Zur Lage der Gruppe - Arbeiterstimme
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8 <strong>Arbeiterstimme</strong><br />
Winter 2005<br />
Streik bei Infineon, München<br />
Kraftprobe<br />
8Tage (vom 24. 10. bis 3. 11.<br />
2005) dauerte <strong>der</strong> Streik<br />
für einen Ergänzungstarifvertrag<br />
(Sozialtarifvertrag) im Werk<br />
München Perlach (rund 800 Arbeiter).<br />
Vorangegangen waren Warnstreiks<br />
und Demonstrationen. Die IG Metall<br />
setzte zur Betreuung des Streiks die<br />
Siemens-Schwerpunkt-<strong>Gruppe</strong> (untersteht<br />
direkt dem Vorstand) und Sekretäre<br />
<strong>der</strong> Verwaltungsstelle ein.<br />
Bezirksleiter Neugebauer übernahm<br />
persönlich die Verhandlungsführung.<br />
Ein Streikzelt wurde errichtet.<br />
Die Streikposten wurden rund um<br />
die Uhr mit Essen und Getränken<br />
versorgt. An<strong>der</strong>e Betriebe aus München<br />
und darüber hinaus schickten<br />
Solidaritätsadressen bzw. Delegationen<br />
zum Besuch <strong>der</strong> Streikposten. An<br />
jedem Streiktag erschien ein Flugblatt<br />
an die Infineon- und Siemens-Beschäftigten.<br />
Die IGM bot all ihre organisatorischen<br />
Möglichkeiten auf.<br />
Was war so beson<strong>der</strong>es an diesem<br />
Abwehrkampf?<br />
Bei Siemens in München Neuperlach<br />
wurde Ende <strong>der</strong> 80er Jahre<br />
<strong>der</strong> erste Ein-Mega-Chip in Deutschland<br />
entwickelt. Die damalige Kohl-<br />
Regierung feierte den endlich erreichten<br />
Anschluß Deutschlands an den<br />
damaligen Weltstandard <strong>der</strong> Elektronik.<br />
Die Subventionen des Bundes für<br />
Siemens erreichten dreistellige Millionensummen<br />
und dürften die tatsächlichen<br />
Entwicklungskosten<br />
zumindest abgedeckt – wenn nicht<br />
überschritten – haben.<br />
Bei <strong>der</strong> Ausglie<strong>der</strong>ung <strong>der</strong><br />
Chip-Fertigung von Siemens zu <strong>der</strong><br />
selbständigen Aktiengesellschaft Infineon<br />
blieb <strong>der</strong> Standort Neuperlach<br />
im Siemens-Standort München P (z.<br />
Zt. noch rund 5400 Beschäftigte) integriert.<br />
Seit ca. einem Jahr steht fest, daß<br />
Infineon das Werk schließen wirund-<br />
Die Fertigungsanlagen sind veraltet.<br />
Eine Erneuerung am Ort wäre teuer<br />
und störungsanfällig, da sich die Anfor<strong>der</strong>ungen<br />
an die technische Perfektion<br />
laufend erhöht haben. In neueren<br />
Werken (Regensburg und Villach,<br />
Österreich) ist genügend Kapazität<br />
vorhanden. Es ist beabsichtigt,<br />
die Speicherchip-Produktion aus <strong>der</strong><br />
jetzigen Gesellschaft auszuglie<strong>der</strong>n.<br />
Die rund 800 Kolleginnen und Kollegen<br />
in <strong>der</strong> Fertigung werden ihren<br />
Arbeitsplatz direkt verlieren; rund<br />
200 von ihnen (Vertrieb, Verwaltung)<br />
könnten auf etwas längere Sicht betroffen<br />
sein.<br />
Nachdem klar war, daß Infineon<br />
auf <strong>der</strong> Schließung des Standorts<br />
bestehen würde, legte die IG Metall<br />
den Schwerpunkt <strong>der</strong> Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />
darauf, die Schließung zu<br />
verzögern, möglichst hohe Abfindungen<br />
und eine mehrjährige Beschäftigungsgesellschaft<br />
herauszuschlagen.<br />
Daran wurde von (wenigen) Kollegen<br />
im Betrieb (und von externen <strong>Gruppe</strong>n,<br />
vor allem <strong>der</strong> MLPD) kritisiert,<br />
daß <strong>der</strong> Kampf um die Erhaltung aller<br />
Arbeitsplätze geführt werden<br />
müsse. Das ist abstrakt richtig aber<br />
lei<strong>der</strong> unrealistisch, da in an<strong>der</strong>en<br />
Konzernbetrieben ausreichend Ersatzkapazität<br />
besteht und die IG Metall<br />
nicht in <strong>der</strong> <strong>Lage</strong> ist, alle Infineon-Betriebe<br />
in Deutschland und<br />
schon gar nicht die ausländischen<br />
Betriebe unter Druck zu setzen. Auch<br />
hier rächt sich die Vernachlässigung<br />
internationaler Gewerkschaftsarbeit.<br />
Der Streik wurde sehr diszipliniert<br />
durchgeführt. Bei <strong>der</strong> Urabstimmung<br />
unter den rund 280 Organisierten<br />
stimmten 92,6 % für die unbefristete<br />
Arbeitsnie<strong>der</strong>legung. Alle Kolleginnen<br />
und Kollegen aus <strong>der</strong> Fertigung<br />
streikten<br />
und hielten<br />
durch. Am<br />
1. Tag (24. 10.<br />
05) versuchte<br />
Infineon eine<br />
kleine Zahl<br />
Streikbrecher<br />
unter Polizeischutz<br />
in den<br />
Betrieb zu bringen. Es gab Rangeleien.<br />
Einige Kollegen wurden vorläufig<br />
festgenommen. Die Unternehmensleitung<br />
erwirkte eine einstweilige<br />
Verfügung, die <strong>der</strong> IGM auferlegte,<br />
Streikbrecher nicht aufzuhalten.<br />
Die Betriebsleitung wie<strong>der</strong>holte den<br />
Versuch trotzdem nicht. Die (eher<br />
symbolische) Aufnahme <strong>der</strong> Arbeit<br />
durch die betriebsfremden Angestellten<br />
brachte außer hohen Ausschußquoten<br />
und Schäden an den Einrichtungen<br />
nichts.<br />
Es gelang, alle zehn Tore des<br />
Siemens/Infineon-Standorts während<br />
des ganzen Streiks und rund um die<br />
Uhr (Konti-Schicht) besetzt zu halten.<br />
Die Siemens-Beschäftigten wurden z.<br />
T. nach Ausweis-Kontrolle durchgelassen.<br />
Inwieweit die eindrucksvolle<br />
Darstellung gewerkschaftlicher<br />
Kampffähigkeit die Siemens-Angestellten<br />
dauerhaft beeindrucken und<br />
zu höherem Organisationsgrad (jetzt<br />
7-8 %) führen wird, bleibt abzuwarten.<br />
Zumindest reagierten viele mit<br />
Sympathie.<br />
Die Ergebnisse bringen den Infineon-Arbeitern<br />
finanzielle Vorteile.<br />
Die Abfindungen wurden auf das<br />
1,32-fache eines Monatslohns je Beschäftigungsjahr<br />
festgelegt. Geboten<br />
waren 0,3 %/Beschäftigungsjahr. Sie<br />
dürfen aber 130.000 Euro je Beschäftigtem<br />
nicht übersteigen. Die Betriebsschließung<br />
wurde um ein Vierteljahr<br />
mit Option auf ein weiteres<br />
Vierteljahr hinausgeschoben. Entlassene<br />
können bis zu einem Jahr in einer<br />
von Siemens bezahlten Beschäftigungsgesellschaft<br />
unterkommen, d. h.<br />
Arbeitslosengeld I und später Alg II werden<br />
um dieses Jahr hinausgeschoben.<br />
Die Zahl <strong>der</strong> Gewerkschaftsmitglie<strong>der</strong><br />
hat sich knapp verdoppelt.<br />
Das kann die verlorenen Arbeitsplätze<br />
nicht ersetzen. Der Streik<br />
konnte aber den Arbeitsplatzabbau<br />
für den Konzern verteuern. Vor allem<br />
zeigte er die Kampffähigkeit <strong>der</strong> Gewerkschaft.<br />
Weitere solche Beispiele<br />
sind erwünscht.