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Bedeutung und Defizite der Ethik Spinozas aus Marxistischer Sicht ...

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gr<strong>und</strong>risse 41 | 2012<br />

12<br />

ersten Lebensbedürfnis verbinden, wenn sie selbstbestimmt<br />

<strong>aus</strong>geübt wird.<br />

Auch für Spinoza ist die Unterscheidung zwischen<br />

Tätigkeitsvermögen einerseits <strong>und</strong> <strong>der</strong> Freiheit/Unfreiheit<br />

an<strong>der</strong>erseits gr<strong>und</strong>legend. Ich zitiere <strong>aus</strong> seiner<br />

Definition <strong>der</strong> Freiheit: „Frei heißt ein Ding,<br />

das nur <strong>aus</strong> <strong>der</strong> Notwendigkeit seiner eigenen<br />

Natur her<strong>aus</strong> existiert <strong>und</strong> nur durch sich selbst<br />

zum Handeln bestimmt wird;“ (1def7) In <strong>der</strong> Formel<br />

„nur durch sich selbst zum Handeln bestimmt<br />

wird“ haben wir das Motiv <strong>der</strong> Selbstbestimmung.<br />

Was nun den Ausdruck „<strong>aus</strong> <strong>der</strong> eigenen Natur her<strong>aus</strong>“<br />

betrifft, so ist sein Sinn erneut mittels <strong>der</strong><br />

Lehre vom conatus zu dechiffrieren. Wie bereits erwähnt,<br />

ist <strong>der</strong> conatus <strong>der</strong> Versuch o<strong>der</strong> das Streben<br />

jedes tatsächlich in <strong>der</strong> Dauer sich befindlichen<br />

Dinges, in seinem Sein zu verharren. Spinoza nennt<br />

den conatus daher auch die aktuale Essenz des Menschen.<br />

Wenn es somit gelingt, tatsächlich <strong>aus</strong> <strong>der</strong><br />

Notwendigkeit des eigenen conatus her<strong>aus</strong> zu handeln,<br />

dann handeln <strong>und</strong> sind wir frei. Wie definiert<br />

nun Spinoza umgekehrt die Unfreiheit? „[N]otwendig<br />

o<strong>der</strong> vielmehr gezwungen heißt ein Ding, das<br />

von einem an<strong>der</strong>en bestimmt wird, auf gewisse<br />

Weise zu existieren <strong>und</strong> zu wirken.“ Unfreiheit beruht<br />

somit auf Fremdbestimmung, darauf, von<br />

einem an<strong>der</strong>en, also nicht <strong>aus</strong> sich selbst, zum Sein<br />

<strong>und</strong> Handeln bestimmt zu werden. Es war für mich<br />

ein intellektuelles Aha-Erlebnis als ich erkannte, wie<br />

sehr diese Definition mit dem Marxschen Denken<br />

harmoniert. Identifizieren wir die Notwendigkeit<br />

<strong>der</strong> eigenen Natur mit dem Weltbezug durch Arbeit,<br />

so finden wir in <strong>der</strong> Bestimmung von Freiheit<br />

<strong>und</strong> Unfreiheit durch Spinoza die gesellschaftliche<br />

Seinsweise des Proletariats. Es kann sein Tätigkeitsvermögen<br />

nicht autonom <strong>und</strong> selbstbestimmt <strong>aus</strong>üben,<br />

son<strong>der</strong>n wird von einem an<strong>der</strong>en – dem<br />

Kapital – gezwungen, auf bestimmte Weise zu wirken.<br />

Ebenso versucht das Kapital, die gesellschaftliche<br />

Seinsweise des Proletariates zu fixieren, nämlich<br />

als allgemeines Arbeitsvermögen, welches dem Kapital<br />

nach Tunlichkeit zur Verfügung steht. Ich zitiere<br />

<strong>aus</strong> <strong>der</strong> elaborierten Bestimmung des<br />

Proletariats bei Marx: „Im Verhältnis von Kapital<br />

<strong>und</strong> Arbeit sind T<strong>aus</strong>chwert <strong>und</strong> Gebrauchswert in<br />

Verhältnis zueinan<strong>der</strong> gesetzt […]“ (MEW 42; 193)<br />

„Träger <strong>der</strong> Arbeit als solche, d.h. […] Arbeit als<br />

Gebrauchswert für das Kapital zu sein, macht seinen<br />

ökonomischen Charakter <strong>aus</strong>;“ (MEW 42;<br />

218) Die Definition von Unfreiheit bei Spinoza<br />

trifft präzise auf das gesellschaftliche Sein des Proletariats<br />

zu <strong>und</strong> charakterisiert trefflich einen wesentlichen<br />

Aspekt <strong>der</strong> Lohnarbeit. Mit Spinoza können<br />

wir somit die gesellschaftliche Lage <strong>und</strong> ebenso die<br />

Fremdbestimmtheit seiner Tätigkeit verstehen. Wir<br />

können jedoch nicht die dynamischen Prozesse erhellen,<br />

die das Proletariat daran hin<strong>der</strong>n, zu Selbstbestimmung<br />

voranzuschreiten. Es fehlt die Analyse<br />

des Prozesses <strong>der</strong> Entfremdung. Ich zitiere eine Darstellung<br />

bei Marx: „Da <strong>der</strong> Produktionsprozeß zugleich<br />

<strong>der</strong> Konsumtionsprozeß <strong>der</strong> Arbeitskraft<br />

durch den Kapitalisten, verwandelt sich das Produkt<br />

des Arbeiters nicht nur fortwährend in Ware,<br />

son<strong>der</strong>n in Kapital, Wert, <strong>der</strong> die wertschöpfende<br />

Kraft <strong>aus</strong>saugt, Lebensmittel, die Personen kaufen,<br />

Produktionsmittel, die den Produzenten anwenden.<br />

Der Arbeiter selbst produziert daher beständig den<br />

objektiven Reichtum als Kapital, ihm fremde, ihn<br />

beherrschende <strong>und</strong> <strong>aus</strong>beutende Macht, <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />

Kapitalist produziert ebenso beständig die Arbeitskraft<br />

als subjektive, von ihren eignen Vergegenständlichungs-<br />

<strong>und</strong> Verwirklichungsmitteln<br />

getrennte, abstrakte, in <strong>der</strong> bloßen Leiblichkeit des<br />

Arbeiters existierende Reichtumsquelle, kurz den<br />

Arbeiter als Lohnarbeiter.“ (MEW 23; 596) Diese<br />

Analyse ist mit den Denkmitteln <strong>Spinozas</strong> nicht zu<br />

reformulieren.<br />

Ich möchte nun dieses wesentliche Defizit <strong>der</strong> Spinozistischen<br />

<strong>Ethik</strong> anhand des Begriffs des Handelns<br />

bei Spinoza explizieren. Der Begriff des<br />

Handelns bietet sich deshalb an, weil er ummittelbar<br />

mit dem Begriff <strong>der</strong> Freiheit <strong>und</strong> <strong>der</strong> Selbstbestimmung<br />

verknüpft ist. Ich gehe somit von<br />

folgen<strong>der</strong> These <strong>aus</strong>: Da Spinoza keine Analyse <strong>der</strong><br />

entfremdeten Arbeit kennt, kann er nicht zureichend<br />

die Ursachen nennen, die uns am wahrhaften<br />

Handeln hin<strong>der</strong>n.<br />

Auch den Begriff des Handelns stellen wir in den<br />

Kontext <strong>der</strong> conatus Lehre von Spinoza. Wenn ich rekapitulieren<br />

darf: Unser Tätigkeitsvermögen wird<br />

durch mannigfache Umstände erhöht o<strong>der</strong> vermin<strong>der</strong>t.<br />

Wir streben danach, es zu erhöhen. Wir verän<strong>der</strong>n<br />

<strong>und</strong> wir werden verän<strong>der</strong>t. Diese Verän<strong>der</strong>ungen<br />

sind unmittelbar affektiv, sie sind die Ursache<br />

für Lust <strong>und</strong> Unlust. Doch Lust <strong>und</strong> Unlust zeigen<br />

noch mehr an als die bloße Steigerung <strong>und</strong> Vermin<strong>der</strong>ung<br />

unseres Tätigkeitsvermögens. Auch die zweite<br />

Dimension, <strong>der</strong> Gegensatz von Freiheit <strong>und</strong> Gezwungenheit,<br />

kommt ins Spiel. Aus <strong>der</strong> Begierde<br />

folgt das Handeln, <strong>aus</strong> Lust das Streben nach Vollkommenheit.<br />

„Je mehr Vollkommenheit ein Ding<br />

hat“ postuliert Spinoza, „desto mehr tätig <strong>und</strong> desto<br />

weniger leidend ist es, <strong>und</strong> umgekehrt, je mehr ein<br />

Ding tätig ist, desto vollkommener ist es.“ (5p40)<br />

Wenn wir <strong>aus</strong> <strong>der</strong> Notwendigkeit <strong>der</strong> eigenen Natur

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