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Bedeutung und Defizite der Ethik Spinozas aus Marxistischer Sicht ...

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Karl Reitter | Marx & Spinoza<br />

auch sehr klar, was <strong>der</strong> Geist erkennen muss, wenn<br />

er tatsächlich erkennt, wenn er tatsächlich handelt.<br />

Es ist das nicht knappe Gut Gott. „Das höchste<br />

Gut des Geistes ist die Erkenntnis Gottes, <strong>und</strong> die<br />

höchste Tugend des Geistes ist es, Gott zu erkennen.“<br />

(4p28) Nur zur Klarstellung: Der Gott <strong>Spinozas</strong><br />

hat mit dem theologischen Gott <strong>der</strong> Religionen<br />

nichts gemein. Wer Gott erkennt, erkennt die<br />

Welt. O<strong>der</strong>, wie es Spinoza im 5. Teil <strong>aus</strong>spricht: „Je<br />

mehr wir die Einzeldinge erkennen, umso mehr erkennen<br />

wir Gott.“ (5p24) Wenn Spinoza nun<br />

davon spricht, dass allen, die den Weg <strong>der</strong> Tugend<br />

gehen <strong>und</strong> somit wahrhaft handeln, das höchste<br />

Gut gemeinsam ist <strong>und</strong> es als nicht knappes Gut<br />

keine Besitzansprüche, keinen Neid <strong>und</strong> keine Eifersucht<br />

bewirken kann, so ist diese Aussage mit<br />

Marx kompatibel. Auch bei Marx muss eine freie<br />

Gesellschaft auf nicht knappen Gütern beruhen,<br />

<strong>und</strong> dieses nicht knappe Gut ist die Vergesellschaftung<br />

selbst.<br />

Die freie Gesellschaft, die auf freien Individuen beruht,<br />

ist eine Gesellschaft von Menschen, die begreifen,<br />

dass das Wichtigste für ihre Freiheit die<br />

Freiheit <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en ist, die versuchen, sich in Liebe<br />

zu verbinden, wobei die Liebe zum Sein, welches,<br />

identifiziert mit dem eigentümlichen Gottesbegriff<br />

bei Spinoza durch inneres Leuchen erstrahlt, ihre<br />

gegenseitige Liebe <strong>und</strong> Fre<strong>und</strong>schaft stabilisiert. Es<br />

fehlt jedoch völlig die Einbeziehung <strong>der</strong> materiellen<br />

wie geistigen Produktion <strong>und</strong> Reproduktion <strong>der</strong><br />

Gesellschaft, <strong>und</strong> zwar sowohl hinsichtlich <strong>der</strong> geltenden<br />

gesellschaftlichen Formen als auch hinsichtlich<br />

möglicher zu antizipieren<strong>der</strong> Momente einer<br />

freien Gesellschaft. Inwiefern uns das Kapitalverhältnis<br />

am tatsächlichen Handeln hin<strong>der</strong>t <strong>und</strong> welche<br />

Formen <strong>der</strong> gesellschaftlichen Arbeit<br />

überw<strong>und</strong>en werden müssen, um Handeln zu ermöglichen,<br />

kann Spinoza nicht thematisieren. Dass<br />

die gesamte Dimension des Kapitalverhältnisses bei<br />

Spinoza fehlt, dafür ist er nicht zu rügen. Nach<br />

meiner Auffassung konnte selbst von Frühkapitalismus<br />

in den Vereinigten Provinzen zu Lebenszeit<br />

Zitierte Literatur / Siglen:<br />

<strong>Spinozas</strong> keine Rede sein. Er konnte die <strong>Bedeutung</strong><br />

des Klassenverhältnisses nicht erkennen, weil es<br />

nichts zu erkennen gab. Aber wir können es. Wenn<br />

Spinoza in seiner Definition <strong>der</strong> Gezwungenheit<br />

<strong>und</strong> <strong>der</strong> Freiheit davon spricht, dass ein an<strong>der</strong>s<br />

Ding jemanden zwingt „auf gewisse <strong>und</strong> bestimmte<br />

Weise zu existieren“ (nämlich in <strong>der</strong> proletarischen<br />

Existenzsituation zu verharren) „<strong>und</strong> zu wirken“, so<br />

formuliert unser Philosoph auf höchster Abstraktionsstufe<br />

die Bedingungen für Unfreiheit <strong>und</strong> umgekehrt<br />

ebenso die Bedingungen <strong>der</strong> Freiheit. Dass<br />

Spinoza die Dynamik <strong>der</strong> Unfreiheit, wenn ich nun<br />

das Kapitalverhältnis so bezeichnen darf, nicht erkennen<br />

konnte, ist ein Mangel, den wir in <strong>der</strong> Rezeption,<br />

so wir dem Denken <strong>Spinozas</strong> Aktualität<br />

verleihen wollen, zu berücksichtigen haben.<br />

Wir können jedoch durch<strong>aus</strong> im Sinne <strong>Spinozas</strong><br />

den ersten Lehrsatz des vierten Teils auf ihn selbst<br />

anwenden. „Nichts von dem, was eine falsche Idee<br />

Positives enthält, wird durch die Gegenwart des<br />

Wahren, insofern es wahr ist, aufgehoben.“ (4p1)<br />

Setzen wir für die falsche Idee die <strong>Ethik</strong> <strong>Spinozas</strong><br />

ein. Sie ist mangelhaft, da sie den Prozess <strong>der</strong> entfremdeten<br />

Arbeit nicht erfassen kann, aber sie enthält<br />

Positives. Sie thematisiert auf sehr abstrakter<br />

Ebene das Wechselspiel zwischen Tätigkeitsvermögen<br />

<strong>und</strong> Freiheit, somit jene zwei Achsen, die jede<br />

Theorie <strong>der</strong> Befreiung nach meiner Auffassung beinhalten<br />

muss. Reduzieren wir alles auf das Tätigkeitsvermögen,<br />

so kreieren wir eine eindimensionale<br />

Welt des Ja o<strong>der</strong> Nein zu dieser Produktivität. Lassen<br />

wir diese Dimension fallen <strong>und</strong> fokussieren wir<br />

auf geistige Erkenntnis, so entmaterialisiert sich<br />

Freiheit <strong>und</strong> Vernunft. Das Wechselspiel dieser Dimensionen<br />

gezeigt zu haben, ist ein wesentlicher<br />

Aspekt des Positiven <strong>der</strong> <strong>Ethik</strong> <strong>Spinozas</strong>. Akzeptieren<br />

wir die Marxsche Theorie als Gegenwart des<br />

Wahren, so hebt nun dieses Wahre, insbeson<strong>der</strong>e<br />

die Figur <strong>der</strong> entfremdeten Arbeit, die Erkenntnisse<br />

<strong>Spinozas</strong> keineswegs auf.<br />

E-Mail: k.reitter@gmx.net<br />

15<br />

Marx, Karl, (MEW 19) „Kritik des Gothaer Programms“, Seite 13-32<br />

Marx, Karl, (MEW 23) „Das Kapital, Band 1“<br />

Marx, Karl, (MEW 42) „Gr<strong>und</strong>risse <strong>der</strong> Kritik <strong>der</strong> politischen Ökonomie“<br />

Spinoza, Baruch, (1997) „Die <strong>Ethik</strong>“, lateinisch <strong>und</strong> deutsch, revidierte Übersetzung von Jakob Stern, Stuttgart<br />

Zitierprinzip <strong>der</strong> <strong>Ethik</strong> <strong>Spinozas</strong>: Die Teile <strong>der</strong> <strong>Ethik</strong> werden mit arabischen Ziffer angegeben, <strong>der</strong> darauf folgende Kleinbuchstabe<br />

bestimmt die Satzart (z.B. p = propositio, Lehrsatz), danach die Nummer plus eventuell weitere Spezifikation nach demselben<br />

Prinzip. 4p37s2 bedeutet also 4. Buch, 37. Lehrsatz, Anmerkung<br />

a = axioma, Axiom<br />

app = appendix, Anhang<br />

c = collarium, Zusatz<br />

cap = caput, Hauptsatz<br />

d = definitio, Definition<br />

dem = demonstratio, Beweis<br />

lem = lemma, Hilfssatz<br />

p = propositio, Lehrsatz<br />

post = postulatum, Postulat<br />

praef = praefatio, Vorwort<br />

s = scholium, Anhang<br />

exp = explicatio, Erläuterung

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