gestaltendes<br />

Element von Männlichkeit h<strong>eraus</strong>zuarbeiten <strong>und</strong> die Dynamik prägender<br />

Beziehungen zu veranschaulichen."<br />

In seinen theoretischen Schriften hatte er aber schon begonnen, ein komplexeres<br />

Bild zu entwerfen. Homosexualität sei kein bloßer <strong>Geschlecht</strong>swechsel,<br />

so argumentierte er: „ein großer Teil der männlich Invertierten [hat]<br />

den psychischen Charakter der Männlichkeit bewahrt." Der Tatsache der Inversion<br />

begegnete Freud mit der Hypothese, daß alle Menschen gr<strong>und</strong>sätzlich<br />

bisexuell veranlagt seien, wobei männliche <strong>und</strong> weibliche Tendenzen nebeneinander<br />

bestünden. Männlichkeit wurde somit als eine komplexe <strong>und</strong> in gewisser<br />

Weise auch brüchige Konstruktion erkannt.<br />

Der zweite Schritt der Freudschen Analyse von Männlichkeit bestand in<br />

der Weiterentwicklung dieses konstruktivistischen <strong>Geschlecht</strong>eransatzes.<br />

Während des ersten Weltkriegs veröffentlichte er „Wolfsmann", seine läng<br />

ste Fallgeschichte, wo er diesem Ansatz breiten Raum einräumte. Freud ging<br />

dabei noch tiefer in die Kindheit zurück <strong>und</strong> fand eine vorödipale, narzißtische<br />

Männlichkeit, welche die Kastrationsangst erst möglich macht. Freud<br />

verfolgte in dieser Fallstudie das Wechselspiel verschiedener Komponenten:<br />

jenem archaischen Gefühl, dem Verlangen des Jungen nach dem Vater, der<br />

Beziehung zu den Dienstboten, seiner Identifikation mit Frauen, <strong>und</strong> der Eifersucht<br />

auf seine Mutter. Die Widersprüche dienten Freud dazu, den Wandel<br />

des Wolfsmannes in der Jugend <strong>und</strong> im frühen Erwachsenenalter von einer<br />

oberflächlichen heterosexuellen Promiskuität hin zu einer neurotischen Apathie<br />

zu erklären. 'z<br />

In dieser brillantesten seiner Fallstudien demonstrierte Freud die Möglichkeiten<br />

der psychoanalytischen Methode, Gefühle Schicht um Schicht freizulegen<br />

<strong>und</strong> die sich wandelnden Zusammenhänge zwischen den Emotionen<br />

aufzuzeigen. Nichts könnte weiter entfernt sein von den eindimensionalen<br />

Formeln, die man gemeinhin als die Ergebnisse der Psychoanalyse ausgibt.<br />

Diese Studie ist eine H<strong>eraus</strong>forderung für alle späteren Untersuchungen über<br />

Männlichkeit. Kein Ansatz genügt den Anforderungen, der sich nicht dieses<br />

11 Freud [1900] 1972, 1973, 1979.<br />

12 Freud 1969, [1905] 1991. Wer Lust bekommen hat, diese Fallgeschichte zu lesen,<br />

sollte sich folgendes erstaunliche Dokument nicht entgehen lassen, in dem der<br />

Wolfsmann seine Sicht der Dinge schildert: Pankeieff 1971.<br />

26 27


Lehrstück über die inneren Spannungen der männlichen Persönlichkeit <strong>und</strong><br />

ihre lebenslangen Veränderungen zu eigen gemacht hat.<br />

1919 entwickelte Freud seine Theorie der Persönlichkeitsstruktur, insbesondere<br />

das Konzept des Über-Ichs, eine unbewußte Institution, die Ideale<br />

bewertet, zensiert <strong>und</strong> präsentiert. Damit war der dritte Schritt zur Analyse<br />

von Männlichkeit getan. Das Über-Ich entsteht als Folge des Odipuskomplexes<br />

durch Verinnerlichung der elterlichen Verbote. Freud gelangte nach <strong>und</strong><br />

nach zu der Ansicht, daß das Über-Ich in seiner <strong>Geschlecht</strong>sbezogenheit vor<br />

allem aus der Vaterbeziehung resultiere <strong>und</strong> bei Jungen stärker als bei Mädchen<br />

ausgeprägt sei. In „Das Unbehagen in der Kultur" <strong>und</strong> anderen kulturtheoretischen<br />

Schriften sprach er dann auch zunehmend von der soziologischen<br />

Dimension des Über-Ich. Er sah in ihm das Mittel der Kultur, die Triebe<br />

des einzelnen - vor allem jene aggressiver Natur - zu kontrollieren."<br />

Diese Gedankengänge blieben zwar unvollendet <strong>und</strong> spekulativ, hatten<br />

aber gr<strong>und</strong>legende Folgewirkungen. Hier finden wir den Keim einer Theorie<br />

der patriarchalen Strukturen unserer G<strong>esellschaf</strong>t, von einer Generation an<br />

die nächste durch die Konstruktion von Männlichkeit weiterge<strong>geben</strong>. Die<br />

Fortentwicklung dieser Theorie würde die G<strong>esellschaf</strong>tsanalyse weiter führen,<br />

als Freud <strong>und</strong> seine orthodoxen Schüler es je vorhatten. Die radikale<br />

Psychoanalyse beschritt aber genau diesen Weg.<br />

Insofern hat Freud mehr Türen geöffnet, als er tatsächlich durchschritten<br />

hat. Aber die Initialzündung für eine Analyse der Männlichkeit, die wir ihm<br />

verdanken, ist bemerkenswert genug. Er hat mit der Psychoanalyse eine ge<br />

eignete Untersuchungsmethode zur Verfügung gestellt, mit dem dynamischen<br />

Unbewußten ein forschungsleitendes Konzept, einen ersten Entwurf<br />

der Männlichkeitsentwicklung, <strong>und</strong> zugleich die Warnung vor der notwendigen<br />

Komplexität <strong>und</strong> Begrenztheit dieses Ansatzes.<br />

Insbesondere hob er hervor, daß Männlichkeit nie in Reinform existiert.<br />

Widersprüchliche emotionale Tendenzen bestehen nebeneinander. Die Persönlichkeit<br />

ist nicht transparent <strong>und</strong> einheitlich, sondern zeichnet sich durch<br />

eine nuancenreiche, vielschichtige Struktur aus. Obwohl sich Freuds Theorie<br />

mit der Zeit wandelte, blieb er von der Komplexität des sozialen <strong>Geschlecht</strong>s<br />

<strong>und</strong> den weiblichen Anteilen in der Persönlichkeit eines jeden Mannes überzeugt.<br />

Diese kritische <strong>und</strong> h<strong>eraus</strong>fordernde These wurde später über Bord geworfen,<br />

als konservativere Psychoanalytiker die Theorie der Bisexualität fallen<br />

ließen.<br />

Das Potential im Freudschen Werk für eine Wissenschaft von Männlichkeit<br />

wurde schon sehr früh offensichtlich. Noch vor dem ersten Weltkrieg<br />

baute Alfred Adler darauf auf, dessen Theorie vom männlichen Protest ich<br />

kurz diskutieren werde. In den 20er <strong>und</strong> 30er Jahren kam es unter orthodoxeren<br />

Psychoanalytikern zu einer heftigen Debatte über Weiblichkeit, die ne-<br />

13 Freud [1930] 1977. Laplanche <strong>und</strong> Pontalis 1973 fassen die Theorie des Über-Ich<br />

zusammen; die Anwendung auf Männlichkeit findet sich bei Silverman 1986.<br />

28<br />

benbei auch eine Diskussion über Männlichkeit auslöste. Stein des Anstoßes<br />

waren vor allem die klinischen Belege für eine präödipale Weiblichkeit bei<br />

Jungen, die durch Identifikation mit der Mutter entsteht <strong>und</strong> gleichzeitig von<br />

Eifersucht auf sie geprägt ist.<br />

Diese These erhielt durch Karen Horney in einem Artikel mit dem eindeutigen<br />

Titel „Die Angst vor der Frau" (1932) einen feministischeren Anstrich.<br />

Horney hielt die Angst vor der Mutter für tiefer verwurzelt <strong>und</strong> stärker<br />

verdrängt als die Angst vor dem kastrierenden Vater. Das symbolische Zentrum<br />

dieses psychischen Prozesses ist die Vagina. Ein Gefühl der Unzulänglichkeit<br />

führt die Jungen dazu, emotionale Energie von der Mutter abzuziehen<br />

<strong>und</strong> diese auf sich selbst <strong>und</strong> ihr Genital zu konzentrieren. Diese frühen<br />

Emotionen ermöglichen erst die Kastrationsangst <strong>und</strong> beeinflussen das spätere<br />

Verhalten von Männern: Tendenziell wählen sie sozial unterlegene Frauen<br />

als Liebesobjekte <strong>und</strong> untergraben bewußt das weibliche Selbstwertgefühl,<br />

um „das permanent gefährdete Selbstbewußtsein des ,Durchschnittsmannes`"<br />

zu stützen."<br />

Horneys Artikel war der Höhepunkt der Männlichkeitskritik in der klassischen<br />

Psychoanalyse. Zwei wichtige Aspekte standen im Vordergr<strong>und</strong>: In<br />

welchem Ausmaß die Männlichkeit Erwachsener eine Oberreaktion auf<br />

Weiblichkeit darstellt; <strong>und</strong> der Zusammenhang zwischen der Männlichkeitsentwicklung<br />

<strong>und</strong> der Unterdrückung von Frauen. Für die herrschende Lehrmeinung<br />

in der Psychoanalyse war die Thematik damit allerdings schon zur<br />

Genüge behandelt.<br />

Zwischen 1930 <strong>und</strong> 1960 entwickelte die Psychoanalyse bei den meisten<br />

Themen sehr konservative Anschauungen. Die <strong>Geschlecht</strong>ertheorie machte<br />

da keine Ausnahme. Als Psychoanalytiker wie Theodor Reik mit Büchern<br />

über <strong>Geschlecht</strong>erfragen in den 50er Jahren bekannt wurden, spielte der widersprüchliche<br />

Charakter des sozialen <strong>Geschlecht</strong>s oder der Widerstreit zwischen<br />

der g<strong>esellschaf</strong>tlichen Ordnung <strong>und</strong> den Trieben keine Rolle mehr.<br />

Vielmehr betonten sie den Zusammenhang zwischen psychischer Ges<strong>und</strong>heit<br />

<strong>und</strong> den traditionellen <strong>Geschlecht</strong>errollen, wobei es ihnen vor allem um Heterosexualität<br />

<strong>und</strong> um die Ehe ging. Die Entwicklung von Heterosexualität -<br />

von Freud noch als vielschichtige <strong>und</strong> brüchige Konstruktion betrachtet -<br />

wurde zunehmend als unproblematischer <strong>und</strong> natürlicher Entwicklungsgang<br />

dargestellt. Alles andere - vor allem Homosexualität - wurde als krankhaft<br />

betrachtet. Eine Gruppe von New Yorker Psychoanalytikern unter Leitung<br />

von Irving Bieber bezeichnete 1962 Homosexualität als von Gr<strong>und</strong> auf pathologisch<br />

<strong>und</strong> als Folge einer gestörten Eltern-Kind-Beziehung. In der Praxis<br />

wurde die Psychoanalyse mehr <strong>und</strong> mehr zu einem Verfahren, in dem<br />

14 Die Weiblichkeits-Debatte wird bei Chodorow 1985 <strong>und</strong> Garrison 1981 behandelt.<br />

Die Originalschriften sind Klein 1928, Boehm 1930, Horney 1932.<br />

29


Normierung <strong>und</strong> ein Einpassen der Patienten in die traditionelle <strong>Geschlecht</strong>erordnung<br />

im Vordergr<strong>und</strong> standen."<br />

Kenneth Lewes hat in seinem hervorragenden Buch über die Geschichte<br />

der psychoanalytischen Vorstellung von männlicher Homosexualität gezeigt,<br />

daß diese Bevorzugung eines einzigen ges<strong>und</strong>en Entwicklungsprozesses radikale<br />

Veränderungen des Konzepts vom Ödipuskomplex erforderte." Für<br />

Freud <strong>und</strong> seine frühen Schüler war der Ödipuskomplex notwendigerweise<br />

ein traumatisches <strong>und</strong> einschneidendes Erlebnis. Die Brüchigkeit erwachsener<br />

Männlichkeit hatte hier ihre Ursache: im tragischen Aufeinandertreffen<br />

von Kultur <strong>und</strong> Trieb. Die Psychoanalyse nach 1940 hatte mit ihrer verharmlosenden<br />

Sichtweise die Fähigkeit zur Männlichkeitskritik verloren, die<br />

der klassische Ansatz. Es bedurfte weiter Umwege, um diese Fähigkeit wiederzuerlangen.<br />

Archetypus <strong>und</strong> Identität<br />

Klinische Erfahrungen sind so vielschichtig, daß eine große Bandbreite an<br />

Interpretationen möglich ist. Unterschiedliche Interpretationen deuten auf<br />

verschiedene Paradigmen hin. Die Geschichte der Psychoanalyse ist reich an<br />

Ansätzen, die verschiedene Lesarten des Gefühlslebens erlauben. Einige haben<br />

Männlichkeitstheorien hervorgebracht, so auch der bekannteste davon,<br />

der Ansatz Carl Gustav Jungs.<br />

Das soziale <strong>Geschlecht</strong> war ein zentraler Aspekt in Jungs Denksystem,<br />

das er nach dem Bruch mit Freud zu entwickeln begann. Jung unterschied<br />

zwischen einem Selbst, das sich durch Interaktion mit der sozialen Umwelt<br />

ausbildet (die „Persona") <strong>und</strong> einem im Unbewußten aus unterdrückten Inhalten<br />

geformten Selbst, das er „Anima" nannte. Beide bilden einen Gegensatz,<br />

<strong>und</strong> dieser Gegensatz hat viel mit dem sozialen <strong>Geschlecht</strong> zu tun:<br />

„Die Unterdrückung weiblicher Eigenschaften <strong>und</strong> ,Neigungen führt dazu, daß sich diese<br />

antisexuellen Ansprüche im Unbewußten anhäufen.<br />

Ebenso wie Freud <strong>und</strong> Melanie Klein beschäftigte sich Jung mit weiblichen<br />

Anteilen bei Männern. Aber seine Auffassung entwickelte sich nach <strong>und</strong><br />

nach in eine andere Richtung. Es ging ihm weniger um den Prozeß der Unterdrückung<br />

dieser Anteile, sondern um das resultierende Gleichgewicht zwischen<br />

einer männlichen Persona <strong>und</strong> einer weiblichen Anima.<br />

15<br />

16<br />

17<br />

30<br />

Reik 1990; Bieber et al. 1962; ein Beispiel, wo eine Normalisierung als Behandlung<br />

eingesetzt wurde, findet sich bei Dolto 1974.<br />

Lewes 1988.<br />

Jung 1981. Die hier zitierten Thesen finden sich ohne gr<strong>und</strong>legende Veränderung in<br />

einer Reihe von Büchern <strong>und</strong> Aufsätzen; z.B. Jung 1982. Jungs Bruch mit Freud<br />

wird bei Wehr 1988 beschrieben.<br />

Jung machte sich auch zunehmend das Argument zu eigen, daß diese<br />

Weiblichkeit in Männern nicht allein auf die Lebensgeschichte des einzelnen<br />

Mannes zurückzuführen ist, sondern auch auf überlieferte archetypische<br />

Frauenbilder. Die Idee von Archetypen im kollektiven Unbewußten diente<br />

ursprünglich dazu, psychische Widersprüche zu erklären. Mit der Zeit lösten<br />

sich die Archetypen von den klinischen Erkenntnissen <strong>und</strong> wurden zum<br />

Hauptargument von Jungs späterer Theorie des sozialen <strong>Geschlecht</strong>s.<br />

Konzepte wie das der Anima benutzte Jung sehr subtil. Er entwickelte<br />

beispielsweise eine interessante Theorie der emotionalen Dynamik patriarchaler<br />

Ehen. Aufgr<strong>und</strong> der Vorstellung von einer Polarität von männlich <strong>und</strong><br />

weiblich forderte er ein Gleichgewicht zwischen den <strong>Geschlecht</strong>ern im geistigen<br />

<strong>und</strong> sozialen Leben, was in den 20er Jahren eine sehr progressive<br />

Haltung war. Jung ersann sogar eine Art Männertherapie, weil er der Meinung<br />

war, daß „ein bestimmter Typus moderner Männer", der gewohnt sei,<br />

Schwäche zu unterdrücken, sich dies nicht länger leisten könne. In einer beeindruckenden<br />

Passage, in der sich schon Therapiemethoden abzeichnen, die<br />

erst 50 Jahre später populär werden sollten, schlägt Jung vor, sich mit der eigenen<br />

Anima zu unterhalten <strong>und</strong> auf sie Einfluß zu nehmen, als handele es<br />

sich um eine andere Person."<br />

In anderer Hinsicht wurde Jungs Analyse äußerst schematisch <strong>und</strong> spekulativ.<br />

Während Freud darum bemüht war, die Polarität zwischen Männlichkeit<br />

<strong>und</strong> Weiblichkeit aufzuheben, fand Jung sich nicht nur damit ab,<br />

sondern sah diesen vertrauten Gegensatz in zeitlosen Wahrheiten über die<br />

menschliche Psyche verwurzelt.<br />

Wenn man sich nicht die Mühe empirischer Überprüfung macht, sind<br />

Archetypen fatalerweise sehr leicht aufzuspüren. In Jungs späteren Werken<br />

entdeckt er sie in esoterischer Kunst <strong>und</strong> in den Weltreligionen. Seine Nach<br />

folger haben andere mythologische Systeme durchstöbert, was sich in völlig<br />

verwirrten Texten niederschlug, wie zum Beispiel Marshall Bethals „The<br />

mythic male", einer sprunghaften Jagd durch die antike Mythologie - ohne<br />

Rücksicht auf den Kontext - nach männlichen Göttern, die eine Personifikation<br />

moderner „Formen männlichen Bewußtseins" darstellen könnten. Der<br />

„Eisenhans" ist in diesem Sinne ein Jungsches Werk, nur daß Robert Bly<br />

seine Archetypen bei den Gebrüdern Grimm findet <strong>und</strong> nicht bei Ovid. Bly<br />

ignoriert die kulturellen Wurzeln der Märchen, verrührt ihre Interpretation<br />

statt dessen mit Gedanken von einer „Zeusenergie° <strong>und</strong> noch wilderen Entlehnungen<br />

aus der mündlichen Überlieferung."<br />

Auch Jungs Vorstellung von einer Weiblich-Männlich-Polarität als universaler<br />

Struktur der Psyche führt in ein Dilemma. Eine historische Veränderung<br />

ihrer Beschaffenheit ist nicht vorstellbar, höchstens die Balance zwischen<br />

ihnen kann sich verschieben.<br />

18 Jung 1981.<br />

19 Bethal 1985, Bly 1991 <strong>und</strong> andere, zu zahlreich um sie zu erwähnen.<br />

31


In der neueren Jungianischen Literatur wird der Feminismus deshalb<br />

nicht als Widerstand gegen die Unterdrückung von Frauen, sondern als<br />

Rückkehr des Archetypus „Weiblichkeit" interpretiert. In der Vergangenheit<br />

haben auch nicht Männer Frauen dominiert, sondern das Männliche über das<br />

Weibliche. Man sieht, warum die Jungsche Theorie für die derzeitigen reaktionären<br />

Tendenzen bei vormals progressiven Männern so wichtig ist." Denn<br />

der Jungsche Ansatz legt den Gedanken nahe, daß der moderne Feminismus<br />

das Pendel zu weit auf die andere Seite ausschlagen läßt <strong>und</strong> damit Männlichkeit<br />

unterdrückt. Auf der Jungschen Formel von der archetypischen Balance<br />

gründet sich Blys einflußreiche Kritik an den Softies, die dem Feminismus<br />

klein beige<strong>geben</strong> <strong>und</strong> deshalb ihre „wahre Männlichkeit" verloren<br />

hätten.<br />

Da die Originalschriften Jungs heutzutage wenig gelesen werden, sind<br />

auch die Wurzeln dieses Denkens in der frühen Psychoanalyse vergessen. Es<br />

lohnt aber, sich daran zu erinnern. Jungs <strong>Geschlecht</strong>sanalyse basiert auf einer<br />

abstrakten Gegenüberstellung von Weiblichkeit <strong>und</strong> Männlichkeit, die Freud<br />

Schritt für Schritt (bis zu ihren Anfängen) zurückverfolgt hatte. Den Jungscheu<br />

Formulierungen fehlt die Vielschichtigkeit der Freudschen Sicht von<br />

der psychosexuellen Entwicklung fast gänzlich. Und indem er die hauptsächlichen<br />

Determinanten des sozialen <strong>Geschlecht</strong>s im kollektiven Unbewußten<br />

gesucht hat, verließ er den Pfad einer für soziale Aspekte empfänglichen<br />

Psychoanalyse, der von Adler <strong>und</strong> Horney vorgezeichnet worden war.<br />

In neueren populären Männlichkeitstheorien findet sich hauptsächlich<br />

eine Alternative zu den <strong>Geschlecht</strong>erarchetypen: das Konzept der <strong>Geschlecht</strong>sidentität<br />

von Erik Erikson, dem vielleicht einflußreichsten Psycho<br />

analytiker aus der Generation nach Freud <strong>und</strong> Jung. In „Kindheit <strong>und</strong> G<strong>esellschaf</strong>t"<br />

postuliert Erikson die Ausbildung einer Ich-Identität als die Hauptaufgabe<br />

der emotionalen Entwicklung. „Identität" wurde zum Schlüsselbegriff,<br />

<strong>und</strong>. Eriksons Stufenmodell der Entwicklung wurde üb<strong>eraus</strong> populär."<br />

Die bertragung des Identitätskonzepts auf das soziale <strong>Geschlecht</strong> erfolgte<br />

vor allem durch den amerikanischen Psychiater Robert Stoller. Stollers<br />

Schriften konzentrieren sich auf eine bemerkenswerte Entwicklung in der<br />

Praxis der <strong>Geschlecht</strong>er: die Erfindung des Transsexuellen. Neue chirurgische<br />

Techniken zur <strong>Geschlecht</strong>sumwandlung machten eine Beurteilung nötig,<br />

wer unter's Messer durfte, was wiederum die Erforschung der <strong>Geschlecht</strong>szugehörigkeit<br />

anspornte.<br />

Stoller untersuchte erwachsene Männer, die Frauen sein wollten, <strong>und</strong><br />

Jungen, die sich in Richtung Weiblichkeit zu entwickeln schienen - was er<br />

als „Transsexualität bei Jungen, eine deutliche, möglicherweise schädliche<br />

Persönlichkeitsstörung" bezeichnete. Seine Untersuchungen führten ihn nicht<br />

zu Freuds Auffassung von der widersprüchlichen Struktur des sozialen Ge-<br />

20 Zum Beispiel Kaufmau <strong>und</strong> Timmers 1983, K. Thompson 1991.<br />

21 Erikson 1992.<br />

32<br />

schlechts. Statt dessen glaubte Stoller einen universalen Kern der <strong>Geschlecht</strong>sidentität<br />

gef<strong>und</strong>en zu haben, der seinen Ursprung in der frühen Kindheit hat.<br />

Diese <strong>Geschlecht</strong>sidentität entwickelt sich durch emotionale Interaktionen<br />

zwischen Eltern <strong>und</strong> Kindern - Stoller verliert dabei einige unfre<strong>und</strong>liche<br />

Worte über die Mütter - <strong>und</strong> ist mächtig genug, die physischen Tatsachen<br />

des Körpers zu überwinden. Transsexualität bei Männern wird deshalb nicht<br />

als der Wunsch verstanden, eine Frau zu werden, sondern als die Überzeugung,<br />

bereits eine Frau zu sein. Normalerweise entwickelt ein Junge selbstverständlich<br />

eine männliche <strong>Geschlecht</strong>sidentität <strong>und</strong> alles ist in Ordnung.<br />

Das Konzept der <strong>Geschlecht</strong>sidentität hat als Darstellung der <strong>Geschlecht</strong>sentwicklung<br />

weite Verbreitung gef<strong>und</strong>en. Davon wurden neuere psychoanalytische<br />

Arbeiten über kindliche Entwicklung oder über Homosexualität<br />

ebenso beeinflußt wie anthropologische Männlichkeitstheorien.<br />

Obwohl diese Theorie auf den unheimlichen Widersprüchen im Leben<br />

Transsexueller basiert, hat sie zweifellos normalisierenden Charakter. Denn<br />

die Identifikation mit Frauen wird nicht im Unbewußten aller Männer veror<br />

tet, sondern innerhalb einer spezifischen, abweichenden Gruppe. (Es überrascht<br />

nicht, daß Männer, die eine <strong>Geschlecht</strong>sumwandlung wollen, sehr darauf<br />

bedacht sind, - wie die Soziologin Anne Bolin gezeigt hat - den Vorstellungen<br />

der Ärzte hinsichtlich weiblicher Verhaltensweisen <strong>und</strong> Kleidung<br />

zu entsprechen.) In einer scharfen Kritik hat Robert May in Frage gestellt, ob<br />

man hier überhaupt von einer psychoanalytischen Theorie sprechen könne.<br />

Er sieht in Eriksons Ansatz eine Ich-Psychologie in weltverbessernder Absicht<br />

<strong>und</strong> bescheinigt Stollers Konzept einer Kerngeschlechtsidentität, daß sie<br />

die wesentliche psychoanalytische Einsichtsfähigkeit in Konflikt, Phantasie<br />

<strong>und</strong> Unterbewußtsein verloren habe. Dem kann man nur schwer widersprechen.<br />

Wenn Jung die Widersprüche des sozialen <strong>Geschlecht</strong>s zu einer universellen<br />

psychischen Dichotomie reduziert hat, ist die Theorie von der <strong>Geschlecht</strong>sidentität<br />

noch einen Schritt weitergegangen <strong>und</strong> hat alle Widersprüche<br />

gleich ganz beseitigt. Z3<br />

In dem halben Jahrh<strong>und</strong>ert nach der Wolfsmann-Fallstudie haben sich in<br />

der Psychoanalyse <strong>und</strong> in den beiden einflußreichsten konkurrierenden Theorien<br />

normalisierende Männlichkeitstheorien <strong>und</strong> ein konservativer Umgang<br />

mit dem sozialen <strong>Geschlecht</strong> entwickelt - Theorien, die psychische Ges<strong>und</strong>heit<br />

mit alles andere als freizügigen Konventionen hinsichtlich Sexualität <strong>und</strong><br />

Gefühlsleben in Verbindung bringen. Aber es gab noch eine andere Richtung,<br />

in die Freuds Gedanken sich entwickeln ließen. An den Rändern der<br />

22 Zur Kerngeschlechtsidentität siehe Stoller 1968, 1976. Zur kindlichen Entwicklung<br />

siehe Tyson 1986; zur Homosexualität siehe Friedman 1988, eine anthropologische<br />

Anwendung findet sich bei Stoller <strong>und</strong> Herdt 1982. Mit der Erfindung des Transse<br />

xuellen beschäftigt sich King 1981, <strong>und</strong> eine bemerkenswerte Untersuchung der<br />

Szene gibt es von Bolin 1988.<br />

23 May 1986. In Mays eigener Arbeit über das soziale <strong>Geschlecht</strong> (1980) betont er vor<br />

allem die Phantasie, beruft sich aber auf eine eigenartig rigide Dichotomie.<br />

33


medizinischen Welt mehrten sich abweichlerische Versionen <strong>und</strong> ungewöhnliche<br />

Anwendungen der Psychoanalyse. Einige davon erzeugten sehr originelle<br />

Ideen zum sozialen <strong>Geschlecht</strong>.<br />

Radikale Psychoanalyse<br />

Der erste Dissident unter den Psychoanalytikern war Alfred Adler, ein sozialistischer<br />

Arzt, der von der Bedeutung sozialer Faktoren als Krankheitsursache<br />

überzeugt war. Zur Zeit seines Bruches mit Freud, 1911, war er Präsident<br />

der Psychoanalytischen Vereinigung in Wien. Der Streit entzündete sich an<br />

einer Reihe von Vorträgen Adlers, die erstaunlicherweise eine Männlichkeitstheorie<br />

zum Gegenstand hatten. Adler argumentierte zu Beginn mit der<br />

Polarität in der Familie zwischen Männlichkeit <strong>und</strong> Weiblichkeit, betonte<br />

dann aber unvermittelt den feministischen Standpunkt, daß eine Seite der<br />

Polarität von der Kultur abgewertet <strong>und</strong> mit Schwäche assoziiert wird. Kinder<br />

beiderlei <strong>Geschlecht</strong>s werden deshalb, aufgr<strong>und</strong> ihrer Unterlegenheit gegenüber<br />

Erwachsenen, in eine weibliche Position gedrängt. Sie entwickeln<br />

ein Gefühl von Weiblichkeit <strong>und</strong> Zweifel, ob es ihnen gelingen werde,<br />

Männlichkeit zu erlangen. Diese „kindlichen Werturteile" hinsichtlich der<br />

Männlich-Weiblich-Polarität bleiben als Motiv auch im späteren Leben bestehen.<br />

Unterwerfung <strong>und</strong> Unabhängigkeitsstreben bestehen in der Kindheit nebeneinander<br />

<strong>und</strong> formen somit einen inneren Widerspruch zwischen Männlichkeit<br />

<strong>und</strong> Weiblichkeit. Im Laufe einer normalen Entwicklung bildet sich<br />

eine Art Gleichgewicht h<strong>eraus</strong>. Die Persönlichkeit des Erwachsenen basiert<br />

deshalb auf Kompromissen <strong>und</strong> Spannungen.<br />

Aber sobald eine Schwäche besteht (<strong>und</strong> Adler geht davon aus, daß Neurosen<br />

oft von physischer Schwäche oder Unterlegenheit ausgelöst werden),<br />

existiert auch eine Angst, die zu einer übertriebenen Betonung der männli<br />

chen Seite führt. Dieser „männliche Protest", wie Adler es nannte, ist der<br />

Kern der Neurose. Gemeint ist damit eine Überkompensation mittels Aggression<br />

<strong>und</strong> ständigem Streben nach Erfolg.<br />

In Adlers Augen spielt der männliche Protest sowohl im normalen als<br />

auch im neurotischen Erleben eine Rolle. Von dieser Idee war es nicht weit<br />

zu einer Kritik traditioneller Männlichkeit. Männlichen Protest gibt es auch<br />

in der weiblichen Psyche, dort wird er aber durch die g<strong>esellschaf</strong>tliche Unterordnung<br />

der Frau abgeschwächt. Bei Männern kann er allerdings zu einer öffentlichen<br />

Bedrohung werden. Adler nahm einen sehr kritischen Standpunkt<br />

gegenüber dominierender Männlichkeit ein, wenn er kommentierte:<br />

„das Urböse unserer Kultur, die exzessive Vorherrschaft des Männlichen."<br />

Während des ersten Weltkriegs arbeitete Adler in österreichischen Militärlazaretten<br />

<strong>und</strong> verlor dort alle Zweifel hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen<br />

Männlichkeit, Macht <strong>und</strong> staatlicher Gewalt. Sein Buch „Menschenkenntnis"<br />

aus dem Jahr 1927 ist eine so deutliche Stellungnahme für den Feminismus<br />

aus psychoanalytischer Sicht, wie man sie bis in die 70er Jahre<br />

nicht mehr finden wird."<br />

Bezüglich der Ursachen von Neurosen hatte sich Adler damit weit von<br />

Freuds Libidotheorie entfernt. Er kritisierte die Verdrängungstheorie als mechanistisch<br />

<strong>und</strong> sah im Odipuskomplex nur eine mögliche Ausprägung einer<br />

umfassenderen Dynamik, als „eine Form des männlichen Protests". In beiden<br />

Punkten nahm er spätere Theorien vorweg. Freud lehnte Adlers Ansichten als<br />

eine ungerechtfertigte Vereinfachung der Neurose ab (womit er allerdings<br />

Recht hatte). In der Meinung, nicht länger ihrer Unterstützung zu bedürfen,<br />

drängte Freud Adler <strong>und</strong> seine Gefolgsleute aus der Psychoanalytischen Vereinigung.<br />

Der Bruch war ein Verlust für beide Seiten. Adler verlor Freuds erstaunlichen<br />

Sinn für die Verworrenheit der Psyche <strong>und</strong> hat nie wieder auf diesem<br />

Niveau theoretisiert. Die orthodoxe Psychoanalyse hingegen wurde mehr <strong>und</strong><br />

mehr zu einem geschlossenen System, das genau jene Aspekte sozialer<br />

Macht ausklammerte, die Adler ins Spiel gebracht hatte. Diese Aspekte wurden<br />

von anderen aufgenommen, von der marxistischen <strong>und</strong> der feministischen<br />

Psychoanalyse <strong>und</strong> vom Existentialismus.<br />

Die zahlreichen Versuche, Marxismus <strong>und</strong> Psychoanalyse zu verbinden,<br />

drehten sich auch um das Thema „Männlichkeit", wenn auch nicht in expliziter<br />

Form. Wilhelm Reich, der vielleicht originellste Kopf unter den linken<br />

Psychoanalytikern in der Zwischenkriegszeit, entwickelte eine Methode der<br />

„Charakteranalyse", welche die Aufmerksamkeit von individuellen Symptomen<br />

auf den Stil der Gesamtpersönlichkeit verlagerte. Sein Versuch, die<br />

ökonomische Analyse des Marxismus <strong>und</strong> die Freudsche Sexualwissenschaft<br />

zu verbinden, führte zu einer brillanten Ideologiekritik. Die „autoritäre Familie"<br />

wurde dabei zur Stätte der Reproduktion von Patriarchat <strong>und</strong> Klasseng<strong>esellschaf</strong>t.<br />

Reichs „Die Massenpsychologie des Faschismus" erschien<br />

nur drei Jahre nach Freuds „Das Unbehagen in der Kultur" <strong>und</strong> war ihm<br />

doch hinsichtlich der sozialwissenschaftlichen Ausgereiftheit haushoch<br />

24 Adler 1956 (S. 55); 1966; 1928. Bei dem in letzter Zeit wiederaufgelebten Interesse<br />

an der Psychoanalyse vergißt man Adler größtenteils. Einen Abriß seines Wirkens<br />

präsentiert Ellenberger 1970. Die detaillierteste Beschreibung seines Verhältnisses<br />

zu Freud findet man bei Stepansky 1983, dessen Beschreibung des Bruchs zwischen<br />

den beiden ich übernommen habe. Stepansky kommt jedenfalls zu dem erstaunlichen<br />

Schluß, daß Adlers Beobachtungen zum sozialen <strong>Geschlecht</strong> weder eine „politische"<br />

noch eine „soziale" Analyse begründen, <strong>und</strong> daß Adlers umfangreiche Schriften<br />

über g<strong>esellschaf</strong>tliche Themen nur eine Art Vorwand für noch unausgereifte psychologische<br />

Ideen bildeten. Daß Stepansky den Feminismus in Adlers Umfeld völlig<br />

ignoriert, beweist auch die Eingeschränktheit seiner Sichtweise.<br />

3 5


überlegen. Reichs Konzept war es, die Psychodynamik der Familie als Verdichtung<br />

umfassenderer Machtstrukturen sichtbar zu machen. Damit erfaßte<br />

er genau jene Dimension sozialer Realität, die Freudscher <strong>und</strong> Jungscher<br />

Spekulation über Männlichkeit fehlte."<br />

Reich wiederum fehlte die Aufgeschlossenheit gegenüber dem Feminismus,<br />

die Adlers Werk so auszeichnet. Deshalb sah er in der Männlichkeit an<br />

sich kein Problem. Ebensowenig tat das die Frankfurter Schule in den näch<br />

sten zwei Jahrzehnten bei ihrem Versuch, Reichs Idee einer Charakteranalyse,<br />

seine Beschäftigung mit dem Autoritarismus <strong>und</strong> sein Projekt einer Aussöhnung<br />

von Marx <strong>und</strong> Freud aufzugreifen. In den Arbeiten von Max Horkheimer,<br />

Theodor W. Adorno <strong>und</strong> Erich Fromm entwickelte sich „Autoritarismus"<br />

nach <strong>und</strong> nach zu einem bestimmten Charaktertypus - oder, mit feministischen<br />

Augen betrachtet, zu einem bestimmten Typus von Männlichkeit.<br />

Die berühmtesten psychologischen Werke der Frankfurter Schule, Fromms<br />

„Die Furcht vor der Freiheit" <strong>und</strong> das Gemeinschaftswerk „Studien zum autoritären<br />

Charakter", listeten in Wahrheit Männlichkeiten <strong>und</strong> die Bedin<br />

gungen, die sie hervorbringen, auf. Fromm nahm eine historische Abfolge<br />

von Charaktertypen über die Jahrh<strong>und</strong>erte an. Die „Studien zum autoritären<br />

Charakter" gingen detaillierter vor. Die zwei berühmten Fallstudien „hack"<br />

<strong>und</strong> „Larry" stellen die ersten detaillierten klinischen Beschreibungen von<br />

Männlichkeit dar, die sorgfältig die ökonomischen <strong>und</strong> kulturellen Rahmenbedingungen<br />

ihres Entstehens einbeziehen. Der „autoritäre" Typ war eine<br />

Art von Männlichkeit, die ausdrücklich an der Aufrechterhaltung des Patriarchats<br />

beteiligt war: Haß auf Homosexuelle, Geringschätzung von Frauen,<br />

sowie Loyalität gegenüber der Autorität von Mächtigeren <strong>und</strong> Aggressivität<br />

gegen Schwächere. In der Kindheit solcher Männer fand man eine rigide Erziehung,<br />

dominante Väter, sexuelle Unfreiheit <strong>und</strong> konservative Moralvorstellungen.<br />

Der „demokratische" Charakter war nicht so deutlich beschrieben,<br />

zeigte aber eine eindeutig größere Toleranz <strong>und</strong> stand für entspanntere<br />

<strong>und</strong> gefühlvollere familiären Beziehungen."<br />

Hier wurde empirisch nachgewiesen, daß ein soziales Umfeld verschiedene<br />

psychosexuelle Charaktere hervorbringen konnte. Von der Psychoanalyse<br />

beeinflußte Anthropologen wie der große Ethnologe Bronislaw Mali<br />

nowski hatten bereits gezeigt, wie unterschiedlich Kulturen mit Sexualität<br />

umgehen <strong>und</strong> die Persönlichkeiten formen können". Es wurde immer deutlicher,<br />

daß Freuds Theorie vom ®dipuskomplex keine allgemeine Erklärung<br />

für Männlichkeit bieten kann. Vielmehr handelt es sich dabei um ein mögliches<br />

historisches Muster, das in Relation zu allen möglichen anderen Mustern<br />

gesetzt werden mußte. Dieser Schluß hat weitreichende Konsequenzen<br />

25 Reich 1986, 1972.<br />

26 Horkheimer 1987, Fromm 1966, Adorno et al. 1973. Die amerikanischen Diskussionen<br />

über „Die autoritäre Persönlichkeit" dokumentieren Christie <strong>und</strong> Jahoda 1954.<br />

27 Malinowski 1977, <strong>und</strong> als späterer Unterstützer Parsons 1964.<br />

36<br />

für eine Theorie der Männlichkeit, wie ich sie in den folgenden Kapiteln<br />

skizzieren möchte.<br />

Weder Wilhelm Reich noch die Frankfurter Schule teilten die Zweifel<br />

Alfred Adlers gegenüber der Libidotheorie. Das tat aber Jean-Paul Sartre in<br />

„Das Sein <strong>und</strong> das Nichts". Sartre fand die „empirische Psychoanalyse" - wie<br />

er Freuds Ansatz nannte - zu mechanisch, indem sie eine mögliche Form des<br />

Lebens (determiniert vom sexuellen Trieb) zur Bedingung des Lebens<br />

schlechthin machte. Sartre entwarf eine überzeugende Alternative, die er<br />

„existentielle Psychoanalyse" nannte. Er ersetzte das Konzept vom Unbewußten<br />

durch die verschiedenen Arten, wie wir unser Selbst-Bewußtsein organisieren.<br />

Man verfolgt die Lebensgeschichte zurück, um die primären Bindungen<br />

zu erkennen, die das Leben einer Person konstituieren.<br />

Sartre selbst hat diese Methode nur in literarischen Biographien verwendet.<br />

Aber Simone de Beauvoir hat die existentielle Psychoanalyse in „Das<br />

andere <strong>Geschlecht</strong>" direkt auf das soziale <strong>Geschlecht</strong> angewendet. Sie wies<br />

nach, daß Frauen als „das Andere" der männlichen Subjekte konstituiert werden.<br />

Aber das Buch enthält auch eine Reihe von Essays über andere Arten<br />

von Weiblichkeit, bei denen der weiblichen Begierde viel mehr Raum eingeräumt<br />

wird. Mit Hilfe der existentiellen Psychoanalyse konnte sie die üblichen<br />

statischen Typologien der Psychologie hinter sich lassen. Bei ihr wurde<br />

das soziale <strong>Geschlecht</strong> zu einer prozeßhaften Auseinandersetzung mit Situationen<br />

<strong>und</strong> sozialen Strukturen. Verschiedene Formen des sozialen <strong>Geschlecht</strong>s<br />

bilden keine starren Charaktertypen, sondern stellen unterschiedliche<br />

Lebensweisen dar!'<br />

Soweit ich weiß, wurde dieser Ansatz nie auf Männer angewandt. Aber<br />

das Potential dazu zeigt sich deutlich im Werk des schottischen Psychiaters<br />

Ronald D. Laing. Laings Untersuchungen zur Schizophrenie enthielten einige<br />

männliche Fallstudien <strong>und</strong> ein lebendiges Bild vom Verhalten der Männer im<br />

emotionalen Innenraum der Familie. Der Fall des Studenten „David" zeigte<br />

in seiner Exzentrik, wie ein ganzes Leben von widersprüchlichen dramatischen<br />

Rollen zusammengehalten werden kann. Die machtvollsten dieser<br />

Rollen waren weibliche, die ihren emotionalen Einfluß aus einer Familiendynamik<br />

bezogen, welche durch den Tod seiner Mutter entstanden war. Davids<br />

Schizophrenie war Folge seines Kampfes mit den schwer handhabbaren Widersprüchen<br />

des sozialen <strong>Geschlecht</strong>s. Um seinen weiblichen Identifikationen<br />

zu entkommen, entwickelte David eine Reihe anderer „Personae", die<br />

ein ausgeklügeltes System eines falschen Selbst bildeten."<br />

Das ist kein „Typus" von Männlichkeit; in der existentiellen Psychoanalyse<br />

werden die Widersprüche des sozialen <strong>Geschlecht</strong>s nicht aufgehoben<br />

<strong>und</strong> das Ergebnis ist keine Identität. Sie entstehen im Sozialen, werden aber<br />

erst zu Widersprüchen, indem man unvereinbare Handlungsmuster über-<br />

28 Sartre 1991, de Beauvoir 1968.<br />

29 Laing 1987, Laing 1973, Laing <strong>und</strong> Esterson 1964.<br />

37


nimmt. Dieser Ansatz kann eine Verbindung herstellen zwischen der Persönlichkeit<br />

<strong>und</strong> den sozialen Strukturen, aber nicht im Sinne sozialer Mechanismen,<br />

sondern indem Handeln <strong>und</strong> Engagement betont werden."<br />

Von Simone de Beauvoir abgesehen gab es zwischen den frühen 30er<br />

<strong>und</strong> den späten 60er Jahren wenig Austausch zwischen Feminismus <strong>und</strong> Psychoanalyse.<br />

Trotzdem drang das radikale Potential der Psychoanalyse nach<br />

<strong>und</strong> nach in feministisches Denken ein, aus zwei verschiedenen Quellen.<br />

Die erste Quelle waren die Arbeiten Jacques Lacans. Obwohl von Lacan<br />

beeinflußte Feministinnen wie Juliet Mitchell in Großbritannien oder Luce<br />

Irigaray in Frankreich vor allem Weiblichkeit analysierten, liefern ihre<br />

Schriften implizit auch Erklärungen zu Männlichkeit. Die Lacansche Theorie<br />

konzentriert sich auf symbolische Prozesse, die unschwer als Freuds Modelle<br />

emotionaler Familienbeziehungen erkennbar sind. Das „Gesetz des Vaters"<br />

konstituiert Kultur <strong>und</strong> ermöglicht Kommunikation. Männlichkeit ist hier keine<br />

empirische Tatsache (wie in der klassischen Psychoanalyse), <strong>und</strong> schon gar<br />

kein ewiger Archetypus (wie bei Jung). Vielmehr nimmt Männlichkeit in einem<br />

symbolischen <strong>und</strong> sozialen Gefüge eine bestimmte Position ein. Ödipale<br />

Unterdrückung schafft ein System symbolischer Ordnung, in dessen Zentrum<br />

der Besitzer des Phallus steht (ein Symbol, das man nicht mit einem wirklichen<br />

Penis gleichsetzen darf).''<br />

Betrachtet man das soziale <strong>Geschlecht</strong> als ein System symbolischer Beziehungen<br />

<strong>und</strong> nicht als ein feststehendes Merkmal einer Person, gerät das<br />

Akzeptieren der phallischen Position zu einem äußerst politischen Akt. Man<br />

kann sich verweigern - wenngleich die Folgen drastisch sind. Gilles Deleuze<br />

<strong>und</strong> Felix Guattari untersuchten eine solche Ablehnung der ödipalen Struktur<br />

der Begierde in ihrem obskuren, aber einflußreichen „Anti-Oedipus". Darauf<br />

aufbauend interpretierte Guy Hocquenhems männliche Homosexualtität als<br />

die Ablehnung phallischer Sexualität <strong>und</strong> ödipaler Unterdrückung."<br />

Während in Europa ein Lacanscher Feminismus Männlichkeit politisch<br />

<strong>und</strong> symbolisch interpretierte, beschäftigte sich der nordamerikanische Feminismus<br />

mit familiären Beziehungen <strong>und</strong> kam zu einer neuen Haltung gegen<br />

über der psychosexuellen Entwicklung von Jungen. In der klassischen Psychoanalyse<br />

steht der Beginn des ödipalen Konflikts im Mittelpunkt des Dramas<br />

(ob die Schlüsselfigur dabei nun der Vater wie bei Freud, oder die Mutter<br />

wie bei Horney ist). Bei Nancy Chodorow <strong>und</strong> Dorothy Dinnerstein steht<br />

die vorödipale Trennung von der Weiblichkeit im Mittelpunkt des Dramas,<br />

wobei die Mutter die Hauptrolle spielt.<br />

30<br />

31<br />

32<br />

38<br />

Wie im späteren Werk von Sartre zu sehen (1968). Dessen Bedeutung für das soziale<br />

<strong>Geschlecht</strong> ist in Connell 1982 thematisiert.<br />

Das ist eine sehr kurze Zusammenfassung einer Reihe von Positionen. Die Geschichte<br />

der Schule Lacans findet sich bei Roudinesco 1990. Ihre Einflüsse auf den<br />

Feminismus sind bei Mitchell 1984, Irigaray 1985 <strong>und</strong> Grosz 1990 nachzulesen.<br />

Deleuze <strong>und</strong> Guattari 1977, Hocquenghem 1978.<br />

Chodorows Analyse dieser Trennung hat auf die neuere Männerforschung<br />

einen großen Einfluß ausgeübt. Sie nimmt an, daß Jungen dazu gedrängt<br />

werden, ihre primäre Identifikation mit der Mutter aufzu<strong>geben</strong>, nicht<br />

zuletzt aufgr<strong>und</strong> der emotionalen Verhaftung der Mutter in der <strong>Geschlecht</strong>erdifferenz.<br />

Die Folge sind Persönlichkeitsstrukturen, welche die Grenzen zwischen<br />

den Menschen betonen <strong>und</strong> denen ein für Frauen charakteristisches<br />

Bindungsbedürfnis fehlt. Dinnerstein legt dagegen mehr Wert auf die präödipale<br />

Angst vor der Mutter <strong>und</strong> auf das „weibliche Monopol bei der frühen<br />

Kinderpflege" als Ursache für männliche Gewalt."<br />

Hier wird eine direkte Verbindung hergestellt zwischen Persönlichkeitsentwicklung<br />

<strong>und</strong> Arbeitsteilung. Kinderpflege ist Frauenarbeit, was die emotionale<br />

Entwicklung nicht unberührt läßt. Auch wenn die Details modifiziert<br />

werden mögen, muß dieses einfache <strong>und</strong> doch so überzeugende Argument<br />

bei jeder zukünftigen Erklärung der Entstehung von Männlichkeit berücksichtigt<br />

werden.<br />

Im Rückblick wird klar, daß Freud uns zwar ein unentbehrliches Werkzeug<br />

in die Hand gedrückt hat, dieses Werkzeug aber unvollkommen war;<br />

die orthodoxe Psychoanalyse hat diese Unvollkommenheit verteidigt. Der<br />

Beitrag der Psychoanalyse zum Verständnis von Männlichkeit wird davon<br />

abhängen, ob es uns gelingt, die sozialen Strukturen ebenso zu begreifen wie<br />

die Strukturen der Persönlichkeit <strong>und</strong> die Komplexität des Begehrens, mit<br />

allen dazugehörigen Widersprüchen <strong>und</strong> Dynamiken. Das führt uns nun direkt<br />

zu den Sozialwissenschaften.<br />

ie männliche Rolle<br />

Im Zentrum des ersten ernsthaften Versuchs einer Sozialwissenschaft der<br />

Männlichkeit stand das Konzept der <strong>Geschlecht</strong>srolle. Dessen Ursprünge reichen<br />

bis zur Jahrh<strong>und</strong>ertwende zurück, als man die Unterschiede zwischen<br />

den <strong>Geschlecht</strong>ern debattierte. Dem Widerstand gegen eine Gleichberechtigung<br />

von Frauen wurde durch die wissenschaftliche Doktrin von der Natürlichkeit<br />

der <strong>Geschlecht</strong>sunterschiede der Rücken gestärkt. Der Ausschluß der<br />

Frauen vom Universitätsstudium wurde beispielsweise mit der zarten Beschaffenheit<br />

des weiblichen Geistes begründet, dem die harte akademische<br />

Arbeit nicht zuzumuten sei. Eine mentale Verstörung wäre die Folge <strong>und</strong><br />

würde ihre Fähigkeit, gute Ehefrauen <strong>und</strong> Mütter zu werden, beeinträchtigen.<br />

Die erste Generation von Frauen, denen es in Nordamerika gelang, in die<br />

33 Chodorow 1985a, 1985b; Dinnerstein 1979. Craib 1987 verwendet auch die Theorie<br />

der Objektbeziehung <strong>und</strong> besitzt zudem ein größeres Verständnis für die institutionellen<br />

Gr<strong>und</strong>lagen männlicher Dominanz, führt seine Arbeit aber nicht zu Ende. Eine<br />

Kritik dieser Art von Männlichkeitstheorie bietet McMahon 1993.<br />

39


universitäre Forschung einzudringen, haben dieser Doktrin nicht nur zuwidergehandelt,<br />

sie haben auch deren Gr<strong>und</strong>annahmen in Frage gestellt, indem<br />

sie Unterschiede bei den geistigen Fähigkeiten von Männern <strong>und</strong> Frauen untersuchten.<br />

Gef<strong>und</strong>en haben sie sehr wenig."<br />

Dieses skandalöse Ergebnis hat eine große Menge an Nachfolgeuntersuchungen<br />

nach sich gezogen, die sich vom Ende des vergangenen Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

bis in unsere Zeit erstreckten. Dabei ging es nicht nur um die mentalen<br />

Fähigkeiten, sondern auch um Gefühle, Einstellungen, Persönlichkeitseigenschaften,<br />

Interessen, eigentlich um alles, was Psychologen glaubten messen<br />

zu können. Es gibt eine ungeheure Menge an Untersuchungen zu <strong>Geschlecht</strong>sunterschieden.<br />

Methodisch gibt es dabei keine großen Schwierigkeiten,<br />

<strong>und</strong> das Interesse an den Ergebnissen scheint nicht zu versiegen.<br />

Dieses Interesse an sich ist schon kurios, da die Ergebnisse sich nicht ändern.<br />

<strong>Geschlecht</strong>sunterschiede sind - bei fast allen untersuchten psychologischen<br />

Merkmalen - entweder nicht vorhanden oder sehr gering. Jedenfalls<br />

sind sie viel geringer als die Unterschiede zwischen sozialen Positionen, die<br />

man in der Regel aber mit den angeblichen psychischen Unterschieden rechtfertigt<br />

- zum Beispiel unterschiedliche Löhne, unterschiedliche Fähigkeiten<br />

bei der Kinderversorgung <strong>und</strong> sehr ungleicher Zugang zur g<strong>esellschaf</strong>tlicher<br />

Macht. Wenn Untersuchungen einer statistischen Meta-Analyse unterzogen<br />

werden, steigt die Wahrscheinlichkeit, daß einige <strong>Geschlecht</strong>sunterschiede<br />

bei psychischen Charakteristika sichtbar werden. Aber ihr geringes Ausmaß<br />

würde sie kaum als bemerkenswertes Phänomen erscheinen lassen, wären wir<br />

kulturell nicht bereits darauf getrimmt, sie überzubewerten - wie in dem<br />

Zeitungsartikel über das unterschiedliche Kommunikationsverhalten von<br />

Frauen <strong>und</strong> Männern, den ich zu Beginn zitiert habe. Cynthia Epstein hat ihrem<br />

Buch über diese Thematik den treffenden Titel „Deceptive Distinctions"<br />

(Trügerische Unterschiede) ge<strong>geben</strong>."<br />

Mitte des Jahrh<strong>und</strong>ert wurde die Erforschung der <strong>Geschlecht</strong>sunterschiede<br />

mit einem Konzept konfrontiert, das ihren Forschungsgegenstand auf<br />

zeitgemäße Weise zu erklären schien: das Konzept der sozialen Rolle. Daraus<br />

entstand der Begriff „<strong>Geschlecht</strong>srolle ° , der mittlerweile auch bis in die Alltagssprache<br />

vorgedrungen ist.<br />

Die Vorstellung einer <strong>Geschlecht</strong>srolle ist uns mittlerweile so vertraut,<br />

daß es sich lohnt, die Ursprünge genauer zu betrachten. Die Metapher vom<br />

menschlichen Leben als einem Theaterstück ist natürlich alt - schon Shake<br />

speare hat sie benutzt. Aber der Begriff „Rolle" als methodisches Konzept<br />

34<br />

35<br />

40<br />

Rosenberg 1982.<br />

Epstein 1988. Die sehr umfangreiche Zusammenstellung von Maccoby <strong>und</strong> Jacklin<br />

1975 hat ein allgemeines Muster von Bef<strong>und</strong>en zu <strong>Geschlecht</strong>sunterschieden etabliert.<br />

Die meta-analytische Literatur (z.B. Eagly 1987) hat bewußt versucht, diese<br />

Position einzunehmen. Obwohl er viele Argumente überdehnt, gelingt es Eagly dennoch<br />

nicht, nachzuweisen, daß <strong>Geschlecht</strong>sunterschiede Persönlichkeitszüge determinieren<br />

können.<br />

der Sozialwissenschaft, das soziales Verhalten ganz allgemein erklären soll,<br />

entstand erst in den 30er Jahren. Damit ließ sich die Vorstellung von einer<br />

Stellung in der sozialen Struktur mit der Idee kultureller Normen verbinden.<br />

Und aufgr<strong>und</strong> der Bemühungen unzähliger Anthropologen, Soziologen <strong>und</strong><br />

Psychologen wurde der Begriff gegen Ende der 50er Jahre in das herkömmliche<br />

Vokabular der Sozialwissenschaften aufgenommen."<br />

Es gibt zwei Möglichkeiten, das Rollenkonzept mit dem sozialen <strong>Geschlecht</strong><br />

zu verbinden. Einerseits kann man Rollen als abhängig von bestimmten<br />

Situationen betrachten. Zum Beispiel hat Mirra Komarovsky in ih<br />

rer klassischen Untersuchung von Arbeiterfamilien („Blue Collar Marrlage",<br />

1964) detailliert dieses rollengeb<strong>und</strong>ene Verhalten während der Werbephase<br />

<strong>und</strong> in der Ehe beschrieben.<br />

Sehr viel gebräuchlicher ist die zweite Möglichkeit, wo man Mannsein<br />

oder Frausein als ein Bündel allgemeiner Erwartungen versteht, das dem biologischen<br />

<strong>Geschlecht</strong> anhaftet - die <strong>Geschlecht</strong>srolle. Bei diesem Ansatz gibt<br />

es in jedem kulturellen Kontext immer zwei <strong>Geschlecht</strong>srollen, eine männliche<br />

<strong>und</strong> eine weibliche. Männlichkeit <strong>und</strong> Weiblichkeit werden dabei als die<br />

verinnerlichten <strong>Geschlecht</strong>srollen betrachtet, als Folge sozialen Lernens bzw.<br />

der „Sozialisation".<br />

Dieses Konzept paßt so gut zur Vorstellung angeborener <strong>Geschlecht</strong>sunterschiede,<br />

die sich leicht durch <strong>Geschlecht</strong>srollen erklären lassen, daß<br />

beide Ideen seit den 40er Jahren dauerhaft miteinander verwachsen sind. Es<br />

gibt immer noch Fachzeitschriften, die Artikel veröffentlichen, in denen die<br />

(gewöhnlich geringfügigen) <strong>Geschlecht</strong>sunterschiede schlicht als <strong>Geschlecht</strong>srollen<br />

bezeichnet werden.<br />

In der Regel betrachtet man <strong>Geschlecht</strong>srollen aber als die kulturelle<br />

Ausformung der biologischen <strong>Geschlecht</strong>sunterschiede. Mitte der 50er Jahre<br />

entwickelte Talcott Parsons in „Family, Sozialisation and Interaction Pro<br />

cess" einen anspruchsvolleren Ansatz. Er setzte den Unterschied zwischen<br />

männlicher <strong>und</strong> weiblicher <strong>Geschlecht</strong>srolle mit der Unterscheidung von „instrumenteller"<br />

<strong>und</strong> „expressiver" Rolle in der Familie, als einer kleinen<br />

Gruppe, gleich. Das soziale <strong>Geschlecht</strong> wird hier von einem allgemeinen soziologischen<br />

Gesetz abgeleitet, nämlich von den unterschiedlichen Funktionen<br />

in sozialen Gruppen. 37<br />

Die Vorstellung, daß Männlichkeit durch die Verinnerlichung einer<br />

männlichen <strong>Geschlecht</strong>srolle entsteht, war offen für soziale Veränderungen,<br />

was manchmal als Vorteil der Rollentheorie gegenüber der Psychoanalyse<br />

gesehen wurde. Da die Rollennormen soziale Fakten darstellen, können sie<br />

auch durch soziale Prozesse verändert werden. Das wird immer dann gesche-<br />

36 Unter anderem durch Florian Znaniecki, Talcott Parsons, Ralph Linton, Siegfried<br />

Nadel, Bruce Biddle. Ich habe diese Entwicklung in Connell 1979 beschrieben.<br />

37 Komarowsky 1964, Parsons <strong>und</strong> Bales 1956. Eine ausführlichere Beschreibung bietet<br />

Carrigan et al. 1985.<br />

41


hen, wenn die Agenten der Sozialisation - Familie, Schule, Massenmedien,<br />

usw. - neue Erwartungen vermitteln.<br />

„Veränderung" war das zentrale Thema in den ersten ausführlichen Diskussionen<br />

über die „männliche <strong>Geschlecht</strong>srolle", die in den 50er Jahren in<br />

amerikanischen sozialwissenschaftlichen Zeitschriften erschienen. Am be<br />

merkenswertesten war der Artikel von Helen Hacker mit dem Titel „The new<br />

burdens of masculinity", in dem sie mutmaßte, den instrumentellen Funktionen<br />

würden nun noch die expressiven hinzugefügt. Von den Männern würden<br />

jetzt zwischenmenschliche Fähigkeiten erwartet <strong>und</strong> trotzdem männliche<br />

Stärke. In diesem Sinne ließ die Rollentheorie sogar die Vorstellung von Widersprüchen<br />

zu, ausgelöst von unvereinbaren sozialen Erwartungen <strong>und</strong> nicht<br />

durch Unterdrückung.<br />

Meist nahm die Rollentheorie der ersten Generation jedoch an, daß Rollen<br />

genau definiert seien, daß sich die Sozialisation konfliktfrei abspiele <strong>und</strong><br />

daß es positiv sei, eine <strong>Geschlecht</strong>srolle zu erlernen. Verinnerlichte Ge<br />

schlechtsrollen leisten einen Beitrag zur sozialen Stabilität, psychischen Ges<strong>und</strong>heit<br />

<strong>und</strong> Aufrechterhaltung notwendiger sozialer Funktionen. Formal<br />

ausgedrückt: Der Funktionalismus sieht eine Übereinstimmung von sozialen<br />

Institutionen, <strong>Geschlecht</strong>srollennormen <strong>und</strong> Persönlichkeiten.<br />

Es war eher die politische Selbstgefälligkeit dieses Ansatzes als das<br />

Konzept der <strong>Geschlecht</strong>srolle an sich, was der Feminismus in den 70er Jahren<br />

kritisierte. Tatsächlich blühte die <strong>Geschlecht</strong>srollenforschung mit der<br />

Ausbreitung des akademischen Feminismus auf wie nie zuvor. Aber es wurde<br />

nun allgemein anerkannt, daß die weibliche <strong>Geschlecht</strong>srolle unterdrükkend<br />

ist <strong>und</strong> die Verinnerlichung dieser Rolle dazu diente, Mädchen <strong>und</strong><br />

Frauen in einer untergeordneten Stellung zu halten. Die Rollenforschung<br />

wurde zum politischen Instrument, um ein Problem zu beschreiben <strong>und</strong> Reformstrategien<br />

vorzuschlagen. <strong>Geschlecht</strong>srollen konnten verändert werden:<br />

durch veränderte Erwartungen im Schulunterricht, durch neue Rollenvorbilder,<br />

<strong>und</strong> so weiter. Die Veränderung der <strong>Geschlecht</strong>srollen nahm in den USA<br />

ihren Anfang <strong>und</strong> fand bald international Nachahmung, wie am bemerkenswerten<br />

australischen Regierungsbericht „Girls, School and Society" von<br />

1975 <strong>und</strong> der von den Vereinten Nationen ausgerufenen Dekade der Frau zu<br />

sehen ist."<br />

Der Aufruhr unter den Frauen der westlichen Intelligenz hatte nach <strong>und</strong><br />

nach auch Auswirkungen auf die Männer. Mitte der 70er Jahre gab es eine<br />

kleine, aber viel beachtete „Männerbewegung" in den USA, <strong>und</strong> auch in an<br />

deren Ländern entstanden kleine Netzwerke von Männerselbsterfahrungsgruppen.<br />

Autoren wie Warren Farrell (,The Liberated Man") <strong>und</strong> Jack<br />

Nichols („Men's Liberation") behaupteten, daß die männliche <strong>Geschlecht</strong>s-<br />

38 Hacker 1957, vgl. Hartley 1959.<br />

39 Schools Commission 1975. Eines der beliebtesten Modelle einer <strong>Geschlecht</strong>srollenreform<br />

war „Androgynie", siehe dazu Bem 1974, Lenney 1979.<br />

4 2<br />

rolle die Männer unterdrücke <strong>und</strong> deshalb verändert oder abgeschafft werden<br />

müsse. Ein kleiner Boom entwickelte sich <strong>und</strong> schuf ein neues Genre von<br />

Männerbüchern, führte aber auch zu Artikeln in wissenschaftlichen Zeitschriften.<br />

Ihre Tendenz läßt sich an folgenden zwei Titeln ablesen: „The<br />

inexpressive male: a tragedy of American society" <strong>und</strong> „Warning: the male<br />

sex rote may be dangerous to your health". Die Idee einer „Männerforschung"<br />

als Parallele zur feministischen Frauenforschung begann sich zu<br />

verbreiten."<br />

Das Bild der männlichen <strong>Geschlecht</strong>srolle, das in diesen Schriften gezeichnet<br />

wurde, war recht konventionell, was auch nicht verw<strong>und</strong>erlich ist,<br />

weil noch kaum neue Untersuchungen gemacht worden waren. Vielmehr<br />

verband man einfach bekannte Aspekte, wie feministische Kritik an Männern,<br />

Männerbilder aus den Medien, Einstellungsfragebögen, Untersuchungsergebnisse<br />

zu <strong>Geschlecht</strong>sunterschieden <strong>und</strong> autobiographische Anekdoten<br />

aus dem Sport, <strong>und</strong> nannte diese Ansammlung einfach „Rolle".<br />

Es gab kaum Versuche, die Auswirkungen von Normen <strong>und</strong> Erwartungen<br />

in der sozialen Wirklichkeit tatsächlich zu erforschen. Man setzte sie einfach<br />

voraus <strong>und</strong> nahm an, daß sie funktionierten. Es gab aber Ansätze, den<br />

Prozeß einer möglichen Veränderung zu skizzieren. Einer der produktivsten<br />

Autoren in diesem Bereich, der amerikanische Psychologe Joseph Pleck,<br />

setzte der „traditionellen" eine „moderne" männliche Rolle gegenüber. Vieles,<br />

was in den 70er Jahren geschrieben wurde, ermunterte Männer, sich dieser<br />

modernen Version zuzuwenden, mit Hilfe von Therapien oder Selbsthilfegruppen,<br />

politischen Diskussionen, Arbeitsteilung in der Ehe <strong>und</strong> durch<br />

Selbsthilfe.Diese Auseinandersetzung mit der Männerrolle hatten mit der<br />

Frauenbewegung begonnen, <strong>und</strong> für einige Zeit war man dem Feminismus<br />

auch zugetan. Einige Aussagen waren sehr deutlich, was den Machtfaktor im<br />

<strong>Geschlecht</strong>erverhältnis betrifft, wie Plecks Essay von 1977 „Men's Power<br />

with worden, other men, and society: an men's movement analysis", <strong>und</strong> Jon<br />

Snodgrass' erfrischende Anthologie „For Men Against Sexism". Diese Texte<br />

stellten einen Bezug her zwischen der Unterdrückung von Frauen <strong>und</strong> der<br />

Machthierarchie unter Männern, vor allem gegenüber Farbigen <strong>und</strong> schwulen<br />

Männern. Aber in anderen Teilen der Männerliteratur stand man den Frauen<br />

sehr zwiespältig gegenüber <strong>und</strong> wollte das Verhältnis zum Feminismus eher<br />

dämpfen. Einige Autoren setzten die Unterdrückung der Männer mit jener<br />

der Frauen deich <strong>und</strong> bestritten, daß es eine „Hierarchie der Unterdrückungen"<br />

gäbe."<br />

40 Pleck <strong>und</strong> Sawyer 1974, Farrell 1974 <strong>und</strong> Nichols 1975 sind frühe Schriften über die<br />

Männerbewegung. Farrells konservative Kehrtwende wird im neunten Kapitel angesprochen.<br />

Die zitierten Titel stammen von Balswick <strong>und</strong> Peek 1971, sowie Harrison<br />

1978.<br />

41 Pleck 1976, 1977; Snodgrass 1977. Die Anfänge einer Abwendung von Feminismus<br />

dokumentiert eine Stellungnahme des Männerzentrums in Berkeley, abgedruckt in<br />

Pleck <strong>und</strong> Sawyer 1974 (S. 174); aber auch Goldberg 1979.<br />

43


Diese Ambivalenz wird bedingt durch das Konzept der „<strong>Geschlecht</strong>srolle".<br />

Die Analyse von <strong>Geschlecht</strong>srollen geht in ihren logischen Prämissen<br />

davon aus, daß die beiden Rollen sich wechselseitig bedingen. Rollen werden<br />

durch Erwartungen <strong>und</strong> Normen definiert, <strong>Geschlecht</strong>srollen durch die Verknüpfung<br />

der Erwartungen mit dem biologischen Status. Es gibt hier nichts,<br />

was eine Analyse von Macht erforderlich machen würde. Andererseits gibt es<br />

in der <strong>Geschlecht</strong>srollenforschung eine gr<strong>und</strong>legende Tendenz, die Stellung<br />

von Frauen <strong>und</strong> Männern als komplementär aufzufassen - was Parsons'<br />

Theorie ausdrückt als instrumentelle (männliche) <strong>und</strong> expressive (weibliche)<br />

Orientierung.<br />

Wenn es in einem Rollensystem so etwas wie Unterdrückung gibt, ist es<br />

der Druck, den die Rolle auf das Ich ausübt. Das kann aber bei der männlichen<br />

Rolle genauso passieren wie bei der weiblichen. Diese Art von Druck<br />

war tatsächlich zentrales Thema in den Männerbüchern der 70er Jahre. Sie<br />

waren voller Anekdoten über den Würgegriff von Sportreportern, schweigsamen<br />

Väter <strong>und</strong> prahlerischen Peer-groups, dem sich die männliche Jugend<br />

des Landes ausgesetzt sah.<br />

Als Pleck 1981 eine Überblicksstudie zur Männerrollenforschung veröffentlichte<br />

(„The Myth of Masculinity"), stand dabei dieses Verhältnis von<br />

Rolle <strong>und</strong> Selbst im Mittelpunkt. Er kritisierte das Paradigma der „Männer<br />

rollenidentität" (wie er die funktionalistische <strong>Geschlecht</strong>srollentheorie<br />

nannte) vor allem, weil sie von einer Übereinstimmung von Norm <strong>und</strong> Persönlichkeit<br />

ausging <strong>und</strong> davon, daß Konformität mit den Normen der <strong>Geschlecht</strong>srolle<br />

das psychische Gleichgewicht fördert.<br />

Diese Kritik war sehr stichhaltig. Pleck zeigte, wieviel beim Diskurs der<br />

funktionalistischen <strong>Geschlecht</strong>srolle einfach vorausgesetzt wird, <strong>und</strong> wie<br />

spärlich die empirische Absicherung der zentralen Annahmen ist. Fast noch<br />

interessanter war ein beinah Focaultsches Argument Plecks: Die normative<br />

<strong>Geschlecht</strong>srollentheorie sei an sich schon eine Form von <strong>Geschlecht</strong>erpolitik.<br />

Die historischen Veränderungen des <strong>Geschlecht</strong>erverhältnisses würden<br />

auch eine andere Art der sozialen Kontrolle notwendig machen: interne statt<br />

externe Kontrollmechanismen.<br />

„Das Konzept der <strong>Geschlecht</strong>rollenidentität hält das Individuum, das die traditionellen<br />

Rollennormen verletzt, davon ab, sie in Frage zu stellen; statt dessen fühlen sie sich persönlich<br />

unzureichend <strong>und</strong> verunsichert." "L<br />

Die normative <strong>Geschlecht</strong>srollentheorie lähmt insofern sozialen Wandel.<br />

Als Alternative schlug Pleck eine nicht-normative <strong>Geschlecht</strong>srollentheorie<br />

vor, die zwischen Selbst <strong>und</strong> Rolle unterscheidet. Er stellte sich eine Männerrolle<br />

vor, die es erlauben würde, Rollenkonformität unter Umständen als psychisch<br />

dysfunktional zu betrachten; bei der die Rollennormen veränderlich<br />

wären, <strong>und</strong> sich manchmal sogar ändern müßten; <strong>und</strong> wo viele diese Normen<br />

42 Pleck 1981 (S.160).<br />

4 4<br />

mißachten würden <strong>und</strong> dafür mit Sanktionen zu rechnen hätten, aber auch<br />

genauso viele sich übermäßig konform verhalten würden.<br />

In dieser Form wäre das Konzept der Männerrolle konsistenter <strong>und</strong> würde<br />

die Reste biologischen Determinismus <strong>und</strong> Identitätstheorie abschütteln.<br />

Aber die intellektuellen Beschränkungen der Rollenperspektive wären damit<br />

noch nicht durchbrochen.<br />

Diese Beschränkungen sind wiederholt nachgewiesen worden." Weil die<br />

Rollentheorie fast einmütig diese Kritik ignorierte, <strong>und</strong> weil der Begriff<br />

„Männerrolle" noch immer in aller M<strong>und</strong>e ist, werde ich trotzdem auf die<br />

wichtigsten Einwände eingehen.<br />

Die Rollentheorie ist logisch nicht sehr eindeutig. Ein <strong>und</strong> derselbe Begriff<br />

soll einen Beruf beschreiben, einen politischen Status, eine vorübergehende<br />

Verlaufsform, ein Hobby, einen Lebensabschnitt <strong>und</strong> ein <strong>Geschlecht</strong>.<br />

Wegen der wechselnden Gr<strong>und</strong>lagen, nach denen Rollen definiert werden,<br />

führt die Rollentheorie bei der Analyse des sozialen Lebens zu beträchtlichen<br />

Inkohärenzen. Die Rollentheorie übertreibt das Ausmaß, in dem das soziale<br />

Verhalten der Menschen vorgeordnet ist. Aber gleichzeitig untertreibt sie soziale<br />

Ungleichheit <strong>und</strong> Macht, indem sie von wechselseitigen Erwartungszwängen<br />

ausgeht. Aus all diesen Gründen hat sich das Konzept der „Rolle"<br />

für eine soziale Analyse als unbrauchbar erwiesen.<br />

Das heißt aber nicht, daß „Rolle" als dramaturgische Metapher für das<br />

Verständnis sozialer Situationen gänzlich nutzlos wäre. Sie eignet sich für<br />

Situationen, in denen (a) nach gut definierten Skripts gehandelt wird, (b) es<br />

klare Adressaten des Verhaltens gibt <strong>und</strong> (c) nicht zu viel auf dem Spiel steht<br />

(damit eine Art Inszenierung die hauptsächliche soziale Aktivität darstellen<br />

kann).<br />

Keine diese Voraussetzungen ist bei Beziehungen zwischen den <strong>Geschlecht</strong>ern<br />

ge<strong>geben</strong>. „<strong>Geschlecht</strong>srolle ° ist deshalb eine gr<strong>und</strong>sätzlich ungeeignete<br />

Metapher für geschlechtsbezogene Interaktionen. (Man könnte frei<br />

lich an spezifische Situationen geschlechtsbezogener Interaktion denken, wo<br />

definitiv Rollen gespielt werden. Standardtanzwettbewerbe kommen einem<br />

in den Sinn - wie in dem bezaubernden Film „Strictly Baliroom".)<br />

In der <strong>Geschlecht</strong>srollentheorie wird Handeln (die Inszenierung einer<br />

Rolle) auf eine Struktur bezogen, die auf biologischen Unterschieden - der<br />

Unterscheidung in männlich <strong>und</strong> weiblich -, statt auf sozialen Beziehungen<br />

beruht. Die Gleichsetzung von <strong>Geschlecht</strong>sunterschieden mit <strong>Geschlecht</strong>srollen<br />

führt zu einem Kategoriendenken, bei dem das soziale <strong>Geschlecht</strong> auf<br />

zwei homogene Kategorien reduziert wird. <strong>Geschlecht</strong>srollen sind als komplementär<br />

definiert <strong>und</strong> Polarisierung ist ein notwendiger Teil des Konzepts.<br />

43 Über das Rollenkonzept allgemein, siehe Urry 1970, Coulson 1972, <strong>und</strong> Connell<br />

1979. Zur <strong>Geschlecht</strong>srollentheorie siehe Edwards 1983, Stacey <strong>und</strong> Thorne 1985.<br />

Ihre Anwendung in der Männerforschung wurde kritisiert von Carrigan et al. 1985,<br />

Kimmel 1987.<br />

45


Dies führt zu eine Fehlinterpretation der sozialen Realität, die Unterschiede<br />

zwischen Männern <strong>und</strong> Frauen werden übertrieben wahrgenommen, während<br />

man Strukturen anderer Art, wie Rasse, Klasse oder Sexualität, vernachlässigt.<br />

Es ist bezeichnend, daß man, wenn es um die „Männerrolle" geht, kaum<br />

von schwulen Männern spricht <strong>und</strong> auch Rassenaspekte weitgehend unberücksichtigt<br />

bleiben.<br />

Die Unterscheidung zwischen Verhalten <strong>und</strong> Erwartungen ist zentral für<br />

die Rollenmethaphorik. Aber die Literatur zur Männerrolle versäumt es, beide<br />

getrennt zu betrachten, nimmt das eine als Beweis für das andere, <strong>und</strong><br />

umgekehrt. Was dabei verlorengeht, ist ein Verständnis von Widerstand in<br />

der <strong>Geschlecht</strong>erpolitik. Menschen, die Machtstrukturen angreifen (zum Beispiel<br />

indem sie eine stigmatisierte Identität benutzten, um Solidarität herzustellen<br />

<strong>und</strong> Widerstand zu mobilisieren, wie es die Schwulenbewegung getan<br />

hat), können einfach nicht in Rollenkategorien von „Norm" <strong>und</strong> „Abweichung"<br />

eingeordnet werden.<br />

Die <strong>Geschlecht</strong>srollentheorie hat eine gr<strong>und</strong>legende Schwierigkeit damit,<br />

Machtaspekte zu erfassen. Mit dem Rollenbegriff die unterschiedlichen Situationen<br />

von Männern <strong>und</strong> Frauen beschreiben zu wollen, führt zu einer<br />

Verharmlosung der Gewalt <strong>und</strong> zu einer Vernachlässigung von Zwang, weil<br />

man davon ausgeht, daß die Rolle weitgehend akzeptiert wird. Sogar Pleck<br />

war es nicht möglich, diese Aspekte mit dem Konzept der <strong>Geschlecht</strong>srolle<br />

zu vereinbaren, obwohl er sehr wohl sensibel ist für Machtstrukturen <strong>und</strong> die<br />

Fragwürdigkeit von Konsens. Als Folge verflüchtigten sich diese Aspekte<br />

aus seinen Schriften.<br />

Die Frage nach der Macht ist Teil einer umfassenderen Problematik sozialer<br />

Dynamik. Obwohl die Männerrollenforschung Veränderungen - teilweise<br />

enthusiastisch - wahrnimmt, bleibt sie bei der Auffassung, Veränderungen<br />

würden von außen angestoßen (als Folge einer technologischen Veränderung,<br />

beispielsweise). Veränderungen werden nicht als Dialektik innerhalb<br />

der <strong>Geschlecht</strong>erverhältnisse wahrgenommen.<br />

Deshalb ist der Männerrollenansatz ausgesprochen reaktiv. Er entwickelt<br />

keine strategische Politik der Männlichkeit. Ich denke, das ist auch der<br />

Gr<strong>und</strong>, warum Männer, die sich in den 70er Jahren sehr um eine Verände<br />

rung der <strong>Geschlecht</strong>srollen bemühten, sich in den 80er Jahren nicht wirklich<br />

wehren konnten gegen Ideologien, die ihre Modernität als „softiehaft" ablehnten<br />

<strong>und</strong> einen Kult um eine imaginäre Vergangenheit errichteten.<br />

46<br />

Die neuen S®znalwüssenschaftenn<br />

Geschichte<br />

Elemente einer neuen Herangehensweise an Männlichkeit haben sich in verschiedenen<br />

Sozialwissenschaften h<strong>eraus</strong>gebildet, angeregt durch die Männerbewegung<br />

<strong>und</strong> die <strong>Geschlecht</strong>srollenpsychologie, aber nicht beschränkt<br />

durch die Rollentheorie. Das wichtigste Element ist der geschichtliche <strong>und</strong><br />

ethnographische Nachweis von der Vielfältigkeit <strong>und</strong> Veränderbarkeit von<br />

Männlichkeit.<br />

In der Geschichtswissenschaft ging es freilich schon immer um Männer<br />

- zumindest um reiche <strong>und</strong> berühmte Männer. Das wurde auch von Feministinnen<br />

kritisiert. Und um das Gleichgewicht wieder herzustellen, entwickelte<br />

sich in den 70er Jahren eine starke Bewegung für eine „Geschichte der Frauen".<br />

Und da man von komplementären <strong>Geschlecht</strong>srollen ausging, dauerte es<br />

nicht lange, bis jemand den Schluß zog, man brauche dementsprechend auch<br />

eine „Geschichte der Männer". Das war gegen Ende der 70er Jahre <strong>und</strong> wurde<br />

dann auch nach <strong>und</strong> nach praktiziert."<br />

Aber es gab ja bereits eine Geschichte der Männer. Das zentrale Anliegen<br />

einer neuen männlichen Geschichtsschreibung konnte deshalb nur sein,<br />

was bisher gefehlt hatte - die Idee von „Männlichkeit". Man nannte das<br />

meist „Geschichte der Männerrolle" ; die erste Welle von Arbeiten dieser Art<br />

überlagerte sich auch mit der eben diskutierten Männerrollenforschung, waren<br />

recht allgemein gehalten <strong>und</strong> ähnlich vage in ihren Zielsetzungen.<br />

Obwohl weitreichende Untersuchungen der kulturellen Normen für<br />

Männlichkeit immer noch erstellt werden, hat sich ein prägnanterer Ansatz<br />

entwickelt, der sich an den ergiebigen, lokal begrenzten Untersuchungen der<br />

feministischen Geschichtsforschung orientiert. Einige der Arbeiten verwenden<br />

weiterhin die Begriffe der <strong>Geschlecht</strong>srollentheorie, zeigen aber auf unterhaltsame<br />

Weise, daß die Erwartungen vielfältiger <strong>und</strong> umstrittener sind als<br />

bisher angenommen. Die besten dieser Arbeiten betrachten nicht mehr die<br />

Normen, sondern die Institutionen, in denen sie verankert sind.<br />

Dies gilt zum Beispiel für die Untersuchung „Making a Man of Hirn"<br />

von Christine Heward, die Veränderungen <strong>und</strong> Unterschieden an englischen<br />

Privatschulen nachspürt. Sie zeigt nicht nur, wie durch Disziplin, Beklei<br />

dung, akademische Hierarchie <strong>und</strong> Mannschaftssportarten eine respektable<br />

Männlichkeit konstruiert wird, sondern auch wie die Institution „Schule" auf<br />

die <strong>Geschlecht</strong>er- <strong>und</strong> Klassenstrukturen der Familien reagiert. Ein anderes<br />

Beispiel ist die Untersuchung von Michael Grossberg über die Rechtspraxis<br />

im Amerika des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts. Dabei zeigte sich, wie die juristischen Berufe<br />

gegenüber Frauen abgeschottet wurden, während interne Organisationen<br />

44 Stearns 1979, Pleck <strong>und</strong> Pleck 1980 sind hierfür Beispiele. Es gäbe noch viel schlimmere,<br />

die ich aber aus Nachsicht nicht anführe.<br />

47


45<br />

47<br />

48<br />

48<br />

49


In diesem Sinne führt eine Geschichtsforschung, die bei den Institutionen<br />

beginnt, rasch zu den Fragen individueller Handlungsmöglichkeiten <strong>und</strong> sozialer<br />

Auseinandersetzungen. Eine vergleichbare Vorgehensweise hat sich<br />

auch in der Anthropologie entwickelt.<br />

Ethnographie des Firemden<br />

Der eigentliche Gegenstand der Anthropologie sind die kleinen G<strong>esellschaf</strong>ten,<br />

auf die Europäer <strong>und</strong> Nordamerikaner im Zuge der kolonialen Expansion<br />

gestoßen sind. Anfang dieses Jahrh<strong>und</strong>erts wurde die beschreibende Völkerk<strong>und</strong>e<br />

zur charakteristischen Forschungsmethode: die üb<strong>eraus</strong> detaillierte Beschreibung<br />

eines Lebensstils, an dem der Forscher selbst teilgenommen hatte<br />

<strong>und</strong> sich somit auf persönliche Beobachtungen <strong>und</strong> Gespräche mit Informanten<br />

in ihrer Muttersprache stützen konnte.<br />

Was die beschreibende Völkerk<strong>und</strong>e erfassen wollte, waren die Unterschiede<br />

zwischen diesen kolonisierten Völkern <strong>und</strong> den säkularen, marktwirtschaftlichen<br />

<strong>und</strong> vom Staat kontrollierten G<strong>esellschaf</strong>ten in Europa <strong>und</strong><br />

Nordamerika. Deshalb konzentrierte man sich einerseits auf Religionen <strong>und</strong><br />

Mythen, <strong>und</strong> andererseits auf das Verwandtschaftssystem, das - wie man annahm<br />

- die Struktur „primitiver" G<strong>esellschaf</strong>ten bestimmte. Beide Ansätze<br />

bieten reichhaltige Informationen über das soziale <strong>Geschlecht</strong>. Deshalb sind<br />

diese ethnographischen Berichte, die sich in den Bibliotheken der Kolonialmächte<br />

ansammelten, eine wahre Goldgrube für Informationen zu den kontroversen<br />

Standpunkten, die von Feminismus, Psychoanalyse <strong>und</strong> <strong>Geschlecht</strong>srollentheorie<br />

vertreten werden.<br />

Dementsprechend wurde die Anthropologie eine wichtige Quelle für diese<br />

Kontroversen. Die Debatte über die Universalität des Odipuskomplexes,<br />

die Malinowski durch seine Studie über die Trobriander-Inseln auslöste, habe<br />

ich schon erwähnt. Margaret Meads „<strong>Geschlecht</strong> <strong>und</strong> Temperament" aus den<br />

30er Jahren zeigte die kulturellen Unterschiede hinsichtlich der Bedeutung<br />

von Männlichkeit <strong>und</strong> Weiblichkeit sehr überzeugend - obwohl sich Mead<br />

nie ganz von der Vorstellung lösen konnte, daß allem eine natürliche Heterosexualität<br />

zugr<strong>und</strong>e liege." In den 70er Jahren hat die zweite Welle der Frauenbewegung<br />

neue anthropologische Studien über das soziale <strong>Geschlecht</strong> angeregt.<br />

Wie in der Geschichtswissenschaft wurden auch hier die meisten Arbeiten<br />

von Frauen geschrieben, die das Leben ihrer <strong>Geschlecht</strong>sgenossinnen<br />

dokumentieren wollten. Und auch hier folgten dann Studien über Männlichkeit.<br />

Teilweise beschäftigte man sich mit kulturellen Bildern von Männlichkeit,<br />

wie beispielsweise Michael Herzfelds elegante <strong>und</strong> unterhaltsame Studie<br />

49 Mead 1970. Ihre späteren Arbeiten über das soziale <strong>Geschlecht</strong> waren konservativer,<br />

Mead 1972.<br />

50<br />

„The Poetics of Manhood" über das Schafestehlen in Bergdörfern auf Kreta<br />

als eine Möglichkeit, seine Männlichkeit darzustellen. Eine ethnographische<br />

Kontroverse über den „machismo" in Lateinamerika hat der Männlichkeitsideologie<br />

auch viel Aufmerksamkeit beschert - ein Ideal von Männlichkeit,<br />

das Wert legt auf die Überlegenheit gegenüber Frauen, Konkurrenz zwischen<br />

Männern, aggressives Imponiergehabe, räuberische Sexualität <strong>und</strong> Doppelmoral.so<br />

Die aufsehenerregendste Arbeit der neueren ethnographischen Forschung<br />

ist Gilbert Herdts „Guardians of the Flutes". Es handelt sich um eine eher<br />

konventionelle oder sogar konservative ethnographische Beschreibung der<br />

"Sambia", eines Volkes im östlichen Hochland Papua Neuguineas. Die Sambia<br />

betreiben Gartenbau <strong>und</strong> sammeln Nahrungsmittel, leben in kleinen dörflichen<br />

Gemeinschaften, glauben an kosmische Kräfte <strong>und</strong> andere Mythen,<br />

<strong>und</strong> besitzen ein System von Ritualen. Ihre Kultur zeichnet sich aus durch<br />

andauerndes Kriegführen, eine strikte Arbeitsteilung zwischen den <strong>Geschlecht</strong>ern<br />

<strong>und</strong> eine stark betonte, aggressive Männlichkeit.<br />

Herdt geht es in seiner Studie vor allem um die Kulte der Männer <strong>und</strong> ihre<br />

Initiationsriten. Die Initiation umfaßt auch sexuelle Beziehungen zwischen<br />

jungen <strong>und</strong> erwachsenen Männern, die beinhalten, daß die Jungen am Penis<br />

der Männer saugen <strong>und</strong> die Samenflüssigkeit schlucken. Der Samen wird als<br />

Männlichkeitsessenz betrachtet, die zwischen den Generationen weiterge<strong>geben</strong><br />

werden muß, um das Überleben der Gemeinschaft zu sichern. Diese Vorstellung<br />

ist eingebettet in ein ganzes System von Geschichten <strong>und</strong> Ritualen,<br />

die die um<strong>geben</strong>de Natur, die soziale Ordnung der Sambia <strong>und</strong> die heiligen<br />

Flöten umfassen, deren Musik ein Bestandteil des Männerkultes ist.<br />

Die sexuellen Aspekte machten Herdts Untersuchung skandalös. Er präsentiert<br />

das Schauspiel einer gewalttätigen, aggressiven Männlichkeit, vergleichbar<br />

mit einer übersteigerten Männlichkeit in unserer Kultur, die aber<br />

auf homosexuellen Beziehungen beruht - von denen unsere Kultur glaubt,<br />

daß sie verweichlichen würden. Außerdem wird unsere Überzeugung erschüttert<br />

(die von der Wissenschaft genauso wie von der Politik vertreten<br />

wird), daß sich Homosexualität auf kleine Minderheiten beschränkt. Bei den<br />

Sambia ist mehr oder weniger jeder Mann homosexuell, zumindest in einer<br />

Phase seines Lebens. Herdt nannte dieses Muster „ritualisierte Homosexualität"<br />

<strong>und</strong> stellte Untersuchungen zu ähnlichen Praktiken in anderen melanesischen<br />

G<strong>esellschaf</strong>ten zusammen."<br />

Was für eine Art von Wissenschaft bringt solche Ergebnisse hervor? In<br />

einem positivistischen Modell von Sozialwissenschaft werden zahlreiche<br />

Einzelfälle zusammengefügt, um zu kulturübergreifenden Verallgemeinerun-<br />

50 Herzfeld 1985; ein Beispiel für die Diskussion über Machismo findet sich bei Bolion<br />

1979.<br />

51 Herdt 1981, 1982, 1984. Modjeska 1990 stellt die Verbreitung dieser „ritualisierten<br />

Homosexualität" in Frage.<br />

51


gen <strong>und</strong> Gesetzmäßigkeiten des menschlichen Zusammenlebens zu gelangen.<br />

Das genau versucht David Gilmore mit „Mythos Mann", einem sehr anspruchsvollen<br />

Versuch, anthropologische Aussagen über Männlichkeit zusammenzufassen.<br />

Gilmore hat begriffen, daß die Anthropologie eine wahre F<strong>und</strong>grube für<br />

Informationen über Männer <strong>und</strong> Männlichkeit darstellt. Auf den Flügeln einer<br />

gutbestückten Bibliothek reist er um die ganze Welt <strong>und</strong> sammelt ethno<br />

graphische Berichte aus Spanien, von den Truk-Inseln, aus Brasilien, Kenia,<br />

Papua Neuguinea, Polynesien, Malaysia <strong>und</strong> anderswo. Seine Absicht war es,<br />

eine breite Datenbasis über Männlichkeit <strong>und</strong> ihre Bedingungen zusammenzutragen,<br />

um die Fragen beantworten zu können: Gibt es eine Tiefenstruktur<br />

von Männlichkeit? Gibt es einen weltweiten Archetypus von Männlichkeit?<br />

Gilmores etwas allgemeine Antwort lautet, daß Männlichkeit nicht leicht zu<br />

erlangen ist, daß dazu Bemühungen in einem ausgesprochen männlichen Bereich<br />

nötig sind <strong>und</strong> daß die Verwirklichung von Männlichkeit durch Initiationsriten<br />

gekennzeichnet sein muß. Die g<strong>esellschaf</strong>tliche Funktion der Männlichkeitsideologie<br />

ist es, die Männer zur Arbeit zu motivieren:<br />

„So lange es Kämpfe zu bestreiten, Kriege zu gewinnen, harte Arbeit zu leisten gilt, so<br />

lange werden einige von uns wie Männer handeln' müssen."<br />

Psychologisch betrachtet dient Männlichkeit dazu, eine Regression zu einer<br />

präödipalen Identifikation mit der Mutter zu verhindern. Das trifft - aus Gilmores<br />

Sicht - auf die meisten Kulturen zu, aber es gibt auch einige wenige<br />

Ausnahmen, entspanntere <strong>und</strong> „passivere" Ausprägungen von Männlichkeit,<br />

auf Tahiti <strong>und</strong> bei den Semai in Malaysia."<br />

Daß eine weltweite Suche nach ethnographischen Beweisen nur Resultate<br />

von so verblüffender Banalität hervorbringt, löst doch eine gewisse Verw<strong>und</strong>erung<br />

aus. Ist bei den ethnographischen Berichten etwas schiefgelau<br />

fen? Ich glaube nicht; das Problem liegt in ihrer Verwendung. Gilmores theoretischer<br />

Rahmen ist die <strong>Geschlecht</strong>srolle, <strong>und</strong> seine Arbeit leidet an denselben<br />

Unklarheiten <strong>und</strong> Verkürzungen, die wir eben diskutiert haben. Auf einer<br />

tieferen Ebene beweist sein Buch, wie sinnlos es ist, durch kulturübergreifende<br />

Verallgemeinerung eine positivistische Wissenschaft der Männlichkeit<br />

zu entwickeln.<br />

Der positivistische Ansatz setzt einen stabilen Erkenntnisgegenstand<br />

voraus, der über alle Fälle konstant bleibt. Kann man das von „Männlichkeit"<br />

sagen? Andere Ethnographinnen <strong>und</strong> Ethnographen sind nicht der An<br />

sicht. Marilyn Strathern hat in ihrer vielschichtigen Analyse des Hagen-<br />

Volkes im Hochland von Neuguinea <strong>und</strong> dessen Verhältnis zur Sexualität gezeigt,<br />

daß das soziale <strong>Geschlecht</strong> statt einer Rolle eine Metapher sein kann.<br />

Wenn jemand bei den Hagen (bedeutungsvoll) sagt „unser Clan ist ein Clan<br />

von Männern", bedeutet das weder, daß es keine Frau in diesem Clan gibt,<br />

52 Gilmore 1991.<br />

52<br />

noch daß die Frauen die Männerrolle übernommen hätten. Sie sagen statt<br />

dessen etwas aus über Fähigkeiten <strong>und</strong> Macht des Clans als einer Gemeinschaft.<br />

Diese Redewendung widerspricht der Vorstellung von den <strong>Geschlecht</strong>sunterschieden<br />

<strong>und</strong> sprengt eine positivistische Definition von Männlichkeit.<br />

Die Arbeit von Strathern zwingt uns, in einer völlig anderen Weise über<br />

die Bedeutung des sozialen <strong>Geschlecht</strong>s nachzudenken. Und so geht es uns<br />

auch mit Herdts lebendigem Bericht von den Sambia, der westlichen Lese<br />

rinnen <strong>und</strong> Leser etwas gr<strong>und</strong>legend Fremdes vermittelt, Erfahrungen <strong>und</strong><br />

Praktiken, die sich gänzlich von den unseren unterscheiden. Wenn eine Wissenschaft<br />

versucht, solche Erfahrungen mit Konzepten zu erfassen, die die<br />

spezifischen sozialen Strukturen der westlichen Welt reflektieren (wie das bei<br />

herkömmlichen Konzepten von Männlichkeit der Fall ist), kann das nur<br />

scheitern.<br />

Inwiefern kann die Ethnographie dann zu einer Sozialwissenschaft des<br />

<strong>Geschlecht</strong>s beitragen? Nur insofern sie die sozialen Beziehungen erkennt,<br />

die die Gr<strong>und</strong>lage für ethnographisches Wissen bilden.<br />

Als Herdt 1982 seine Vergleichsstudie „Rituals of Manhood" zusammenstellte,<br />

berücksichtigte er auch E. L. Schieffelins Arbeit über die zeremonielle<br />

„Bau a" -Jagdhütte der Männer bei den Kaluli in Papua. Schieffelin lie<br />

ferte eine detaillierte Beschreibung dieses regelmäßigen Rückzugs alter <strong>und</strong><br />

junger Männer von der Stammesgemeinschaft. Während dieses Rückzugs<br />

veränderte sich das Verhältnis zur Geisterwelt, es kam zu einer rituellen<br />

Meidung von Frauen, einer Zeit des Friedens statt der endemischen Konflikte<br />

der Stammesgemeinschaft, <strong>und</strong> wachsender Aufregung, die ihren Höhepunkt<br />

in einer Zeremonie fand, bei der geräuchertes Jagdfleisch verteilt wird.<br />

Aber es hat sich h<strong>eraus</strong>gestellt, daß Schieffelin nie bei einem „Bau a"<br />

dabeigewesen ist. Seit 1958 hat die australische Kolonialregierung regelmäßig<br />

Polizeipatroullien in diesem Gebiet durchgeführt. 1964 sind die Missio<br />

nare angekommen, zusammen mit einigen Arbeitern, <strong>und</strong> begannen, eine<br />

Missionsstation <strong>und</strong> einen Behelfsflugplatz zu bauen. Zufällig veranstalteten<br />

zwei Kalkuli-Stämme zu der Zeit gerade ein „Bau a", die Jugendlichen jagten<br />

in den Wäldern. Aus verschiedenen Gründen wäre es für das Ritual eine<br />

Katastrophe gewesen, wenn die Neuankömmlinge die „Bau a" -Hütte betreten<br />

hätten. Aufgr<strong>und</strong> ihrer Erfahrungen mit den früheren Patrouillen befürchteten<br />

die Kalkuli vor allem den Diebstahl des geräucherten Fleisches.<br />

Deshalb beendeten sie hastig das „Bau a" <strong>und</strong> verteilten das Fleisch - <strong>und</strong><br />

haben nie mehr ein „Bau a" abgehalten."<br />

Die Ethnographie befand sich schon immer an der Schnittstelle zwischen<br />

den Eingeborenenkulturen <strong>und</strong> der ökonomisch-politischen Expansion der<br />

westlichen Welt. Neuere Überlegungen zur ethnographischen Methodik be-<br />

53 Strathern 1978, 1981.<br />

54 Schieffelin 1982.<br />

53


tonen die Präsenz des Forschers <strong>und</strong> die belastete Beziehung zu den Erforschten:<br />

Die Kolonialisten starren auf die Kolonialisierten, <strong>und</strong> die Machtbeziehungen<br />

bestimmen, wer im Besitz des Erkenntnis ist <strong>und</strong> wer Erkenntnisobjekt."<br />

Positivistische Wissenschaft funktioniert durch Ausblenden dieser historischen<br />

Dimension. Man möchte uns vergessen lassen, wer das Fleisch gestohlen<br />

hat. Aber wir müssen diesen Gedächtnisschw<strong>und</strong> nicht akzeptieren.<br />

Ich möchte behaupten, daß ethnographisches Wissen über Männlichkeit in<br />

dem Maße wertvoll ist, wie wir es als Teil einer globalen Geschichte verstehen.<br />

Einer Geschichte, die von Vertreibung, Kampf <strong>und</strong> Transformationen<br />

geprägt ist. Eingeborene Völker fordern mehr <strong>und</strong> mehr das Recht, ihre eigene<br />

Geschichte selbst zu erzählen, <strong>und</strong> deshalb wird sich auch unser Wissen<br />

über westliche Männlichkeit gründlich ändern.<br />

Soziaue Konstir<br />

Die Soziologie war die akademische Heimat der frühesten <strong>Geschlecht</strong>srollenforschung,<br />

<strong>und</strong> dort findet auch der schärfste Bruch mit dem <strong>Geschlecht</strong>srollenparadigma<br />

statt. In den letzten zehn Jahren hat sich die Zahl der Feldstudien<br />

in den Industrienationen vervielfacht <strong>und</strong> neue Begrifflichkeiten wurden<br />

eingeführt. Es gibt noch kein anerkanntes Paradigma für diese Forschung,<br />

aber einige Gemeinsamkeiten haben sich h<strong>eraus</strong>kristallisiert: die Konstruktion<br />

von Männlichkeit im Alltag, die Bedeutung ökonomischer <strong>und</strong> institutioneller<br />

Strukturen, die Wichtigkeit der Unterschiede zwischen Männlichkeiten,<br />

<strong>und</strong> die Widersprüche <strong>und</strong> Dynamiken innerhalb des sozialen <strong>Geschlecht</strong>s.<br />

Daß das soziale <strong>Geschlecht</strong> nicht von vornherein festgelegt ist, sondern<br />

erst durch soziale Interaktion entsteht, ist ein wichtiger Aspekt der modernen<br />

Soziologie vom sozialen <strong>Geschlecht</strong> - von detaillierten ethnographischen<br />

Untersuchungen des Gesprächsverhaltens bis zur Organisationsforschung<br />

über die Diskriminierung durch Manager. Das ist eines der Hauptanliegen<br />

neuerer Männerforschung, wie zum Beispiel Michael Messners Interviewstudie<br />

über Berufssportler („Power and Play" ), oder Alan Kleins teilnehmende<br />

Beobachtung in Bodybuildingstudios („Little Big Men" ).' c<br />

Genau wie in der <strong>Geschlecht</strong>srollenforschung geht es hier um Männlichkeitskonventionen.<br />

Aber statt diese als schon existierende Normen, die in einer<br />

passiven Weise verinnerlicht <strong>und</strong> befolgt würden, einfach vorauszuset<br />

zen, erforscht dieser neue Ansatz die Entstehung <strong>und</strong> Tradierung von Konventionen<br />

in der sozialen Praxis. Einerseits erwächst daraus ein Interesse an<br />

55 Clifford <strong>und</strong> Marcus 1986, Strathern 1991.<br />

56 Über Interaktion <strong>und</strong> soziales <strong>Geschlecht</strong> siehe West <strong>und</strong> Zimmerman 1987; zu<br />

Männlichkeiten siehe Messner 1992, Klein 1993.<br />

54<br />

ktion <strong>und</strong> die <strong>Geschlecht</strong>eadynamik<br />

der politischen Dimension von Normen: Wie werden sie konstruiert <strong>und</strong> welche<br />

Interessen stecken dahinter? Richard Gruneau <strong>und</strong> David Whitson zeigen<br />

in „Hockey Night in Canada" sehr ausführlich <strong>und</strong> genau, wie geschäftliche<br />

<strong>und</strong> politische Interessen die in aggressiver Weise maskulinisierte Welt des<br />

Profi-Eishockey konstruieren. Andererseits führt dieser Ansatz auch zu den<br />

Kräften, die die Entstehung einer bestimmten Art von Männlichkeit ausgleichen<br />

oder begrenzen. Die Rolle von Verletzungen in Sportlerkarrieren <strong>und</strong><br />

die sexuellen Widersprüche beim Bodybuilding sind Beispiele aus den Arbeiten<br />

von Messner <strong>und</strong> Klein.<br />

Die Art <strong>und</strong> Weise, wie Männlichkeit im Sport konstruiert wird, illustriert<br />

die Bedeutung des institutionellen Setting. Wenn Jungen mit einer<br />

Wettkampfsportart beginnen, so betont Messner, lernen sie nicht nur ein<br />

Spiel, sondern betreten eine organisierte Institution. Nur ganz wenige schaffen<br />

es an die Spitze <strong>und</strong> werden Berufssportler; <strong>und</strong> dennoch ist die Konstruktion<br />

von Männlichkeit in der Sportwelt geprägt von ihrer hierarchischen<br />

Wettbewerbsstruktur. Und diese Struktur ist nicht zufällig entstanden. Wie<br />

Gary Fine hierzu bemerkt, waren nicht nur Vereine an der Gründung einer<br />

Baseball-Jungenliga beteiligt, sondern auch der amerikanische Staat, ein<br />

Mitglied des Vorstandes war J. Edgar Hoover."<br />

Was für den Sport zutrifft, gilt auch für Arbeitsplätze allgemein. Wirtschaftliche<br />

Umstände <strong>und</strong> Organisationsstrukturen spielen bei der Konstruktion<br />

von Männlichkeit bereits auf der intimsten Ebene eine bedeutende Rolle.<br />

Mike Donaldson hat in „Time of Our Lives° beobachtet, wie die schwere<br />

Arbeit in Fabriken <strong>und</strong> Bergwerken die Körper der Arbeiter buchstäblich<br />

verbraucht; diese Zerstörung beweist, wie hart die Arbeit <strong>und</strong> auch die Arbeiter<br />

sind, <strong>und</strong> dient deshalb als Nachweis für die eigene Männlichkeit. Dies<br />

geschieht nicht, weil körperliche Arbeit notwendigerweise den Körper zerstört,<br />

sondern nur unter bestimmten Bedingungen, unter ökonomischem<br />

Druck <strong>und</strong> Kontrolle durch das Management.'<br />

Die Konstruktion einer Arbeiter-Männlichkeit in den Fabriken unterliegt<br />

anderen Bedingungen <strong>und</strong> Dynamiken als die Konstruktion einer Mittelklassen-Männlichkeit<br />

in einem klimatisierten Büro - obwohl auch die Entstehung<br />

<strong>und</strong> Verteidigung maskulinisierter Angestelltenberufe einen ähnlich bewußten<br />

Prozeß darstellen kann, wie Collinson, Knights <strong>und</strong> Collinson in „Managing<br />

to Discriminate ° gezeigt haben. Die klassenbedingten Unterschiede<br />

von Männlichkeiten sind Thema der britischen Forschung seit Andrew Tolsons<br />

wegweisendem Buch „The Limits of Masculinity" aus den 70er Jahren.<br />

Die Klassenunterschiede in den USA hat James Messerschmidt in „Masculinities<br />

and Crime" untersucht, wobei sich h<strong>eraus</strong>gestellt hat, daß Gentlemankriminalität<br />

<strong>und</strong> Straßenkriminalität die Quelle für bestimmte klassenspezifische<br />

Männlichkeiten darstellen. Ökonomie <strong>und</strong> Ideologie betont Robert<br />

57 Gruneau and Whitson 1993, Fine 1987.<br />

58 Donaldson 1991.<br />

55


Staples gleichermaßen in seiner wichtigen Untersuchung „Black Masculinity"<br />

über ethnische Unterschiede. Er verbindet dabei die Situation schwarzer<br />

Männer unter dem amerikanischen Rassismus mit der Dynamik des Kolonialismus<br />

in der Dritten Welt, <strong>und</strong> hat mit diesem Ansatz bisher noch kaum<br />

Nachfolger gef<strong>und</strong>en."<br />

Die klassen- <strong>und</strong> rassenbedingten Unterschiede zu erkennen ist sehr<br />

wichtig, aber es haben sich noch andere Unterscheidungsmerkmale h<strong>eraus</strong>kristallisiert.<br />

Es wurde immer deutlicher, daß auch in ein <strong>und</strong> derselben kul<br />

turellen oder institutionellen Situation verschiedene Männlichkeiten entstehen<br />

können. Untersuchungen an Schulen haben dies zuerst gezeigt, so zum<br />

Beispiel Paul Willis' „Learning to Labour" an einer Schule der Arbeiterklasse.<br />

Willis machte zwei Gruppen aus: die harten „Draufgänger", die eine<br />

aufmüpfige Männlichkeit entwickelten, die sie in die Fabriken führte, <strong>und</strong> die<br />

„Streber", Jungen aus demselben Milieu, die sich den schulischen Anforderungen<br />

fügten <strong>und</strong> hinsichtlich des schulischen Erfolgs miteinander konkurrierten.<br />

Überraschend ähnliche Muster fand man an einer australischen Oberschichtsschule,<br />

<strong>und</strong> auch in weiteren Schuluntersuchungen."<br />

Solche Beobachtungen führten zusammen mit der psychoanalytischen<br />

Charakteranalyse (siehe oben) <strong>und</strong> Ideen aus der Schwulenbewegung (siehe<br />

unten) zum Konzept einer hegemonialen Männlichkeit. Es reicht nicht, die<br />

Mannigfaltigkeit von Männlichkeitsformen zu erkennen. Es geht auch um die<br />

Verhältnisse zwischen den verschiedenen Arten von Männlichkeit: Bündnisse,<br />

Dominanz <strong>und</strong> Unterordnung. Diese Verhältnisse entstehen durch Praxen,<br />

die ein- oder ausschließen, einschüchtern, ausbeuten, <strong>und</strong> so weiter. Männlichkeit<br />

bedeutet auch <strong>Geschlecht</strong>erpolitik."<br />

In den Schuluntersuchungen zeigten sich solche hegemonialen Muster<br />

sehr deutlich. In manchen Schulen ist die Art von Männlichkeit hegemonial,<br />

die sich im Wettkampfsport bewähren kann. Erfolge im Sport sind ein<br />

Männlichkeitsbeweis, sogar für Jungen, die Sport verabscheuen. Wer dieses<br />

vorherrschende Männlichkeitsmuster ablehnt, muß sich ihm durch Kampf<br />

oder Geschick entziehen. James Walker hat in seiner Untersuchung einer<br />

Großstadtschule in Australien ein Beispiel dafür anzubieten. Er beschreibt<br />

den Fall dreier Fre<strong>und</strong>e, die den Rugby-Kult an ihrer Schule verachteten.<br />

Aber sie konnten sich ihm nicht so ohne weiteres entziehen, sie mußten zuerst<br />

einen anderen Bereich finden, in dem sie sich Respekt verschaffen<br />

konnten - das gelang ihnen, indem sie die Schülerzeitung übernahmen."<br />

Hegemonie bedeutet deshalb nicht vollständige Kontrolle. Es läuft kein<br />

automatischer Prozeß ab, man kann ihn unterbrechen - oder er unterbricht<br />

59 Collinson, Knights <strong>und</strong> Collinson 1990, Tolson 1977, Messerschmidt 1993, Staples<br />

1982.<br />

60 Willis 1977, Kessler et al. 1985.<br />

61 Carrigan, Connell <strong>und</strong> Lee 1985 bieten eine Definition hegemonialer Männlichkeit;<br />

eine Kritik dieses Konzepts findet man bei Donaldson 1993.<br />

62 Walker 1988.<br />

56<br />

sich vielleicht von selbst. Messner zitiert problematische Fälle von Footballspielern,<br />

deren „legale" Gewalt ausartete. Als andere Spieler schwer verletzt<br />

wurden, lief diese Inszenierung männlicher Aggression Gefahr, die ganze<br />

Sportart in Verruf zu bringen.<br />

Solche Beobachtungen zeigen, daß die Beziehungen, die Männlichkeit<br />

konstruieren, dialektisch sind; sie passen nicht in ein Sozialisationsmodell,<br />

das zwischen Ursache <strong>und</strong> Folge eindeutig unterscheidet. Die Männlichkeit<br />

der „Draufgänger", die in „Learning to Labour" beschrieben wird, war natürlich<br />

nicht von der Schule intendiert. Viel wahrscheinlicher haben die Jungen<br />

ihre oppositionelle Männlichkeit in bewußter Abgrenzung von der schulischen<br />

Autorität entwickelt. Widersprüchlichkeiten anderer Art zeigten sich<br />

in Kleins Bodybuilding-Studie. Einige aktive Bodybuilder suchten Selbstbestätigung,<br />

indem sie schwulen Männern, die sie bew<strong>und</strong>erten <strong>und</strong> begehrten,<br />

sexuelle <strong>und</strong> andere Dienste verkauften. Aber homosexuelle Handlungen<br />

diskreditieren in homophoben G<strong>esellschaf</strong>ten die Männlichkeit, die diese<br />

Männer buchstäblich verkörpern. Jene, die sich prostituieren, fänden w<strong>und</strong>erbare<br />

Möglichkeiten, ihre Handlungen umzuinterpretieren <strong>und</strong> ihre homosexuellen<br />

Beziehungen zu leugnen."<br />

Wenn wir verschiedene Männlichkeitstypen unterscheiden, heißt das noch<br />

nicht, daß wir sie als starre Kategorien begreifen. Die psychoanalytische Theorie<br />

der Charaktertypen kann hier irreführen. Es ist essentiell, die Be<br />

ziehungsdynamik zu erkennen, in der das soziale <strong>Geschlecht</strong> entsteht. Cynthia<br />

Cockburn schreibt in ihrer glänzenden Untersuchung „Brothers" über die kollektive<br />

Konstruktion von Männlichkeit in Londoner Druckereien vom<br />

„...Aufbrechen alter Strukturen in der Arbeiterklasse <strong>und</strong> der Auflösung patriarchaler Beziehungsmuster,<br />

welche die Handwerkstradition bestimmten. Die Autorität alter Männer,<br />

die Unterwürfigkeit der Jungen, die Männlichkeitsrituale in den Druckereien <strong>und</strong> vor allem<br />

der Ausschluß von Frauen schwinden dahin."<br />

Cockburn betont den politischen Charakter der Konstruktion von Männlichkeit,<br />

<strong>und</strong> sie betont deren Wandlungsfähigkeit. Einen ähnlichen Standpunkt<br />

nimmt ein kanadisches Forscherteam in „Recasting Steel Labour" ein, eine<br />

der ersten Männerstudien, die Umfrage-Forschung <strong>und</strong> Ethnographie verbindet.<br />

In der Stahlfabrik von Hamilton begleitete ein dramatischer Einstellungswandel<br />

gegenüber weiblichen Kollegen <strong>und</strong> traditionellen Männlichkeitsideologien<br />

die gewerkschaftlichen Bemühungen gegen eine geschlechtliche<br />

Diskriminierung. Aber diese Bemühungen wurden von Rationalisierungsmaßnahmen<br />

der Unternehmensführung zunichte gemacht, so daß sich<br />

im Endeffekt weniger am <strong>Geschlecht</strong>erverhältnis änderte als möglich gewesen<br />

wäre. "<br />

63 Zur Dialektik in Schulen siehe Connell 1989, beim Sport siehe Klein 1993.<br />

64 Cockburn 1983 (S. 1711). Ihre späteren Arbeiten haben den politischen Charakter<br />

des Prozesses stärker h<strong>eraus</strong>gestrichen, Cockburn 1991. Über Stahlarbeiter siehe<br />

Corman, Luxton, Livingstone <strong>und</strong> Seccombe 1993.<br />

57


Trotz der Betonung der Mannigfaltigkeit <strong>und</strong> Widersprüchlichkeit von<br />

Männlichkeit haben nur wenige Forscher in Frage gestellt, daß die soziale Konstruktion<br />

von Männlichkeit ein systematischer <strong>und</strong> damit kein zufälliger Prozeß<br />

ist. Hervorgehoben wurde dieser Aspekt vor allem in Großbritannien bei den<br />

bisher bedeutendsten Versuchen, eine allgemeine Theorie der Männlichkeit zu<br />

entwerfen. Angesiedelt war dieser Versuch im linken politischen Lager, <strong>und</strong> er<br />

reflektiert die gr<strong>und</strong>sätzliche Infragestellung herkömmlicher Formen linker Politik<br />

durch Männer. Jeff Hearn benutzt in „Gerader of Oppression" die marxistische<br />

Analyse, um die männliche Aneignung der weiblichen Arbeitskraft zu<br />

untersuchen. Er entwirft ein ambitiöses (wenn auch irgendwie willkürliches)<br />

Modell des Patriarchats als einer unpersönlichen <strong>und</strong> vielschichtigen Struktur<br />

von Beziehungen zwischen Männern, welche die Ausbeutung von Frauen gewährleistet<br />

- ein nennenswerter Fortschritt gegenüber dichotomen Patriarchatstheorien.<br />

Victor Seidler hat in „Rediscovering Masculinity" mit der Kultur<br />

versucht, was Hearn mit der Sozialstruktur gemacht hat: die alltäglichen Erfahrungen<br />

von Männer im übergreifenden System des Patriarchats zu verorten.<br />

Seidler betont die Kontrolle von Gefühlen <strong>und</strong> die Abwertung der Sexualität<br />

bei der Konstruktion von Männlichkeit, <strong>und</strong> verbindet beides mit der Überbetonung<br />

abstrakter Vernunft in der intellektuellen Tradition des Abendlandes.<br />

Diese Forschung ist noch nicht abgeschlossen. Trotzdem hat sie überzeugend<br />

bewiesen, daß Männlichkeit als ein Aspekt umfassenderer sozialer Strukturen<br />

<strong>und</strong> Prozesse begriffen werden muß."<br />

Abgesehen von Hearn arbeitet die neue Soziologie der Männlichkeit<br />

nicht mit deterministischen Modellen. Um Sartres Begriff zu verwenden, sie<br />

untersucht verschiedenste Entwürfe von Männlichkeit, die Bedingungen,<br />

unter denen sie entstehen sowie die Bedingungen, die sie selbst verursachen.<br />

Wissen dieser Art kann nicht Teil einer positivistischen Männlichkeitswissenschaft<br />

sein. Es wird aber in jedem Fall ein Licht auf die soziale Praxis<br />

werfen, <strong>und</strong> hat in dieser Hinsicht viel gemein mit dem Wissen über Männlichkeit,<br />

das aus den sozialen Bewegungen stammt.<br />

Politisches<br />

Wir haben nun die wichtigsten Formen organisierten Wissens über Männlichkeit<br />

betrachtet, aus der therapeutischen Praxis <strong>und</strong> aus der wissenschaftlichen<br />

Forschung. Aber es gibt noch andere Möglichkeiten, etwas über Männlichkeit<br />

zu erfahren. In vielen Praxisfeldern, vielleicht in allen, entsteht Wissen.<br />

Die sozialen Auseinandersetzungen über <strong>Geschlecht</strong>erfragen haben si-<br />

65 Hearn 1987, Seidler 1989. Andere von der britischen Linken haben ähnliche Themen<br />

behandelt, z.B. Brittan 1989, Hearn <strong>und</strong> Morgan 1990, <strong>und</strong> Segal 1990 (wird im<br />

nächsten Abschnitt diskutiert).<br />

58<br />

cherlich hoch bedeutsame Informationen hervorgebracht <strong>und</strong> das Verstehen<br />

von Männlichkeit beeinflußt.<br />

Diese Art von Wissen ist anders organisiert als therapeutisches oder wissenschaftliches<br />

Wissen. Es ist nicht als fester Bestand zu finden, sondern in<br />

gedrängter Form in Programmen, Polemiken, Strategiedebatten. Wissen<br />

schaftliches Wissen beschreibt eher, es geht um das, was ist oder war. Politisches<br />

Wissen ist eher aktiver Natur <strong>und</strong> bezieht sich darauf, was gemacht<br />

werden kann <strong>und</strong> was hingenommen werden muß.<br />

Politisches Wissen über Männlichkeit hat sich in verschiedenen Kontexten<br />

h<strong>eraus</strong>gebildet. In der antisexistischen Männerbewegung wurde ständig<br />

darüber diskutiert. Auch in konservativen Parteien <strong>und</strong> f<strong>und</strong>amentalistischen<br />

Kirchen gibt es einen Diskurs über Männlichkeit, der allerdings auf eine<br />

Wiederherstellung dessen abzielt, was er unter „traditioneller" Familie (die<br />

leider immer noch sehr modern ist) versteht." Mit Abstand am wichtigsten,<br />

was Originalität <strong>und</strong> intellektuelles Vermögen angeht, sind jedoch die Männlichkeitsanalysen<br />

zweier oppositioneller Bewegungen, nämlich der Schwulen-<br />

<strong>und</strong> der Frauenbewegung.<br />

Schwule Männer, die sich für ihre Rechte, Sicherheit <strong>und</strong> kulturellen<br />

Raum einsetzen, handelten aufgr<strong>und</strong> der erfahrenen Ablehnung <strong>und</strong> Schikanen<br />

durch heterosexuelle Männer. Der Begriff „Homophobie" wurde in den<br />

70er Jahren geprägt, um diese Erfahrung zu beschreiben. Eine der zentralen<br />

Einsichten der Schwulenbewegung ist, wie tief <strong>und</strong> allgegenwärtig die Angst<br />

vor Homosexualität ist, <strong>und</strong> wie eng sie mit vorherrschenden Formen von<br />

Männlichkeit verknüpft ist.'<br />

Schwule haben aber auch auf Seiten heterosexueller Männer eine Faszination<br />

für Homosexualität festgestellt. Einige halten Homophobie für den<br />

Ausdruck eines geheimen Verlangens, aus dem Bewußtsein verdrängt <strong>und</strong> zu<br />

Haß gewandelt. Diesen Standpunkt findet man vor allem bei von Freud beeinflußten<br />

schwulen Autoren, wie zum Beispiel Mario Mieli in „Homosexuality<br />

and Liberation". Andere haben bei heterosexuellen Männern eine<br />

sonderbare Bereitschaft bemerkt, sich verführen zu lassen, den richtigen<br />

Zeitpunkt <strong>und</strong> einen abgeschiedenen Ort vorausgesetzt; oder wie weitverbreitet<br />

Homosexualität in rein männlichen Institutionen , wie Armee oder<br />

Gefängnis, geworden ist. Dies stand hinter dem Slogan: „Jeder normale<br />

Mann ist ein Ziel der Schwulenbewegung! ° Hier wird auf die weitgehende,<br />

aber meist stillschweigende Sexualisierung männlicher Sozialwelten hingewiesen,<br />

die in der wissenschaftlichen Forschung kaum registriert wird."<br />

66 Am deutlichsten wird das in den Publikationen der Männerbewegung, z. B. „Achilles<br />

Heel" (Großbritannien), „Changing Men" (USA) <strong>und</strong> „XY" (Australien). Ein t<strong>und</strong>amentalistisch-religiöser<br />

Standpunkt findet sich bei Cole 1974.<br />

67 Weinberg 1973, Herek 1986.<br />

68 Mieli 1980 über geheime Begierden; Connell, Davis <strong>und</strong> Dowsett 1993 über Sexualisierung.<br />

59


Homophobie ist nicht bloß eine Einstellung. Die Feindseligkeit „normaler"<br />

Männer gegenüber Schwulen hat praktische Konsequenzen, die von beruflicher<br />

Diskriminierung über Verunglimpfung in den Medien, bis zu Ge<br />

fängnisstrafen <strong>und</strong> manchmal sogar Mord reichen - das Spektrum, das die<br />

Schwulenbewegung „Unterdrückung" nennt. Bei diesen Handlungen geht es<br />

nicht nur um die Schädigung von Individuen. Man zieht dadurch auch soziale<br />

Grenzen, definiert „richtige" Männlichkeit durch ihren Abstand von dem,<br />

was man ablehnt. Die frühe Schwulenbewegung verstand die Unterdrückung<br />

der Homosexuellen als Teil einer größeren Aufgabe, nämlich der Aufrechterhaltung<br />

der sozialen Ordnung, <strong>und</strong> man sah oft einen Zusammenhang zur<br />

Frauenunterdrückung."<br />

In der homophoben Ideologie verschwimmt die Grenze zwischen „normal"<br />

<strong>und</strong> „schwul" mit der Grenze zwischen männlich <strong>und</strong> weiblich, wobei<br />

Schwule als verweiblichte Männer <strong>und</strong> Lesben als vermännlichte Frauen be<br />

trachtet werden. Aber Schwule kennen auch das homosexuelle Verlangen bei<br />

offensichtlich sehr maskulinen Männern. Das taktische Vorgehen der Schwulenbewegung<br />

beinhaltete unverblümte Angriffe auf die <strong>Geschlecht</strong>erkonventionen<br />

(sich konsequent wie eine Frau zu kleiden, öffentliche „kiss-ins" ), die<br />

nun von der „Queer Nation" wieder aufgegriffen werden. Die Stile in den<br />

schwulen Szenen der westlichen Metropolen haben sich von tuntig-effeminiert<br />

zu eher männlich-hart entwickelt, können sich aber infolge der<br />

„Queer" -Bewegung auch wieder in die andere Richtung bewegen.<br />

Das kollektive Wissen der Schwulen beinhaltet auch die Ambiguität des<br />

sozialen <strong>Geschlecht</strong>s, die Spannung zwischen Körper <strong>und</strong> Identität, <strong>und</strong> Widersprüche<br />

in <strong>und</strong> um Männlichkeit.<br />

Die Frauenbewegung hatte mit der Schwulenbewegung das Konzept der<br />

„ Unterdrückung" gemeinsam (<strong>und</strong> auch mit der „black power" -Bewegung in<br />

den USA), setzte aber andere Schwerpunkte. Der feministischen Analyse<br />

ging es um die strukturelle Position von Männern. Die Frauenforschung dokumentierte<br />

den männlichen Einfluß auf Regierungen, Unternehmen <strong>und</strong><br />

Medien; sie dokumentierten die besseren Arbeitsplätze, höheren Einkommen<br />

<strong>und</strong> Vermögensverhältnisse von Männern; die männliche Kontrolle über<br />

Gewaltmittel; <strong>und</strong> die übergreifende Ideologie, die Frauen zwingt, zu Hause<br />

zu bleiben <strong>und</strong> ihre Forderungen nach Gleichheit aufzu<strong>geben</strong>. Heterosexuelle<br />

Männern erscheinen in den Augen der Feministinnen eher wie eine herrschende<br />

Klasse denn als ein Objekt der Befreiung. Der Begriff „Patriarchat"<br />

fand um 1970 Verbreitung, um dieses System der <strong>Geschlecht</strong>erdominanz zu<br />

beschreiben."<br />

Das Patriarchat spielt sich natürlich auch auf einer sehr persönlichen Ebene<br />

ab. Schriften aus den Anfängen der Frauenbewegung heben die Familie als<br />

69 Altman 1972, Watney 1980.<br />

70 Morgan 1970, Mitchell 1981. Einen nützlichen Überblick über das Konzept findet<br />

man bei Walby 1989.<br />

6 0<br />

Stätte der Frauenunterdrückung hervor. Theoretikerinnen <strong>und</strong> Aktivistinnen<br />

dokumentierten die unbezahlte Arbeit von Frauen für ihre Ehemänner, die Gefangenschaft<br />

der Mütter im Haus <strong>und</strong> die männlichen Privilegien im Alltag.<br />

Lee Comer schrieb über „Wedlocked Women", Selma James <strong>und</strong> das „Power<br />

for Women" -Kollektiv forderten Lohn für Hausarbeit. Viele Feministinnen erprobten<br />

neue Familienformen <strong>und</strong> versuchten oft mit den Männern eine neue<br />

Verteilung der Arbeit <strong>und</strong> der Kinderversorgung auszuhandeln."<br />

Mit der Zeit wandelte sich jedenfalls das Männerbild des westlichen Feminismus<br />

vom häuslichen Patriarchen, der unentgeltliche Frauenarbeit ausnutzt,<br />

<strong>und</strong> konzentrierte sich auf die männliche Gewalt gegen Frauen. Frau<br />

enhäuser richteten die öffentliche Aufmerksamkeit auf die häusliche Gewalt,<br />

<strong>und</strong> Kampagnen gegen Vergewaltigung arbeiteten mit dem Argument, das<br />

jeder Mann ein potentieller Vergewaltiger sei. Die Anti-Pornographie-<br />

Debatte führte in den 80er Jahren diesen Gedanken fort <strong>und</strong> betrachtete die<br />

männliche Sexualität als von Gewalt durchdrungen <strong>und</strong> Pornographie als ein<br />

Angriff gegen Frauen. Der Standpunkt, daß der vorherrschende Typ von<br />

Männlichkeit an sich gewalttätig sei, nicht nur eine abweichende Gruppe,<br />

verbreitete sich auch in der Frauenfriedensbewegung <strong>und</strong> in der Umweltschutzbewegung."<br />

Feministinnen kommen zu sehr unterschiedlichen Auffassungen, was die<br />

Veränderungsbereitschaft <strong>und</strong> -fähigkeit heterosexueller Männer anbelangt:<br />

ob bessere Beziehungen ausgehandelt werden können, oder ob die Frauen<br />

feindlichkeit so allgegenwärtig ist, daß Abschottung <strong>und</strong> Druck nötig sind,<br />

um Dinge zu verändern. Schon allein die wirtschaftlichen Vorteile legen es<br />

nahe, daß die meisten Männer nur ein begrenztes Interesse an Reformen aufbringen<br />

können. Barbara Ehrenreich hat in „Die Herzen der Männer" diese<br />

Zweifel zu der These komprimiert, daß Männer in den USA seit den 40er<br />

Jahren aus Beziehungen flüchten. Die Männerbewegung wurde von Feministinnen<br />

oft als Ausweg für die Männer betrachtet, am Nutzen des Feminismus<br />

teilzuhaben, ohne ihre gr<strong>und</strong>legenden Privilegien aufzu<strong>geben</strong>, eine Art<br />

Modernisierung des Patriarchats, aber nicht dessen Abschaffung. Die Skepsis<br />

des Feminismus gegenüber dem „neuen Vater", dem „neuen, empfindsamen<br />

Mann", oder anderen Bildern von einer netteren, sanfteren Männlichkeit, ist<br />

weitverbreitet."<br />

Auf der anderen Seite begrüßen viele Feministinnen Zeichen des Fortschritts<br />

bei Männern, haben Unterschiede zwischen Männern <strong>und</strong> deren Vielschichtigkeit<br />

in ihren Beziehungen zu Frauen wahrgenommen. Phyllis Ches<br />

ler hat beispielsweise einen schwungvollen Essay „About Men" verfaßt, der<br />

71 Comer 1974; Dalla Costa <strong>und</strong> James 1972. Segal 1983 dokumentiert die britischen<br />

Diskussionen über die Rekonstruktion von Familienbeziehungen.<br />

72 Einen Überblick über diese Strömung feministischen Denkens liefert Segal 1987, mit<br />

deren Bedeutung beschäftigt sich Smith 1989.<br />

73 Ehrenreich 1984. Die feministische Skepsis gegenüber der akademischen Männerbewegung<br />

findet sich bei Canaan <strong>und</strong> Griffin 1990.<br />

61


die Vielfältigkeit emotionaler Bindungen zwischen Männern <strong>und</strong> Frauen<br />

ausleuchtet. Die systematischste <strong>und</strong> durchdringendste feministische Männlichkeitsanalyse<br />

in Lynne Segals „Slow Motion" trifft vor allem Aussagen<br />

über die Unterschiede zwischen Männern <strong>und</strong> deren Folgen für die feministische<br />

Politik. Segal betont, daß das Tempo von Reformen nicht allein von der<br />

männlichen Psyche bestimmt wird. Auch die realen Umstände sind bedeutend,<br />

zum Beispiel ob es die ökonomischen Bedingungen erlauben, daß Väter<br />

ganz bei ihren Kleinkindern bleiben. Hier überschneiden sich die strategischpolitischen<br />

Argumente des Feminismus mit der sozialwissenschaftlichen Forschung<br />

zur institutionellen Dimensionen von Männlichkeit."<br />

Die schwule <strong>und</strong> die feministische Theorie teilen eine Wahrnehmung der<br />

vorherrschenden Männlichkeit (zumindest in den Industrieländern), die<br />

gr<strong>und</strong>sätzlich mit Macht verknüpft ist, zur Dominanz neigt, <strong>und</strong> wegen der<br />

Machtverteilung kaum empfänglich für Veränderungen ist. In einigen Formulierungen<br />

wird Männlichkeit praktisch mit der Ausübung von Macht in<br />

reinster Form gleichgesetzt.<br />

Diese Kritik ist für viele heterosexuelle Männer nur schwer hinzunehmen.<br />

Gerade die Verbindung von Männlichkeit <strong>und</strong> Macht wird von antifeministischen<br />

Strömungen innerhalb der Männerbewegung beständig geleugnet.<br />

Eine Leugnung, die von populärpsychologischen <strong>und</strong> neojungianischen<br />

Männlichkeitstheorien unterstützt wird (wie wir im neunten Kapitel sehen<br />

werden). Trotzdem ist diese Einsicht von gr<strong>und</strong>legender Wichtigkeit. Ich<br />

werde sie im Zusammenhang mit psychoanalytischen <strong>und</strong> soziologischen<br />

Theorien im Verlauf des Buches untersuchen.<br />

Sobald man die institutionelle Dimension des sozialen <strong>Geschlecht</strong>s erkannt<br />

hat, ist folgende Frage kaum zu vermeiden: Ist wirklich Männlichkeit das<br />

Problem in der <strong>Geschlecht</strong>erpolitik? Oder sind es vielmehr die institutionellen<br />

Vereinbarungen, die zu Ungleichheit <strong>und</strong> Spannungen führen, aber den<br />

kritischen Blick auf „Männlichkeit" gelenkt haben?<br />

Es ist durchaus wichtig, die Unabhängigkeit der sozialen Dynamik anzuerkennen,<br />

statt sie von der männlichen Psyche abzuleiten. Und es ist zugleich<br />

schwierig, die Erfahrungen Homosexueller mit der Schwulenfeindlichkeit zu<br />

leugnen, die Erfahrungen von Frauen mit der Misogynie, oder das feministische<br />

Argument vom Stellenwert der sexuellen Begehrens für die Reproduktion<br />

des Patriarchats. Was immer in Fragen der Männlichkeit bedeutsam ist,<br />

immer sind Persönlichkeit <strong>und</strong> soziale Verhältnisse involviert, <strong>und</strong> besonders<br />

die Wechselbeziehung zwischen beiden Ebenen.<br />

74 Chesler 1978; Segal 1990.<br />

Gibt es in dieser Wechselbeziehung einen stabilen Gegenstand der Erkenntnis?<br />

Kann es eigentlich eine Wissenschaft von der Männlichkeit <strong>geben</strong>?<br />

Als es um Ethnographie ging, habe ich Stratherns Nachweis erwähnt,<br />

daß die <strong>Geschlecht</strong>erkategorien bei den Hagen anders funktionieren als die<br />

analogen Kategorien in der westlichen Kultur. Wenn ein Mann, eine Frau,<br />

oder ein Klan alle „wie ein Mann" sein können, aber es nicht sein müssen,<br />

weil es von ihren Taten abhängt; <strong>und</strong> wenn „es eine Beleidigung für eine<br />

Frau ist, für beispielhafte weibliche Züge h<strong>eraus</strong>gehoben zu werden", dann<br />

ist klar, daß die <strong>Geschlecht</strong>erkonzepte der Hagen die Welt in einer anderen<br />

Weise strukturieren als westliche <strong>Geschlecht</strong>erkonzepte. Verwendet man<br />

umgekehrt unsere Konzepte von <strong>Geschlecht</strong>sidentität, muß man die sozialen<br />

Prozesse bei den Hagen mißdeuten.<br />

Diskontinuitäten dieser Art schließen eine positivistische Männlichkeitswissenschaft<br />

logischerweise aus. Es gibt kein männliches Wesen, dessen<br />

Erscheinungsformen in allen G<strong>esellschaf</strong>ten wir generalisieren könnten. Was<br />

mit dem Begriff in verschiedenen Fällen bezeichnet wird, ist logisch nicht<br />

miteinander vereinbar.<br />

Der Positivismus kennt einen Fluchtweg aus diesem Dilemma. Was trotz<br />

aller kulturellen Wandlungen mehr oder weniger konstant bleibt, ist die<br />

Anatomie <strong>und</strong> Physiologie des männlichen Körpers. Man kann zu einer Wis<br />

senschaft vom Mann gelangen, indem man „Männlichkeit" als die Persönlichkeit<br />

eines jeden definiert, der einen Penis besitzt, ein Y-Chromosom <strong>und</strong><br />

eine gewisse Menge an Testosteron. Ein neueres französisches Buch über<br />

Männlichkeit, eines der besseren unter den populärwissenschaftlichen, trägt<br />

einfach den Titel „XY°. Das ist vielleicht, was die Idee von „Männerforschung"<br />

im Gr<strong>und</strong>e impliziert."<br />

Auf diese Weise löst man zwar die logischen Schwierigkeiten, erhält dadurch<br />

aber eine wertlose Wissenschaft. Die Unbestimmtheiten wären nicht<br />

handhabbar: welche Handlung irgendeines Mannes irgendwo auf der Welt<br />

wäre nicht Ausdruck von Männlichkeit? In einem solchen gedanklichen<br />

Rahmen wäre es unmöglich, eines der Hauptthemen, die die Psychoanalyse<br />

aufgebracht hat, zu erforschen: Männlichkeit in Frauen <strong>und</strong> Weiblichkeit in<br />

Männern. Wenn wir glauben sollten, die soziale Welt mittels einer biologischen<br />

Demarkation begreifen zu können, mißverstehen wir das Verhältnis<br />

zwischen dem Körper <strong>und</strong> sozialen Prozessen (wie im zweiten Kapitel gezeigt<br />

werden wird).<br />

Männlichkeit <strong>und</strong> Weiblichkeit sind in sich relationale Konzepte, die sich<br />

aufeinander beziehen <strong>und</strong> erst im Verhältnis zueinander Bedeutung gewinnen,<br />

als eine soziale Grenzziehung <strong>und</strong> als kultureller Gegensatz. Dies trifft<br />

auch zu, wenn man den sich wandelnden Inhalt dieser Grenzziehung in ver-<br />

75 Badinter 1993. Kemper 1990 hat die Testosteron-Forschung gesichtet <strong>und</strong> zeigt die<br />

Verwobenheit sozialer <strong>und</strong> biologischer Ursachen.<br />

62 63


schiedenen G<strong>esellschaf</strong>ten <strong>und</strong> zu verschiedenen Zeiten berücksichtigt.<br />

Männlichkeit als Gegenstand der Erkenntnis steht immer in Beziehung.<br />

Um es noch etwas deutlicher auszudrücken, das <strong>Geschlecht</strong>erverhältnis<br />

konstituiert erst einen kohärenten Erkenntnisgegenstand für die Wissenschaft.<br />

Wissen über Männlichkeit entsteht, wenn man versucht, das <strong>Geschlecht</strong>erver<br />

hältnis zu verstehen. In Vorwegnahme der Definition aus dem dritten Kapitel:<br />

Männlichkeiten sind durch das <strong>Geschlecht</strong>erverhältnis strukturierte Konfigurationen<br />

von Praxis. Sie sind von Gr<strong>und</strong> auf historisch; <strong>und</strong> ihre Entstehung <strong>und</strong><br />

Wiederherstellung ist ein politischer Prozeß, der das Interessengleichgewicht in<br />

der G<strong>esellschaf</strong>t <strong>und</strong> die Richtung sozialen Wandels beeinflußt.<br />

Es ist möglich, systematisches Wissen über solche Gegenstände zu erlangen,<br />

aber dieses Wissen paßt nicht in ein Modell positivistischer Wissenschaft.<br />

Untersuchungen einer historischen, politischen Wirklichkeit müssen<br />

mit der Kategorie „Möglichkeit" arbeiten. Sie versuchen dabei eine Welt zu<br />

erfassen, die erst durch soziales Handeln entsteht, vor dem Hintergr<strong>und</strong> der<br />

nicht realisierten Möglichkeiten ebenso wie der realisierten. Ein Wissen solcher<br />

Art gründet sich auf einer Kritik des Wirklichen, nicht auf einer seiner<br />

bloßen Reflexion.<br />

Kritische Sozialwissenschaft bedarf einer ethischen Gr<strong>und</strong>linie, die empirisch<br />

in den untersuchten Situationen verankert ist. Die Gr<strong>und</strong>linie dieses<br />

Buches ist soziale Gerechtigkeit: die objektive Möglichkeit eines gerechten<br />

<strong>Geschlecht</strong>erverhältnisses, eine Möglichkeit, die manchmal verwirklicht ist<br />

<strong>und</strong> manchmal nicht. Von einer ethischen Gr<strong>und</strong>haltung auszugehen, bedeutet<br />

nicht, bestimmte Werte willkürlich - ohne Bezug zum Erkenntnisvorgang<br />

- zu wählen. Vielmehr gilt es den gr<strong>und</strong>legend politischen Charakter des<br />

Wissens über Männlichkeit anzuerkennen. Wir können das als erkenntnistheoretischen<br />

Vorzug betrachten, statt als Erschwernis.'<br />

In diesem Sinne ist eine sinnvolle Wissenschaft von der Männlichkeit<br />

möglich. Sie ist Teil einer kritischen Wissenschaft von den <strong>Geschlecht</strong>erverhältnissen<br />

<strong>und</strong> deren geschichtlicher Entwicklung. Und dies wiederum ist<br />

Teil der umfassenderen Erforschung der menschlichen Möglichkeiten <strong>und</strong> ihrer<br />

Negationen, die beide sowohl Sozialwissenschaft als auch praktische Politik<br />

erforderlich machen.<br />

76 Mein Argument bezieht sich hier auf die Kritische Theorie der Frankfurter Schule,<br />

dennoch möchte ich die Bedeutung empirischen Wissens für die Kritik hervorheben.<br />

Die Kritik sollte wissenschaftlicher sein als der kritische Positivismus: mit Fakten<br />

behutsam umgehen, die soziale Realität gründlich untersuchen. Nützliche Modelle<br />

wurden in Pädagogik-Studien entwickelt: Giroux 1983, Sullivan 1984, Wexler 1992.<br />

64<br />

Argumente für einen Wandel von Männlichkeit schlagen oft fehl. Nicht aufgr<strong>und</strong><br />

von Gegenargumenten, die gegen einen Wandel sprechen, sondern<br />

weil man glaubt, daß Männer sich nicht ändern können. Und deshalb sei es<br />

zwecklos oder gar gefährlich, es überhaupt zu versuchen. In der Massenkultur<br />

herrscht die Ansicht vor, es gäbe hinter dem Auf <strong>und</strong> Ab des Alltags eine<br />

unveränderliche, wahre Männlichkeit. Man spricht von „richtigen Männern",<br />

„natürlicher Männlichkeit" <strong>und</strong> von der „Tiefenstruktur von Männlichkeit".<br />

Vorstellungen dieser Art hört man von erstaunlich vielen Seiten: von der<br />

mythopoetischen Männerbewegung, über die Jungsche Psychoanalyse, dem<br />

christlichen F<strong>und</strong>amentalismus, bis zu Soziobiologen <strong>und</strong> essentialistischen<br />

Strömungen des Feminismus.<br />

Wahre Männlichkeit scheint sich fast immer vom männlichen Körper abzuleiten<br />

- einem männlichen Körper innewohnend oder etwas über einen<br />

männlichen Körper ausdrückend. Der Körper forciert <strong>und</strong> lenkt Handlungen<br />

(z.B. Männer sind von Natur aus aggressiver als Frauen; Vergewaltigung ist<br />

Folge eines unkontrollierbaren Verlangens oder ein angeborener Drang zur<br />

Gewalt) oder setzt dem Handeln auch Grenzen (z.B. Männer kümmern sich<br />

naturgemäß nicht um Kinder; Homosexualität ist unnatürlich, <strong>und</strong> deshalb<br />

auf eine perverse Minderheit beschränkt).<br />

Diese Überzeugungen sind ein strategischer Teil der modernen <strong>Geschlecht</strong>erideologie,<br />

zumindest in der englischsprachigen Welt. Deshalb ist<br />

es die vordringlichste Aufgabe einer sozialwissenschaftlichen Analyse, die<br />

Körper von Männern <strong>und</strong> deren Beziehungen zu Männlichkeit zu verstehen.<br />

Zwei gegensätzliche Konzepte haben in den letzten Jahrzehnten die<br />

Diskussion darüber bestimmt. Das erste Konzept übersetzt im Prinzip die<br />

herrschende Ideologie in die Sprache der Biologie <strong>und</strong> hält den Körper für<br />

eine natürliche Maschine, welche die <strong>Geschlecht</strong>sunterschiede produziert -<br />

aufgr<strong>und</strong> der Unterschiede hinsichtlich der Gene, der Hormone oder der<br />

unterschiedlichen Aufgaben bei der Fortpflanzung. Der andere Ansatz, vor<br />

allem in den Human- <strong>und</strong> Sozialwissenschaften zu finden, hält den Körper<br />

mehr oder weniger für eine neutrale Oberfläche oder eine Landschaft, in<br />

65


die ein sozialer Symbolismus eingeprägt wird. Betrachtet man diese beiden<br />

Ansätze als eine neue Auflage der Debatte „Natur vs. Erziehung", dann haben<br />

andere eine Art Kompromiß dazu vorgeschlagen: Sowohl Biologie als auch soziale<br />

Einflüsse wirken beim Entstehen der Verhaltensunterschiede zwischen<br />

den <strong>Geschlecht</strong>ern zusammen.<br />

Im folgenden Kapitel werde ich behaupten, daß alle drei Sichtweisen<br />

falsch sind. Wir können das Verhältnis zwischen Körper <strong>und</strong> Männlichkeit<br />

besser verstehen. Aber dafür bedarf es mehr als abstrakter Argumente.<br />

Deshalb werde ich - ein wenig ungewöhnlich - einige Beispiele aus der<br />

Biographieforschung anführen, die ausführlicher im zweiten Teil präsentiert<br />

wird.<br />

Seit die Fähigkeit der Religion zur Rechtfertigung der <strong>Geschlecht</strong>erideologie<br />

geschw<strong>und</strong>en ist, soll nun die Biologie diese Lücke füllen. Das Bedürfnis<br />

läßt sich ablesen am enormen Hunger der konservativen Massenmedien<br />

nach wissenschaftlichen Entdeckungen angeblicher <strong>Geschlecht</strong>sunterschiede.<br />

Am besten gefällt mir die Geschichte, daß Frauen sich mit dem Einparken<br />

schwertun, weil ihr Gehirn anders funktioniert als das der Männer. (Es<br />

gibt keine Hinweise, daß es überhaupt einen <strong>Geschlecht</strong>sunterschied beim<br />

Einparken gibt.)<br />

Die Spekulation über Männlichkeit <strong>und</strong> Weiblichkeit ist eines der tragenden<br />

Elemente der Soziobiologie. Dieser wiederbelebte Versuch einer<br />

evolutionären Begründung menschlicher G<strong>esellschaf</strong>ten ist in den 70er<br />

Jahren in Mode gekommen. Ein frühes Beispiel dieses Genre ist Lionel Tigers<br />

„Men in Groups" , worin eine vollständige biologisch-reduktionistische<br />

Theorie von Männlichkeit dargeboten wird, die auf der Idee beruht,<br />

daß unsere Vorfahren Jäger waren. Einer von Tigers Ausdrücken - „male<br />

bonding" - wurde sogar geläufig.<br />

Nach diesen Theoretikern wäre der männliche Körper der Träger einer<br />

natürlichen Männlichkeit, entstanden durch evolutionären Druck, der auf die<br />

menschliche Rasse ausgeübt worden ist. Wir erben zusammen mit unseren<br />

männlichen Genen die Neigung zu Aggression, Familienleben, Konkurrenzdenken,<br />

politischer Macht, Hierarchie, Revierdenken, Promiskuität <strong>und</strong><br />

Männerbünden. Die Liste variiert von Autor zu Autor ein wenig, der Beigeschmack<br />

bleibt derselbe. Der Nestor der Soziobiologie, Edward Wilson,<br />

drückt es so aus: „Die physiologischen <strong>und</strong> anlagebedingten Unterschiede<br />

zwischen Männern <strong>und</strong> Frauen haben sich durch die Kultur zu einer universalen<br />

männlichen Dominanz verstärkt." Etwas spezifischer behaupten andere,<br />

daß die derzeitigen sozialen Arrangements das Ergebnis unserer Drüsen<br />

<strong>und</strong> Hormone sei: das Patriarchat beispielsweise gründet sich auf den „Aggressionsvorteil"<br />

der Männer gegenüber Frauen.'<br />

Die Theorie von der hormonell bedingten Männlichkeit ist ebenso wie<br />

die Theorie von der unterschiedlichen Gehirnstruktur bei den <strong>Geschlecht</strong>ern<br />

zu einer journalistischen Selbstverständlichkeit geworden. Hier zum Beispiel<br />

der Anfang eines kürzlich erschienenen Zeitungsartikels über die Sicherheit<br />

beim Snowboardfahren:<br />

„Der wahnsinnigste, gefährlichste Cocktail der Welt ist nicht der ,Zombie',<br />

der Harvey Wallbanger', oder gar der berüchtigte Singapore Sling'. Es<br />

ist die heiß-rote Mischung aus Testosteron <strong>und</strong> Adrenalin, die durch die<br />

Adern von Teenagern <strong>und</strong> jungen Männern sprudelt. Deshalb sind 95% der<br />

Verletzten beim Snowboarden Männer unter Dreißig, <strong>und</strong> das Durchschnittsalter<br />

der Verletzten ist 21." Z<br />

Diese von der Soziobiologie propagierte natürliche Männlichkeit ist fast<br />

zur Gänze eine Fiktion. Man geht dabei von deutlichen Unterschieden hinsichtlich<br />

Verhalten <strong>und</strong> Charaktereigenschaften bei Frauen <strong>und</strong> Männern aus.<br />

Wie ich im ersten Kapitel erwähnte, wurde diese Frage sehr gründlich untersucht.<br />

Im allgemeinen zeigten sich bei Intelligenz, Temperament <strong>und</strong> anderen<br />

Persönlichkeitseigenschaften überhaupt keine meßbaren Unterschiede. Wo<br />

Unterschiede vorhanden waren, fielen sie verglichen mit der Varianz innerhalb<br />

der <strong>Geschlecht</strong>er gering aus; <strong>und</strong> sogar sehr gering, wenn man die sehr<br />

unterschiedliche soziale Stellung von Männern <strong>und</strong> Frauen in Rechnung<br />

stellt. Die These von einer natürlichen Männlichkeit ließe sich nur bestätigen<br />

durch eine deutliche biologische Determinierung der <strong>Geschlecht</strong>sunterschiede<br />

bei komplexen sozialen Verhaltensformen (wie Begründung von Familien<br />

oder Armeen). Es gibt aber überhaupt keine überzeugenden Hinweise für eine<br />

Determinierung in diesem Sinne. Sogar bei relativ simplen Verhaltensformen<br />

finden sich kaum Hinweise für eine auch nur schwache biologische<br />

Determinierung. Die Hinweise für die historische <strong>und</strong> kulturübergreifende<br />

Mannigfaltigkeit des sozialen <strong>Geschlecht</strong>s sind hingegen überwältigend. Zum<br />

Beispiel gibt es Kulturen oder historische Phasen, wo es keine Vergewaltigung<br />

gibt, oder zumindest äußerst selten; wo homosexuelles Verhalten von<br />

der Mehrheit praktiziert wird (in einer bestimmten Lebensphase); wo die<br />

Mütter bei der Kinderversorgung nicht das Übergewicht haben (wo diese<br />

Aufgabe beispielsweise von den Alten, von anderen Kindern oder von Dienern<br />

übernommen wird); <strong>und</strong> wo Männer nicht als Normalfall aggressiv sind.<br />

Die Macht biologischer Determination gründet sich also nicht auf empirische<br />

Beweise. Wenn man die Argumente der Soziobiologen aufmerksam<br />

betrachtet, wie zum Beispiel Theodore Kemper in „Social Structure and Te-<br />

1 Über die frühe Soziobiologie siehe Tiger 1969, Tiger <strong>und</strong> Fox 1971 (Männerbünde);<br />

die spätere Entwicklung siehe Wilson 1978. Goldberg 1993 ist ein Fachmann für<br />

Hormone.<br />

2 „San Francisco Chronicle", 3. Februar 1994.<br />

66 67


stosterone", wird klar, daß eine monokausale Verbindung zwischen Biologischem<br />

<strong>und</strong> Sozialem nicht aufrecht erhalten werden kann; die Zusammenhänge<br />

sind viel komplexer. Kemper kommt zu dem deutlichen Schluß:<br />

„Wenn rassistische <strong>und</strong> sexistische Ideologien hierarchische soziale Arrangements<br />

aufgr<strong>und</strong> von Biologie rechtfertigen, muß die Biologie falsch sein.<br />

Die Macht dieser Denkweise liegt vielmehr in der Verwendung einer<br />

Maschinenmetapher für den Körper. Der Körper „funktioniert" <strong>und</strong> „arbeitet".<br />

Die Forscher entdecken im Verhalten einen biologischen „Mechanismus". Die<br />

„Schaltkreise" des Gehirns produzieren Männlichkeit; Männer sind genetisch<br />

zur Dominanz „programmiert"; Aggression ist ein Teil unseres „Biogramms".<br />

Sowohl akademische als auch journalistische Texte sind mit solchen Metaphern<br />

gespickt. Zum Beispiel werden wenige amerikanische Leser des eben<br />

zitierten Snowboard-Artikels die Anspielung auf das Bild des Einspritzmotors<br />

nicht bemerkt haben, kombiniert mit der Cocktail-Metapher. Dadurch<br />

werden die ungewöhnlichen Snowboardverletzungen in Beziehung gesetzt<br />

mit den allzu vertrauten Autounfällen von leichtsinnigen jungen Männern -<br />

von denen man in der Regel annimmt, sie hätten biologische Ursachen.<br />

Wenn eine Metapher geläufig wird, drückt sie der Diskussion ihren<br />

Stempel auf <strong>und</strong> beeinflußt die Wahrnehmung von Offensichtlichem. Bei<br />

Metaphern eines biologischen Mechanismus ist das sicherlich der Fall, <strong>und</strong><br />

beeinträchtigt sogar sorgfältige <strong>und</strong> gut belegte Untersuchungen (wozu die<br />

soziobiologischen meist nicht gehören). Ein gutes Beispiel ist die vieldiskutierte<br />

Studie von Julianne Imperato-McGinley <strong>und</strong> anderen. In zwei Dörfern<br />

der Domenikanischen Republik wurden 18 Fälle einer seltenen Enzymmangelkrankheit<br />

gef<strong>und</strong>en, die dazu führte, daß genetisch männliche Kinder<br />

weiblich aussehende Genitalien hatten <strong>und</strong> deshalb als Mädchen erzogen<br />

wurden. Ähnliches geschah - nach Stoller - mit amerikanischen Transsexuellen<br />

in ihrer Kindheit, was seiner Ansicht nach zu einer weiblichen <strong>Geschlecht</strong>sidentität<br />

führte. Aber bei den Fällen aus der Domenikanischen Republik<br />

änderte sich die Situation mit Beginn der Pubertät. Die normale Menge<br />

an Testosteron machte die Heranwachsenden körperlich männlicher. Es<br />

wird berichtet, daß 17 von 18 deshalb zu einer männlichen <strong>Geschlecht</strong>sidentität<br />

wechselten, <strong>und</strong> 16 übernahmen die männliche <strong>Geschlecht</strong>srolle. Die<br />

Forschungsgruppe sah darin den Beweis, daß physiologische Vorgänge sich<br />

über die soziale Konditionierung hinwegzusetzen vermögen.<br />

Wenn man diesen Forschungsartikel allerdings genauer liest, zeigt sich<br />

etwas völlig anderes. McGinley <strong>und</strong> ihre Kollegen beschreiben eine Dorfgemeinschaft<br />

mit einer sehr strikten Arbeitsteilung zwischen den <strong>Geschlecht</strong>ern<br />

<strong>und</strong> einem deutlichen kulturellen Gegensatz zwischen Männlichkeit <strong>und</strong><br />

Weiblichkeit - <strong>und</strong> beides sind soziale Tatsachen. Die Forschungsgruppe<br />

3 Kemper 1990 (S. 221). Eine ausgezeichnete Kritik der soziobiologischen Argumentation<br />

liefern Lewontin, Rose <strong>und</strong> Kamin 1988.<br />

4 Imperator-McGinley et al. 1979.<br />

68<br />

verfolgt die allmähliche Entdeckung einer sozialen Fehlentscheidung, daß<br />

die Kinder dem falschen <strong>Geschlecht</strong> zugeteilt wurden. Und dieser Fehler<br />

wurde nun sozial korrigiert. Die körperlichen Veränderungen der Pubertät<br />

haben offensichtlich einen sehr mächtigen sozialen Prozeß in Gang gesetzt,<br />

infolgedessen die Tatsachen neu bewertet <strong>und</strong> die <strong>Geschlecht</strong>szuordnung<br />

richtiggestellt wurde. Die Studie widerlegt nicht die soziale Bedeutung des<br />

<strong>Geschlecht</strong>s, sondern die These, daß eine in der frühen Kindheit gebildete<br />

<strong>Geschlecht</strong>sidentität in jedem Fall die spätere Entwicklung vorherbestimmt.<br />

Diese Studie zeigt unabsichtlich noch etwas anderes. Seitdem Mediziner<br />

die Krankheiten in diesen Dörfern erforschten, werden sie nun schon bei der<br />

Geburt erkannt <strong>und</strong> die betroffenen Kinder deshalb als Jungen erzogen. Die<br />

Medizin hat dazu beigetragen, die normale Entwicklung des sozialen <strong>Geschlecht</strong>s<br />

zu gewährleisten: Erwachsenen Männern wird eine Kindheit als<br />

Jungen zugesichert, <strong>und</strong> eine konsistente <strong>Geschlecht</strong>sdichotomie wird aufrechterhalten.<br />

Ironischerweise hat Stollers Arbeit über Transsexuelle in den<br />

USA die gleichen Auswirkungen. Chirurgische <strong>Geschlecht</strong>sumwandlungen<br />

(mittlerweile ein Routineeingriff, wenn auch immer noch ungewöhnlich) beseitigen<br />

die Inkonsistenz einer weiblichen Erscheinung .<strong>und</strong> männlicher Genitalien.<br />

Die medizinische Praxis bringt die Körper in Ubereinstimmung mit<br />

der Ideologie eines dichotomen sozialen <strong>Geschlecht</strong>s.<br />

Eine semiotische Analyse des sozialen <strong>Geschlecht</strong>s würde zu diesem<br />

Schluß kommen. Ansätze, die den weiblichen Körper als das Objekt eines<br />

sozialen Symbolismus auffassen, haben sich durch die Verbindung von Fe<br />

minismus <strong>und</strong> Kulturwissenschaft vervielfacht. H<strong>und</strong>erte von Untersuchungen<br />

haben sich mit der bildlichen Darstellung von Körpern <strong>und</strong> der Konstruktion<br />

von Weiblichkeit in Photographie, Film <strong>und</strong> anderen visuellen Künsten<br />

befaßt. Mit engerem Bezug auf alltägliche Praxis haben sich feministische<br />

Arbeiten über Mode <strong>und</strong> Schönheit beschäftigt, wie Elisabeth Wilsons<br />

„Adorned in Dreams" <strong>und</strong> Wendy Chapkis „Beauty Secrets". Sie kommen<br />

ädabei sehr komplexen <strong>und</strong> wirkungsmächtigen Systemen auf die Spur, die<br />

Körper als schön oder häßlich, schlank oder dick definieren. Konsequenz ist<br />

eine ganze Reihe körperbezogener Bedürfnisse: nach Diäten, Kosmetik, modischer<br />

Kleidung, Fitness-Programmen <strong>und</strong> ähnlichem.<br />

Dieser Ansatz wird gestützt, <strong>und</strong> teilweise auch direkt inspiriert von<br />

poststrukturalistischen Strömungen in der Soziologie. Michel Foucaults Analyse<br />

der „Disziplinierung" des Körpers ist ein Ergebnis seiner Untersuchung<br />

der Wahrheitsproduktion innerhalb von Diskursen; der Körper wurde zum<br />

Objekt neuartiger Disziplinierungswissenschaften, als neue Machtstrategien<br />

ihn einer immer genaueren <strong>und</strong> akribischeren Kontrolle unterzogen. Bryan<br />

Turners Soziologie des Körpers geht in eine vergleichbare Richtung, aber auf<br />

einem etwas materielleren Niveau. Er stellt fest, daß „Körper Objekte darstellen,<br />

die wir bearbeiten - Essen, Schlafen, Säubern, Fasten, Trainieren" ,<br />

<strong>und</strong> kommt zum Begriff der „Körperpraxen", auf individueller sowie kollek-<br />

69


tiver Ebene, um die Bandbreite zu erfassen, in welcher der Körper sozialen<br />

Prozessen ausgesetzt ist.<br />

Praxen dieser Art können auf institutioneller Ebene noch erheblich verfeinert<br />

werden. Neuere Arbeiten der Sportsoziologie machen dies deutlich<br />

<strong>und</strong> offenbaren den Zusammenhang mit der Konstruktion des sozialen Ge<br />

schlechts. Nancy Theberge demonstriert in „Reflections an the body in the<br />

sociology of sport" überzeugend, wie die unterschiedlichen Trainingsmethoden<br />

für Männer <strong>und</strong> Frauen, diese disziplinären Praxen, die den Sport sowohl<br />

vermitteln als auch konstituieren, dazu gedacht sind, geschlechtstypische<br />

Körper entstehen zu lassen. Und wenn es die soziale Disziplin nicht schafft,<br />

angemessen geschlechtstypische Körper entstehen zu lassen, die Chirurgie<br />

vermag das allemal. Die plastische Chirurgie bietet den Wohlhabenden eine<br />

außerordentliche Fülle von Möglichkeiten, einen sozial erwünschteren Körper<br />

zu formen, vom bewährten „Facelifting" <strong>und</strong> Brustimplantaten bis zu<br />

neueren Methoden der chirurgischen Gewichtsreduzierung, Größenveränderungen,<br />

<strong>und</strong> so weiter. Wie Diana Dull <strong>und</strong> Candace West in Interviews mit<br />

amerikanischen Schönheitschirurgen <strong>und</strong> deren Patienten h<strong>eraus</strong>gef<strong>und</strong>en<br />

haben, ist die plastische Chirurgie mittlerweile für Frauen ganz selbstverständlich<br />

geworden, für Männer allerdings noch nicht. Trotzdem entwickelt<br />

sich diese Technologie auch hin zu einer chirurgischen Manipulation von<br />

Männlichkeit, vor allem durch Penisimplantate, sowohl aufblasbare, als auch<br />

starre.2'<br />

Obwohl die Erforschung dieser <strong>Geschlecht</strong>ersemiotik sich weit überwiegend<br />

mit Weiblichkeit beschäftigt hat, wurde dieser Ansatz beizeiten auch<br />

auf Männlichkeit ausgedehnt. Anthony Easthope hat sich in „What a Man's<br />

Gotta Do" einen Überblick über den Stand der Forschung verschafft, <strong>und</strong> es<br />

gelang ihm problemlos, nachzuweisen, wie Männerkörper in der Bilderwelt<br />

der Werbung, des Film <strong>und</strong> der Zeitschriften in ihrer Männlichkeit modelliert<br />

werden. Es gibt auch detailliertere Untersuchungen, die bemerkenswerteste<br />

vielleicht „The Remasculinization of America" von Susan Jeffords, in der sie<br />

die Wiederherstellung <strong>und</strong> Zelebrierung von Männlichkeit in Filmen <strong>und</strong> Romanen<br />

über den Vietnamkrieg nach der amerikanischen Niederlage beschreibt.<br />

In letzter Zeit interessierte man sich auch zunehmend für geschlechtliche<br />

Zweideutigkeiten. Majorie Garbers enzyklopädische Darstellung<br />

des Transvestitentums in Literatur, Theater <strong>und</strong> Film, „Vested Interests",<br />

dehnt den semiotischen Ansatz soweit aus, um zu behaupten, daß der<br />

starke Kontrast zwischen Körper <strong>und</strong> Kleidung selbst die Entstehung der<br />

Metapher ist.'<br />

5<br />

6<br />

70<br />

Jüngste Beispiele für eine feministische visuelle Semiotik finden sich in „Feminist<br />

Review", 1994, Nr. 46. Zum Thema Mode <strong>und</strong> Schönheit siehe Wilson 1987, Chapkis<br />

1986. Zur Regulierung siehe Foucault 1976, Turner 1984, zum Sport siehe Theberge<br />

1991; zum Zusammenhang von sozialem <strong>Geschlecht</strong> <strong>und</strong> plastischer Chirurgie<br />

siehe Dull <strong>und</strong> West 1991, Tiefer 1986.<br />

Easthope 1986, Jeffords 1989, Garber 1993.<br />

Ein konstruktivistisches Herangehen an das soziale <strong>Geschlecht</strong> <strong>und</strong> an<br />

Sexualität, auf der Basis einer Semiotik des Körpers, stellt eine vollständige<br />

Antithese zur Soziobiologie dar. Statt soziale Arrangements als Folge der<br />

Körper-Maschine zu betrachten, wird der Körper zum Schauplatz sozialer<br />

Determinierung. Auch dieser Ansatz arbeitet mit leitenden Metaphern, die<br />

eher aus der Kunst, denn aus der Technik stammen: der Körper ist eine weiße<br />

Leinwand, die es zu bemalen gilt, eine Oberfläche, auf der Abdrücke hinterlassen<br />

werden, eine Landschaft, die markiert wird.<br />

Und auch dieser Ansatz bekommt trotz seiner w<strong>und</strong>erbaren Produktivität<br />

Schwierigkeiten. Weil dem Bezeichnenden so viel Aufmerksamkeit geschenkt<br />

wird, geht das Bezeichnete fast verloren. Dieses Problem wird be<br />

sonders deutlich bei jener unvermeidlich körperlichen Aktivität: Sex. Trotzdem<br />

sind die Erklärungen des Konstruktivismus gegenüber der positivistischen<br />

Sexualwissenschaft eines Kinsey oder von Masters <strong>und</strong> Johnson ein<br />

Fortschritt. Allerdings tendierte diese Betrachtungsweise zu einer Entkörperlichung<br />

der Sexualität, wie Carole Vance schreibt,<br />

„insofern der soziale Konstruktivismus behauptet, daß sexuelle Handlungen, Identitäten<br />

<strong>und</strong> sogar Begehren durch kulturelle <strong>und</strong> soziale Faktoren vermittelt werden, löst sich der<br />

Gegenstand der Betrachtung - die Sexualität - auf <strong>und</strong> droht zu verschwinden.<br />

Für das soziale <strong>Geschlecht</strong> gilt Ähnliches, wenn es zur Subjekt-Position im<br />

Diskurs wird, zum Platz, von dem aus man spricht; wenn es vor allem als Inszenierung<br />

betrachtet wird, oder wenn die inneren Widersprüche die Metapher<br />

in Frage stellen. Rosemary Pringle behauptet in „Absolute sex?", ihrem<br />

Überblick über das Verhältnis zwischen <strong>Geschlecht</strong> <strong>und</strong> Sexualität, daß eine<br />

ausschließlich semiotische oder kulturelle Erklärung des sozialen <strong>Geschlecht</strong>s<br />

nicht haltbarer wäre als der biologische Reduktionismus.' Die Oberfläche, in<br />

die die sozialen Inhalte eingeschrieben werden, ist nicht leer, <strong>und</strong> sie ist nicht<br />

unveränderlich.<br />

Der Körper ist auch in seiner reinen Körperlichkeit von großer Bedeutung.<br />

Er altert, wird krank, genießt, zeugt <strong>und</strong> gebärt. Es gibt eine nicht reduzierbare<br />

körperliche Dimension in Erfahrung <strong>und</strong> Praxis; der Schweiß kann<br />

nicht außer Acht gelassen werden. Was das betrifft, können wir sogar von der<br />

<strong>Geschlecht</strong>srollentheorie lernen. Einer der wenigen überzeugenden Aspekte<br />

der Männerrollenliteratur <strong>und</strong> der Männerbücher ist die Auflistung der Probleme<br />

mit dem männlichen Körper, von Impotenz <strong>und</strong> Altern bis zu beruflichen<br />

Ges<strong>und</strong>heitsrisiken, Verletzungen durch Gewalttätigkeit, dem Verlust<br />

sportlichen Könnens <strong>und</strong> frühem Tod. Warnung: Die männliche <strong>Geschlecht</strong>srolle<br />

kann Ihre Ges<strong>und</strong>heit gefährden.'<br />

Kann es uns also gelingen, mit Hilfe des ges<strong>und</strong>en Menschenverstandes<br />

einen Kompromiß zu finden, also sowohl Biologie als auch Kultur in einem<br />

7 Vance 1989 (S. 21)<br />

8 Pringle 1992.<br />

9 Harrison 1978, aber auch Farrell 1996, Kapitel 4.7.<br />

71


Modell des sozialen <strong>Geschlecht</strong>s zusammenzubasteln% Das ist im Prinzip das<br />

Vorgehen der <strong>Geschlecht</strong>srollentheorie, die - wie im ersten Kapitel gezeigt<br />

wurde - ein soziales Skript einer biologischen Dichotomie hinzufügt. Moderate<br />

Strömungen der Soziobiologie räumen die kulturelle Ausformung eines<br />

biologischen Imperativs ein. Eine ähnliche Position vertrat 1980 Alice Rossi,<br />

die eine der ersten feministischen Soziologinnen war:<br />

„Die Differenzierung des sozialen <strong>Geschlecht</strong>s ist nicht einfach eine<br />

Funktion der Sozialisation, der kapitalistischen Produktionsverhältnisse oder<br />

des Patriarchats. Sie gründet sich auf einem biologischen <strong>Geschlecht</strong>sdimorphismus,<br />

der die f<strong>und</strong>amentale Aufgabe hat, die Art zu erhalten." '°<br />

Demzufolge wäre Männlichkeit die soziale Ausgestaltung der biologischen<br />

Funktion „Vaterschaft".<br />

Wenn der biologische Determinismus genauso falsch ist wie der soziale<br />

Determinismus, dann ist es unwahrscheinlich, daß eine Kombination aus beidem<br />

richtig sein könnte. Es gibt Gründe für die Annahme, daß eine Verbin<br />

dung dieser beiden Analyseebenen nicht zufriedenstellen kann. Zum einen<br />

sind sie gar nicht vergleichbar. Die Biologie wurde immer für realer, für<br />

gr<strong>und</strong>legender gehalten. Sogar die Soziologin Rossi spricht davon, daß sich<br />

der soziale Prozeß auf dem <strong>Geschlecht</strong>sdimorphismus „gründet", <strong>und</strong> hält<br />

die reproduktive Funktion für „f<strong>und</strong>amental". Und in der Soziobiologie gilt<br />

das natürlich um so mehr. (Diese Metaphern, würde ich meinen, spiegeln eine<br />

völlig falsche Vorstellung vom Zusammenhang zwischen Geschichte <strong>und</strong><br />

organischer Evolution.)<br />

Auch die Differenzierungsmuster der beiden Ebenen passen nicht zusammen<br />

- obwohl dies ständig angenommen wird <strong>und</strong> sich manchmal in Begriffen<br />

wie „<strong>Geschlecht</strong>sdimorphismus im Verhalten" ausdrückt. Der soziale<br />

Prozeß kann in der Tat körperliche Unterschiede ausarbeiten (ein wattierter<br />

Büstenhalter, ein Penisfutteral, der Hosenbeutel). Der soziale Prozeß kann<br />

körperliche Unterschiede aber auch verzerren, komplizieren, ihnen zuwiderlaufen,<br />

sie verleugnen, minimieren oder modifizieren. Der soziale Prozeß<br />

kann festlegen, daß es nur ein soziales <strong>Geschlecht</strong> gibt („unisex" -Mode, geschlechtsneutrale<br />

Arbeit), oder zwei (Hollywood), oder drei (viele nordamerikanische<br />

Indianerkulturen), oder vier (europäische städtische Kultur, als<br />

man nach dem 18. Jahrh<strong>und</strong>ert damit begann, Homosexuelle auszugrenzen),<br />

oder ein ganzes Spektrum von Fragmenten, Variationen <strong>und</strong> Übergängen.<br />

Der soziale Prozeß hat auch unsere Wahrnehmung des geschlechtlichen Körpers<br />

völlig verändert, wie Thomas Laqueurs bemerkenswertes Buch über den<br />

historischen Übergang vom Ein-<strong>Geschlecht</strong>-Modell zum Zwei-<strong>Geschlecht</strong>-<br />

Modell in der Medizin, aber auch im Alltagsverständnis beweist."<br />

10<br />

11<br />

Rossi 1985 (S. 161)<br />

Zum multiplen <strong>Geschlecht</strong> siehe Williams 1986, Trumbach 1991. Die Geschichte der<br />

wissenschaftlichen Wahrnehmung des biologischen <strong>Geschlecht</strong>s beschreibt Laqueur<br />

1992.<br />

Wie wir es auch drehen <strong>und</strong> wenden, ein Kompromiß zwischen biologischer<br />

<strong>und</strong> sozialer Determination taugt nicht als Basis für eine Erklärung des<br />

sozialen <strong>Geschlecht</strong>s. Und trotzdem können wir weder den durch <strong>und</strong> durch<br />

kulturellen Charakter des sozialen <strong>Geschlecht</strong>s, noch die Gegenwärtigkeit des<br />

Körpers ignorieren. Es scheint, als wäre ein anderer Zugang zu diesem Gegenstand<br />

nötig.<br />

Dieser andere Zugang kann damit beginnen, daß wir die hohe Bedeutung akzeptieren,<br />

die der physische Aspekt von Männlichkeit <strong>und</strong> Weiblichkeit -<br />

zumindest in unserer Kultur - für die kulturelle Deutung des sozialen <strong>Geschlecht</strong>s<br />

hat. Das männliche soziale <strong>Geschlecht</strong> bedeutet unter anderem ein<br />

bestimmtes Hautgefühl, bestimmte Formen <strong>und</strong> Spannungen der Muskeln,<br />

bestimmte Körperhaltungen <strong>und</strong> Bewegungen, bestimmte Möglichkeiten<br />

beim Sex. Körperliche Erfahrungen stehen oft im Vordergr<strong>und</strong>, wenn wir uns<br />

an unser bisheriges Leben erinnern, <strong>und</strong> bestimmt somit auch unser Bewußtsein,<br />

wer oder was wir sind. Hier ein Beispiel aus einem unserer Interviews,<br />

in dem Sexualität eine große Rolle spielte.<br />

Hugh Trelawney ist ein heterosexueller Journalist um die Dreißig, der seine ersten sexuellen<br />

Erfahrungen mit 14 Jahren machte. Hugh behauptet, <strong>Geschlecht</strong>sverkehr gehabt zu<br />

haben, bevor er zu masturbieren anfing, was sehr ungewöhnlich ist. Er erinnert sich an<br />

eine magische Woche mit perfekten Wellen, dem ersten Drink in einem Hotel <strong>und</strong> an den<br />

„Beginn meines Lebens".<br />

„Das Mädchen war eine 18jährige Puppe vom Maroubrastand. Weiß der Teufel,<br />

was sie überhaupt mit mir zu tun haben wollte. Sie muß ein bißchen zurückgeblieben gewesen<br />

sein, gefühlsmäßig, wenn nicht auch geistig. Ich nehme an, daß es ihr nur um das<br />

Image ging, verstehen Sie, ich war damals schon so ein langhaariger Surf-Typ. Ich weiß<br />

noch, daß ich mich auf sie gelegt habe <strong>und</strong> nicht wußte, wohin damit, <strong>und</strong> ich dachte,<br />

mein Gott, was wird das jetzt... <strong>und</strong> als ich ihn dann endlich irgendwie hineinbekommen<br />

habe, ging es nur ein kleines Stück, <strong>und</strong> ich dachte, das ist aber nicht viel.<br />

Dann muß sie ihr Bein ein bißchen bewegt haben, <strong>und</strong> es ging weiter, <strong>und</strong> ich dachte,<br />

oh!, mein Gott, das ist toll. Und dann muß ich nach fünf oder sechs Stößen gekommen<br />

sein, <strong>und</strong> ich dachte, daß das Gefühl unerhört ist, weil ich dachte, daß ich gleich sterben<br />

würde... Während dieser Woche habe ich ein völlig anderes Gefühl für mir bekommen.<br />

Ich habe erwartet - ich weiß nicht, daß ich mehr Schamhaare bekomme, daß mein<br />

Schwanz größer wird. Aber es war so eine Woche, verstehen Sie, nach dieser Woche<br />

wußte ich, wo's lang geht."<br />

Diese Geschichte ist für das sexuelle Erwachsenwerden nicht ungewöhnlich.<br />

In fast jeder Nuance ist das komplizierte Zusammenspiel von Körper <strong>und</strong> sozialen<br />

Prozessen zu erkennen. Die Gelegenheit <strong>und</strong> das Interesse sind - wie<br />

Hugh es darstellt - sozialer Natur (die „Strandpuppe" , der „Surf-Typ"). Die<br />

notwendige Verrichtung ist physisch, „ihn hineinbekommen". Dem jungen<br />

Hugh fehlt das erforderliche Wissen <strong>und</strong> Können. Aber sein Können verbes-<br />

72 73


sert sich in der Interaktion, durch die körperliche Reaktion seiner Partnerin<br />

(„Dann muß sie ihr Bein ein bißchen bewegt haben"). Das physische Gefühl<br />

des sexuellen Höhepunkts wird sogleich interpretiert („weil ich dachte, daß<br />

ich gleich sterben würde"). Ausgelöst wird eine vertraute symbolische Reihe<br />

- Tod, Wiedergeburt, neues Wachstum. Auf der anderen Seite wird der soziale<br />

Übergang, der Hugh gelungen ist, indem er die Sexualwelt der Erwachsenen<br />

betreten hat, sofort in körperbezogene Phantasien übersetzt („daß ich<br />

mehr Schamhaare bekomme, daß mein Schwanz größer wird").<br />

Hugh benutzt zum Spaß eine Metonymie, bei welcher der Penis Männlichkeit<br />

versinnbildlicht - die Gr<strong>und</strong>lage der Kastrationsangst <strong>und</strong> die klassische<br />

psychoanalytische Männlichkeitstheorie (siehe erstes Kapitel). Aber seine<br />

Erinnerung geht darüber hinaus. Der erste <strong>Geschlecht</strong>sverkehr wird in einen<br />

sportlichen Kontext gestellt: eine Woche mit perfekten Wellen <strong>und</strong> der<br />

Kult des Wellenreitens. In der Massenkultur wurde Männlichkeit immer<br />

mehr hauptsächlich über den Sport definiert. Sport bedeutet eine ununterbrochene<br />

Zurschaustellung sich bewegender männlicher Körper. Verfeinerte <strong>und</strong><br />

sorgsam überwachte Regeln bringen diese Körper in einen stilisierten Wettkampf<br />

miteinander. Dabei ist eine Kombination aus überlegener Kraft (bedingt<br />

durch Größe, Fitness, Teamwork) <strong>und</strong> überlegenen Fähigkeiten (durch<br />

Taktik, Übung <strong>und</strong> Training) für den Sieg entscheidend."<br />

Die Verkörperung von Männlichkeit im Sport ist verb<strong>und</strong>en mit einem<br />

umfassenden Muster von Entwicklung <strong>und</strong> Gebrauch des Körpers, nicht nur<br />

eines Organs. Äußerst spezialisierte Fähigkeiten spielen natürlich auch eine<br />

Rolle. Aber Spieler, die nur eine Sache können, werden als Fanatiker betrachtet.<br />

Was man an den h<strong>eraus</strong>ragenden Wettkampfsportlern bew<strong>und</strong>ert, ist<br />

der harmonische Einsatz des ganzen Körpers, die Fähigkeit eine Reihe unterschiedlicher<br />

Dinge perfekt zu beherrschen - zum Beispiel Babe Ruth beim<br />

Baseball, Garfield Sobers beim Kricket oder Muhammad Ali beim Boxen.<br />

Die institutionelle Organisation des Sport beinhaltet bestimmte soziale<br />

Beziehungen: Wettstreit <strong>und</strong> Hierarchie unter Männern, Ausschluß oder Unterordnung<br />

von Frauen. Diese <strong>Geschlecht</strong>erbeziehungen sind in den körperlichen<br />

Vorgängen realisiert, aber auch symbolisiert. Die größere männliche<br />

Leistungsfähigkeit im Sport ist auch zu einem Gegenargument gegen feministische<br />

Forderungen geworden, zu einem symbolischen Beweis der männlichen<br />

Überlegenheit <strong>und</strong> ihrem Recht auf Herrschaft.<br />

Gleichzeitig entstehen die körperlichen Fähigkeiten erst durch diese<br />

Strukturen. Rennen, Werfen, Springen oder Schlagen sind außerhalb dieser<br />

Strukturen überhaupt kein Sport. Das sportliche Tun ist symbolisch <strong>und</strong> kinetisch,<br />

sozial <strong>und</strong> körperlich zu ein <strong>und</strong> demselben Zeitpunkt, <strong>und</strong> diese<br />

Aspekte bedingen einander.<br />

12<br />

74<br />

Es sind vor allem die Männerkörper, die im Spitzensport im Rampenlicht stehen, der<br />

Frauensport wird von den Massenmedien sehr viel weniger beachtet: Duncan et al.<br />

1990. Ich beziehe mich hier auf die Untersuchungen in Messne <strong>und</strong> Sabo 1990.<br />

Die Konstitution von Männlichkeit durch körperliche Vorgänge hat zur<br />

Folge, daß das soziale <strong>Geschlecht</strong> auf dem Spiel steht, wenn Sport nicht mehr<br />

betrieben werden kann, zum Beispiel als Folge einer körperlichen Behinde<br />

rung. Thomas Gerschick <strong>und</strong> Adam Miller haben eine kleine, aber bemerkenswerte<br />

Untersuchung durchgeführt über Männer, die nach einem Unfall<br />

oder einer Krankheit mit einer solchen Behinderung umzugehen versuchten.<br />

Sie fanden drei verschiedene Reaktionsweisen. Einmal ist es möglich, die<br />

Anstrengungen zu verdoppeln, um dem vorherrschenden Leistungsstandard<br />

zu genügen <strong>und</strong> die physischen Beeinträchtigungen zu kompensieren - beispielsweise<br />

sich der eigenen sexuellen Potenz zu versichern, indem man versucht,<br />

den Partner oder die Partnerin zu erschöpfen. Oder aber die eigene Definition<br />

von Männlichkeit zu modifizieren <strong>und</strong> sie den reduzierten Möglichkeiten<br />

anzupassen, ohne männliche Werte wie Unabhängigkeit oder Kontrolle<br />

aufzu<strong>geben</strong>. Die dritte Möglichkeit zu reagieren ist, die hegemoniale<br />

Männlichkeit als Ganzes abzulehnen, die physischen Stereotypen zu hinterfragen<br />

<strong>und</strong> sich einer antisexistischen Haltung anzunähern, so wie es im<br />

fünften Kapitel beschrieben werden wird. Auf so unterschiedliche Weise<br />

kann man der Einschränkung der körperlichen Seite von Männlichkeit begegnen.<br />

Aber keiner der Männer war in der Lage, sie einfach zu ignorieren."<br />

Genausowenig können dies Arbeiter, deren Verletzbarkeit dadurch bedingt<br />

ist, daß sie ihre Männlichkeit über die Arbeit definieren. Schwere körperliche<br />

Arbeit erfordert Stärke, Ausdauer, eine gewisse Unempfindlichkeit<br />

<strong>und</strong> Härte, <strong>und</strong> Gruppensolidarität. Den männlichen Charakter der Fabrikarbeit<br />

h<strong>eraus</strong>zustreichen dient sowohl dazu, ausbeuterische Klassenverhältnisse<br />

zu überleben, als auch die Überlegenheit gegenüber Frauen zu behaupten.<br />

Die Betonung der Männlichkeit spiegelt die ökonomische Realität wider.<br />

Mike Donaldson hat Material über Fabrikarbeit zusammengetragen <strong>und</strong> kommt<br />

zu dem Schluß, daß das „Kapital" der Arbeiter - das, was sie auf dem Ar<br />

beitsmarkt anzubieten haben - ihr körperliches Leistungsvermögen ist. Aber<br />

dieses Kapital verändert sich. Profitorientierte Fabrikation verschleißt die Körper<br />

der Arbeiter durch Ermüdung, Verletzungen <strong>und</strong> durch ständige mechanische<br />

Abnutzung. Das Schwinden der Kräfte, die Gefahr, Geld oder die<br />

Arbeit selbst zu verlieren, können durch den Zuwachs an Können <strong>und</strong> Erfahrung<br />

ausgeglichen werden - bis zu einem bestimmten Punkt. „Und an diesem<br />

Punkt wird er sehr froh sein, daß sein Arbeitsleben endlich vorbei ist."<br />

Die Kombination aus Stärke <strong>und</strong> Können ist einem Wandel ausgesetzt.<br />

Wenn die Arbeit immer mehr zu Hilfs- <strong>und</strong> Gelegenheitsarbeit wird, bleibt<br />

den Männern aus der Arbeiterklasse am Ende nur noch ihre Kraft. Dieser<br />

Prozeß wird da besonders deutlich, wo sich der Ausschluß einer Klasse mit<br />

Rassismus verbindet, wie in Südafrika unter der Apartheid. Die Apartheid-<br />

Wirtschaft hat alle anspruchsvollen Jobs weißen Männern vorbehalten, <strong>und</strong><br />

Schwarze vor allem für Gelegenheits- <strong>und</strong> Hilfsarbeiten eingesetzt. Im Ge-<br />

13 Gerschick <strong>und</strong> Miller 1993.<br />

75


gensatz dazu werden Mittelschichts-Männer zunehmend zu den Repräsentanten<br />

beruflicher Fertigkeiten, was in Zusammenhang steht mit einem tiefgreifenden<br />

historischen Wandel des Arbeitsmarktes, der wachsenden Bedeutung<br />

beruflicher Qualifikation <strong>und</strong> eines Erziehungssystems, das nach<br />

Klassenkriterien fördert <strong>und</strong> selektiert.'<br />

Diese Klassenprozesse haben die vertraute Assoziation zwischen Männlichkeit<br />

<strong>und</strong> Maschinerie verändert. Die neuen Informationstechnologien erfordern<br />

sitzende Tätigkeit an einer Tastatur, was ursprünglich Frauenarbeit<br />

war (die Lochkartenstanzerinnen). Die Vermarktung der Personalcomputer<br />

hat das Image dieser Arbeit teilweise verändert <strong>und</strong> zu einem Bereich des<br />

Wettbewerbs <strong>und</strong> der Macht werden lassen - männlich, technisch, aber nicht<br />

Arbeiterklasse. Dieses veränderte Image wird von den Computerzeitschriften,<br />

den Anzeigen der Hersteller (Apple nannte sein Laptop „PowerBook") <strong>und</strong><br />

einem boomenden Markt für aggressive Computerspiele unterstützt. Der<br />

Körper des Mittelschichtsmannes war durch die Klassengrenzen von physischer<br />

Stärke getrennt, gewinnt nun aber neue gesteigerte Macht in den<br />

Mann/Maschine-Systemen der modernen Kybernetik.<br />

Ich würde daraus schließen, daß wir dem Körper nicht entrinnen können,<br />

wenn es um die Konstruktion von Männlichkeit geht; aber wenn etwas unentrinnbar<br />

ist, heißt das noch nicht, daß es unveränderbar sein muß. Der körperliche<br />

Prozeß wird Teil der sozialen Prozesse, <strong>und</strong> damit auch ein Teil der Geschichte<br />

(der persönlichen wie der kollektiven) <strong>und</strong> ein möglicher Gegenstand<br />

von Politik. Aber damit kehren wir nicht zu der Vorstellung vom Körper<br />

als Landschaft zurück. Der Körper kann sich dem sozialen Symbolismus<br />

<strong>und</strong> seiner Kontrolle auf verschiedenste Weisen widersetzen, <strong>und</strong> darum wird<br />

es im folgenden gehen.<br />

In W. B. Yeats w<strong>und</strong>ervollem Gedicht „Byzanz" wird ein goldener, mechanischer<br />

Vogel beschrieben, Symbol für die Künstlichkeit einer in die Jahre gekommenen<br />

Zivilisation, die alle „Komplexität von Schlamm <strong>und</strong> Blut" verachtet.<br />

Die Bilder von Unnahbarkeit <strong>und</strong> Abstraktheit stehen im Gegensatz zur<br />

Zeile, ,bloße Komplexität, die Wut <strong>und</strong> der Schlamm in den Adern der Menschen"''<br />

. Das „bloße" ist zutiefst ironisch. Es ist genau diese Mannigfaltigkeit<br />

<strong>und</strong> Widerspenstigkeit der Körper, auf die Yeats' Ironie anspielt.<br />

Die Philosophie <strong>und</strong> die Sozialwissenschaften sprechen oft von „dem<br />

Körper". Aber Körper stehen im Plural (1994 ungefähr 5,4 Milliarden) <strong>und</strong><br />

14 Donaldson 1991 (S. 18). Über Südafrika siehe Nattrass 1992; über Erziehung <strong>und</strong><br />

neue Klasse siehe Gouldner 1979.<br />

15 „Byzanz", in Yeats 1970 (S. 212-214). 16 Connell 1983 (S. 19).<br />

76<br />

sind sehr verschieden. Es gibt große <strong>und</strong> kleine Körper; Körper, die ständig<br />

mit Schlamm oder Schmiere beschmutzt sind, Körper, die sich gekrümmt haben,<br />

weil sie sich ständig über Schreibtische beugten, <strong>und</strong> wieder andere mit<br />

makellosen, manikürten Händen. Jeder dieser Körper hat seine Geschichte,<br />

jeder ist Veränderungen unterworfen, wenn er wächst <strong>und</strong> altert. Der soziale<br />

Prozeß, der die Körper umhüllt <strong>und</strong> erhält, wandelt sich mit der gleichen Unausweichlichkeit.<br />

Was man vom „Körper" im allgemeinen sagen kann, trifft auf den männlichen<br />

Körper im besonderen zu. Zuerst einmal sind männliche Körper unterschiedlich,<br />

<strong>und</strong> werden durch Wachstum <strong>und</strong> Alter noch unterschiedlicher. In<br />

einem früheren Essay über „Die Körper der Männer" schrieb ich, daß sich<br />

die körperliche Männlichkeit vor allem aus einer Kombination aus Kraft <strong>und</strong><br />

Können speist, wie es der Sport symbolisiert.<br />

„Ein erwachsener Mann zu sein bedeutet, Raum zu beanspruchen, eine physische Präsenz<br />

in der Welt zu haben. Wenn ich eine Straße hinuntergehe, straffe ich meine Schultern <strong>und</strong><br />

vergleiche mich insgeheim mit den anderen Männern. Wenn ich spät nachts eine Gruppe<br />

junger Punker passiere, frage ich mich, ob ich furchterregend genug aussehe. Auf einer<br />

Demonstration taxiere ich die Polizisten <strong>und</strong> frage mich, ob ich größer <strong>und</strong> stärker sein<br />

werde, wenn es hart auf hart geht - eine lächerlicher Gedanke in anbetracht~ der technischen<br />

Ausrüstung der Polizei, <strong>und</strong> trotzdem eine fast automatische Reaktion.<br />

Das schrieb ich vor zehn Jahren. Nun gehe ich auf die Fünfzig zu, der betreffende<br />

Körper ist etwas kahler geworden, deutlich gebeugter, fraglos weniger<br />

Raum einnehmend, <strong>und</strong> gerät sehr viel weniger wahrscheinlich in brenzlige<br />

Situationen auf der Straße.<br />

Die Körper von Männern sind nicht nur unterschiedlich <strong>und</strong> Veränderungen<br />

ausgesetzt, sie können auch in einem positiven Sinn widerspenstig<br />

sein. Körpern werden bestimmte Möglichkeiten nahegelegt, am sozialen Leben<br />

teilzunehmen, <strong>und</strong> die Körper verweigern sich oft. Zwei Beispiele dazu<br />

aus den lebensgeschichtlichen Interviews.<br />

Hugh Trelawney, dessen Geschichte seiner sexuellen Initiation wir vorhin zitiert haben,<br />

hat als Student einen nicht ungewöhnlichen Weg eingeschlagen. Er wurde zum „animal of<br />

the year" an seiner Universität gewählt, war maßlos bei Alkohol, Drogen <strong>und</strong> Sex. Ein<br />

paar Jahre nach seinem Studium arbeitete er als Lehrer, wurde zum Alkoholiker <strong>und</strong> erkrankte<br />

ernsthaft. Er hörte auf zu arbeiten, stürzte durch seine Abhängigkeit in eine emotionale<br />

Krise <strong>und</strong> unterzog sich einer Entziehungskur. Sein verletzter Stolz bezog sich sowohl<br />

auf den Körper als auch auf die soziale Demütigung: „Das darf alles nicht wahr<br />

sein. Ich bin ein erstklassiger Football-Spieler. "<br />

Die Exzesse von Tip Southern waren noch ausufernder, obwohl er aus einer privile-<br />

gierteren Schicht stammte. Seine Schulclique nannte sich die „kranke<br />

Truppe", trug selt-<br />

same Kleider, benahm sich auf Parties daneben <strong>und</strong> rauchte sehr viel Haschisch.<br />

„ Wir waren ziemlich radikal, rebellisch, zornige junge Männer. Männer mit Idealen,<br />

<strong>und</strong> trotzdem ständig am Feiern. Dem Ende zu war es nur noch ein großer Nebel. Ein<br />

Saufgelage nach dem anderen. Wir waren voll drauf <strong>und</strong> ständig blau; wirklich sehr be-<br />

77


trunken, aber wir kamen damit zurecht, weil wir so energiegeladen waren. Und einen<br />

Kater bekommt man auch nicht, wenn man so jung ist <strong>und</strong> so voll drauf. "<br />

Auf der Universität wurde es noch schlimmer: „wirklich sehr wilde Parties ", Punsch<br />

aus reinem Alkohol, Haschisch <strong>und</strong> Halluzinogenen. Kein W<strong>und</strong>er, daß weder Tips Familie<br />

noch sein Körper damit zurechtkamen.<br />

„Ich versuchte, einen Job zu finden. , Was haben Sie für Qualifikationen?' Keine. Ich<br />

hatte nichts anständiges anzuziehen, weil es mir schon längere Zeit ziemlich dreckig<br />

ging... Deshalb habe ich nie einen Job bekommen. Ich glaube, ich sah nicht sehr respektabel<br />

aus. Ich meine, ich war eigentlich sehr unterernährt, ich nahm eine Menge Drogen,<br />

viel LSD <strong>und</strong> Alkohol. Ich habe ein Bild von mir in meinem Zimmer, versteckt, weil ich<br />

darauf in der übelsten Verfassung bin, die man sich vorstellen kann: große, geschwollene,<br />

gerötete Augen, ein riesiges Gerstenkorn am Auge <strong>und</strong> ein bleiches Gesicht. Ich trank viel<br />

zu viel, nahm wirklich üble Drogen, völlig unreines LSD. Ich war total festgefahren. Aber<br />

schließlich wurde mir klar, daß ich etwas Drastisches machen mußte. "<br />

In solchen Krisen geraten die Körper unter Druck <strong>und</strong> kommen an ihre Grenzen.<br />

Michael Messner hat in den USA ehemalige Leistungssportler befragt<br />

<strong>und</strong> vergleichbare Geschichten zu hören bekommen. Der Druck des Leistungssports<br />

bringt Profisportler dazu, ihren Körper wie ein Instrument zu<br />

benutzen, oder gar wie eine Waffe. Messner kommt zu dem Schluß: „den<br />

Körper als Waffe zu betrachten, führt letztendlich zur Gewalt gegen den eigenen<br />

Körper." Trotz einer Verletzung zu spielen, Unfälle, Doping <strong>und</strong> ständiger<br />

Streß verschleißen auch den fittesten <strong>und</strong> stärksten Körper. Timothy<br />

Currys unlängst veröffentlichte Fallstudie eines amerikanischen Ringers<br />

zeigt, daß Sportverletzungen zu einer normalen Sportlerkarriere dazugehören.<br />

Der Körper wird im Namen der Männlichkeit <strong>und</strong> des Erfolgs attackiert.<br />

Ehemalige Athleten leben oft mit geschädigtem Körper <strong>und</strong> chronischen<br />

Schmerzen, <strong>und</strong> sterben früh."<br />

Das sind extreme Fälle; aber das dahintersteckende Prinzip findet sich<br />

auch in gewöhnlicheren Situationen, wie bei der eben angesprochenen Fabrikarbeit.<br />

Körper sind kein neutrales Medium des sozialen Prozesses. Ihre<br />

Stofflichkeit ist von Bedeutung. Sie werden bestimmte Dinge tun <strong>und</strong> andere<br />

lassen. Körper spielen in der sozialen Praxis eine wesentliche Rolle, vor allem<br />

beim Sport, bei der Arbeit, in der Sexualität.<br />

Manche Körper zeigen sich mehr als widerspenstig, sie sprengen <strong>und</strong><br />

untergraben die sozialen Arrangements, denen sie ausgesetzt sind. Homosexuelles<br />

Verlangen ist nach Guy Hocquenghem keine Folge körperlicher Unterschiede.<br />

Und trotzdem ist es eine körperliche Tatsache, welche die hegemoniale<br />

Männlichkeit in Frage stellt."<br />

Noch aussagekräftiger sind Fälle eines <strong>Geschlecht</strong>swechsels, bei denen<br />

Körper die gr<strong>und</strong>sätzlichste Grenze überschreiten, die die moderne <strong>Geschlecht</strong>erordnung<br />

setzt. Die Sprache für dieses Thema ist von der Medizin<br />

besetzt worden, in der Karneval <strong>und</strong> Verzweiflung zu Zuständen <strong>und</strong> Syn-<br />

17 Messner 1992, Curry 1992.<br />

18 Hocquenghem 1978.<br />

dromen erstarren: „Transvestit" <strong>und</strong> „transsexuell". Diese Erstarrung ist von<br />

der Sozialwissenschaft <strong>und</strong> der postmodernen Theorie kritisiert worden; die<br />

„queer theory" zelebriert die symbolische Zerstörung der <strong>Geschlecht</strong>erkategorien.<br />

Und dennoch sind sich die Medizin <strong>und</strong> ihre Kritiker darin einig, die<br />

Kultur als den aktiven Teil zu betrachten <strong>und</strong> den Körper als passiv, als<br />

Landschaft. Man kann den <strong>Geschlecht</strong>swechsel sogar als endgültigen Triumph<br />

der Symbole über das Fleisch betrachten, da Transsexuelle ihre Körper<br />

der symbolischen Identität, die sie angenommen haben, anpassen.<br />

Berichte von Leuten, die das <strong>Geschlecht</strong> gewechselt haben, erwecken<br />

nicht den Eindruck, als werde der Körper von der Symbolik beherrscht.<br />

Katherine Cummings, eine vernünftige <strong>und</strong> geistreiche australische Reisende<br />

zwischen den <strong>Geschlecht</strong>ern, schreibt in ihrer Autobiographie von einem unverständlichen,<br />

aber unbestreitbaren körperlichen Bedürfnis, demgegenüber<br />

das symbolische Selbst <strong>und</strong> die sozialen Beziehungen machtlos sind. Gary<br />

Kates hat die schon klassische Geschichte des <strong>Geschlecht</strong>swechsels von Chevalier<br />

d'Eon aus dem späten 18. Jahrh<strong>und</strong>ert analysiert <strong>und</strong> festgestellt, daß<br />

d'Eon - trotz der Überzeugung, eine Frau zu sein - die Symbolik <strong>und</strong> die<br />

Umständlichkeit der Frauenkleidung gehaßt hat. Er zog sie nur unter Protest<br />

an, wenn er von französischen Politikern dazu genötigt wurde.<br />

Das sind keine Einzelfälle. An den Grenzen der <strong>Geschlecht</strong>erkategorien<br />

bewegen sich die Körper nach ihren eigenen Gesetzen. Der Impuls kann so<br />

stark sein, daß die bewußte Selbstwahrnehmung sich verändert <strong>und</strong> ein an<br />

dersgeschlechtlicher Körper halluziniert wird - manchmal nur zeitweise,<br />

manchmal dauerhaft. Im Fall von „David" aus dem ersten Kapitel schrieb<br />

Laing, „die Frau war in seinem Inneren <strong>und</strong> es schien, als trete sie ständig aus<br />

ihm h<strong>eraus</strong>." Ich nehme an, daß dies nicht nur eine geistige, sondern auch ein<br />

körperliche Erfahrung ist. Zwei unterschiedlich vergeschlechtlichte Körpererfahrungen<br />

vermengen sich. Es scheint, daß Körper nicht nur subversiv sind,<br />

sondern auch Spaßvögel sein können."<br />

Wie sollen wir verstehen, daß Körper sich weigern, wie der Geist Banquos<br />

aus Macbeth, im Reich des Natürlichen zu bleiben <strong>und</strong> statt dessen ungebeten<br />

wieder im Reich des Sozialen auftauchen? Die herkömmliche Sozialwissenschaft<br />

bietet da wenig Hilfe. Wie Turner in „The Body and Society" feststellt,<br />

ist der Körper der Soziologie schon vor langer Zeit verloren gegangen.<br />

Die Soziologie bewegt sich zum größten Teil immer noch in einem Descartes'schen<br />

Universum mit einer scharfen Trennung zwischen dem erkennen-<br />

19 Cummings 1992 ist eine Autobiographie, über D'Eon schreibt Kates 1991. Zu Davids<br />

Geschichte siehe Laing 1987.<br />

78 79


den, denkenden Geist <strong>und</strong> dem mechanischen, vernunftlosen Körper. Diskurstheorien<br />

haben diese Spaltung auch nicht überwinden können: sie haben<br />

Körper zu Objekten symbolischer Praxis <strong>und</strong> Machtausübung gemacht, aber<br />

nicht zu deren Teilnehmern.<br />

Um diesem Denkschema zu entkommen, reicht es nicht, die Bedeutung<br />

der körperlichen Unterschiede geltend zu machen, so wichtig das für die<br />

neuere feministische Theorie auch gewesen sein mag. Es geht vielmehr darum,<br />

sich die aktive Mitwirkung (agency) von Körpern bei sozialen Prozessen<br />

bewußt zu machen. Die Krisenberichte am Beginn dieses Kapitels zeigten die<br />

Rebellion von Körpern gegen bestimmte Arten von Druck. Die Rebellion<br />

war recht wirksam, aber noch kein Tätigsein (agency) des Körpers im eigentlichen<br />

Sinne. Ich möchte für eine noch stärkere theoretische Position<br />

plädieren <strong>und</strong> Körper als Teilnehmer am sozialen Geschehen (agency) begreifen,<br />

die den Verlauf sozialen Verhaltens mitbestimmen."<br />

Don Meredith hat ein Talent fürs Geschichtenerzählen <strong>und</strong> erzählte sehr ausführlich <strong>und</strong><br />

unterhaltsam von seiner pubertären Suche nach dem „ersten Mal". Nach einer Reihe von<br />

Fehlschlägen kam er endlich ans Ziel, ging eine Beziehung ein <strong>und</strong> mußte dann feststellen,<br />

daß es ihm nicht gelang, zu ejakulieren. Nach <strong>und</strong> nach wurde er allerdings erfahrener:<br />

„Ich bin sehr anal orientiert <strong>und</strong> habe das eher zufällig in der Beziehung zu einer<br />

jungen Frau entdeckt. Ich habe es wirklich genossen. Sie steckte mir den Finger in den<br />

Anus <strong>und</strong> ich dachte, Mein Gott, ist das phantastisch!' Beim Masturbieren habe ich diese<br />

Zone zwar irgendwie berührt, bin aber nie wirklich eingedrungen. Aber ich glaube, dieses<br />

Erlebnis hat viel bei mir ausgelöst. Als diese junge Frau das machte, ist es mir durch <strong>und</strong><br />

durch gegangen, hat mich elektrisiert. Bei ihr hatte ich nie Schwierigkeiten zu ejakulieren.<br />

Sie hat mich wirklich an der richtigen Stelle berührt. Und nun hatte ich das Gefühl, daß<br />

ich gerne auch eine Beziehung mit einem Mann haben möchte, der auch in mich eindringt.<br />

Und das alles hat mich sehr erregt, die ganze Vorstellung."<br />

Der körperliche Vorgang <strong>und</strong> die Erregung sind hier mit dem sozialen Geschehen<br />

(action) verwoben. Don erfährt seinen Körper <strong>und</strong> dessen Möglichkeiten<br />

in der Interaktion. Und eigentlich kann man sagen, er hat seinen Körper<br />

durch die Interaktion entdeckt. Er wurde von seiner Partnerin praktisch<br />

zu seinem Anus geführt. Die Klimax seines ersten <strong>Geschlecht</strong>sverkehrs war<br />

zugleich ein physisches Erlebnis <strong>und</strong> der Höhepunkt der längeren Erzählung<br />

über Dons Jungfräulichkeit - „Wow, ich habe das noch nie erlebt".<br />

Die soziale Qualität körperlicher Vorgänge hat nichts damit zu tun, ob<br />

etwas Soziales das physische Geschehen umrahmt. Es gibt da eine intimere<br />

Verbindung, die vor allem im Bereich der Phantasie zum Zuge kommt - in<br />

Dons Geschichte wird dies deutlich, vor allem wo er sich eine neue Beziehung<br />

zu einem Mann vorstellt, „der auch in mich eindringt".<br />

Diese Phantasie wird ausgelöst vom Erlebnis, zum ersten Mal mit dem<br />

Finger penetriert zu werden. Auslöser war also eine soziale Interaktion, aber<br />

es war wirklich auch eine körperliche Erfahrung. Die körperlichen Reaktio-<br />

20 Turner 1984. Rhode 1990 repräsentiert den derzeitigen feministischen Standpunkt zu<br />

den <strong>Geschlecht</strong>sunterschieden in den USA.<br />

80<br />

neu hatten einen direkten Einfluß auf Dons sexuelles Verhalten. „Soziales<br />

Geschehen" (agency) scheint kein zu starker Begriff zu sein, um zu beschreiben,<br />

was Dons Schließmuskel, Prostata <strong>und</strong> Schwellkörper hier miteinander<br />

bewerkstelligt haben.<br />

Der Sportforschung entgeht dieser Aspekt, wenn sie den Schwerpunkt<br />

auf die Entstehung des sozialen <strong>Geschlecht</strong>s durch die Trainingsmethoden<br />

legt. Joggen beispielsweise ist sicherlich eine sozial disziplinierte Aktivität.<br />

Ich sage mir das jeden zweiten Morgen, wenn ich mich aus dem Bett kämpfe<br />

<strong>und</strong> meine Laufschuhe zubinde. Trotzdem starten jeden August in Sydney<br />

40.000 Paar Füße in der William Street freiwillig zum „City to Surf" -Lauf.<br />

So ein Massenrennen ist ein überzeugender Beleg sozialen Vergnügens durch<br />

ein gemeinsames körperliches Ereignis.<br />

Die Idee des „Widerstandes" gegen die disziplinäre Praxis kann auch<br />

keine Antworten liefern, was passiert, wenn der Käfig der Disziplin auf den<br />

Boden fällt <strong>und</strong> sich verbiegt. Vor zwei Tagen saß ich im Bus Richtung Uni<br />

versität einer jungen Frau gegenüber, die Laufschuhe trug, Laufsocken <strong>und</strong><br />

Laufshorts, außerdem eine Seidenbluse, lange silberne Ohrringe, Make-up<br />

<strong>und</strong> gefönte Haare, mit Kämmen festgesteckt. Wurde sie gleichzeitig von<br />

zwei IVormsystemen kontrolliert, Sport <strong>und</strong> Mode, die beide irgendwo um die<br />

Hüfte herum ihre Macht einbüßten? Zumindest hat sie aus beidem etwas<br />

Witziges gemacht <strong>und</strong> ging geschickt damit um.<br />

Wenn Körper sowohl Objekte als auch Agenten der Praxis sind, <strong>und</strong> aus<br />

der Praxis wiederum die Strukturen entstehen, innerhalb derer die Körper definiert<br />

<strong>und</strong> angepaßt werden, haben wir es mit einem Muster zu tun, das von<br />

der derzeitigen sozialen Theorie nicht erfaßt wird. Dieses Muster könnte man<br />

körperreflexive Praxis nennen.<br />

Das elektrifizierende Gefühl, das Don Meredith verspürte, illustriert die<br />

Zusammenhänge. Das körperliche Vergnügen, mit dem Finger penetriert zu<br />

werden - aufgr<strong>und</strong> der Stimulation der Prostata <strong>und</strong> des Schließmuskels -<br />

hatte soziale Auswirkungen. Es führte direkt zu der Phantasie, eine neue soziale<br />

Beziehung einzugehen, mit einem Mann, „der in mich eindringt. Und<br />

das alles hat mich sehr erregt."<br />

Diese Erregung war eine Grenzüberschreitung. Don hält sich für heterosexuell.<br />

Er hat Annäherungsversuche eines schwulen Mannes während seiner<br />

langen Bemühungen, seine Unschuld zu verlieren, abgewehrt, „schlug ihn<br />

mit einem Zeltpflock in die Flucht". Aber die körperliche Erfahrung, penetriert<br />

zu werden, führt jetzt zur Vorstellung einer homosexuellen Beziehung,<br />

<strong>und</strong> in kurzer Zeit auch zu wirklichen homosexuellen Kontakten. (Don hatte<br />

aber kein Glück. Bei seinem ersten experimentellem schwulen <strong>Geschlecht</strong>sverkehr<br />

verlor sein Partner die Erregung.)<br />

Die Entspannung des Schließmuskels <strong>und</strong> die Stimulierung der Prostata<br />

haben nichts an sich, was eine Beziehung zu einem Mann nötig machen würde.<br />

Eine Frau kann das genauso gut machen. Es ist die soziale Gleichsetzung<br />

von analer Penetration <strong>und</strong> männlichem Sexualpartner, die Dons körperliche<br />

81


Phantasievorstellung möglich gemacht hat. Analverkehr ist ein Schlüsselsymbol<br />

schwuler Sexualität in der westlichen Welt, auch wenn die AIDS-<br />

Forschung nachweist, daß er weniger oft praktiziert wird als seine symbolische<br />

Bedeutung vermuten ließe."<br />

In diesem Fall steht zu Beginn die Interaktion <strong>und</strong> körperliche Erfahrung,<br />

woraus sich eine sozial strukturierte körperbezogene Phantasie ergibt (wobei<br />

die kulturelle Konstruktion von hegemonialer <strong>und</strong> unterdrückter Sexualität eine<br />

Rolle spielt), die wiederum zu einer neuen sexuellen Beziehung führt, in deren<br />

Mittelpunkt körperliche Interaktionen stehen. Das alles ist nicht nur eine Frage<br />

sozialer Bedeutung oder von Kategorien, die auf Dons Körper angewendet<br />

werden, obwohl die Bedeutungen <strong>und</strong> Kategorien für diese Vorgänge wichtig<br />

sind. Die körperreflexive Praxis bringt sie ins Spiel, während die körperliche<br />

Erfahrung - ein überraschender Genuß - den Prozeß in Gang bringt.<br />

Adam Singer erinnert sich an ein traumatisches Erlebnis mit seinem Vater:<br />

„Er kaufte meinem Bruder zu Weihnachten einen Kricketschläger, aber mir wollte er<br />

keinen kaufen. Er sagte, ich könne nicht Kricket spielen. Oder einen Ball werfen. Ein<br />

Mann wirft einen Ball ganz anders wie eine Frau. Ich wollte vor meinem Vater keinen<br />

Ball werfen, weil ich wußte, es würde nicht richtig aussehen, es wäre nicht so, wie ein<br />

guter starker Junge einen Ball werfen würde. Aber einmal, das weiß ich noch, traute ich<br />

mich, einen zu werfen. Und er hat sich über mich lustig gemacht <strong>und</strong> gesagt, ich würde<br />

wie ein Mädchen werfen."<br />

Hier hat sich der Prozeß durch die vergangene Zeit verdichtet. Die geschlechtsbezogenen<br />

Zuschreibungen der G<strong>esellschaf</strong>t sind mit der körperlichen<br />

Aktivität <strong>und</strong> den Gefühlen in der Beziehung zum Vater verschmolzen.<br />

Es kommt zu einer gespaltenen Wahrnehmung. Adam hat gelernt, zugleich in<br />

seinem Körper (beim Werfen) zu sein, <strong>und</strong> von außerhalb den geschlechtstypischen<br />

Ablauf zu beobachten („ich wußte, es würde nicht richtig aussehen").<br />

Bei Adam wurde durch die körperreflexive sportliche Betätigung die Postulierung<br />

eines Unterschieds ausgelöst („er hat sich über mich lustig gemacht<br />

<strong>und</strong> gesagt..."), mit all den emotionalen Ballast der Vater-Sohn<br />

Beziehung im Hintergr<strong>und</strong>. Nach <strong>und</strong> nach hat Adam noch andere Erfahrungen<br />

gemacht, die ihm zeigten, daß er anders ist. Schließlich ist er bewußt eine<br />

Beziehung zu einem Mann eingegangen, um h<strong>eraus</strong>zufinden, ob er schwul ist<br />

- vielmehr um h<strong>eraus</strong>zufinden, wohin dieser Körper in der <strong>Geschlecht</strong>erordnung<br />

gehört.<br />

Steve Donoghue hatte in dieser Hinsicht keinerlei Zweifel. Er war nationaler Meister im<br />

Surfen, konnte aufgr<strong>und</strong> der Preise, Sponsorengelder <strong>und</strong> Werbeeinnahmen ein luxuriöses<br />

Leben führen. Er hatte einen prächtigen Körper, geformt durch tägliches, vier- bis<br />

fünfstündiges Training. Sein Körper war sowohl zu erstaunlichen Kunststücken von großer<br />

Präzision fähig, als auch sehr ausdauernd:<br />

21<br />

82<br />

Morin 1986 bietet zusätzliche Tips für alle, die es auch mal ausprobieren möchten.<br />

Hocquenghem 1978 läßt sich mit Enthusiasmus über die kulturelle Bedeutung aus;<br />

Connell <strong>und</strong> Kippax 1990 bieten ernüchternde Einzelheiten aus der Praxis.<br />

„Ich kann mir meine Kraft für ein vier-, fünfstündiges Rennen einteilen, ohne einzubrechen,<br />

<strong>und</strong> ohne es langsam angehen lassen zu müssen. Ich kann jederzeit schnell beginnen,<br />

<strong>und</strong> auch einen schnellen Endspurt hinlegen. Wenn ich die 200 Meter schwimme,<br />

also vier 50-Meter-Bahnen, dann schwimme ich jede Bahn auf die Zehntelsek<strong>und</strong>e gleich<br />

schnell, ohne auch nur auf die Uhr sehen zu müssen... "<br />

Wie andere talentierte Sportler, kennt Steve seinen Körper bis ins Detail, seine Fähigkeiten,<br />

seine Bedürfnisse <strong>und</strong> seine Grenzen.<br />

Diese körperreflexive Praxis ist vertraut, ihre Folgen für das soziale <strong>Geschlecht</strong><br />

vielleicht weniger. Steve Donoghue, der Junge vom Strand, war den<br />

Praxen ausgeliefert, die nötig waren, um den anderen Steve Donoghue, das<br />

berühmte Vorbild für Männlichkeit, aufrechtzuerhalten. Er mußte nüchtern<br />

bleiben, wenn er mit dem Auto unterwegs war, durfte sich nicht verteidigen,<br />

wenn er angepöbelt wurde (aus Angst vor ungünstiger Publicity). Er konnte<br />

nicht mal einen draufmachen <strong>und</strong> saufen (wegen des Trainings), <strong>und</strong> auch<br />

kein normales Sexualleben führen (sein Trainer war dagegen, <strong>und</strong> außerdem<br />

mußten Frauen in seinen Trainingsplan passen). Mit anderen Worten, vieles,<br />

was Gleichaltrige als männlich empfinden würden, war ihm nicht möglich.<br />

Die körperreflexive Praxis, die seine hegemoniale Männlichkeit herstellte,<br />

hat sie gleichzeitig auch untergraben. Steves soziales <strong>und</strong> psychisches<br />

Leben war ganz auf seinen Körper konzentriert. Das Leistungsdenken, das<br />

aus ihm erst einen Champion machte, richtete sich auch nach innen. Sein<br />

Trainer ermutigte ihn, seine Konkurrenten zu hassen, doch Steve brachte es<br />

nicht fertig. Vielmehr sprach er von „mentaler Härte" <strong>und</strong> seiner Fähigkeit,<br />

„den Schmerz zu beherrschen", „um meinen Körper glauben zu machen, es<br />

schmerze gar nicht so sehr" .<br />

Steve entwickelte nach <strong>und</strong> nach narzißtische Tendenzen - obwohl die<br />

hegemoniale Konstruktion von Männlichkeit in der australischen Kultur eher<br />

nach außen gerichtet ist <strong>und</strong> alle privaten Emotionen herunterspielt. Aber der<br />

Narzismus kann nicht in Selbstbew<strong>und</strong>erung <strong>und</strong> körperlichem Wohlbefinden<br />

verharren. Das würde die Leistung zerstören, von der Steves Lebensbahn<br />

abhängig ist.<br />

In seiner Auffassung von Wettkampf findet der entscheidende Sieg über<br />

den eigenen Körper statt. Seine phantastische physische Form hatte nur einen<br />

Sinn, wenn sie zu Siegen führte. Aber der Siegeswille stammte nicht aus ei<br />

nem persönlichen „drive" (ein geläufiges Wort im Sport, das Steve nie benutzte),<br />

sondern von den sozialen Strukturen des Leistungssports; es war seine<br />

Bestimmung, als Champion.<br />

Der Verlauf von Steves körperreflexiver Praxis war damit recht vielschichtig;<br />

er erstreckte sich vom institutionalisierten System des kommerzialisierten<br />

Sports, der Herstellung von Surfartikeln <strong>und</strong> deren Vermarktung,<br />

vom Kontakt zu den Massenmedien bis hin zu den individuellen Trainings<strong>und</strong><br />

Wettkampfmethoden. Dieses System ist alles andere als stimmig. In der<br />

Tat enthält es gr<strong>und</strong>legende Widersprüche, die sich auch in Steves Männlichkeit<br />

widerspiegeln. Und wenn dies für eine vorbildhafte Männlichkeit wie<br />

83


die von Steve zutrifft, gibt es wenig Anlaß anzunehmen, daß körperreflexive<br />

Praxen bei der Mehrheit der Männer stimmiger ablaufen.<br />

Wie uns diese Beispiele zeigen, sind körperreflexive Praxen keine Vorgänge<br />

im Inneren des Individuums. Sie umfassen soziale Beziehungen <strong>und</strong><br />

Symbole, aber manchmal auch soziale Institutionen. Die verschiedenen Ver<br />

sionen von Männlichkeit werden prozeßhaft konstituiert als bedeutungsvolle<br />

Körper <strong>und</strong> verkörperte Bedeutungen. Durch körperreflexive Praxen wird<br />

nicht nur individuelles Leben geformt, sondern eine soziale Welt gestaltet.<br />

Durch körperreflexive Praxen werden Körper in den sozialen Prozeß mit einbezogen<br />

<strong>und</strong> zu einem Bestandteil von Geschichte, ohne damit aber aufzuhören,<br />

Körper zu sein. Sie verwandeln sich nicht in Symbole, Zeichen oder Positionen<br />

im Diskurs. Ihre Materialität (inklusive der Fähigkeit, zu zeugen, zu<br />

gebären, zu säugen, zu menstruieren, zu penetrieren, sich zu öffnen, zu ejakulieren)<br />

löst sich dadurch nicht auf, sondern bleibt von Bedeutung. <strong>Geschlecht</strong><br />

als sozialer Prozeß beinhaltet das Gebären <strong>und</strong> Großziehen von Kindern,<br />

das Jungsein <strong>und</strong> das Altwerden, sexuelles <strong>und</strong> sportliches Vergnügen,<br />

Arbeit, Verletzung, Tod durch AIDS.<br />

<strong>Geschlecht</strong> als soziale Semiotik betont das endlose Spiel mit Bedeutungen,<br />

die Vielfältigkeit der Diskurse <strong>und</strong> die Verschiedenheit der Standpunkte <strong>und</strong><br />

war wichtig für die Überwindung des biologischen Determinismus. Aber man<br />

sollte dadurch nicht den Eindruck bekommen, als sei das soziale <strong>Geschlecht</strong><br />

wie ein Blatt im Wind. Körperreflexive Praxen formen Strukturen (<strong>und</strong> werden<br />

von diesen geformt), die historisches Gewicht <strong>und</strong> Stabilität aufweisen. Das<br />

Soziale hat seine eigene Realität.<br />

Als der Feminismus um 1970 vom Patriarchat als dem beherrschenden<br />

Strukturmuster der Menschheitsgeschichte sprach, war das sicher zu allgemein.<br />

Aber die Gr<strong>und</strong>idee erfaßt sehr wohl die Macht <strong>und</strong> Unlenkbarkeit der<br />

wuchtigen Struktur des sozialen Gefüges: eine Struktur, die Staat, Wirtschaft,<br />

Kultur <strong>und</strong> Kommunikationen genauso einschließt wie Verwandtschaft, Kindererziehung<br />

<strong>und</strong> Sexualität.<br />

Die Praxis findet nie in einem luftleeren Raum statt. Sie steht immer in<br />

Wechselwirkung mit Situationen, die so strukturiert sind, daß sie bestimmte<br />

Möglichkeiten zulassen <strong>und</strong> andere ausschließen. Die Praxis hat auch kein<br />

Vakuum zur Folge, sondern eine ganze Welt. Durch Handeln überführen wir<br />

die Ausgangssituation in eine neue Situation. Praxis konstituiert <strong>und</strong> rekonstituiert<br />

Strukturen. Menschliche Praxis ist - um den sinnträchtigen, aber etwas<br />

sperrigen Begriff des tschechischen Philosophen Karel Kosik zu benutzen<br />

- ontoformativ. Sie erschafft die Wirklichkeit, in der wir leben."<br />

22 Kosik 1976.<br />

Die Praxen, die Männlichkeit konstruieren, sind in diesem Sinne ontoformativ.<br />

Als körperreflexive Praxen konstituieren sie eine Welt mit einer<br />

körperlichen Dimension, die aber nicht biologisch determiniert ist. Indem sie<br />

nicht durch die physische Logik des Körpers bestimmt ist, mag diese neuerschaffene<br />

Welt dem Wohlbefinden des Körpers eher feindselig gegenüber<br />

stehen. Die Verkörperungen der hegemonialen Männlichkeit bei Tip Southern<br />

<strong>und</strong> Hugh Trelawney waren in diesem Sinne feindselig - Beispiele für<br />

„selbstzugefügte W<strong>und</strong>en", wie man im australischen Slang einen Kater<br />

(nach zuviel Alkohol) zu nennen pflegt. Ungeschützten Sex zu haben, wäre<br />

im Zusammenhang mit der HIV-Epidemie ein ernsteres Beispiel.<br />

Sowohl Tip Southern als auch Hugh Trelawney haben ihre Männlichkeit<br />

reformiert, auf körperlicher Ebene, aber auch was ihre Beziehungen anbelangt.<br />

Hugh unterzog sich einer Entziehungskur <strong>und</strong> beschloß, sein Verhalten gr<strong>und</strong>legend<br />

zu ändern: weniger konkurrieren, offener für andere sein <strong>und</strong> Frauen als<br />

Menschen behandeln, statt als Objekte in einem sexuellen Spiel. Wohin diese<br />

Veränderungen geführt haben, wird uns Kapitel 7 zeigen. Tip ist auch von den<br />

Drogen losgekommen <strong>und</strong> hat einen Job gef<strong>und</strong>en, wo er im Freien körperliche<br />

Arbeit verrichten mußte, was seiner Ges<strong>und</strong>heit förderlich war. Und zum ersten<br />

Mal ging er eine dauerhafte Partnerschaft mit einer jungen Frau ein.<br />

Natürlich können zwei Fallgeschichten nicht alle Versuche von Männern<br />

widerspiegeln, sich zu verändern. Unterschiedliche Entwicklungsprozesse<br />

werden wir im fünften Kapitel betrachten. Was diese zwei Fälle aber trotz<br />

dem veranschaulichen, ist eine unvermeidliche Tatsache, wenn es um Veränderungen<br />

geht. Für Männer, wie für Frauen, bilden die körperreflexiven, geschlechtsbezogenen<br />

Praxen auch ein Feld der Politik - der Kampf der Interessen<br />

unter ungleichen Bedingungen. <strong>Geschlecht</strong>erpolitik ist verkörperlichte<br />

<strong>und</strong> soziale Politik zugleich. Die Formen, die eine verkörperlichte Männlichkeitspolitik<br />

annehmen kann, werden von nun an ein Hauptthema dieses Buches<br />

sein.<br />

84 85


Das erste Kapitel hat sich mit den wichtigsten Forschungsrichtungen des 20.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts beschäftigt <strong>und</strong> kam zu dem Schluß, daß es nicht gelungen ist,<br />

eine kohärente Wissenschaft von Männlichkeit zu begründen. Daß sie scheiterten,<br />

liegt weniger an den Forschern persönlich, als an der Schwierigkeit<br />

der Aufgabe. „Männlichkeit" ist kein kohärenter Gegenstand, an dem man<br />

eine generalisierende Wissenschaft entwickeln könnte. Nichtsdestotrotz ist es<br />

möglich, zu kohärentem Wissen zu gelangen. Wir müssen den Betrachtungshorizont<br />

erweitern <strong>und</strong> Männlichkeit nicht als isoliertes Objekt verstehen,<br />

sondern als Aspekt einer umfassenderen Struktur.<br />

Das macht aber ein Verständnis dieser größeren Struktur notwendig,<br />

<strong>und</strong> welche Position Männlichkeiten darin einnehmen. Im folgenden Kapitel<br />

geht es darum, auf der Basis vorliegender Analysen des Geschlech<br />

terverhältnisses einen Rahmen zu entwickeln, der es uns erlaubt, verschiedene<br />

Arten von Männlichkeit zu unterscheiden <strong>und</strong> ihre Veränderungsdynamik<br />

zu begreifen.<br />

Aber zuerst ist noch Gr<strong>und</strong>legendes zu klären. Der wichtigste Begriff,<br />

um den es sich dreht, ist bisher nicht sonderlich klar definiert worden.<br />

Alle G<strong>esellschaf</strong>ten kennen kulturelle Bewertungen des sozialen <strong>Geschlecht</strong>s,<br />

aber nicht in allen gibt es das Konzept „Männlichkeit". In seinem modernen<br />

Gebrauch beinhaltet der Begriff, daß das eigene Verhalten davon abhängt,<br />

was für ein Typ von Mensch man ist. Das hieße, daß sich ein unmännlicher<br />

Mensch anders verhalten würde: eher friedlich als gewalttätig, eher versöhnlich<br />

als dominant, kaum in der Lage, einen Fußball richtig zu treffen, nicht<br />

interessiert an sexuellen Eroberungen, <strong>und</strong> so weiter.<br />

Ein solches Konzept setzt individuelle Unterschiede <strong>und</strong> persönliche<br />

Handlungsfähigkeit (agency) voraus. In diesem Sinne beruht es auf dem<br />

Konzept der Individualität, das sich im Europa der frühen Moderne entwickelt<br />

87


hat, im Zuge der zunehmenden Kolonialisierung <strong>und</strong> kapitalistischer Wirtschaftsbeziehungen<br />

(siehe auch das achte Kapitel).<br />

Aber das Konzept weist auch eine innere Relationalität auf. Ohne den<br />

Kontrastbegriff „Weiblichkeit" existiert „Männlichkeit" nicht. Eine Kultur,<br />

die Frauen <strong>und</strong> Männer nicht als Träger <strong>und</strong> Trägerinnen polarisierter Cha<br />

raktereigenschaften betrachtet, zumindest prinzipiell, hat kein Konzept von<br />

Männlichkeit im Sinne der modernen westlichen Kultur.<br />

Die Geschichtsforschung nimmt an, daß dies in der europäischen Kultur<br />

bis zum 18. Jahrh<strong>und</strong>ert der Fall war. Frauen wurden zwar als unterschieden<br />

von Männern wahrgenommen, aber im Sinne unvollkommener oder mangelhafterer<br />

Exemplare des gleichen Charakters (zum Beispiel mit weniger Vernunft<br />

begabt). Männer <strong>und</strong> Frauen wurden nicht als Träger <strong>und</strong> Trägerinnen<br />

qualitativ anderer Charaktere betrachtet; dieser Gedanke entstand erst mit der<br />

bourgeoisen Ideologie der „getrennten Sphären" im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert.'<br />

Unser Konzept von Männlichkeit scheint historisch also ziemlich neuen<br />

Datums zu sein, höchsten ein paar Jahrh<strong>und</strong>erte alt. Um überhaupt von<br />

„Männlichkeit" sprechen zu können, stellen wir auf kulturell spezifische<br />

Weise „<strong>Geschlecht</strong>" her. Das sollte man im Kopf behalten, wenn man beansprucht,<br />

universelle Wahrheiten über Männlichkeit <strong>und</strong> über das Mannsein<br />

entdeckt zu haben.<br />

Die meisten Definitionen von Männlichkeit setzten unseren kulturellen<br />

Standpunkt unhinterfragt voraus, verfolgen aber unterschiedliche Strategien,<br />

wenn es darum geht, eine männliche Person zu charakterisieren. Vier hauptsächliche<br />

Strategien lassen sich hinsichtlich ihrer Logik unterscheiden, obwohl<br />

sie in der Praxis oft miteinander kombiniert werden.<br />

Essentialistische Definitionen greifen für gewöhnlich einen Aspekt h<strong>eraus</strong>,<br />

der das Gr<strong>und</strong>prinzip von Männlichkeit ausmachen soll, <strong>und</strong> erklären<br />

daraus das Leben von Männern. Freud liebäugelte mit einer essentialistischen<br />

Definition, als er Männlichkeit mit Aktivität gleichsetzte <strong>und</strong> der weiblichen<br />

Passivität gegenüberstellte - aber er kam dann zu dem Schluß, daß diese<br />

Gleichsetzung zu sehr vereinfache. Spätere Versuche, eine Essenz von<br />

Männlichkeit zu erfassen, sind sehr unterschiedlich: Risikofreudigkeit, Verantwortlichkeit,<br />

Unverantwortlichkeit, Aggression, die Energie des Zeus...<br />

Am schönsten ist vielleicht die Idee des Soziobiologen Lionel Tiger, daß<br />

wahre Männlichkeit, die Männerbünden <strong>und</strong> Krieg zugr<strong>und</strong>eliegt, durch<br />

„hard and heavy" -Phänomene hervorgerufen wird. Viele Heavy-Metal-Fans<br />

würden dem wohl zustimmen.<br />

2<br />

88<br />

Bloch 1978 beschäftigt sich mit der protestantischen Mittelschicht in England <strong>und</strong><br />

Nordamerika. Laqueur 1990 argumentiert ähnlich, aber etwas allgemeiner in Bezug<br />

auf den Körper.<br />

Tiger 1969 (S. 211). Tiger gibt sich Vermutungen hin, daß der Krieg Teil einer<br />

„männlichen Ästhetik" sein könnte, wie das Dahinrasen mit einem Rennwagen. Die<br />

Lektüre dieser Passage lohnt sich immer noch, genauso wie der „Eisenhans" von<br />

Robert Bly, ein schlagendes Beispiel dafür, was für verwirrte Gedanken Männerthe-<br />

Der Schwachpunkt dieses Ansatzes ist offensichtlich: die Wahl des jeweiligen<br />

essentiellen Kriteriums ist recht willkürlich. Nichts zwingt unterschiedliche<br />

Essentialisten dazu, sich zu einigen, <strong>und</strong> in der Tat ist ihnen dies<br />

auch oft nicht möglich. Behauptungen einer universalen Basis von Männlichkeit<br />

sagen mehr über das Ethos derjenigen aus, die sie aussprechen, als<br />

über sonst irgendetwas.<br />

Die positivistische Sozialwissenschaft hat den Anspruch, Fakten zu produzieren<br />

<strong>und</strong> strebt deshalb nach einer einfachen Definition von Männlichkeit:<br />

männlich ist, wie Männer wirklich sind. Diese Definition liegt auch den<br />

männlich/weiblich (M/F) Skalen der Psychologie zugr<strong>und</strong>e, deren Items<br />

durch den Nachweis validiert werden, daß sie tatsächlich statistisch zwischen<br />

Gruppen von Männern <strong>und</strong> Frauen zu trennen vermögen. Darauf basieren<br />

auch diejenigen ethnographischen Männlichkeitsdiskussionen, die das Muster<br />

männlichen Lebens in einer bestimmten Kultur beschreiben <strong>und</strong> - wie<br />

immer es auch beschaffen sein mag - dieses Muster als „Männlichkeit" bezeichnen.'<br />

Es gibt hier drei Schwierigkeiten. Zunächst gibt es keine Beschreibung<br />

ohne einen Standpunkt, wie uns die moderne Erkenntnistheorie gezeigt hat.<br />

Die angeblich neutralen Beschreibungen, auf denen diese Definitionen beru<br />

hen, basieren selbst auf Annahmen über das soziale <strong>Geschlecht</strong>. Eigentlich ist<br />

es völlig einleuchtend, daß man, um eine M/F-Skala zu erstellen, eine Vorstellung<br />

davon haben muß, was man bei der Erstellung der Items auflistet<br />

bzw. berücksichtigt.<br />

Zweitens: Um aufzulisten, was Männer <strong>und</strong> Frauen machen, bedarf es<br />

bereits einer Aufteilung in die Kategorien „Männer" <strong>und</strong> „Frauen". Suzanne<br />

Kessler <strong>und</strong> Wendy McKenna zeigen in ihrer klassischen ethnomethodologi<br />

scheu Untersuchung der <strong>Geschlecht</strong>erforschung, daß dabei zwangsläufig eine<br />

soziale Attribution mit eher klischeehafter <strong>Geschlecht</strong>stypologie stattfindet.<br />

Das positivistische Vorgehen basiert demnach genau auf jenen Typisierungen,<br />

die eigentlich erforscht werden sollen.<br />

Und drittens verhindert eine solche Männlichkeitsdefinition, daß man<br />

auch eine Frau als „männlich" oder einen Mann als „weiblich" oder bestimmte<br />

Verhaltensweisen oder Einstellungen als „männlich" oder „weib<br />

lich" beschreiben könnte, unabhängig davon, bei wem man sie feststellt. Das<br />

ist kein trivialer Gebrauch der Begriffe, sondern beispielsweise entscheidend<br />

für die psychoanalytische Vorstellung von den Widersprüchen in einer Persönlichkeit.<br />

men hervorrufen können, in diesem Fall mit dem Beigeschmack dessen, was G.<br />

Wright Mills „verrückte Realität" genannt hat.<br />

3 Die zutiefst verwirrte Logik der M/F-Skalen offenbart sich in einem klassischen Aufsatz<br />

von Constantinople 1973. Der ethnographische Positivismus erreicht mit Gilmore<br />

1991 einen Tiefpunkt, hin- <strong>und</strong> herschwankend zwischen normativer Theorie <strong>und</strong><br />

positivistischer Praxis.<br />

89


In der Tat ist eine derartige Verwendung gr<strong>und</strong>legend für die <strong>Geschlecht</strong>eranalyse.<br />

Wenn es nur um die Unterschiede von Männern <strong>und</strong> Frauen als<br />

homogene Blöcke ginge, bräuchten wir die Begriffe „männlich" <strong>und</strong> „weib<br />

lich" gar nicht. Wir könnten einfach von „Männern" <strong>und</strong> „Frauen" sprechen.<br />

Die Begriffe „männlich" <strong>und</strong> „weiblich" verweisen jenseits von biologischen<br />

<strong>Geschlecht</strong>sunterschieden auf die Art <strong>und</strong> Weise, wie sich Männer<br />

untereinander unterscheiden, <strong>und</strong> Frauen sich untereinander unterscheiden, in<br />

bezug auf das soziale <strong>Geschlecht</strong>."<br />

Normative Definitionen erkennen diese Unterschiede <strong>und</strong> bieten einen<br />

Standard: Männlichkeit ist, wie Männer sein sollten. Diese Definition findet<br />

man oft in Medienuntersuchungen, in Diskussionen über Musterbeispiele wie<br />

John Wayne oder über bestimmte Genres wie den Thriller. Die strikte <strong>Geschlecht</strong>srollentheorie<br />

behandelt Männlichkeit genau wie eine soziale Norm<br />

für männliches Verhalten. In der Praxis vermischen Texte über die Männerrolle<br />

oft normative <strong>und</strong> essentialistische Definitionen, wie bei Robert Brannons<br />

vielzitierten Bestandteilen des „Männlichkeitsbauplans unserer Kultur"<br />

„Kein Weiberkram", „Der große Macher", „Stark wie ein Baum" <strong>und</strong><br />

„Mach ihnen die Hölle heiß" s.<br />

Normative Definitionen haben zur Folge, daß verschiedene Männer sich<br />

dem Standard verschieden weit annähern. Aber dabei kommt es bald zu Paradoxien,<br />

wie sie die Literatur der frühen Männerbewegung teilweise offen<br />

bart. In Wirklichkeit erfüllen sehr wenige Männer die geforderte Norm oder<br />

legen die Härte <strong>und</strong> Unabhängigkeit eines Wayne, Bogart oder Eastwood an<br />

den Tag. ( Dieser Umstand wurde wiederum von Filmen aufgegriffen, in Parodien<br />

wie „Blazing Saddles" <strong>und</strong> „Mach's noch einmal, Sam"). Was ist an<br />

einer Norm „normativ", die kaum jemand erfüllen kann? Müssen wir uns<br />

eingestehen, daß die Mehrheit der Männer unmännlich ist? Wie erfassen wir<br />

die Härte, die man braucht, um der Norm der Härte zu widerstehen, oder den<br />

Heroismus, der nötig ist, um sich als schwul zu bekennen?<br />

Eine etwas subtilere Schwierigkeit besteht darin, daß eine rein normative<br />

Männlickeitsdefinition uns keinen Zugriff auf die Persönlichkeitsebene erlaubt.<br />

Joseph Pleck hat zu Recht die nicht belegte Behauptung kritisiert, daß<br />

Rolle <strong>und</strong> Identität korrespondieren. Dieser Zusammenhang läßt meiner<br />

Meinung nach <strong>Geschlecht</strong>srollentheorien oft in die Nähe des Essentialismus<br />

geraten.<br />

Serniotische Ansätze negieren die Persönlichkeitsebene <strong>und</strong> definieren<br />

Männlichkeit durch ein System symbolischer Differenzen, in denen sich<br />

männliche <strong>und</strong> weibliche Positionen gegenüberstehen. Männlichkeit wird im<br />

Endeffekt als Nicht-Weiblichkeit definiert.<br />

4 Kessler <strong>und</strong> McKenna 1978 entwickeln wichtige Argumente für einen „Vorrang der<br />

<strong>Geschlecht</strong>sattribuierung". Eine erhellende Diskussion über maskuline Frauen findet<br />

man bei Devor 1989.<br />

5 Easthope 1986; Braunen 1976.<br />

90<br />

Dabei folgt man Formeln der strukturellen Linguistik, nach denen Sprechelemente<br />

durch die Unterschiede zueinander definiert werden. Dieser Ansatz<br />

fand in feministischen <strong>und</strong> poststrukturalistischen Kulturanalysen starke An<br />

wendung, aber auch in der Lacan'schen Psychoanalyse <strong>und</strong> in Studien über<br />

Symbolismus. Aber dabei geht es um mehr als einen abstrakten Kontrast<br />

zwischen Männlichkeit <strong>und</strong> Weiblichkeit nach Art der M/F-Skalen. In der<br />

semiotischen Gegenüberstellung von Männlichkeit <strong>und</strong> Weiblichkeit ist<br />

Männlichkeit der nicht markierte Begriff, der Ort symbolischer Autorität.<br />

Der Phallus ist der maßgebliche Signifikant, Weiblichkeit hingegen wird<br />

symbolisch durch Mangel definiert.<br />

Diese Definition von Männlichkeit war in kulturwissenschaftlichen Analysen<br />

sehr erfolgreich. Sie vermeidet die Willkür des Essentialismus <strong>und</strong> die<br />

Widersprüche der positivistischen <strong>und</strong> normativen Definitionen. Trotzdem ist<br />

ihre Einsatzfähigkeit begrenzt - es sei denn, man nimmt wie viele postmoderne<br />

Theoretiker <strong>und</strong> Theoretikerinnen an, daß man in der sozialen Analyse<br />

ohnehin nur Diskurse betrachten könne. Um das Spektrum möglicher Themen<br />

im Umkreis von Männlichkeit zu erfassen, müssen wir auch über Beziehungen<br />

anderer Art sprechen können: über geschlechtsspezifische Positionierung<br />

in Produktion <strong>und</strong> Konsumption, in Institutionen <strong>und</strong> in der natürlichen<br />

Umgebung, in sozialen <strong>und</strong> militärischen Auseinandersetzungen.<br />

Was man allerdings generalisieren kann, ist das Prinzip der Verbindung.<br />

Die Vorstellung, daß ein Symbol nur innerhalb eines Systems zusammenhängender<br />

Symbole verstanden werden kann, läßt sich gut auch auf andere<br />

Sphären übertragen. Außerhalb eines Systems von <strong>Geschlecht</strong>erbeziehungen<br />

gibt es so etwas wie Männlichkeit überhaupt nicht.<br />

Statt zu versuchen, Männlichkeit als ein Objekt zu definieren (ein natürlicher<br />

Charakterzug, ein Verhaltensdurchschnitt, eine Norm), sollten wir unsere<br />

Aufmerksamkeit auf die Prozesse <strong>und</strong> Beziehungen richten, die Männer<br />

<strong>und</strong> Frauen ein vergeschlechtlichtes Leben führen lassen. „Männlichkeit" ist<br />

- soweit man diesen Begriff in Kürze überhaupt definieren kann - eine Position<br />

im <strong>Geschlecht</strong>erverhältnis; die Praktiken, durch die Männer <strong>und</strong> Frauen<br />

diese Position einnehmen, <strong>und</strong> die Auswirkungen dieser Praktiken auf die<br />

körperliche Erfahrung, auf Persönlichkeit <strong>und</strong> Kultur.<br />

6 Ein streng semiotischer Ansatz ist in der Literatur über Männlichkeit nicht gebräuchlich,<br />

man findet ihn eher in allgemeineren Schriften über das soziale <strong>Geschlecht</strong>. Saco<br />

1992 versucht jedenfalls diesen Ansatz zu verteidigen, <strong>und</strong> seine Möglichkeiten<br />

werden in der Anthologie deutlich, in der ihr Aufsatz erschienen ist, Craig 1992.<br />

91


In diesem Abschnitt werde ich so kurz wie möglich die Analyse des sozialen<br />

<strong>Geschlecht</strong>s umreißen, die der Argumentation in diesem Buch zugr<strong>und</strong>eliegt.<br />

Das soziale <strong>Geschlecht</strong> ist eine Art <strong>und</strong> Weise, in der soziale Praxis geordnet<br />

ist. In <strong>Geschlecht</strong>erprozessen wird der alltägliche Lebensvollzug organisiert<br />

in Relation zu einem Reproduktionsbereich (reproductive arena),<br />

der durch körperliche Strukturen <strong>und</strong> menschliche Reproduktionsprozesse<br />

definiert ist. Dieser Bereich beinhaltet sowohl sexuelle Erregung <strong>und</strong> <strong>Geschlecht</strong>sverkehr,<br />

als auch das Gebären <strong>und</strong> Aufziehen von Kindern, die körperlichen<br />

<strong>Geschlecht</strong>sunterschiede <strong>und</strong> -gemeinsamkeiten.<br />

Ich nenne das „Reproduktionsbereich" statt „biologische Gr<strong>und</strong>lage",<br />

um zu betonen, daß wir es hier mit einem historischen, den Körper einbeziehenden<br />

Prozeß zu tun haben, nicht mit einem starren Gefüge biologischer<br />

Determinanten (vgl. Kapitel 2). <strong>Geschlecht</strong>lichkeit als soziale Praxis bezieht<br />

sich ständig auf den Körper <strong>und</strong> auf das, was Körper machen, reduziert sich<br />

allerdings auch nicht auf den Körper. Eigentlich verdreht der Reduktionismus<br />

die wirkliche Situation vollständig. Das soziale <strong>Geschlecht</strong> existiert genau<br />

in dem Ausmaß, in dem die Biologie das Soziale nicht determiniert. Es<br />

markiert einen dieser Übergangspunkte, an denen der historische Prozeß die<br />

biologische Evolution als Entwicklungsmodus ablöst. Vom Standpunkt des<br />

Essentialismus aus betrachtet, ist das soziale <strong>Geschlecht</strong> skandalös <strong>und</strong> ungeheuerlich.<br />

Soziobiologen sind ständig mit seiner Abschaffung beschäftigt,<br />

indem sie beweisen, daß die sozialen Arrangements des Menschen bloße<br />

Folge evolutionärer Zwänge darstellen.<br />

Die soziale Praxis ist kreativ <strong>und</strong> erfinderisch, aber nicht ursprünglich.<br />

Sie reagiert auf bestimmte Situationen <strong>und</strong> entsteht innerhalb fester Strukturen<br />

von sozialen Beziehungen. <strong>Geschlecht</strong>erbeziehungen, die Beziehungen<br />

zwischen Menschen <strong>und</strong> Gruppen, die durch den Reproduktionsbereich organisiert<br />

sind, bilden eine der Hauptstrukturen in allen dokumentierten G<strong>esellschaf</strong>ten.<br />

Praxis, die sich auf diese Strukturen bezieht, besteht nicht aus isolierten<br />

Handlungen, sondern entstand in der Auseinandersetzung von Menschen <strong>und</strong><br />

Gruppen mit ihrer historischen Situation. Handeln konfiguriert sich zu größeren<br />

Einheiten, <strong>und</strong> wenn wir von Männlichkeit <strong>und</strong> Weiblichkeit sprechen,<br />

benennen wir Konfigurationen von <strong>Geschlecht</strong>erpraxis.<br />

Aber „Konfigurationen" wirkt als Begriff vielleicht zu statisch. Das Entscheidende<br />

ist nämlich das Prozeßhafte an der konfigurierenden Praxis. (Jean-<br />

Paul Sartre spricht in „Kritik der dialektischen Vernunft" von der „Vereinigung<br />

der Mittel in der Handlung"). Sobald wir eine dynamische Sicht der Organisation<br />

von Praxis eingenommen haben, verstehen wir Männlichkeit <strong>und</strong> Weiblichkeit<br />

als <strong>Geschlecht</strong>erprojekte, als Prozesse der konfigurierenden Praxis in<br />

der Zeit, die ihren Ausgangspunkt in den <strong>Geschlecht</strong>erstrukturen transformieren.<br />

In den Fallstudien im zweiten Teil des Buches werde ich das Leben von<br />

Männern aus verschiedenen G<strong>esellschaf</strong>tsschichten in diesem Sinne als <strong>Geschlecht</strong>erprojekte<br />

analysieren.'<br />

<strong>Geschlecht</strong>sbezogene Konfigurationspraktiken sind allgegenwärtig, wie<br />

wir die Welt auch betrachten, welche Analyseeinheit wir auch auswählen.<br />

Die vertrauteste ist der individuelle Lebenslauf, der einem Alltagsverständnis<br />

von Männlichkeit <strong>und</strong> Weiblichkeit zugr<strong>und</strong>eliegt. Die Handlungskonfiguration<br />

ist in diesem Fall, was die Psychologen normalerweise „Persönlichkeit"<br />

oder „Charakter" nennen würden. Die psychoanalytischen Argumente im ersten<br />

Kapitel beziehen sich fast ausschließlich auf diesen Bereich.<br />

Ein solcher Fokus führt leicht zu einer Überbetonung der Kohärenz der<br />

Praxis, die an jeder anderen Stelle auch beobachtet werden könnte. Es überrascht<br />

deshalb nicht, daß die Psychoanalyse sich - trotz ihrer anfänglichen<br />

Sensibilität für Widersprüche - immer mehr einem Konzept von „Identität"<br />

angenähert hat. Poststrukturalistische Kritiken der Psychologie wie Wendy<br />

Hollway haben betont, daß <strong>Geschlecht</strong>sidentitäten brüchig <strong>und</strong> veränderlich<br />

sind, weil sich in jedem Lebenslauf verschiedenste Diskurse überlagern.' Ihr<br />

geht es um eine andere Sichtweise von Diskurs, Ideologie <strong>und</strong> Kultur. Das<br />

soziale <strong>Geschlecht</strong> ist aus dieser Sicht in symbolischen Praktiken organisiert,<br />

die einen viel längeren Zeitraum umfassen können als die individuelle Lebenszeit<br />

(beispielsweise die Konstruktion heroischer Männlichkeiten in Romanen;<br />

oder die Konstruktion „geschlechtsspezifischer Verstimmungen" [Dysphorien]<br />

<strong>und</strong> „Perversionen" in der Medizin).<br />

Das erste Kapitel zeigte, wie die Sozialwissenschaft nach <strong>und</strong> nach einen<br />

dritten Bereich des sozialen <strong>Geschlecht</strong>s wahrgenommen hat, nämlich Institutionen<br />

wie den Staat, die Schule <strong>und</strong> die Arbeitswelt. Vielen fällt es schwer,<br />

zu akzeptieren, daß Institutionen ganz substantiell geschlechtlich strukturiert<br />

sind, keineswegs nur metaphorisch. Und das ist der springende Punkt.<br />

Der Staat beispielsweise ist eine männliche Institution. Damit ist nicht<br />

unbedingt gemeint, daß die Persönlichkeiten der Männer in Führungspositionen<br />

auf die Institutionen abfärben. Es geht um etwas Gravierenderes: die<br />

Praktiken staatlicher Organisation strukturieren sich mit Bezug zum Reproduktionsbereich.<br />

Die überwiegende Mehrzahl der Führungspositionen sind<br />

mit Männern besetzt, weil Einstellung <strong>und</strong> Beförderung geschlechtsbezogen<br />

vorgenommen werden, weil auch die interne Arbeitsteilung <strong>und</strong> die Kontrollsysteme<br />

nicht geschlechtsunabhängig organisiert sind, ebensowenig die routinemäßigen<br />

Handlungsabläufe oder die Konsensbildung.'<br />

Dies alles hat aber nicht zwangsläufig mit den biologischen Aspekten der<br />

Reproduktion zu tun. Diese Verknüpfung hat soziale Gründe, was dann<br />

deutlich wird, wenn es zu Konflikten kommt. Ein Beispiel ist der öffentliche<br />

Debatte um „Schwule in der Armee", wo es darum ging, daß man Soldaten<br />

7 Sartre 1968 (S. 1590-<br />

8 Hollway 1984.<br />

9 Franzway et al. 1989, Grant <strong>und</strong> Tancred 1992.<br />

92 93


<strong>und</strong> Seeleute aufgr<strong>und</strong> ihrer sexuellen Objektwahl ausschloß. In den Vereinigten<br />

Staaten, wo dieser Streit am heftigsten tobte, argumentierten die Kritiker<br />

für einen Wandel unter Bezugnahme auf die Bürgerrechte <strong>und</strong> die militärische<br />

Schlagkraft, die sie nicht beeinträchtigt sahen, weil die sexuelle Objektwahl<br />

einer Person nichts mit ihrer Fähigkeit zu töten zu tun habe. Die Generäle<br />

<strong>und</strong> Admiräle verteidigten den Status quo mit fadenscheinigen Argumenten.<br />

Der uneingestandene Gr<strong>und</strong> aber war die kulturelle Bedeutung einer<br />

bestimmten Form von Männlichkeit für die Bewahrung des fragilen Zusammenhalts<br />

moderner Streitkräfte.<br />

Seit den Arbeiten von Juliet Mitchell <strong>und</strong> Gayle Rubin aus den 70er Jahren<br />

ist klar, daß das soziale <strong>Geschlecht</strong> eine vielschichtige innere Struktur besitzt,<br />

in der verschiedene Logiken übereinandergelagert sind. Für die Analyse<br />

von Männlichkeiten ist dieser Umstand von größter Bedeutung. Jede Form<br />

von Männlichkeit (als Konfiguration von Praxis) ist gleichzeitig in einer Reihe<br />

von Beziehungsstrukturen verortet, die durchaus unterschiedlichen historischen<br />

Entwicklungslinien folgen können. Dementsprechend ist Männlichkeit,<br />

ebenso wie Weiblichkeit, internen Widersprüchen <strong>und</strong> historischen Brüchen<br />

ausgesetzt.<br />

Wir brauchen ein mindestens dreistufiges Modell, um die Struktur des<br />

sozialen <strong>Geschlecht</strong>s darstellen zu können; wir unterscheiden dabei Macht<br />

(a), Produktion (b) <strong>und</strong> emotionale Bindungsstruktur (Kathexis*) (c). Es han<br />

delt sich um ein vorläufiges Modell, aber dadurch erhalten wir Ansatzpunkte<br />

für die Analyse von Männlichkeit."<br />

(a) Machtbeziehungen<br />

In der derzeitigen westlichen <strong>Geschlecht</strong>erordnung ist die wichtigste Achse<br />

der Macht die allgegenwärtige Unterordnung von Frauen <strong>und</strong> die Dominanz<br />

von Männern - eine Struktur, welche die Frauenbewegung als „Patriarchat"<br />

bezeichnet hat. Trotz zahlreicher Ausnahmen (wenn beispielsweise Frauen<br />

den Haushaltsvorstand darstellen oder weibliche Dozenten männliche Studenten<br />

unterrichten) besitzt diese Struktur Allgemeingültigkeit. Und trotz<br />

mannigfacher Widerstände, vor allem durch den Feminismus, besteht sie<br />

weiter. Aber für die patriarchale Macht bedeuten diese Ausnahmen <strong>und</strong> Widerstände<br />

permanente Schwierigkeiten. Sie stellen die Frage nach der Legitimität,<br />

was für Männlichkeitspolitik von großer Bedeutung ist.<br />

10<br />

94<br />

Mitchell 1981, Rubin 1975. Das dreistufige Modell wird ausführlich in Connell 1987<br />

dargestellt.<br />

In der Psychologie gebrauchter Terminus, der die Energie, die in ein Handeln, ein<br />

Objekt oder einen Menschen investiert wird, meint; Connell verwendet ihn analog<br />

des Begriffs „Besetzung" von Freud.<br />

(b) Produktionsbeziehungen<br />

<strong>Geschlecht</strong>liche Arbeitsteilungen sind vertraut als eine Form der Aufgabenzuweisung,<br />

die manchmal sehr feine Unterscheidungen trifft. (In einem englischen<br />

Dorf, das die Soziologin Pauline Hunt untersuchte, putzten die Frauen<br />

die Innenseiten der Fenster, die Männer die Außenseiten.) Aber man sollte<br />

auch auf die wirtschaftlichen Konsequenzen der Arbeitsteilung achten, auf<br />

die Dividende, die den Männern aufgr<strong>und</strong> ihrer ungleichen Beteiligung an<br />

der g<strong>esellschaf</strong>tlichen Arbeit zuwächst. Man spricht zwar oft über die ungleichen<br />

Löhne, aber auch das Kapital ist zwischen Männern <strong>und</strong> Frauen ungleich<br />

verteilt. Ein kapitalistisches Wirtschaftssystem, das aufgr<strong>und</strong> geschlechtlicher<br />

Arbeitsteilung funktioniert, bringt zwangsläufig auch einen geschlechtsbezogenen<br />

Akkumulationsprozeß mit sich. Es ist deshalb kein statistischer<br />

Zufall, sondern Teil der sozialen Konstruktion von Männlichkeit,<br />

daß Männer <strong>und</strong> nicht Frauen die großen Firmen leiten <strong>und</strong> die großen Privatvermögen<br />

besitzen. So unplausibel es auch klingen mag, ist diese Akkumulation<br />

des Reichtums in einem direkten Zusammenhang mit dem Reproduktionsbereich<br />

vermittelt über das g<strong>esellschaf</strong>tliche <strong>Geschlecht</strong>erverhältms.<br />

(c) Emotionale Bindungsstruktur (Kathexis)<br />

Wie ich schon im zweiten Kapitel anmerkte, wird das sexuelle Begehren oft<br />

für so natürlich gehalten, daß man es aus der Sozialwissenschaft ausklammert.<br />

Aber wenn wir Begehren aus einem Freudschen Verständnis h<strong>eraus</strong><br />

betrachten - nämlich als eine emotionale Energie, die an ein Objekt geheftet<br />

wird - ist offensichtlich, daß auch hier das soziale <strong>Geschlecht</strong> eine Rolle<br />

spielen muß. Das gilt für heterosexuelles wie für homosexuelles Begehren.<br />

(Bemerkenswert ist, daß in unserer G<strong>esellschaf</strong>t gerade die nicht an ein <strong>Geschlecht</strong><br />

geb<strong>und</strong>ene Objektwahl, das bisexuelle Begehren, als instabil <strong>und</strong><br />

unbestimmt gilt.) Die Praktiken, die das Begehren formen <strong>und</strong> realisieren,<br />

sind deshalb ein Aspekt der <strong>Geschlecht</strong>erordnung. Deshalb können wir auch<br />

die Beziehungen hinterfragen, die dabei eine Rolle spielen: Ob sie von Freiwilligkeit<br />

oder von Zwang geprägt sind, ob Genuß gegenseitig empf<strong>und</strong>en<br />

<strong>und</strong> ge<strong>geben</strong> wird. In der feministischen Analyse von Sexualität geht es bei<br />

diesen Kriterien vor allem um den Zusammenhang zwischen der Heterosexualität<br />

<strong>und</strong> der g<strong>esellschaf</strong>tlichen Dominanz der Männer.`<br />

Weil durch das soziale <strong>Geschlecht</strong> die gesamte soziale Praxis strukturiert<br />

wird <strong>und</strong> nicht nur spezifische Formen davon, ist es unweigerlich mit ande-<br />

12<br />

Hunt 1980. Eine politische Ökonomie des Feminismus ist jedenfalls im Entstehen,<br />

<strong>und</strong> ich beziehe mich hier auf Mies 1986, Waring 1988, Armstrong <strong>und</strong> Armstrong<br />

1990.<br />

Einige der besten Arbeiten über die Politik der Heterosexualität kommt aus Kanada:<br />

Valverde 1985, Buchbinder et al. 1987. Ein konzeptueller Entwurf wurde von Connell<br />

<strong>und</strong> Dowsett 1992 vorgelegt.<br />

95


en sozialen Strukturen verknüpft. Mittlerweile ist die Erkenntnis verbreitet,<br />

daß das soziale <strong>Geschlecht</strong> sich mit Faktoren wie Rasse oder Klasse „überschneidet",<br />

bzw. mit diesen interagiert. Wir könnten hinzufügen, daß es auch<br />

mit Nationalität oder der Position in der Weltordnung interagiert.<br />

Diese Tatsache ist für eine Analyse von Männlichkeit von entscheidender<br />

Bedeutung. Die Männlichkeit weißer Männer ist zum Beispiel nicht nur<br />

in Relation zu weißen Frauen konstruiert, sondern auch in Relation zu<br />

schwarzen Männern. Vor mehr als einem Jahrzehnt hat Paul Hoch in „White<br />

Hero, Black BeasC auf die rassische Metaphorik in westlichen Diskursen<br />

über Männlichkeit hingewiesen. Die Ängste der Weißen vor schwarzer Gewalt<br />

haben eine lange Geschichte. Und die Ängste der Schwarzen vor dem<br />

Terror weißer Männer gehen zurück auf die Kolonialzeit, bestehen aber weiter,<br />

weil sich in den Industrieländern Polizei, Gerichte <strong>und</strong> Gefängnisse immer<br />

noch in Händen weißer Männer befinden. Die überwiegende Mehrzahl<br />

der Gefangenen in den Gefängnissen der USA sind afroamerikanische Männer,<br />

in den australischen Gefängnissen die Männer der Aborigines. Diese Situation<br />

schlägt sich in dem afroamerikanischen Ausdruck „Der Mann" (The<br />

Man) nieder, der weiße Männlichkeit <strong>und</strong> institutionelle Macht miteinander<br />

verschmilzt. Der schwarze Rapper Ice-T meint hierzu:<br />

Es ist ganz egal, ob du draußen bist oder drinnen. Das Ghetto, der Knast, es ist alles institutionalisiert.<br />

Kontrolliert wird es von „Dem Mann "... Schon seit 1976 haben sie damit<br />

aufgehört, die Schwarzen zu rehabilitieren. Jetzt geht es nur noch um eine strenge Bestrafung.<br />

Die Antwort„ Des Mannes" auf die Probleme ist nicht eine bessere Erziehung -<br />

sondern mehr Gefängnisse. Sie sagen nicht, gebt ihnen eine bessere Erziehung, sondern<br />

laßt sie uns verdammt noch mal einbuchten. Und wenn du da irgendwann wieder raus-<br />

1 3<br />

kommst, bist du sowieso hirntot, ja, das ist der Kreislauf.<br />

Und entsprechend kann man auch nicht die Gestaltung von Männlichkeiten<br />

der Arbeiterklasse begreifen, wenn man neben ihrer <strong>Geschlecht</strong>erpolitik nicht<br />

auch die Klassenzugehörigkeit berücksichtigt. Ganz eindrucksvoll zeigt sich<br />

das in historischen Untersuchungen wie beispielsweise Sonya Roses „Limited<br />

Livelihoods" über die englische Industrie im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert. Das Arbeiterklassenideal<br />

von Mannhaftigkeit <strong>und</strong> Selbstachtung wurde als Reaktion<br />

auf die Klassendiskriminierung <strong>und</strong> auf den Paternalismus der Fabrikbesitzer<br />

konstruiert, aber gleichzeitig <strong>und</strong> mit denselben Gesten grenzte man sich<br />

auch gegen die Frauen der eigenen Schicht ab. Die Strategie des „Familienlohns",<br />

welche die Löhne der Frauen bis weit ins 20. Jahrh<strong>und</strong>ert hinein niedrig<br />

gehalten hat, ist auch ein Ergebnis dieses Wechselspiels?"<br />

Um das soziale <strong>Geschlecht</strong> zu verstehen, müssen wir auch ständig darüberhinausgehen.<br />

Und umgekehrt verhält es sich genauso. Wir können Fragen<br />

der Klasse, der Rasse oder der globalen Ungleichheit nicht ohne einen<br />

13 Das Interview mit Ice-T stammt aus „City an a Hill Press" (Santa Cruz/CA), 21. Januar<br />

1993; Hoch 1979.<br />

14 Rose 1992, v.a. Kapitel 6.<br />

permanenten Rückgriff auf das soziale <strong>Geschlecht</strong> begreifen. Die Beziehungen<br />

zwischen den <strong>Geschlecht</strong>ern sind ein wesentlicher Bestandteil der sozialen<br />

Strukturen, <strong>und</strong> <strong>Geschlecht</strong>erpolitik ist einer der Hauptfaktoren unseres<br />

kollektiven Schicksals.<br />

Da man dem Wechselspiel zwischen sozialem <strong>Geschlecht</strong>, Rasse <strong>und</strong> Klasse<br />

immer größere Aufmerksamkeit zuwandte, wurde es auch üblich, verschiedene<br />

Formen von Männlichkeit zu unterscheiden: schwarze <strong>und</strong> weiße, aus<br />

der Arbeiterklasse <strong>und</strong> aus der Mittelschicht. Das ist zu begrüßen, birgt aber<br />

die Gefahr der Vereinfachung, weil man denken könnte, daß es nur eine<br />

schwarzer Männlichkeit gibt, oder eine Arbeiterklassen-Männlichkeit.<br />

Aber die Erkenntnis, daß es verschiedene Formen von Männlichkeit gibt,<br />

ist nur der erste Schritt. Wir müssen auch die Beziehungen zwischen den verschiedenen<br />

Formen untersuchen. Außerdem sollte man die Milieus von Klas<br />

se <strong>und</strong> Rasse auseinandernehmen <strong>und</strong> den Einfluß des sozialen <strong>Geschlecht</strong>s<br />

innerhalb dieser Milieus berücksichtigen. Es gibt schließlich auch schwarze<br />

Schwule <strong>und</strong> effiminierte Fabrikarbeiter, Vergewaltiger aus der Mittelschicht<br />

<strong>und</strong> bürgerliche Transvestiten.<br />

Auf das <strong>Geschlecht</strong>erverhältnis unter Männer muß man achten, um die<br />

Analyse dynamisch zu halten, damit die Vielfalt an Männlichkeiten nicht zu<br />

einer bloßen Charaktertypologie erstarrt, wie man das bei Erich Fromm <strong>und</strong><br />

seiner „autoritären Persönlichkeit" beobachten konnte. „ Hegemoniale<br />

Männlichkeit" ist kein starr, über Zeit <strong>und</strong> Raum unveränderlicher Charakter.<br />

Es ist vielmehr jene Form von Männlichkeit, die in einer ge<strong>geben</strong>en<br />

Struktur des <strong>Geschlecht</strong>erverhältnisses die bestimmende Position einnimmt,<br />

eine Position allerdings, die jederzeit in Frage gestellt werden kann.<br />

Die relationale Betrachtungsweise bringt einen Realitätsgewinn mit sich.<br />

Indem man verschiedene Formen von Männlichkeit unterscheidet, erweckt<br />

man vor allem in einer individualisierten Kultur, wie etwa den Vereinigten<br />

Staaten, leicht den Eindruck, es handele sich um unterschiedliche Lebensstile,<br />

aus denen man als Konsument einfach auswählen könnte. Ein relationaler<br />

Ansatz läßt den starken Druck besser erkennen, unter dem <strong>Geschlecht</strong>erkonfigurationen<br />

geformt werden, die Bitterkeit wie auch das Lustvolle in der geschlechtsbezogenen<br />

Erfahrung. Unter diesen Aspekten können wir nun die<br />

Praktiken <strong>und</strong> Verhältnisse betrachten, welche die Hauptformen von Männlichkeit<br />

in der derzeitigen westlichen <strong>Geschlecht</strong>erordnung hervorbringen.<br />

9 6 97


Hegemanie<br />

Das Konzept der „Hegemonie" stammt aus der Analyse der Klassenbeziehungen<br />

von Antonio Gramsci <strong>und</strong> bezieht sich auf die g<strong>esellschaf</strong>tliche Dynamik,<br />

mit welcher eine Gruppe eine Führungsposition im g<strong>esellschaf</strong>tlichen<br />

Leben einnimmt <strong>und</strong> aufrechterhält. Zu jeder Zeit wird eine Form von Männlichkeit<br />

im Gegensatz zu den anderen kulturell h<strong>eraus</strong>gehoben. Hegemoniale<br />

Männlichkeit kann man als jene Konfiguration geschlechtsbezogener Praxis<br />

definieren, welche die momentan akzeptierte Antwort auf das Legitimitätsproblem<br />

des Patriarchats verkörpert <strong>und</strong> die Dominanz der Männer sowie die<br />

Unterordnung der Frauen gewährleistet (oder gewährleisten soll)."<br />

Damit ist nicht gesagt, daß die jeweils offensichtlichsten Vertreter einer<br />

hegemonialer Männlichkeit auch die mächtigsten Männer sind. Sie können<br />

Vorbilder sein, zum Beispiel Filmschauspieler, oder auch Phantasiegestalten<br />

wie Filmfiguren. Sehr mächtige oder sehr reiche Männer können dagegen in<br />

ihrem individuellen Lebensstil weit von hegemonialen Mustern entfernt sein.<br />

(So war beispielsweise ein Mitglied einer bekannten Wirtschaftsdynastie eine<br />

Schlüsselfigur der Schwulen- <strong>und</strong> Transvestitenszene im Sydney der 50er<br />

Jahre; sein Reichtum verschaffte ihm den nötigen Schutz im von polizeilichen<br />

<strong>und</strong> politischen Schikanen geprägten Klima der 50er Jahre.")<br />

Aber diese Hegemonie entsteht trotzdem nur, wenn es zwischen dem<br />

kulturellen Ideal <strong>und</strong> der institutionellen Macht eine Entsprechung gibt, sei<br />

sie kollektiv oder individuell. Die Führungsebenen von Wirtschaft, Militär<br />

<strong>und</strong> Politik stellen eine recht überzeugende korporative Inszenierung von<br />

Männlichkeit zur Schau, die von feministischen Angriffen <strong>und</strong> sich verweigernden<br />

Männern immer noch ziemlich unberührt scheint. Diese Hegemonie<br />

zeichnet sich weniger durch direkte Gewalt aus, sondern durch ihren erfolgreich<br />

erhobenen Anspruch auf Autorität (obwohl Autorität oft durch Gewalt<br />

gestützt <strong>und</strong> aufrechterhalten wird).<br />

Ich möchte noch einmal betonen, daß in der hegemonialen Männlichkeit<br />

eine „derzeitig akzeptierte" Strategie verkörpert ist. Sobald sich die Bedingungen<br />

für die Verteidigung des Patriarchats verändern, wird dadurch auch<br />

die Basis für die Vorherrschaft einer bestimmten Männlichkeit ausgehöhlt.<br />

Neue Gruppen können dann alte Lösungen in Frage stellen <strong>und</strong> eine neue<br />

Hegemonie konstruieren. Die Vorherrschaft jeder Gruppe von Männern kann<br />

von den Frauen h<strong>eraus</strong>gefordert werden. Hegemonie ist deshalb eine historisch<br />

bewegliche Relation. Ihr Hin <strong>und</strong> Her ist auch das Schlüsselelement<br />

15<br />

16<br />

98<br />

Ich möchte auf den dynamischen Charakter von Gramscis Konzept der Hegemonie<br />

hinweisen, das eben nicht eine funktionalistische Theorie der kulturellen Reproduktion<br />

darstellt, wie man ihm oft nachsagt. Gramsci behielt immer den sozialen Kampf<br />

um Vorherrschaft in seinem geschichtlichen Wandel im Auge.<br />

Wotherspoon 1991 (drittes Kapitel) beschreibt dieses g<strong>esellschaf</strong>tliche Klima, diskreterweise<br />

ohne auf die Individuen einzugehen.<br />

von Männlichkeit, wie ich sie in diesem Buch beschreiben möchte. Ich werde<br />

deren Geschichte im achten Kapitel <strong>und</strong> die Auseinandersetzungen der jüngeren<br />

Vergangenheit im neunten <strong>und</strong> zehnten Kapitel untersuchen.<br />

Unterardnung<br />

Hegemonie bezieht sich auf kulturelle Dominanz in der G<strong>esellschaf</strong>t insgesamt.<br />

Innerhalb dieses umfassenden Rahmens gibt es aber spezifische <strong>Geschlecht</strong>erbeziehungen<br />

von Dominanz <strong>und</strong> Unterordnung zwischen Gruppen<br />

von Männern.<br />

Am wichtigsten in der heutigen westlichen G<strong>esellschaf</strong>t ist die Dominanz<br />

heterosexueller Männer <strong>und</strong> die Unterordnung homosexueller Männer. Dies<br />

bedeutet viel mehr als die kulturelle Stigmatisierung von Homosexualität<br />

oder schwuler Identität. Schwule Männer sind Hetero-Männern mittels einer<br />

Reihe recht handfester Praktiken untergeordnet.<br />

Diese Praktiken wurden in den frühen Texten der Schwulenbewegung<br />

aufgelistet - zum Beispiel in Dennis Altmanns „Homosexual: Oppression<br />

and Liberation". Sie wurden auch ausführlich in Untersuchungen dokumen<br />

tiert, beispielsweise im 1982er Bericht des NSW Anti-Discrimination Board<br />

„Discrimination and Homosexuality". Für homosexuelle Männer sind sie immer<br />

noch Teil ihrer Alltagserfahrung. Sie umfassen politischen <strong>und</strong> kulturellen<br />

Ausschluß, kulturellen Mißbrauch (in den USA wurden die Schwulen<br />

zum symbolischen Sündenbock der religiösen Rechten), staatliche Gewalt<br />

(beispielsweise Gefängnisstrafen aufgr<strong>und</strong> von Sodomieparagraphen), Gewalt<br />

auf den Straßen (reicht von der Einschüchterung bis zum Mord), wirtschaftlicher<br />

Diskriminierung <strong>und</strong> Boykottierung als Person. Die folgende<br />

Äußerung eines Mannes aus der Arbeiterklasse, der sich zu seiner Homosexualität<br />

in einer homophoben G<strong>esellschaf</strong>t bekannte, ist deshalb nicht überraschend:<br />

Verstehen Sie, ich hatte ja keine Ahnung, was es bedeuten würde schwul zu sein. Es ist<br />

nämlich ein beschissenes Leben.<br />

Durch diese Unterdrückung geraten homosexuelle Männlichkeiten an das<br />

unterste Ende der männlichen <strong>Geschlecht</strong>erhierarchie. Alles, was die patriarchale<br />

Ideologie aus der hegemonialen Männlichkeit ausschließt, wird dem<br />

Schwulsein zugeordnet; das reicht von einem anspruchsvollen innenarchitektonischen<br />

Geschmack bis zu lustvoll-passiver analer Sexualität. Deshalb<br />

wird aus der Sicht der hegemonialen Männlichkeit Schwulsein leicht mit<br />

Weiblichkeit gleichgesetzt. Und mancher schwule Theoretiker sieht darin<br />

den Gr<strong>und</strong> für die Heftigkeit homophober Angriffe.<br />

17 Altman 1972; Anti-Discrimination Board 1982. Das Zitat stammt aus Connell, Davis,<br />

Dowsett 1993 (S. 122).<br />

99


Schwule Männlichkeit ist die auffallendste, aber nicht die einzige Form<br />

untergeordneter Männlichkeit. Auch heterosexuelle Männer <strong>und</strong> Jungen können<br />

aus dem Kreis der Legitimierten ausgestoßen werden. Begleitet wird die<br />

ser Vorgang von einem reichhaltigen Vokabular an Schimpfwörtern: Schwächling,<br />

Schlappschwanz, Muttersöhnchen, Waschlappen, Feigling, Hosenscheißer,<br />

Saftarsch, Windbeutel, halbe Portion, Brillenschlange, Milchbrötchen,<br />

Memme, Streber, <strong>und</strong> so weiter. Auch hier ist die symbolische Nähe<br />

zum Weiblichen offensichtlich.<br />

Komplizenschaft<br />

Wie bereits gesagt, stehen normative Definitionen von Männlichkeit vor dem<br />

Problem, daß nur wenige Männer diesen normativen Ansprüchen wirklich<br />

genügen. Das gilt auch für die hegemoniale Männlichkeit. Die Anzahl von<br />

Männern, die das hegemoniale Muster wirklich rigoros <strong>und</strong> vollständig umsetzen<br />

oder praktizieren, mag recht klein sein. Trotzdem profitiert die überwiegende<br />

Mehrzahl der Männer von der Vorherrschaft dieser Männlichkeitsform,<br />

weil sie an der patriarchalen Dividende teilhaben, dem allgemeinen<br />

Vorteil, der den Männern aus der Unterdrückung der Frauen erwächst.<br />

Wie im ersten Kapitel deutlich wurde, konzentrieren sich Darstellungen<br />

von Männlichkeit vor allem auf Syndrome <strong>und</strong> Typen, nicht auf Zahlen.<br />

Aber wenn man über die Dynamik der Gesamtg<strong>esellschaf</strong>t nachdenkt, sind<br />

Zahlen schon von Bedeutung. <strong>Geschlecht</strong>erpolitik ist Massenpolitik, <strong>und</strong> ihre<br />

Strategien müssen deshalb die Mehrheitsmeinung berücksichtigen. Wenn eine<br />

große Anzahl von Männern mit der hegemonialen Männlichkeit in Verbindung<br />

steht, sie aber nicht verkörpern, brauchen wir ein theoretisches Konzept,<br />

das diese Situation erfassen kann.<br />

Eine Möglichkeit besteht darin, eine andere Form des Verhältnisses zwischen<br />

Gruppen von Männern zu betrachten, nämlich die Komplizenschaft<br />

mit der hegemonialen Männlichkeit. Als komplizenhaft verstehen wir in die<br />

sem Sinne Männlichkeiten, die zwar die patriarchale Dividende bekommen,<br />

sich aber nicht den Spannungen <strong>und</strong> Risiken an der vordersten Frontlinie des<br />

Patriarchats aussetzen.<br />

Man ist versucht, diese Männer als Schlachtenbummler hegemonialer<br />

Männlichkeit zu behandeln - analog dem Unterschied zwischen den Männern,<br />

die sich Football-Spiele am Fernseher ansehen, <strong>und</strong> denen, die sich selbst hin<br />

aus in den Kampf wagen. Aber oft liegen die Dinge nicht so einfach. Ehe,<br />

Vaterschaft <strong>und</strong> Familienleben machen in der Regel weitreichende Kompromisse<br />

mit Frauen notwendig, <strong>und</strong> nicht bloße Dominanz oder das Zurschaustellen<br />

einer unbestreitbaren Autorität.' R Sehr viele Männer, die an der<br />

18 Vergleiche beispielsweise die weißen amerikanischen Familien, die Rubin 1976 beschreibt.<br />

100<br />

patriarchalen Dividende teilhaben, achten ihre Frauen <strong>und</strong> Mütter, sind nie<br />

gewalttätig gegenüber Frauen, übernehmen ihren Anteil an der Hausarbeit,<br />

bringen ihren Familienlohn nach Hause <strong>und</strong> kommen nur allzu leicht zu dem<br />

Schluß, daß Feministinnen büstenhalterverbrennende Extremistinnen sein<br />

müssen.<br />

Mairginalisierung<br />

Hegemonie, Unterordnung <strong>und</strong> Komplizenschaft sind also interne Relationen<br />

der <strong>Geschlecht</strong>erordnung. Die Interaktion des sozialen <strong>Geschlecht</strong>s mit anderen<br />

Strukturen wie Klasse oder Rasse schafft weitere Beziehungsmuster zwischen<br />

verschiedenen Formen von Männlichkeit.<br />

Im zweiten Kapitel habe ich beschrieben, wie neue Informationstechnologien<br />

zu einer Neudefinition der Mittelschichtsmännlichkeiten beigetragen<br />

haben, <strong>und</strong> zwar zu einem Zeitpunkt, als die Bedeutung der Arbeit für Män<br />

ner aus der Arbeiterklasse kontrovers wurde. Wir haben es hier also nicht mit<br />

einer starren Mittelschichtsmännlichkeit zu tun, die mit einer ebenso starren<br />

Arbeiterklassenmännlichkeit in Konflikt gerät. Denn beide sind durch die g<strong>esellschaf</strong>tliche<br />

Dynamik, in der sowohl Klassen- als auch <strong>Geschlecht</strong>errelationen<br />

eine Rolle spielen, Veränderungen unterworfen.<br />

Auch Rassenaspekte können ein integraler Bestandteil der Dynamik zwischen<br />

den einzelnen Männlichkeiten werden. In einem weiß dominierten<br />

Kontext haben schwarze Männlichkeiten symbolische Bedeutung für die<br />

Konstruktion des sozialen <strong>Geschlecht</strong>s von Weißen. So werden beispielsweise<br />

schwarze Sportstars zu Musterbeispielen männlicher Härte, während die<br />

Phantasiegestalt des schwarzen Vergewaltigers in der <strong>Geschlecht</strong>erpolitik<br />

unter Weißen eine bedeutende Rolle spielt, die von den rechten Politikern in<br />

den USA nur zu gerne instrumentalisiert wird. Andererseits hält die hegemoniale<br />

Männlichkeit unter Weißen die institutionelle <strong>und</strong> physische Unterdrückung<br />

aufrecht, welche den Rahmen für die Konstruktion einer schwarzen<br />

Männlichkeit bilden.<br />

In „Black Masculinity ° beschäftigt sich Robert Staples mit dem internationalen<br />

Kolonialismus <strong>und</strong> kommt zu dem Schluß, daß sich Relationen zwischen<br />

den Klassen <strong>und</strong> zwischen den Rassen gleichzeitig auswirken. Das<br />

Ausmaß an Gewalt zwischen schwarzen Männern in den USA kann nur verstanden<br />

werden, wenn man den gesunkenen Stellenwert schwarzer Arbeitskraft<br />

im amerikanischen Kapitalismus berücksichtigt <strong>und</strong> auch die gewaltsamen<br />

Mittel, um sie zu kontrollieren. Massenarbeitslosigkeit <strong>und</strong> Armut in<br />

den Großstädten stehen in Wechselwirkung mit dem institutionalisierten Rassismus<br />

<strong>und</strong> prägen die schwarze Männlichkeit.'<br />

19 Staples 1982. Neuere Literatur über schwarze Männlichkeit in den USA - z.B. Majors<br />

<strong>und</strong> Gordon 1994 - hat sich von Staples' Strukturanalyse distanziert <strong>und</strong> sich


Obwohl der Begriff nicht ideal ist, belasse ich es doch bei „Marginalisierung",<br />

um die Beziehungen zwischen Männlichkeiten dominanter <strong>und</strong> untergeordneter<br />

Klassen oder ethnischer Gruppen zu beschreiben. Marginalisie<br />

rung entsteht immer relativ zur Ermächtigung hegemonialer Männlichkeit<br />

der dominanten Gruppe. Deshalb können in den USA schwarze Sportler<br />

durchaus Vorbilder für hegemoniale Männlichkeit ab<strong>geben</strong>. Aber der Ruhm<br />

<strong>und</strong> Reichtum einzelner Stars strahlt nicht auf die anderen Schwarzen aus<br />

<strong>und</strong> verleiht den schwarzen Männern nicht generell ein größeres Maß an Autorität.<br />

Auch zwischen untergeordneten Männlichkeiten kann es zu Marginalisierung<br />

<strong>und</strong> Ermächtigung kommen. Ein überzeugendes Beispiel ist die Verhaftung<br />

<strong>und</strong> Verurteilung Oscar Wildes, einer der ersten Männer, die sich im<br />

Netz moderner, gegen die Homosexuellen gerichteten Paragraphen verfangen<br />

hatten. Man hatte ihn erwischt, weil er Kontakt zu jungen Schwulen aus der<br />

Arbeiterklasse hatte. Aber diese Kontakte warf man ihm erst vor, als er durch<br />

einen Rechtsstreit mit einem reichen Aristokraten, dem Marquess of Queensberry,<br />

anfechtbar wurde."<br />

Diese zwei Typen von Relationen - Hegemonie, Dominanz/Unterordnung<br />

<strong>und</strong> Komplizenschaft einerseits, Marginalisierung/Ermächtigung andererseits<br />

- bilden einen Rahmen, mit dessen Hilfe wir spezifische Formen von<br />

Männlichkeit analysieren können. (Es handelt sich um einen kargen Rahmen,<br />

aber von Sozialtheorie wird immer harte Arbeit erwartet.) Ich möchte noch<br />

einmal betonen, daß Begriffe wie „hegemoniale Männlichkeit" oder „marginalisierte<br />

Männlichkeit" keine festen Charaktertypen bezeichnen, sondern<br />

Handlungsmuster, die in bestimmten Situationen innerhalb eines veränderlichen<br />

Beziehungsgefüges entstehen. Jede brauchbare Männlichkeitstheorie<br />

muß diesen Veränderungsprozeß mit einbeziehen.<br />

Um das <strong>Geschlecht</strong> als soziales Muster erfassen zu können, müssen wir es als<br />

ein Produkt der Geschichte begreifen, aber ebenso als einen Produzenten von<br />

Geschichte. Im zweiten Kapitel habe ich die <strong>Geschlecht</strong>erpraxis als ontoformativ<br />

<strong>und</strong> Realität hervorbringend definiert; <strong>und</strong> wichtig an dieser Vorstellung<br />

ist, daß soziale Realität sich über die Zeit verändert. Wir denken gewöhnlich,<br />

daß das Soziale weniger wirklich sei als das Biologische, <strong>und</strong> daß,<br />

was sich verändert, weniger wirklich sei als etwas, das gleich bleibt. Aber die<br />

Geschichte besitzt eine ungeheure Wirklichkeit. Sie ist die Art <strong>und</strong> Weise,<br />

der <strong>Geschlecht</strong>srollentheorie angenähert; die bevorzugte politische Strategie ist nicht<br />

ganz überraschend die Beratung <strong>und</strong> Resozialisierung schwarzer Jugendlicher.<br />

20 Ellmann 1991.<br />

102<br />

wie menschliches Leben existiert, <strong>und</strong> macht eigentlich unser Menschsein<br />

erst aus. Kein anderes Lebewesen hat <strong>und</strong> schafft eine Geschichte, ersetzt die<br />

natürliche Entwicklung durch radikal neue Entwicklungsbedingungen.<br />

Die Historizität von Männlichkeit <strong>und</strong> Weiblichkeit anzuerkennen, heißt<br />

nicht, daß sie dadurch oberflächlich oder trivial würden. Man weist ihnen dadurch<br />

in der Welt sozialen Handelns einen festen Platz zu. Und provoziert<br />

dadurch ein ganzes Bündel neuer Fragen hinsichtlich ihrer Historizität.<br />

Die Strukturen des <strong>Geschlecht</strong>erverhältnisses entstehen <strong>und</strong> verändern<br />

sich mit der Zeit. In der Geschichtswissenschaft nahm man an, daß diese<br />

Veränderungen von außen auf das soziale <strong>Geschlecht</strong> einwirken - meistens<br />

Veränderungen der Klassenverhältnisse oder der technischen Bedingungen.<br />

Aber Veränderungen können auch innerhalb des <strong>Geschlecht</strong>erverhältnisses<br />

entstehen, eine Dynamik, die so alt ist wie das <strong>Geschlecht</strong>erverhältnis selbst.<br />

Aber erst in den letzten beiden Jahrh<strong>und</strong>erten ist dieser Prozeß offensichtlicher<br />

geworden, vor allem durch das Entstehen einer öffentlichen <strong>Geschlecht</strong>er-<br />

<strong>und</strong> Sexualitätspolitik.<br />

Durch die Suffragettenbewegung <strong>und</strong> die frühe Homosexuellenbewegung<br />

wurde der dem <strong>Geschlecht</strong>erverhältnis innewohnende Interessenkonflikt<br />

sichtbar. Interessen bilden sich immer in Strukturen der Ungleichheit,<br />

weil sich dadurch zwangsläufig Gruppen abgrenzen, die von einer Veränderung<br />

oder Beibehaltung der Strukturen in unterschiedlichem Maß profitieren<br />

oder zu Schaden kommen. Eine <strong>Geschlecht</strong>erordnung, in der Männer über<br />

Frauen dominieren, kann nicht verhindern, daß die Männer eine Interessengruppe<br />

formen, die Veränderungen entgegenwirkt, <strong>und</strong> daß die Frauen eine<br />

Interessengruppe bilden, die Veränderungen anstrebt. Das ist eine strukturbedingte<br />

Tatsache <strong>und</strong> völlig unabhängig davon, ob nun der einzelne Mann<br />

die Frauen liebt oder haßt, ob er an Gleichberechtigung glaubt oder an seine<br />

Überlegenheit, <strong>und</strong> auch unabhängig davon, ob Frauen gerade auf Veränderungen<br />

drängen.<br />

Wenn ich von einer patriarchalen Dividende spreche, meine ich genau<br />

diese Interessen. Männer profitieren vom Patriarchat durch einen Zugewinn<br />

an Achtung, Prestige <strong>und</strong> Befehlsgewalt. Sie profitieren aber auch materiell.<br />

In den reichen Industrienationen ist das Durchschnittseinkommen der Männer<br />

ungefähr doppelt so hoch wie das der Frauen (der üblichere Vergleichsmaßstab,<br />

der Lohn für eine Volizeitbeschäftigung, verzerrt die tatsächlichen<br />

Einkommensunterschiede zwischen den <strong>Geschlecht</strong>ern). Es ist sehr viel<br />

wahrscheinlicher, daß ein Mann als Verantwortlicher einer Firma große Kapitalmengen<br />

kontrolliert oder sogar selbst besitzt. So befanden sich 1992 von<br />

den 55 amerikanischen Vermögen über einer Milliarde Dollar nur fünf davon<br />

hauptsächlich in weiblichen Händen - <strong>und</strong> davon waren, bis auf eine Ausnahme,<br />

alle von einem Mann ererbt.<br />

Auch die Staatsmacht befindet sich mit sehr viel größerer Wahrscheinlichkeit<br />

in den Händen eines Mannes. Auf zehn männliche Parlamentarier<br />

kommt nur ein weiblicher (im weltweiten Durchschnitt). Vielleicht überneh-<br />

103


men die Männer wenigstens auch den Großteil der Arbeit? Nein: wie Zeitbudget-Untersuchungen<br />

in den Industrienationen zeigen, entsprechen die<br />

Jahresarbeitsst<strong>und</strong>en der Frauen ungefähr der der Männer. (Wieviel dieser<br />

Arbeit allerdings bezahlt wird, macht den Unterschied aus)."<br />

Wenn man sich diese Tatsachen vor Augen führt, ist das Gerede vom<br />

„Kampf der <strong>Geschlecht</strong>er" kein Scherz mehr. Wenn die Ungleichheiten ein<br />

solches Ausmaß annehmen, müssen soziale Kämpfe die Folge sein. Eine<br />

Männlichkeitspolitik kann sich demzufolge nicht nur mit Identitäten <strong>und</strong> dem<br />

Privatleben beschäftigen, sondern muß auch Fragen der sozialen Gerechtigkeit<br />

berücksichtigen.<br />

Man kann sich eine dermaßen ungleiche Struktur, die mit einer so massiven<br />

Enteignung sozialer Ressourcen einhergeht, eigentlich kaum gewaltfrei<br />

vorstellen. Und es ist mit überwältigender Mehrheit das dominierende Ge<br />

schlecht, das die Gewaltmittel in Händen hält, Männer sind weit häufiger als<br />

Frauen bewaffnet. In vielen <strong>Geschlecht</strong>ersystemen ist es den Frauen sogar untersagt,<br />

Waffen zu benutzen (eine Regel, die sich erstaunlicherweise sogar auf<br />

Armeen bezieht). Patriarchale Definitionen von Weiblichkeit (abhängig,<br />

ängstlich) führen zu einer Art kultureller Entwaffnung, vermutlich ebenso<br />

wirkungsvoll wie die tatsächliche physische Entwaffnung. In Fällen häuslicher<br />

Gewalt findet man oft mißhandelte Frauen, die rein physisch durchaus<br />

in der Lage gewesen wären, sich zu verteidigen, die aber die Zuschreibung<br />

des mißhandelnden Mannes akzeptierten, daß sie hilflos <strong>und</strong> unfähig seien."<br />

Daraus folgen zwei Formen von Gewalt. Erstens benutzen viele Mitglieder<br />

der privilegierten Gruppe Gewalt, um ihre Dominanz zu sichern. Die Einschüchterung<br />

von Frauen kann vom Nachpfeifen auf der Straße, über sexu<br />

elle Belästigung am Arbeitsplatz, Vergewaltigung <strong>und</strong> Mißhandlung zu Hause,<br />

bis hin zur Ermordung durch den patriarchalen „Eigentümer" einer Frau<br />

(z.B. durch einen verlassenen Ehemann) reichen. Körperliche Angriffe werden<br />

in der Regel von Verbalinjurien begleitet (Miststücke <strong>und</strong> Nutten, die der<br />

neueren Popmusik zufolge geradezu nach Schlägen verlangen). Die meisten<br />

Männer belästigen oder attackieren Frauen nicht. Aber jene, die es tun, werden<br />

ihr Verhalten kaum als deviant betrachten. Ganz im Gegenteil, sie haben<br />

meistens das Gefühl, vollkommen im Recht zu sein. Sie fühlen sich von einer<br />

Ideologie der Suprematie ermächtigt.<br />

Zum zweiten spielt Gewalt zunehmend auch in der <strong>Geschlecht</strong>erpolitik<br />

unter Männern eine Rolle. Die meisten Gewalthandlungen (inklusive kriegerischer<br />

Auseinandersetzungen, Morde <strong>und</strong> bewaffnete Angriffe) finden zwi-<br />

21 Betreffs der Reichtumsverteilung siehe die Statistik der US-Millionäre im „Forbes"-<br />

Magazin (19. Oktober 1992). Die Abgeordneten-Zahlen stammen aus einem Bericht<br />

des „San Francisco Chronicle" vom 12. September 1993, <strong>und</strong> aus dem United Na<br />

tions Development Programme 1992 (S. 145). Die Ergebnisse von Studien zum Zeit-<br />

Budget werden manche Leserinnen <strong>und</strong> Leser überraschen; siehe Bittman 1991.<br />

22 Meine Argumentation bezieht sich hier auf Russell 1982, Connell 1982, Ptacek<br />

1988, Smith 1989.<br />

104<br />

scheu Männern statt. Terrorisierung dient dazu, Menschen sozial auszugrenzen,<br />

wie es bei heterosexueller Gewalt gegen Schwule der Fall ist. In Gruppenkonflikten<br />

kann Gewalt dazu dienen, sich der eigenen Männlichkeit zu<br />

versichern oder diese zu demonstrieren. Wenn eine zuvor unterdrückte<br />

Gruppe Gewaltmittel in die Hand bekommt, kann es zur Eskalation der Gewalt<br />

kommen - wie man an den Ausschreitungen zwischen Schwarzen in<br />

Südafrika <strong>und</strong> in den USA sehen kann. Der Gewalt der großstädtischen Jugendbanden<br />

ist ein überzeugendes Beispiel dafür, wie sich eine marginalisierte<br />

Männlichkeit in einem Kampf von unterdrückten gegen mächtigere<br />

Männer zu behaupten versucht, zusammen mit der fortwährenden Geltendmachung<br />

der eigenen Männlichkeit durch sexuelle Gewalt gegen Frauen."<br />

Gewalt kann auch eine reaktionäre <strong>Geschlecht</strong>erpolitik bekräftigen, wie<br />

in den Brand- <strong>und</strong> Mordanschlägen gegen die Betreiber von Abtreibungskliniken<br />

in den USA. Aber man muß hinzufügen, daß kollektive Gewalt unter<br />

Männern auch Möglichkeiten für Fortschritte im <strong>Geschlecht</strong>erverhältnis eröffnen<br />

kann. Die beiden Weltkriege dieses Jahrh<strong>und</strong>erts haben die Beschäftigungssituation<br />

von Frauen erheblich verändert, die <strong>Geschlecht</strong>erideologie erschüttert<br />

<strong>und</strong> die Entstehung homosexueller Subkulturen gefördert.<br />

Gewalt ist Teil eines Unterdrückungssystems, gleichzeitig ist sie aber<br />

auch ein Maß für seine Mangelhaftigkeit. Eine vollkommen legitimierte<br />

Herrschaft hätte Einschüchterung weniger nötig. Das derzeitige Ausmaß an<br />

Gewalt deutet auf die „Krisentendenz" (um einen Begriff von Jürgen Habermas<br />

zu verwenden) der modernen <strong>Geschlecht</strong>erordnung.<br />

Den Begriff der Krisentendenz muß man unterscheiden von der umgangssprachlichen<br />

Bedeutung, in der von einer „Krise der Männlichkeit ° geredet<br />

wird. Der Begriff „Krise" setzt irgendein kohärentes System voraus,<br />

das als Resultat der Krise zerstört oder wiederhergestellt wird. Männlichkeit,<br />

soweit wir bisher gesehen haben, stellt aber in diesem Sinn kein System dar.<br />

Männlichkeit ist eine Konfiguration von Praxis innerhalb eines Systems von<br />

<strong>Geschlecht</strong>erverhältnissen. Wir können schon rein logisch nicht von der Krise<br />

einer Konfiguration sprechen, sondern eher von ihrer Erschütterung oder<br />

Transformation. Wir können aber von der Krise der gesamten <strong>Geschlecht</strong>erordnung<br />

<strong>und</strong> von ihrer Krisentendenz sprechen."<br />

Eine solche Krisentendenz wird immer auch Auswirkungen auf die<br />

Männlichkeiten haben, ohne sie aber zwangsläufig zu erschüttern; sie kann<br />

beispielsweise auch Bemühungen provozieren, dominante Männlichkeit wiederherzustellen.<br />

Michael Kimmel hat auf diese Dynamik in der amerikanischen<br />

G<strong>esellschaf</strong>t der Jahrh<strong>und</strong>ertwende hingewiesen, wo die Angst vor den<br />

Suffragetten den Kult um den „Naturburschen" beeinflußte. In „Männerphan-<br />

23 Messerschmidt 1993 (S. 105-17).<br />

24 Das Konzept der Krisentendenzen stammt von Habermas 1973, siehe aber auch O'Connor<br />

1987; über seine Relevanz für das soziale <strong>Geschlecht</strong> siehe Connell 1987 (S. 158-<br />

163).<br />

105


tasien" untersucht Klaus Theweleit einen etwas gefährlicheren Prozeß: wie<br />

sich in der Folge der Suffragettenbewegung <strong>und</strong> der Niederlage im ersten<br />

Weltkrieg die Sexualpolitik des Nationalsozialismus entwickelte. In der jüngeren<br />

Vergangenheit haben die Frauenbewegung <strong>und</strong> die Demütigungen des<br />

Vietnamkrieges in den Vereinigten Staaten einen neuen Kult um die wahre<br />

Männlichkeit entstehen lassen, von brutalen „Abenteuerfilmen" wie der Rambo-Serie,<br />

bis zur Intensivierung des Waffenkults <strong>und</strong> Phänomenen, die William<br />

Gibson vor kurzem in einer beunruhigenden Studie eine „paramilitärische<br />

Kultur" nannte."<br />

Um die Entstehung der derzeitigen Ausprägungen von Männlichkeit<br />

nachvollziehen zu können, müssen wir die Krisenanfälligkeit der <strong>Geschlecht</strong>erordnung<br />

analysieren. Und das ist keine leichte Aufgabe! Aber an<br />

hand der drei Strukturen innerhalb des <strong>Geschlecht</strong>erverhältnisses, die ich zu<br />

Beginn dieses Kapitels vorstellte, kann man mit der Analyse zumindest beginnen.<br />

An den Machtbeziehungen zeigt sich die Krisenanfälligkeit am deutlichsten:<br />

Die Legitimation der patriarchalen Macht ist zusammengebrochen <strong>und</strong><br />

eine weltumspannende Bewegung für die Emanzipation von Frauen ist ent<br />

standen. Gefördert wird diese Entwicklung durch den Widerspruch zwischen<br />

der mangelnden Gleichberechtigung der Frauen einerseits <strong>und</strong> der universellen<br />

Logik moderner Staatsstrukturen <strong>und</strong> Marktmechanismen andererseits.<br />

Die Unfähigkeit g<strong>esellschaf</strong>tlicher Institutionen, vor allem der Familie,<br />

die dadurch entstehenden Spannungen aufzufangen, hat einen umfangreichen,<br />

aber eher ungeregelten Aktivismus des Staates hervorgerufen (vom<br />

Familienrecht bis zur Bevölkerungspolitik), der seinerseits politische Turbulenzen<br />

auslöste. Männlichkeiten werden durch diese Krisenanfälligkeit neu<br />

konfiguriert, sowohl durch die unterschiedliche Reaktion der Männer auf den<br />

Feminismus (siehe fünftes Kapitel), als auch durch die Konflikte um Legitimierungsstrategien.<br />

Die Spannungen treibt manche Männer in die eben erwähnten<br />

neuen Männlichkeitskulte, <strong>und</strong> manche macht sie zu Unterstützern<br />

der Frauenbewegung <strong>und</strong> ihrer Reformbemühungen."<br />

Auch die Produktionsbeziehungen waren einem massiven institutionellen<br />

Wandel ausgesetzt. Hervorheben sollte man hier, daß nach dem letzten Krieg<br />

die Berufstätigkeit von Frauen in den reichen Ländern enorm zugenommen<br />

hat, <strong>und</strong> noch gewaltiger war in den armen Ländern die Eingliederung der<br />

weiblichen Arbeitskraft in die Geldökonomie.<br />

Es besteht ein gr<strong>und</strong>sätzlicher Widerspruch zwischen der Beteiligung<br />

von Männern <strong>und</strong> Frauen an der Produktion <strong>und</strong> der geschlechtsdifferenten<br />

Aneignung der Produkte g<strong>esellschaf</strong>tlicher Arbeit. Die patriarchale Kontrolle<br />

der Geldmittel wird über ein Erbschaftssystem aufrechterhalten, das allerdings<br />

auch einzelne Frauen zu Besitzerinnen eines Vermögens macht. Dieser<br />

25 Kimmel 1987; Theweleit 1978; Gibson 1994.<br />

26 Sehr genau haben solche Reaktionen Kimmel <strong>und</strong> Mosmiller 1992 dokumentiert.<br />

106<br />

geschlechtsstrukturierte Akkumulationsprozeß bringt Spannungen <strong>und</strong> Ungleichheiten<br />

hervor, die auch die Chancen von Männern beeinflussen, Vorteile<br />

zu erzielen. Manche werden ausgeschlossen davon, weil sie keine Arbeit<br />

finden (siehe viertes Kapitel); <strong>und</strong> andere wiederum werden bevorzugt, weil<br />

sie Zugang zu neuen Technologien <strong>und</strong> deren Beherrschung haben (siehe<br />

siebtes Kapitel).<br />

Die emotionalen Bindungsstrukturen (Kathexis) haben sich deutlich verändert,<br />

vor allem aufgr<strong>und</strong> der Etablierung schwuler <strong>und</strong> lesbischer Sexualität<br />

als öffentlich sichtbarer Alternative innerhalb des heterosexuellen Sy<br />

stems (siehe sechstes Kapitel). Aber auch, weil viele Frauen auf sexuelle Erfüllung<br />

pochten <strong>und</strong> eine Selbstbestimmungsrecht über ihren Körper forderten,<br />

was heterosexuelles ebenso wie homosexuelles Verhalten beeinflußte.<br />

Die patriarchale Ordnung verbietet Gefühle, Bindungen <strong>und</strong> Lust, die die<br />

patriarchale G<strong>esellschaf</strong>t aber andererseits selbst provoziert. Die fehlende sexuelle<br />

Gleichberechtigung <strong>und</strong> die ehelichen Rechte der Männer führen zu<br />

Spannungen, ebenso das Verbot homoerotischer Gefühle (angesichts der Tatsache,<br />

daß das Patriarchat ständig gleichgeschlechtlich geprägte Institutionen<br />

hervorbringt) <strong>und</strong> die Abwehr von Bedrohung der G<strong>esellschaf</strong>tsordnung<br />

durch sexuelle Freiheiten.<br />

Man kann dieses umfangreiche Thema der Krisentendenz nur anreißen,<br />

aber zu erkennen ist vielleicht dennoch, daß für Männlichkeiten Veränderungen<br />

unweigerlich bevorstehen. Es geht um viel mehr, als die Bilder von einer<br />

modernen Männerolle oder die Erneuerung einer Tiefenstruktur von Männlichkeit<br />

nahelegen. Es geht ebenso um die Familien <strong>und</strong> intimen Bindungen<br />

wie um Wirtschaft, Staat <strong>und</strong> globale Beziehungen.<br />

Die ungeheuren Veränderungen im <strong>Geschlecht</strong>erverhältnis verwandeln<br />

in vielerlei Hinsicht auch die Lebensbedingungen von Frauen <strong>und</strong> Männern,<br />

womit diese erst einmal zurechtkommen müssen. Niemand kann sich als un<br />

beteiligter Zuschauer dieser Prozesse fühlen. Wir sind alle an der Konstruktion<br />

einer Welt der <strong>Geschlecht</strong>erbeziehungen beteiligt. Wie dies geschieht,<br />

welche Strategien die verschiedenen Gruppen verfolgen, wie sich diese auswirken,<br />

das sind politische Fragen. Weder Frauen noch Männer sind noch<br />

länger den überkommenen <strong>Geschlecht</strong>smustern ausgeliefert. Auch Männer<br />

können eine politische Entscheidung für neue Beziehungen zwischen den<br />

<strong>Geschlecht</strong>ern fällen. Aber eine solche Entscheidung ereignet sich immer<br />

unter konkreten g<strong>esellschaf</strong>tlichen Umständen, welche die Handlungsmöglichkeiten<br />

einschränken. Und die Auswirkungen solcher Entscheidungen sind<br />

auch nicht immer absehbar.<br />

Einen so tiefgehenden <strong>und</strong> vielschichtigen historischen Prozeß nachzuvollziehen,<br />

ist nicht die Aufgabe einer a priori-Theorie. Man muß dazu auf<br />

konkrete Untersuchungsergebnisse zurückgreifen, genauer gesagt kann diese<br />

umfassende Dynamik nur durch eine angemessene Bandbreite empirischer<br />

Studien beleuchtet werden. Und eben dies soll im zweiten Teil dieses Buches<br />

versucht werden.<br />

107

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