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Bedeutung und Defizite der Ethik Spinozas aus Marxistischer Sicht ...

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Karl Reitter | Marx & Spinoza<br />

her<strong>aus</strong> tätig sind, dann handeln wir <strong>und</strong> streben nach<br />

Vollkommenheit, wenn nicht, dann nicht.<br />

Spinoza verwendet nun für das bloße Tätigsein,<br />

welches nicht <strong>aus</strong> unserer Natur folgt, den Begriff<br />

Erleiden. Orientieren wir uns am üblichen Wortsinn,<br />

so sind Missverständnisse unvermeidbar. Der<br />

Gegensatz von Handeln <strong>und</strong> Erleiden ist keineswegs<br />

mit dem Gegensatz von Aktivität <strong>und</strong> Passivität<br />

identisch. Wohl schließt <strong>der</strong> Begriff des<br />

Handelns stets Aktivität ein, doch auch die Affekte<br />

des Leidens führen zu Aktivitäten. Diese Aktivitäten<br />

des Erleidens sind jedoch von wirklichen Handlungen<br />

klar zu unterscheiden. Wir handeln deshalb<br />

nicht, weil wir zwar glauben, dass wir unser Sein erhalten,<br />

tatsächlich gefährden wir es stattdessen. Wir<br />

handeln nur dann, wenn unsere Aktivitäten einzig<br />

<strong>und</strong> allein <strong>aus</strong> dem Streben folgen, unser Sein zu erhalten,<br />

wenn <strong>aus</strong>schließlich wir die Ursache unserer<br />

Aktivitäten sind. „Ich sage, dass wir dann handeln,<br />

wenn etwas in uns geschieht o<strong>der</strong> außer uns geschieht,<br />

dessen adäquate Ursache wir sind.“ (3def2)<br />

Adäquate Ursache zu sein bedeutet die einzige <strong>und</strong><br />

daher klar erkennbare Ursache zu sein. Ich komme<br />

nun zur entscheidenden Frage: Was hin<strong>der</strong>t uns<br />

nach Spinoza am Handeln? Diese Frage ist identisch<br />

mit <strong>der</strong> Frage: Was hin<strong>der</strong>t uns an <strong>der</strong> Freiheit,<br />

was hin<strong>der</strong>t uns an <strong>der</strong> Selbstbestimmung, was<br />

an <strong>der</strong> Tugend?<br />

Erstens: unser Eingebettetsein in die Welt selbst.<br />

„Es ist unmöglich, dass <strong>der</strong> Mensch nicht Teil <strong>der</strong><br />

Natur ist <strong>und</strong> dass er nur Verän<strong>der</strong>ungen erleiden<br />

kann, die <strong>aus</strong> seiner Natur allein begriffen werden<br />

können <strong>und</strong> <strong>der</strong>en adäquate Ursache er ist.“ (4p4)<br />

Damit ist nicht gesagt, dass Leiden immer schlecht<br />

ist. Das, was auf uns einströmt, kann unser Tätigkeitsvermögen<br />

vermin<strong>der</strong>n, aber auch erhöhen. Es<br />

kann unsere Fähigkeit zum Handeln erhöhen o<strong>der</strong><br />

vermin<strong>der</strong>n, ist aber vom Handeln stets zu unterscheiden.<br />

Da wir stets Teil <strong>der</strong> Natur sind, leiden<br />

wir immer, es kommt gewissermaßen auf die Quantität<br />

des Leidens an, was Spinoza in <strong>der</strong> Definition<br />

des Affekts auch klarstellt. Absolut <strong>aus</strong> <strong>der</strong> Notwendigkeit<br />

<strong>der</strong> eigenen Natur zu handeln ist somit eine<br />

Grenzbestimmung, <strong>der</strong> wir uns nur mehr o<strong>der</strong> min<strong>der</strong><br />

annähern können. Ich wüsste gegen diesen Aspekt<br />

nun keinen Einwand, <strong>der</strong> sich <strong>aus</strong> <strong>der</strong><br />

Marxschen Perspektive ergeben könnte. Auch in<br />

einer freien Gesellschaft, so Marx, bleibt das Reich<br />

<strong>der</strong> Gezwungenheit bestehen, wenn auch qualitativ<br />

reduziert. Zweitens: Der Mangel an adäquaten<br />

Ideen hin<strong>der</strong>t uns ebenso am Handeln. Spinoza<br />

stellt diese Bestimmung an den Beginn des dritten<br />

Teiles seiner <strong>Ethik</strong>, ich zitiere: „Hier<strong>aus</strong> folgt, dass<br />

<strong>der</strong> Geist um so mehr dem Leiden unterworfen ist,<br />

je mehr inadäquate Ideen er hat, dass er dagegen<br />

um so mehr handelt, je mehr adäquate Ideen er<br />

hat.“ (3p2c) Das führt uns zum diffizilen <strong>und</strong> komplexen<br />

Problem, wie <strong>der</strong> Geist seine inadäquaten<br />

Ideen minimieren <strong>und</strong> in adäquate Ideen weiterführen<br />

kann. Die Frage, was uns am Handeln hin<strong>der</strong>t,<br />

ist somit auch mit <strong>der</strong> Frage verknüpft, was uns<br />

daran hin<strong>der</strong>t, adäquate Iden zu bilden? Auch beim<br />

Geist ist zwischen Tätigkeitsvermögen <strong>und</strong> Freiheit<br />

zu unterscheiden. Das Tätigkeitsvermögen des<br />

Geistes entspricht <strong>der</strong> Quantität seines Auffassungso<strong>der</strong><br />

Erfassungsvermögens. Wenn Spinoza postuliert:<br />

„Der menschliche Geist ist befähigt, vieles zu<br />

erfassen <strong>und</strong> umso befähigter, auf je mehr Weisen<br />

sein Körper disponiert werden kann“ (2p14), so<br />

meint „vieles erfassen“ keineswegs vieles auch adäquat<br />

zu erfassen. Das Tätigkeitsvermögen des Körpers<br />

korrespondiert mit dem Tätigkeitsvermögen<br />

des Geistes. „Alles, was das Tätigkeitsvermögen unseres<br />

Körpers vermehrt o<strong>der</strong> vermin<strong>der</strong>t, för<strong>der</strong>t<br />

o<strong>der</strong> hemmt, dessen Idee vermehrt o<strong>der</strong> vermin<strong>der</strong>t,<br />

för<strong>der</strong>t o<strong>der</strong> hemmt das Denkvermögen unseres<br />

Geistes.“ (3p11) Spinoza spricht hier explizit<br />

nicht von adäquaten Ideen, son<strong>der</strong>n eben vom<br />

Denkvermögen, cogitandi potentiam, unseres Intellekts.<br />

Einen Faktor, <strong>der</strong> das quantitative Verhältnis zwischen<br />

den inadäquaten zugunsten <strong>der</strong> adäquaten<br />

Ideen verschieben könnte, meine ich in <strong>Spinozas</strong><br />

Lehrsätzen über die Allseitigkeit des Affizieren <strong>und</strong><br />

Affiziertwerden gef<strong>und</strong>en zu haben. „Das, was den<br />

menschlichen Körper so disponiert, dass er auf viele<br />

Weisen affiziert werden kann, o<strong>der</strong> was ihn fähig<br />

macht, äußere Körper auf viele Weisen zu affizieren,<br />

ist dem Menschen nützlich <strong>und</strong> um so nützlicher, je<br />

fähiger <strong>der</strong> Körper dadurch gemacht wird, auf viele<br />

Weisen affiziert zu werden <strong>und</strong> an<strong>der</strong>e Körper zu<br />

affizieren.“ (4p38) Und Spinoza setzt hinzu: „Je<br />

mehr <strong>der</strong> Körper hierzu fähig gemacht wird, desto<br />

fähiger wird <strong>der</strong> Geist zum Erkennen gemacht.“<br />

(4p38dem) Einseitigkeit, auch wenn sie Lust zur<br />

Folge hat, wird von Spinoza als einschränkend <strong>und</strong><br />

daher negativ bezeichnet. Wenn die Begierde, so<br />

Spinoza, keine Rücksicht auf den ganzen Menschen<br />

nimmt, dann kann auch Lust ein Übermaß haben.<br />

Auch bei diesem Thema finden wir Berührungspunkte<br />

mit Marx. Reduktion, Einschränkung, Fixierung<br />

auf bestimmte Lebensvollzüge ist für Marx<br />

stets negativ. Umgekehrt hält Marx Allseitigkeit<br />

<strong>und</strong> wahren Reichtum für Bedingungen wie für Resultat<br />

von Freiheit: So lesen wir in den Gr<strong>und</strong>rissen<br />

einer Vorarbeit zum Kapital: „In fact aber, wenn die<br />

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