Esslingen 1-3
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3.2<br />
Zur Legitimität von Leitbildern am Beginn des 21. Jahrhunderts<br />
Am Beginn des 21. Jahrhunderts, das bereits in wenig mehr als<br />
zwei Jahren eine ganze Reihe von Krisen vertrauter Werte und<br />
Strukturen erlebt hat, scheint nahezu alles gegen eine<br />
kohärente, langfristig nachhaltige Leitbilddiskussion auf den<br />
zentralen Feldern von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zu<br />
sprechen. Eine Diskussion über die Bedingungen künftigen<br />
Wohlstands ist offensichtlich, wie die lähmende Reformdebatte<br />
der letzten Monate und Jahre belegt, ebensowenig möglich,<br />
wie eine offene Auseinandersetzung über die Verteilung<br />
von Lasten und Erträgen. Stattdessen werden bereits die im<br />
Geiste eines „muddling through“ versuchten (Schönheits-)<br />
Reparaturen an bestehenden Ordnungen zu unversöhnlichen<br />
Streitfeldern.<br />
Ganzheitliche Gesellschaftsentwürfe oder auch nur Teilmodelle<br />
für einzelne Gesellschaftsbereiche sind nicht erst mit<br />
dem Zusammenbruch der staatsmonopolistischen Systeme in<br />
Osteuropa diskreditiert worden. Sie wurden bereits durch die<br />
Konsequenzen radikaler Entwicklungen einiger Randlinien der<br />
68er Revolte in Deutschland und anderen europäischen Ländern<br />
in eine gesellschaftliche Grauzone gedrängt. Nicht zuletzt<br />
vor diesem Hintergrund ist vielleicht zu erklären, dass<br />
heute gerade namhafte Vertreter der 68er Bewegung als Exponenten<br />
des „muddling through“ gelten müssen.<br />
Der moderne Städtebau hatte in seiner Vision von der gebauten<br />
Stadt noch Mitte der 60er Jahre in euphorischer Fortschrittsbegeisterung<br />
jedes soziale Problem durch Operationalisierung<br />
für lösbar erklärt 13. Seine umfassende gesellschaftliche<br />
Diskreditierung mündete zunächst in der Verweigerung<br />
alles Neuen. Die Erkenntnis von den Grenzen des<br />
Wachstums, eine Rückbesinnung auf Ort und Geschichte im<br />
Sinne des Genius Loci und die damit verbundene Rückkehr zur<br />
individuellen Vergangenheit und persönlichen Erinnerung ließ<br />
sich mit der Idee des großen Entwurfs nicht verbinden.<br />
Da die Stadt aber nicht nur von Gesellschaft und Politik geprägt<br />
wird sondern immer auch von ihren physischen Strukturen,<br />
ist ein Bild von der Stadt allenfalls vorübergehend entbehrlich.<br />
So verwundert es nicht, dass sich bereits kurz nach<br />
der Verweigerung der abschließenden Zukunftserklärungen<br />
der Moderne auch in Architektur und Städtebau ein neues<br />
Leitbild bzw. eine neue Leitbildsammlung in die öffentliche<br />
Diskussion geschoben hat, die sich im Unterschied zu den<br />
großen Entwürfen als „Postmoderne“ bezeichnete. Wesentliches<br />
Element dieser Ideen ist – grob vereinfacht – die Abkehr<br />
von einer durch rigide Rationalität begründeten Homogenität,<br />
Funktionalität und Ordnung, die unweigerlich in „Terrorismus“<br />
mündet 14. Die Werte der Moderne werden nicht in Frage<br />
gestellt, sondern ihnen soll endlich Geltung verschafft werden<br />
15. Gleichwohl wird letztlich auch das neue Leitbild einer<br />
Komplexität im Widerspruch bald zu einer Randerscheinung<br />
des 20. Jahrhunderts.<br />
Dort, wo mit dem Etikett postmodern ganzheitliche Ansprüche<br />
entwickelt werden, wie etwa in der Bewegung des<br />
New Urbanism, verkommt es in der Praxis häufig zu einer geschickten<br />
Werbebotschaft.<br />
Die seit den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelte<br />
Theorie der fraktalen Logik, die viele Felder der<br />
Wissenschaft und des täglichen Lebens beeinflusst hat, hat<br />
bis heute kaum Eingang in die Planungs- und Verwaltungspraxis<br />
gefunden. Stattdessen sind dort noch immer lineare,<br />
einschichtige Strategien die bevorzugten Methoden der<br />
Stadtvision für 1990 aus dem Jahr 1969<br />
13 Giedion 1976, S. 486 ff.<br />
Wolman 1965<br />
14 Lyotard 1987, S. 30<br />
Lyotard 1987, S. 77 ff.<br />
15 Lyotard 1987, S. 26<br />
Welsch 1993 S. 6<br />
ESSLINGEN 2030 33