45 47 48 48 49
In diesem Sinne führt eine Geschichtsforschung, die bei den Institutionen beginnt, rasch zu den Fragen individueller Handlungsmöglichkeiten <strong>und</strong> sozialer Auseinandersetzungen. Eine vergleichbare Vorgehensweise hat sich auch in der Anthropologie entwickelt. Ethnographie des Firemden Der eigentliche Gegenstand der Anthropologie sind die kleinen G<strong>esellschaf</strong>ten, auf die Europäer <strong>und</strong> Nordamerikaner im Zuge der kolonialen Expansion gestoßen sind. Anfang dieses Jahrh<strong>und</strong>erts wurde die beschreibende Völkerk<strong>und</strong>e zur charakteristischen Forschungsmethode: die üb<strong>eraus</strong> detaillierte Beschreibung eines Lebensstils, an dem der Forscher selbst teilgenommen hatte <strong>und</strong> sich somit auf persönliche Beobachtungen <strong>und</strong> Gespräche mit Informanten in ihrer Muttersprache stützen konnte. Was die beschreibende Völkerk<strong>und</strong>e erfassen wollte, waren die Unterschiede zwischen diesen kolonisierten Völkern <strong>und</strong> den säkularen, marktwirtschaftlichen <strong>und</strong> vom Staat kontrollierten G<strong>esellschaf</strong>ten in Europa <strong>und</strong> Nordamerika. Deshalb konzentrierte man sich einerseits auf Religionen <strong>und</strong> Mythen, <strong>und</strong> andererseits auf das Verwandtschaftssystem, das - wie man annahm - die Struktur „primitiver" G<strong>esellschaf</strong>ten bestimmte. Beide Ansätze bieten reichhaltige Informationen über das soziale <strong>Geschlecht</strong>. Deshalb sind diese ethnographischen Berichte, die sich in den Bibliotheken der Kolonialmächte ansammelten, eine wahre Goldgrube für Informationen zu den kontroversen Standpunkten, die von Feminismus, Psychoanalyse <strong>und</strong> <strong>Geschlecht</strong>srollentheorie vertreten werden. Dementsprechend wurde die Anthropologie eine wichtige Quelle für diese Kontroversen. Die Debatte über die Universalität des Odipuskomplexes, die Malinowski durch seine Studie über die Trobriander-Inseln auslöste, habe ich schon erwähnt. Margaret Meads „<strong>Geschlecht</strong> <strong>und</strong> Temperament" aus den 30er Jahren zeigte die kulturellen Unterschiede hinsichtlich der Bedeutung von Männlichkeit <strong>und</strong> Weiblichkeit sehr überzeugend - obwohl sich Mead nie ganz von der Vorstellung lösen konnte, daß allem eine natürliche Heterosexualität zugr<strong>und</strong>e liege." In den 70er Jahren hat die zweite Welle der Frauenbewegung neue anthropologische Studien über das soziale <strong>Geschlecht</strong> angeregt. Wie in der Geschichtswissenschaft wurden auch hier die meisten Arbeiten von Frauen geschrieben, die das Leben ihrer <strong>Geschlecht</strong>sgenossinnen dokumentieren wollten. Und auch hier folgten dann Studien über Männlichkeit. Teilweise beschäftigte man sich mit kulturellen Bildern von Männlichkeit, wie beispielsweise Michael Herzfelds elegante <strong>und</strong> unterhaltsame Studie 49 Mead 1970. Ihre späteren Arbeiten über das soziale <strong>Geschlecht</strong> waren konservativer, Mead 1972. 50 „The Poetics of Manhood" über das Schafestehlen in Bergdörfern auf Kreta als eine Möglichkeit, seine Männlichkeit darzustellen. Eine ethnographische Kontroverse über den „machismo" in Lateinamerika hat der Männlichkeitsideologie auch viel Aufmerksamkeit beschert - ein Ideal von Männlichkeit, das Wert legt auf die Überlegenheit gegenüber Frauen, Konkurrenz zwischen Männern, aggressives Imponiergehabe, räuberische Sexualität <strong>und</strong> Doppelmoral.so Die aufsehenerregendste Arbeit der neueren ethnographischen Forschung ist Gilbert Herdts „Guardians of the Flutes". Es handelt sich um eine eher konventionelle oder sogar konservative ethnographische Beschreibung der "Sambia", eines Volkes im östlichen Hochland Papua Neuguineas. Die Sambia betreiben Gartenbau <strong>und</strong> sammeln Nahrungsmittel, leben in kleinen dörflichen Gemeinschaften, glauben an kosmische Kräfte <strong>und</strong> andere Mythen, <strong>und</strong> besitzen ein System von Ritualen. Ihre Kultur zeichnet sich aus durch andauerndes Kriegführen, eine strikte Arbeitsteilung zwischen den <strong>Geschlecht</strong>ern <strong>und</strong> eine stark betonte, aggressive Männlichkeit. Herdt geht es in seiner Studie vor allem um die Kulte der Männer <strong>und</strong> ihre Initiationsriten. Die Initiation umfaßt auch sexuelle Beziehungen zwischen jungen <strong>und</strong> erwachsenen Männern, die beinhalten, daß die Jungen am Penis der Männer saugen <strong>und</strong> die Samenflüssigkeit schlucken. Der Samen wird als Männlichkeitsessenz betrachtet, die zwischen den Generationen weiterge<strong>geben</strong> werden muß, um das Überleben der Gemeinschaft zu sichern. Diese Vorstellung ist eingebettet in ein ganzes System von Geschichten <strong>und</strong> Ritualen, die die um<strong>geben</strong>de Natur, die soziale Ordnung der Sambia <strong>und</strong> die heiligen Flöten umfassen, deren Musik ein Bestandteil des Männerkultes ist. Die sexuellen Aspekte machten Herdts Untersuchung skandalös. Er präsentiert das Schauspiel einer gewalttätigen, aggressiven Männlichkeit, vergleichbar mit einer übersteigerten Männlichkeit in unserer Kultur, die aber auf homosexuellen Beziehungen beruht - von denen unsere Kultur glaubt, daß sie verweichlichen würden. Außerdem wird unsere Überzeugung erschüttert (die von der Wissenschaft genauso wie von der Politik vertreten wird), daß sich Homosexualität auf kleine Minderheiten beschränkt. Bei den Sambia ist mehr oder weniger jeder Mann homosexuell, zumindest in einer Phase seines Lebens. Herdt nannte dieses Muster „ritualisierte Homosexualität" <strong>und</strong> stellte Untersuchungen zu ähnlichen Praktiken in anderen melanesischen G<strong>esellschaf</strong>ten zusammen." Was für eine Art von Wissenschaft bringt solche Ergebnisse hervor? In einem positivistischen Modell von Sozialwissenschaft werden zahlreiche Einzelfälle zusammengefügt, um zu kulturübergreifenden Verallgemeinerun- 50 Herzfeld 1985; ein Beispiel für die Diskussion über Machismo findet sich bei Bolion 1979. 51 Herdt 1981, 1982, 1984. Modjeska 1990 stellt die Verbreitung dieser „ritualisierten Homosexualität" in Frage. 51