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Bedeutung und Defizite der Ethik Spinozas aus Marxistischer Sicht ...

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gr<strong>und</strong>risse 41 | 2012<br />

<strong>Bedeutung</strong> <strong>und</strong> <strong>Defizite</strong> <strong>der</strong> <strong>Ethik</strong> <strong>Spinozas</strong> <strong>aus</strong><br />

<strong>Marxistischer</strong> <strong>Sicht</strong><br />

Karl Reitter<br />

10<br />

Vorweg möchte ich festhalten, dass ich es nicht für<br />

möglich erachte, beide Philosophien in eine weitere<br />

Großtheorie zu synthetisieren. Trotz Berührungen<br />

<strong>und</strong> Überschneidungen haben wir es mit letztlich<br />

inkompatiblen Ansätzen zu tun. Marx analysiert die<br />

Dynamik <strong>der</strong> gesellschaftlich dominierenden Arbeitsverhältnisse<br />

<strong>und</strong> die darin schlummernden<br />

Möglichkeiten <strong>der</strong> emanzipatorischen Umwälzung.<br />

Spinoza hingegen kann präziser als Marx das unzerstörbare<br />

<strong>und</strong> vorgängige Streben nach Freiheit <strong>und</strong><br />

Selbstbestimmung zeigen. Vielleicht sollte ich es<br />

auch so <strong>aus</strong>drücken: Marx zeigt, in welcher sozialen<br />

Existenzsituation das Kapitalverhältnis die überwiegende<br />

Mehrheit zu fixieren versucht. Spinoza auf<br />

sehr allgemeiner Ebene das vorgängige Streben nach<br />

Freiheit, Erkenntnis <strong>und</strong> Selbstbestimmung. Indem<br />

Spinoza die dynamischen Resultate des Kapitalverhältnisses,<br />

nämlich die Produktion dieses sozialen<br />

Verhältnisses selbst nicht thematisieren kann, ist die<br />

Spinozistische Philosophie keine umfassende <strong>und</strong><br />

den geltenden gesellschaftlichen Formen <strong>der</strong> Arbeit<br />

angemessene Theorie <strong>der</strong> Befreiung.<br />

Was berechtigt uns, bezogen auf Marx wie auf Spinoza<br />

überhaupt von einer Theorie <strong>der</strong> Befreiung zu<br />

sprechen, wie ich es soeben getan habe? Es ist das<br />

Zusammenspiel von zwei Dimensionen o<strong>der</strong> Achsen,<br />

wie ich es nenne. Mit dem Begriff Achsen<br />

möchte ich <strong>aus</strong>drücken, dass wir stets von einem<br />

sich verän<strong>der</strong>nden Mehr o<strong>der</strong> Weniger <strong>aus</strong>zugehen<br />

haben. Die erste Dimension ist bei Marx die Produktivkraft<br />

<strong>der</strong> Arbeit, bei Spinoza das Tätigkeitsvermögen.<br />

Der Begriff des Tätigkeitsvermögens ist<br />

umfassen<strong>der</strong> als <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> Produktivkraft <strong>der</strong><br />

Arbeit <strong>und</strong> umschließt diesen. Beide Begriffe thematisieren<br />

unser materielles, geistiges, kognitives<br />

<strong>und</strong> affektives Einwirken auf Natur <strong>und</strong> Menschen.<br />

Die zweite Dimension ist <strong>der</strong> Gegensatz von Gezwungenheit<br />

<strong>und</strong> Freiheit. Auf diese Dimension<br />

komme ich in Kürze zu sprechen. Ich betrachte zuerst<br />

die Dimension <strong>der</strong> Produktivkraft bzw. des Tätigkeitsvermögens.<br />

Die Faktoren für die Mächtigkeit <strong>der</strong> Produktivkraft<br />

<strong>der</strong> Arbeit aber ebenso für das Tätigkeitsvermögen<br />

sind we<strong>der</strong> taxativ aufzuzählen noch<br />

abzugrenzen. Marx nennt den Stand <strong>der</strong> Wissenschaft,<br />

die Kommunikations- <strong>und</strong> Informationsstrukturen,<br />

die Naturverhältnisse – kurzum so gut<br />

wie alle zivilisatorischen <strong>und</strong> natürlichen Faktoren.<br />

Bei Spinoza verän<strong>der</strong>t je<strong>der</strong> Kontakt mit <strong>der</strong> Welt<br />

unser Tätigkeitsvermögen, sei es, dass es dadurch gesteigert,<br />

sei es, dass es dadurch vermin<strong>der</strong>t wird. Alle<br />

diese Faktoren, von den gesellschaftlichen Verhältnissen<br />

bis zu Naturverhältnissen, wirken auf alle Individuen<br />

ein, sind jedoch stets individuell gebrochen. Ich<br />

gebe ein Beispiel: Die Erfindung <strong>und</strong> Entwicklung<br />

<strong>der</strong> Schrift, zweifellos ein wesentlicher Faktor für das<br />

Tätigkeitsvermögen, garantiert nicht, dass ein bestimmter<br />

Mensch auch tatsächlich lesen <strong>und</strong> schreiben<br />

kann. Dies hebt jedoch den wesentlichen<br />

Unterschied zwischen schriftlosen Gesellschaften <strong>und</strong><br />

jenen, die auf <strong>der</strong> Schrift beruhen, nicht auf.<br />

Welche Ursachen nennen nun Marx beziehungsweise<br />

Spinoza, um diese Faktoren, so sie verän<strong>der</strong>bar<br />

sind, zu optimieren, um dadurch die Produktivkraft<br />

<strong>der</strong> Arbeit beziehungsweise das Tätigkeitsvermögen<br />

zu erhöhen? Auf den ersten Blick mag es<br />

scheinen, als ob die Ursachen <strong>der</strong>art unterschiedlich<br />

bestimmt werden, so dass meine These, <strong>der</strong> Begriff<br />

des Tätigkeitsvermögen – agendi potentiam –<br />

schließe den Begriff <strong>der</strong> Produktivkraft ein, problematisch<br />

erscheinen könnte. Die Ursache des Strebens<br />

nach Erhöhung des Tätigkeitsvermögens<br />

erklärt Spinoza mittels des Begriffs des conatus. Conatus<br />

meint Streben o<strong>der</strong> den Versuch, im Sein dauerhaft<br />

zu verharren. Der conatus ist die aktuale,<br />

wirkliche Essenz des sich in <strong>der</strong> Dauer befindlichen<br />

Menschen. Dieses Streben ist uns nach Spinoza<br />

stets bewusst. Es umfasst sowohl den Körper wie<br />

auch den Geist. Ich zitiere: Es folge, dass „Geist<br />

<strong>und</strong> Körper dasselbe Ding sind, das bald unter dem<br />

Attribut des Denkens, bald unter dem <strong>der</strong> Ausdehnung<br />

begriffen wird.“ (3p2s) Der conatus drängt<br />

nach <strong>der</strong> Steigerung des Tätigkeitsvermögens. Da<br />

uns dieses Streben bewusst ist, schließt Spinoza:<br />

„Der Geist strebt, soviel er vermag, sich das vorzustellen,<br />

was das Tätigkeitsvermögen des Körpers<br />

vermehrt o<strong>der</strong> för<strong>der</strong>t.“ (3p12) Diese Vorstellungen<br />

versuchen wir, so uns nichts daran hin<strong>der</strong>t, auch zu<br />

realisieren. Ebenso gilt: Alles, was das Tätigkeitsvermögen<br />

des Körpers vermehrt, dessen Idee vermehrt<br />

das Denkvermögen des Geistes. Erhöhung <strong>und</strong> Ver-

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