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Geschlecht und esellschaf eraus e geben v® Ilse Lenz ichik® Sigrid ...

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In diesem Abschnitt werde ich so kurz wie möglich die Analyse des sozialen<br />

<strong>Geschlecht</strong>s umreißen, die der Argumentation in diesem Buch zugr<strong>und</strong>eliegt.<br />

Das soziale <strong>Geschlecht</strong> ist eine Art <strong>und</strong> Weise, in der soziale Praxis geordnet<br />

ist. In <strong>Geschlecht</strong>erprozessen wird der alltägliche Lebensvollzug organisiert<br />

in Relation zu einem Reproduktionsbereich (reproductive arena),<br />

der durch körperliche Strukturen <strong>und</strong> menschliche Reproduktionsprozesse<br />

definiert ist. Dieser Bereich beinhaltet sowohl sexuelle Erregung <strong>und</strong> <strong>Geschlecht</strong>sverkehr,<br />

als auch das Gebären <strong>und</strong> Aufziehen von Kindern, die körperlichen<br />

<strong>Geschlecht</strong>sunterschiede <strong>und</strong> -gemeinsamkeiten.<br />

Ich nenne das „Reproduktionsbereich" statt „biologische Gr<strong>und</strong>lage",<br />

um zu betonen, daß wir es hier mit einem historischen, den Körper einbeziehenden<br />

Prozeß zu tun haben, nicht mit einem starren Gefüge biologischer<br />

Determinanten (vgl. Kapitel 2). <strong>Geschlecht</strong>lichkeit als soziale Praxis bezieht<br />

sich ständig auf den Körper <strong>und</strong> auf das, was Körper machen, reduziert sich<br />

allerdings auch nicht auf den Körper. Eigentlich verdreht der Reduktionismus<br />

die wirkliche Situation vollständig. Das soziale <strong>Geschlecht</strong> existiert genau<br />

in dem Ausmaß, in dem die Biologie das Soziale nicht determiniert. Es<br />

markiert einen dieser Übergangspunkte, an denen der historische Prozeß die<br />

biologische Evolution als Entwicklungsmodus ablöst. Vom Standpunkt des<br />

Essentialismus aus betrachtet, ist das soziale <strong>Geschlecht</strong> skandalös <strong>und</strong> ungeheuerlich.<br />

Soziobiologen sind ständig mit seiner Abschaffung beschäftigt,<br />

indem sie beweisen, daß die sozialen Arrangements des Menschen bloße<br />

Folge evolutionärer Zwänge darstellen.<br />

Die soziale Praxis ist kreativ <strong>und</strong> erfinderisch, aber nicht ursprünglich.<br />

Sie reagiert auf bestimmte Situationen <strong>und</strong> entsteht innerhalb fester Strukturen<br />

von sozialen Beziehungen. <strong>Geschlecht</strong>erbeziehungen, die Beziehungen<br />

zwischen Menschen <strong>und</strong> Gruppen, die durch den Reproduktionsbereich organisiert<br />

sind, bilden eine der Hauptstrukturen in allen dokumentierten G<strong>esellschaf</strong>ten.<br />

Praxis, die sich auf diese Strukturen bezieht, besteht nicht aus isolierten<br />

Handlungen, sondern entstand in der Auseinandersetzung von Menschen <strong>und</strong><br />

Gruppen mit ihrer historischen Situation. Handeln konfiguriert sich zu größeren<br />

Einheiten, <strong>und</strong> wenn wir von Männlichkeit <strong>und</strong> Weiblichkeit sprechen,<br />

benennen wir Konfigurationen von <strong>Geschlecht</strong>erpraxis.<br />

Aber „Konfigurationen" wirkt als Begriff vielleicht zu statisch. Das Entscheidende<br />

ist nämlich das Prozeßhafte an der konfigurierenden Praxis. (Jean-<br />

Paul Sartre spricht in „Kritik der dialektischen Vernunft" von der „Vereinigung<br />

der Mittel in der Handlung"). Sobald wir eine dynamische Sicht der Organisation<br />

von Praxis eingenommen haben, verstehen wir Männlichkeit <strong>und</strong> Weiblichkeit<br />

als <strong>Geschlecht</strong>erprojekte, als Prozesse der konfigurierenden Praxis in<br />

der Zeit, die ihren Ausgangspunkt in den <strong>Geschlecht</strong>erstrukturen transformieren.<br />

In den Fallstudien im zweiten Teil des Buches werde ich das Leben von<br />

Männern aus verschiedenen G<strong>esellschaf</strong>tsschichten in diesem Sinne als <strong>Geschlecht</strong>erprojekte<br />

analysieren.'<br />

<strong>Geschlecht</strong>sbezogene Konfigurationspraktiken sind allgegenwärtig, wie<br />

wir die Welt auch betrachten, welche Analyseeinheit wir auch auswählen.<br />

Die vertrauteste ist der individuelle Lebenslauf, der einem Alltagsverständnis<br />

von Männlichkeit <strong>und</strong> Weiblichkeit zugr<strong>und</strong>eliegt. Die Handlungskonfiguration<br />

ist in diesem Fall, was die Psychologen normalerweise „Persönlichkeit"<br />

oder „Charakter" nennen würden. Die psychoanalytischen Argumente im ersten<br />

Kapitel beziehen sich fast ausschließlich auf diesen Bereich.<br />

Ein solcher Fokus führt leicht zu einer Überbetonung der Kohärenz der<br />

Praxis, die an jeder anderen Stelle auch beobachtet werden könnte. Es überrascht<br />

deshalb nicht, daß die Psychoanalyse sich - trotz ihrer anfänglichen<br />

Sensibilität für Widersprüche - immer mehr einem Konzept von „Identität"<br />

angenähert hat. Poststrukturalistische Kritiken der Psychologie wie Wendy<br />

Hollway haben betont, daß <strong>Geschlecht</strong>sidentitäten brüchig <strong>und</strong> veränderlich<br />

sind, weil sich in jedem Lebenslauf verschiedenste Diskurse überlagern.' Ihr<br />

geht es um eine andere Sichtweise von Diskurs, Ideologie <strong>und</strong> Kultur. Das<br />

soziale <strong>Geschlecht</strong> ist aus dieser Sicht in symbolischen Praktiken organisiert,<br />

die einen viel längeren Zeitraum umfassen können als die individuelle Lebenszeit<br />

(beispielsweise die Konstruktion heroischer Männlichkeiten in Romanen;<br />

oder die Konstruktion „geschlechtsspezifischer Verstimmungen" [Dysphorien]<br />

<strong>und</strong> „Perversionen" in der Medizin).<br />

Das erste Kapitel zeigte, wie die Sozialwissenschaft nach <strong>und</strong> nach einen<br />

dritten Bereich des sozialen <strong>Geschlecht</strong>s wahrgenommen hat, nämlich Institutionen<br />

wie den Staat, die Schule <strong>und</strong> die Arbeitswelt. Vielen fällt es schwer,<br />

zu akzeptieren, daß Institutionen ganz substantiell geschlechtlich strukturiert<br />

sind, keineswegs nur metaphorisch. Und das ist der springende Punkt.<br />

Der Staat beispielsweise ist eine männliche Institution. Damit ist nicht<br />

unbedingt gemeint, daß die Persönlichkeiten der Männer in Führungspositionen<br />

auf die Institutionen abfärben. Es geht um etwas Gravierenderes: die<br />

Praktiken staatlicher Organisation strukturieren sich mit Bezug zum Reproduktionsbereich.<br />

Die überwiegende Mehrzahl der Führungspositionen sind<br />

mit Männern besetzt, weil Einstellung <strong>und</strong> Beförderung geschlechtsbezogen<br />

vorgenommen werden, weil auch die interne Arbeitsteilung <strong>und</strong> die Kontrollsysteme<br />

nicht geschlechtsunabhängig organisiert sind, ebensowenig die routinemäßigen<br />

Handlungsabläufe oder die Konsensbildung.'<br />

Dies alles hat aber nicht zwangsläufig mit den biologischen Aspekten der<br />

Reproduktion zu tun. Diese Verknüpfung hat soziale Gründe, was dann<br />

deutlich wird, wenn es zu Konflikten kommt. Ein Beispiel ist der öffentliche<br />

Debatte um „Schwule in der Armee", wo es darum ging, daß man Soldaten<br />

7 Sartre 1968 (S. 1590-<br />

8 Hollway 1984.<br />

9 Franzway et al. 1989, Grant <strong>und</strong> Tancred 1992.<br />

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