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Bedeutung und Defizite der Ethik Spinozas aus Marxistischer Sicht ...

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Karl Reitter | Marx & Spinoza<br />

min<strong>der</strong>ung des Tätigkeitsvermögens sind unmittelbar<br />

affektiv, jede Erhöhung bewirkt Lust o<strong>der</strong><br />

Freude, jede Vermin<strong>der</strong>ung Unlust o<strong>der</strong> Trauer. Erst<br />

mit <strong>der</strong> Lehre vom conatus, welche Spinoza im dritten<br />

Teil <strong>der</strong> <strong>Ethik</strong> entfaltet, wird <strong>der</strong> Mensch tatsächlich<br />

Subjekt. Dieses Streben ist unzerstörbar <strong>und</strong><br />

durch keinerlei äußere Faktoren bewirkt. Das<br />

menschliche Subjekt ist bei Spinoza ohne innere Wi<strong>der</strong>sprüche,<br />

Spaltungen o<strong>der</strong> Entgegensetzung.<br />

Wie stellt sich die Sachlage bei Marx dar? Der Anstoß<br />

zur Erhöhung <strong>der</strong> Produktivkraft <strong>der</strong> Arbeit<br />

scheint <strong>aus</strong>schließlich <strong>der</strong> Akkumulationslogik des<br />

Kapitals selbst innezuwohnen. Kapitale, denen es gelingt,<br />

die Produktivkraft <strong>der</strong> Arbeit zu erhöhen, lukrieren<br />

einen Extramehrwert, bis sich die neuen<br />

Produktionsverfahren allgemein durchgesetzt haben.<br />

Haben wir es somit mit <strong>der</strong> Denkfigur <strong>der</strong> List <strong>der</strong><br />

Vernunft zu tun? Der Zweck <strong>der</strong> Erhöhung <strong>der</strong> Produktivkraft<br />

ist <strong>der</strong> Profit, aber diese Erhöhung impliziert<br />

die Steigerung <strong>der</strong> Gesellschaftskräfte <strong>und</strong> damit<br />

auch in unterschiedlichem <strong>und</strong> uneinheitlichem<br />

Maße die individuellen Fähigkeiten <strong>der</strong> Menschen.<br />

Müssen wir somit folgenden Gegensatz konstatieren:<br />

Während für Spinoza <strong>der</strong> Antrieb zur Steigerung des<br />

Tätigkeitsvermögens unmittelbar <strong>aus</strong> <strong>der</strong> Essenz des<br />

Menschen folgt, bürdet Marx diesen Mechanismus<br />

<strong>der</strong> Logik <strong>der</strong> Kapitalakkumulation auf? Steigerung<br />

<strong>der</strong> Produktivkraft würde somit bei Marx durch<br />

einen dem Subjekt fremden <strong>und</strong> äußerlichen Mechanismus<br />

erzwungen werden.<br />

Gegen diese schroffe Entgegensetzung spricht <strong>der</strong><br />

Arbeitsbegriff bei Marx selbst <strong>und</strong> dieselbe schwindet<br />

in dem Maße, in dem wir die Unterscheidung<br />

zwischen entfremdeter <strong>und</strong> nicht entfremdeter Arbeit<br />

bei Marx berücksichtigen. Wir finden bei<br />

Marx, beginnend mit den Frühschriften über das<br />

Kapital bis hin zur Kritik des Gothaer Programms die<br />

Denkfigur, dass durch die Entäußerung <strong>und</strong> Vergegenständlichung<br />

des Menschen im Arbeitsprozess<br />

seine Wesenskräfte erstmals geschaffen werden. Ich<br />

zitiere <strong>aus</strong> dem Kapital: „Indem er“ – <strong>der</strong> arbeitende<br />

Mensch – „durch diese Bewegung“ – die Arbeit –<br />

„auf die Natur außer ihm wirkt <strong>und</strong> sie verän<strong>der</strong>t,<br />

verän<strong>der</strong>t er zugleich seine eigne Natur. Er entwickelt<br />

die in ihr schlummernden Potenzen <strong>und</strong> unterwirft<br />

das Spiel ihrer Kräfte seiner eignen<br />

Botmäßigkeit.“ (MEW 23; 192) Allerdings erst<br />

unter den Bedingungen <strong>der</strong> nicht entfremdeten Arbeit<br />

kann Arbeit „selbst das erste Lebensbedürfnis“<br />

(MEW 19; 22) werden. Die strukturelle Fremdbestimmung<br />

im kapitalistischen Produktionsprozess<br />

trennt den Menschen von seinem ersten Lebensbedürfnis.<br />

Wohl lässt das Kapitalverhältnis für bestimmte<br />

Schichten einen positiven Bezug zur Erwerbsarbeit<br />

durch<strong>aus</strong> zu <strong>und</strong> for<strong>der</strong>t bestimmte<br />

Kompetenzen. Was das Kapital jedoch niemals ermöglichen<br />

kann, ist die tatsächliche <strong>und</strong> umfassende<br />

Selbstbestimmung, ist Autonomie im<br />

Arbeitsvollzug.<br />

Wir sehen also: Auch Marx verknüpft das Arbeitsvermögen<br />

mit dem Wesen des Menschen. Indem<br />

<strong>der</strong> Mensch durch Arbeit seine eigene Natur verän<strong>der</strong>t,<br />

verän<strong>der</strong>t er wie<strong>der</strong>um sein Tätigkeitsvermögen.<br />

Dieser positive Zirkel wird nun durch die<br />

Fremdbestimmung in <strong>der</strong> Lohnarbeit gebrochen.<br />

Ich komme nun auf die zweite Dimension, auf den<br />

Gegensatz von Freiheit <strong>und</strong> Gezwungenheit, zu<br />

sprechen. Wobei ich durch<strong>aus</strong> im Sinne von Marx<br />

<strong>und</strong> Spinoza Freiheit mit Selbstbestimmung <strong>und</strong><br />

Autonomie, Gezwungenheit mit Fremdbestimmung<br />

<strong>und</strong> Heteronomie synonym setze.<br />

Der Unterschied <strong>der</strong> Freiheitsdimension zum Tätigkeitsvermögen<br />

ist schlagend. Es ist eine Sache, ob<br />

ein Kollektiv o<strong>der</strong> ein Individuum etwas kann <strong>und</strong><br />

vermag, eine an<strong>der</strong>e, welche Macht bestimmt, ob<br />

<strong>und</strong> in welcher Weise dieses Vermögen eingesetzt<br />

wird. Ich kann mehr o<strong>der</strong> weniger fähig sein, Texte<br />

gut <strong>und</strong> präzise von einer Sprache in die an<strong>der</strong>e zu<br />

übersetzen – die Fähigkeit zum Übersetzen ist Teil<br />

meines Tätigkeitsvermögens. Diese Tätigkeit kann<br />

meinen Interessen <strong>und</strong> Bedürfnissen entsprechen –<br />

ich übersetze Texte, die mir wichtig <strong>und</strong> wertvoll erscheinen.<br />

An<strong>der</strong>erseits kann ich kann aber auch<br />

Texte übersetzen müssen, die ich in je<strong>der</strong> Hinsicht<br />

ablehne <strong>und</strong> als nutzlos <strong>und</strong> schädlich erachte. Die<br />

Unterscheidung zwischen den Faktoren <strong>der</strong> Produktivkraft<br />

<strong>der</strong> Arbeit <strong>und</strong> ihrem heteronomen<br />

bzw. autonomen Einsatz ist für Marx ganz wesentlich.<br />

Im Gr<strong>und</strong>e beruht die von ihm reklamierte<br />

Wissenschaftlichkeit seiner Analyse auf dieser Unterscheidung.<br />

„Als Fanatiker <strong>der</strong> Verwertung des<br />

Werts zwingt er [<strong>der</strong> Kapitalist, das personifizierte<br />

Kapital] rücksichtslos die Menschheit zur Produktion<br />

um <strong>der</strong> Produktion willen, daher zu einer Entwicklung<br />

<strong>der</strong> gesellschaftlichen Produktivkräfte <strong>und</strong><br />

zur Schöpfung von materiellen Produktionsbedingungen,<br />

welche allein die reale Basis einer höheren<br />

Gesellschaftsform bilden können, <strong>der</strong>en Gr<strong>und</strong>prinzip<br />

die volle <strong>und</strong> freie Entwicklung jedes Individuums<br />

ist.“ (MEW 23; 618) Um diese höhere<br />

Gesellschaftsform zu erreichen, ist es jedoch unabdingbar,<br />

dass das Kapitalverhältnis <strong>und</strong> die damit<br />

verb<strong>und</strong>ene Fremdbestimmung überw<strong>und</strong>en werden.<br />

Die im Kapitalverhältnis entwickelte Produktivkraft<br />

<strong>der</strong> Arbeit kann sich nur dann mit dem<br />

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