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Arnim, Bettina von - Lichtgeschwindig

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durchgesetzt haben.<br />

Am 2. August<br />

Heute morgen hat mich die Sonne schon halb fünf Uhr geweckt; ich glaub, ich hab keine<br />

zwei Stund geschlafen; sie mußte mir grade in die Augen scheinen. Eben hatte es aufgehört mit<br />

Wolkenbrechen und Windwirbeln, die goldne Ruhe breitete sich aus am blauen Morgenhimmel;<br />

ich sah die Wasser sich sammeln und ihren Weg zwischen den Felskanten suchen hinab in die<br />

Flut; gestürzte Tannen brachen den brausenden Wassersturz, und Felssteine spalteten seinen<br />

Lauf; er war unaufhaltsam; er riß mit sich, was nicht widerstehen konnte. – Da überkam mich<br />

eine so gewaltige Lust – ich konnte auch nicht widerstehen: ich schürzte mich hoch, der<br />

Morgenwind hielt mich bei den Haaren im Zaum; ich stützte beide Hände in die Seite, um mich<br />

im Gleichgewicht zu halten, und sprang hinab in kühnen Sätzen <strong>von</strong> einem Felsstück zum<br />

andern, bald hüben bald drüben, das brausende Wasser mit mir, kam ich unten an; da lag, als<br />

wenn ein Keil sie gespalten hätte bis an die Wurzel, der halbe Stamm einer hohlen Linde, quer<br />

über den sich sammelnden Wassern.<br />

O liebster Freund! Der Mensch, wenn er Morgennebel trinkt und die frischen Winde sich<br />

mit ihm jagen und der Duft der jungen Kräuter in die Brust eindringt und in den Kopf steigt; und<br />

wenn die Schläfe pochen und die Wangen glühen und wenn er die Regentropfen aus den Haaren<br />

schüttelt, was ist das für eine Lust!<br />

Auf dem umgestürzten Stamm ruhte ich aus, und da entdeckte ich unter den<br />

dickbelaubten Ästen unzählige Vogelnester, kleine Meisen mit schwarzen Köpfchen und weißen<br />

Kehlen, sieben in einem Neste, Finken und Distelfinken; die alten Vögel flatterten über meinem<br />

Kopf und wollten die jungen ätzen; ach, wenn's ihnen nur gelingt, sie groß zu ziehen in so<br />

schwieriger Lage; denk nur: aus dem blauen Himmel herabgestürzt an die Erde, quer über einen<br />

reißenden Bach, wenn so ein Vögelchen herausfällt, muß es gleich ersaufen, und noch dazu<br />

hängen alle Nester schief. – Aber Goethe, hätte ich meine Hütte dort in der einsamen Talschlucht,<br />

und ich wär gewöhnt, auf Dich zu warten, welch großes Ereignis war dieses; wie würd ich Dir<br />

entgegenspringen und <strong>von</strong> weitem schon zurufen: »Denk nur unsere Linde!« – Und so ist es<br />

auch: ich bin eingeschlossen in meiner Liebe wie in einsamer Hütte, und mein Leben ist ein<br />

Harren auf Dich unter der Linde; wo Erinnerung und Gegenwart duftet und die Sehnsucht die<br />

Zukunft herbeilockt. Ach lieber Wolfgang, wenn der grausame Sturm die Linde spaltet und die<br />

üppigere, stärkere Hälfte mit allem innewohnenden Leben zu Boden stürzt und ihr grünes Laub<br />

über bösem Geschick wie über stürzenden Bergwassern trauernd welkt und die junge Brut in<br />

ihren Ästen verdirbt; o dann denk, daß die eine Hälfte noch steht, und in ihr alle Erinnerung und<br />

alles Leben, was dieser entsprießt, zum Himmel getragen wird.<br />

Adieu! Jetzt geht's weiter; morgen bin ich Dir nicht so nah, daß ein Brief, den ich früh<br />

geschrieben, Dir spät die Zeit vertreibt. – Ach lasse sie Dir vertreiben, als wenn ich selbst bei Dir<br />

war: zärtlich!<br />

In Kassel bleib ich vierzehn Tage, dort werd ich der Mutter schreiben; sie weiß noch<br />

nicht, daß ich bei Dir war.<br />

Bettine<br />

An Bettine<br />

War unersättlich nach viel tausend Küssen<br />

Und mußt mit Einem Kuß am Ende scheiden.

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