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Montaigne Die Vielheit der Welt im Spiegel des Selbst - Seminar für ...

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An<strong>der</strong>s als es die Aufklärung verstanden hat, sieht Adorno, wie Nietzsche, in <strong>der</strong><br />

Unterwerfung <strong>der</strong> Natur nicht mehr einen Wahrheitsbeweis <strong>für</strong> das objektivierende Denken,<br />

son<strong>der</strong>n einen Beweis seiner Scheinhaftigkeit und Gewaltsamkeit. Wahrheit kann <strong>für</strong> Adorno<br />

nur noch gedacht werden als dem instrumentellen (also am Ende begrifflich-systematischen)<br />

Denken entgegengesetzte Wahrheit. Eben diese Wahrheit kann <strong>der</strong> Essay ausdrücken, indem<br />

er die Dinge reflektierend sprechen läßt:<br />

„Er ist nicht unlogisch; gehorcht selber logischen Kritierien insofern, als die Gesamtheit seiner Sätze<br />

sich st<strong>im</strong>mig zusammenfügen muß. [...] Nur entwickelt er die Gedanken an<strong>der</strong>s als nach <strong>der</strong> diskursiven<br />

Logik. We<strong>der</strong> leitet er aus einem Prinzip ab noch folgert er aus kohärenten Einzelbeobachtungen. Er<br />

koordiniert sie, anstatt sie zu subordinieren; und erst <strong>der</strong> Inbegriff seines Gehalts, nicht die Art von<br />

<strong>des</strong>sen Darstellung ist den logischen Kriterien kommensurabel“. 153<br />

Der Essay ist <strong>der</strong> Versuch, sich einem Ding ohne hierarchisierenden Herrschaftsanspruch,<br />

son<strong>der</strong>n in unvoreingenommener Haltung zu nähern.<br />

„(c)Je n`ay rien à dire de moy, entierement, s<strong>im</strong>plement et solidement, sans confusion et sans<br />

meslange, ny en un mot. Distingo est le plus universel membre de ma logique.“ (S. 319)<br />

Der Essay eröffnet <strong>für</strong> den Leser durch seine kurze Form und seinen unsystematischen, aber<br />

dennoch vielschichtigen Aufbau eine Perspektive: <strong>der</strong> Essay wird zum Ausdruck eines<br />

nonkonformistischen geistigen Verhaltens und schafft damit individuelle intellektuelle<br />

Freiheit jenseits jeglichen erstarrten Systemzwanges. Wer einen guten Essay schreiben kann,<br />

besitzt etwas, was Robert Musil in Der Mann ohne Eigenschaften als Möglichkeitssinn<br />

bezeichnet, den er folgen<strong>der</strong>maßen charakterisiert:<br />

„Wer ihn besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies o<strong>der</strong> das geschehen, wird geschehen, muß<br />

geschehen; son<strong>der</strong>n er erfindet: Hier könnte, sollte o<strong>der</strong> müßte geschehen; und wenn man ihm von<br />

irgendetwas erklärt, daß es so sei, wie es sei, dann denkt er: Nun, es könnte wahrscheinlich auch an<strong>der</strong>s<br />

sein. So ließe sich <strong>der</strong> Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebensogut sein<br />

könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist.“ 154<br />

<strong>Die</strong>se Definition <strong>des</strong> „Möglichkeitssinnes“ kann geradezu als Definition <strong>des</strong> Essays<br />

verstanden werden: Der Essay ist <strong>im</strong>mer Möglichkeitsaussage. Dem Essayisten ist es aus<br />

einem lebensbezogenen Skeptizismus zur Erfahrung geworden, dass die Wirklichkeit<br />

mannigfaltig und nie ohne Alternativen ist. Aus dieser kritischen Grundhaltung gewinnt <strong>der</strong><br />

153Adorno, a. a. O., S. 32f.<br />

154Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2004, S. 16<br />

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