Montaigne Die Vielheit der Welt im Spiegel des Selbst - Seminar für ...
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könnte. Es gibt keine logische Notwendigkeit <strong>für</strong> die spezifische Existenz dieser <strong>Welt</strong>. Was<br />
heute je<strong>der</strong> Student <strong>der</strong> Logik <strong>für</strong> selbstverständlich hinn<strong>im</strong>mt, war <strong>für</strong> Ockham ein wirkliches<br />
Problem. In dieser Erkenntnis wird eine tiefe Betroffenheit darüber deutlich, dass die <strong>Welt</strong><br />
auch ganz an<strong>der</strong>s sein könnte.<br />
In diesem Bewusstsein kommt ein tiefgreifen<strong>der</strong> Wandel <strong>des</strong> spätmittelalterlichen<br />
<strong>Welt</strong>verständnisses zum Ausdruck, nämlich das Problem <strong>der</strong> Individualität, das sowohl<br />
<strong>Montaigne</strong> wie auch die Mo<strong>der</strong>ne, die sich auf ihn beruft, nicht lösen konnten: dass nur das<br />
Einzelne, das Individuum, wirklich erkennbar und <strong>für</strong> die menschliche Apperzeption<br />
zugänglich ist, und das dieses Einzelne in seiner Entstehung von völlig zufälligen Faktoren<br />
abhängig ist. 46 Max Horkhe<strong>im</strong>er hat die Konsequenzen <strong>des</strong> Nominalismus <strong>für</strong> <strong>Montaigne</strong> und<br />
die Mo<strong>der</strong>ne sehr präzise ausgedrückt:<br />
„<strong>Die</strong> Struktur <strong>des</strong> Universums, welche die Menschen zu erkennen strebten, war seine wahre Struktur<br />
[...]. Im Nominalismus wurde diese Auffassung erschüttert. <strong>Die</strong> aristotelische Lehre, nach <strong>der</strong> die Dinge<br />
ihr Wesen in sich haben, und wir sie nach dem erkennen, was sie wirklich sind, verlor ihre Autorität.<br />
[...] Nicht durch die Harmonie von Materie und Form ist die Wirklichkeit gekennzeichnet, son<strong>der</strong>n<br />
durch den Gegensatz zwischen Materie und Form, zwischen <strong>der</strong> widrigen, zu bewältigenden Außenwelt<br />
und dem mit seinen eigenen Zwecken und Ideen gegen sich kämpfenden Individuum. <strong>Die</strong> Skepsis ist<br />
die Quintessenz <strong>des</strong> Nominalismus. [...] denn die Subjektivierung <strong>der</strong> Erkenntnis, in <strong>der</strong> die<br />
wi<strong>der</strong>sprechendsten Systeme zusammenst<strong>im</strong>men, ist eine skeptische Funktion.“ 47<br />
Der Nominalismus hatte in den nächsten folgenden Jahrhun<strong>der</strong>ten einen starken Einfluss auf<br />
das Denken <strong>des</strong> Spätmittelalters und <strong>der</strong> Renaissance, <strong>der</strong> nicht unterschätzt werden darf, und<br />
hat auch <strong>Montaigne</strong>s von <strong>der</strong> Skepsis beeinflusstes <strong>Welt</strong>bild geprägt. 48 Der Mensch kann sich<br />
in seiner Verunsicherung gegenüber <strong>der</strong> <strong>Welt</strong> nicht mehr auf eine metaphysische Idee<br />
berufen, weil <strong>der</strong> Nominalismus schon die Frage nach metaphysischen und d. h. abstrakten<br />
Prinzipien als sinnlos erklärt. Auch die Sprache, die <strong>für</strong> Aristoteles noch das Privileg <strong>des</strong><br />
Mittelalter, S. 442 ff.<br />
46 Michel de <strong>Montaigne</strong>, a. a. O., „(b) La consequence que nous voulons tirer de la ressemblance <strong>des</strong><br />
evenemens est mal seure, d`autant qu`ils sont tousjours dissemblables: il n`est aucune qualité si universelle<br />
en cette <strong>im</strong>age <strong>des</strong> choses que la diversité et varieté.“ (S. 1041) Es gibt demnach keine absolute Ähnlichkeit,<br />
geschweige denn Identität: Denn die Ähnlichkeit setzt die Differenz voraus.<br />
47 Max Horkhe<strong>im</strong>er, a. a. O., S. 377<br />
48 In <strong>der</strong> Einleitung zu Ockhams Texten über Theologie und Ethik machen Sigrid Müller und Volker Leppin auf<br />
die Bedeutung Ockhams <strong>für</strong> das spätmittelalterliche Denken aufmerksam: „Gerade angesichts seiner<br />
problematischen, unversöhnlichen und unversöhnten Stellung zur institutionellen Kirche erstaunt es, welch<br />
große Wirkung sein Werk in den folgenden zwei Jahrhun<strong>der</strong>ten entfalten konnte. [....] In diesem Rahmen<br />
bildetet Wilhelm von Ockham <strong>im</strong>merhin zwei Jahrhun<strong>der</strong>te lang, bis in das 16. Jahrhun<strong>der</strong>t hinein, eine <strong>der</strong><br />
maßgeblichen Größen <strong>des</strong> universitären Lehrbetriebs.“ (Siehe: Wilhelm von Ockham, Texte zu Theologie<br />
und Ethik, Lateinisch-Deutsch, Hrsg. und Übersetzung Sigrid Müller und Volker Leppin, Reclam, Stuttgart<br />
2000, S. 15)<br />
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