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Montaigne Die Vielheit der Welt im Spiegel des Selbst - Seminar für ...

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ichtet sich Luther in einer Deutlichkeit gegen die Kirche, den Papst und <strong>des</strong>sen Unfehlbarkeit<br />

in Glaubensfragen und in <strong>der</strong> Bibelauslegung, die er auch später <strong>im</strong>mer beibehalten sollte:<br />

„<strong>Die</strong> zweite Mauer ist noch unbegründeter und unzureichen<strong>der</strong>: daß sie allein wollen Meister <strong>der</strong> Schrift<br />

sein, obschon sie ihr Leben lang nichts daraus lernen. Sie maßen sich allein die Obrigkeit an, gaukeln<br />

uns mit unverschämten Worten vor, <strong>der</strong> Papst könne nicht irren <strong>im</strong> Glauben, er sei böse o<strong>der</strong> gut, und<br />

können da<strong>für</strong> nicht einen Buchstaben vorweisen.“ 97<br />

Damit stellte sich auf radikale Weise die Frage nach einem Kriterium religiöser Wahrheit.<br />

Luthers Verneinung <strong>des</strong> Kriteriums <strong>der</strong> Wahrheit kirchlicher Dogmen aus <strong>der</strong><br />

Autorität <strong>des</strong> Papstes und <strong>der</strong> Tradition führte zur Frage <strong>der</strong> Begründbarkeit von Aussagen<br />

überhaupt, die Sextus Empiricus in den Hypotyposeis, Buch II, Kapitel 4 (Ob es ein<br />

Wahrheitskriterium gibt) schon aufgeworfen hatte:<br />

„Wir aber haben uns darüber zurückgehalten, ob es eines gibt o<strong>der</strong> nicht. <strong>Die</strong>sen Wi<strong>der</strong>streit müssen sie<br />

entwe<strong>der</strong> entscheidbar nennen o<strong>der</strong> unentscheidbar. Wenn unentscheidbar, geben sie von selbst zu, daß<br />

man sich zurückhalten müsse. Wenn aber entscheidbar, mögen sie uns sagen, wodurch er entschieden<br />

werden soll, da wir ja we<strong>der</strong> ein anerkanntes Kriterium besitzen noch überhaupt wissen, ob es eines<br />

gibt, son<strong>der</strong>n danach fragen. [20] Ferner, um den entstandenen Streit über das Kriterium zu entscheiden,<br />

müssen wir ein anerkanntes Kriterium haben, mit dem wir ihn entscheiden können, und um ein<br />

anerkanntes Kriterium zu haben, muß vorher <strong>der</strong> Streit über das Kriterium entschieden werden. So gerät<br />

die Erörterung in die Diallele, und die Auffindung <strong>des</strong> Kriteriums wird aussichtslos, da wir einerseits<br />

nicht zulassen, daß sie ein Kriterium durch Voraussetzung annehmen, und wir sie an<strong>der</strong>erseits, wenn sie<br />

das Kriterium durch ein Kriterium beurteilen wollen, in einen unendlichen Regreß treiben.“ 98<br />

Wie kurz deutlich gemacht, stellte sich <strong>im</strong> 16. Jahrhun<strong>der</strong>t die Frage nach eben diesem<br />

Kriterium in aller Schärfe. <strong>Die</strong> katholische Kirche warf Luther vor, dass seine radikale<br />

Infragestellung <strong>der</strong> alten Autoritäten und sein Kriterium <strong>der</strong> Bibelauslegung und <strong>der</strong><br />

persönlichen Verantwortung in Glaubensfragen direkt zu religiöser Anarchie führen würde,<br />

weil je<strong>der</strong> nur noch auf sein eigenes Gewissen hören dürfe. Was dem Einzelnen als wahr<br />

erscheint, ist wahr – es gibt kein verlässliches Wahrheitskriterium mehr. Sich allein auf die<br />

Schrift stützen zu wollen, wie es Luther vorschlägt, würde voraussetzen, dass diese klar und<br />

eindeutig ist. Aber wenn „sie wirklich so klar und verständlich wäre, warum wären all die<br />

vielen Jahrhun<strong>der</strong>te lang all die hervorragenden Leute hier wie blind gewesen, wo es sich<br />

97 Martin Luther, „An den christlichen Adel deutscher Nation: Von <strong>des</strong> christlichen Stan<strong>des</strong> Besserung“, in:<br />

Martin Luther, Ausgewählte Schriften, Hrsg. Karin Bornkamm und Gerhard Ebeling, 6 Bde., Insel Verlag,<br />

Frankfurt am Main 1983 (erste Auflage 1982), Bd. 1, S. 161<br />

98 Sextus Empiricus, a. a. O., S. 157 f.<br />

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