Montaigne Die Vielheit der Welt im Spiegel des Selbst - Seminar für ...
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monde?“ (S. 922)<br />
Adorno kritisiert an Lukács, dass dieser, indem er den Essay als Kunstform<br />
beschreibe, ein ganz entscheiden<strong>des</strong> Moment <strong>des</strong> Essays übersehe:<br />
Der Essay ist „durch seinen Anspruch auf Wahrheit bar <strong>des</strong> ästhetischen Scheins“ 144. <strong>Die</strong><br />
Wahrheit, die <strong>der</strong> Essay auszudrücken sucht, ist aber <strong>im</strong> positiven Sinne in sich<br />
wi<strong>der</strong>sprüchlich:<br />
„Der Essay läßt sich sein Ressort nicht vorschreiben.[...] Glück und Spiel sind ihm wesentlich. Er fängt<br />
nicht mit Adam und Eva an son<strong>der</strong>n mit dem, worüber er reden will; er sagt, was ihm daran aufgeht,<br />
bricht ab, wo er selber am Ende sich fühlt und nicht dort, wo kein Rest mehr bliebe: so rangiert er unter<br />
den Allotria.“ 145<br />
Damit „entledigt sich <strong>der</strong> Gedanke <strong>der</strong> traditionellen Idee von <strong>der</strong> Wahrheit“ 146 und zwar,<br />
indem „er zugleich den traditionellen Begriff von Methode“ 147 suspendiert. <strong>Montaigne</strong> selbst<br />
schil<strong>der</strong>t diese Freude am Spiel, am Ausprobieren <strong>der</strong> Möglichkeiten um ihrer selbst willen in<br />
den Essais folgen<strong>der</strong>maßen:<br />
„(b) Si quelqu`un me dict que c`est avillir les muses de s`en servir seulement de jouet et de passetemps,<br />
il ne scait pas, comme moy, combien vaut le plaisir, le jeu et le passetemps. A peine que je ne die toute<br />
autre fin estre ridicule. Je vis du jour à la journée ; et, parlant en reverence, ne vis que pour moy : mes<br />
<strong>des</strong>seins se terminent là.“ (S. 807)<br />
<strong>Die</strong> Einschätzung Adornos kann nur verständlich werden, wenn man sich verdeutlicht, was<br />
Adorno unter <strong>der</strong> „traditionellen Idee von Wahrheit“ versteht. Traditionelle Wahrheit ist <strong>für</strong><br />
Adorno ein ganz best<strong>im</strong>mtes Phänomen <strong>der</strong> Aufklärung. <strong>Die</strong>se hat als Naturbeherrschung ein<br />
unheilvolles Eigengesetz, eine Dynamik, worin<br />
„<strong>im</strong>mer wie<strong>der</strong> jede best<strong>im</strong>mte theoretische Ansicht <strong>der</strong> vernichtenden Kritik verfällt, nur ein Glaube zu<br />
sein, bis selbst noch die Begriffe <strong>des</strong> Geistes, <strong>der</strong> Wahrheit, ja <strong>der</strong> Aufklärung zum an<strong>im</strong>istischen<br />
Zauber geworden sind. Das Prinzip <strong>der</strong> schicksalhaften Notwendigkeit, an <strong>der</strong> die Helden <strong>des</strong> Mythos<br />
zugrunde gehen, [...] herrscht nicht bloß, zur Stringenz formaler Logik geläutert, in jedem<br />
rationalistischen System <strong>der</strong> abendländischen Philosophie, son<strong>der</strong>n waltet selbst über <strong>der</strong> Folge <strong>der</strong><br />
Systeme, die mit <strong>der</strong> Götterhierarchie beginnt und in permanenter Götzendämmerung den Zorn gegen<br />
mangelnde Rechtschaffenheit als den identischen Inhalt tradiert. Wie die Mythen schon Aufklärung<br />
144Theodor W. Adorno, a. a. O., S. 11<br />
145Ebd., S. 10<br />
146Ebd., S. 18<br />
147Ebd., S. 18<br />
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