Studie Kindeswohlgefährdung – Ursachen, Erscheinungs ... - FBTS
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von Konformität abzielt und bestrafende Methoden der Disziplinierung anwendet, hinreichend belegen (Gelles,<br />
1992). Elterlicher Stress als Folge von Armut, sozialen Anpassungsschwierigkeiten oder partnerschaftlichen<br />
Konflikten ist einer der wichtigsten Risikofaktoren für körperlichen Missbrauch (Drake & Pandey, 1996). Zudem<br />
haben misshandelnde und vernachlässigende Eltern in ihrer Kindheit selber häufiger Erfahrungen mit Gewalt<br />
gesammelt und sind eher geneigt, Konfliktsituationen durch Gewalt lösen zu wollen. In diesem Sinne wird elterliche<br />
Gewalt ‚weitervererbt’.<br />
Heute hat in Nordrhein-Westfalen fast jedes vierte Kind eine Zuwanderungsgeschichte. Ein Großteil der immigrierten<br />
Eltern hat einen niedrigen sozioökonomischen Status und geringe formale Bildungsabschlüsse.<br />
Mit Blick auf diese Kinder muss neben der unterschiedlichen kulturellen Toleranzschwelle für körperliche<br />
Bestrafung auch der zusätzlichen Akkulturationsstress, den zugewanderte Eltern bewältigen müssen,<br />
Beachtung geschenkt werden (Bornstein & Cote, 2006).<br />
Mit Blick auf die sozialräumliche Betrachtung lässt sich aus dem bisherigen relativ einfach folgern: Dort,<br />
wo viele Arme leben, ist auch <strong>Kindeswohlgefährdung</strong> wahrscheinlicher. Methodisch muss an dieser Stelle<br />
zwischen Kompositions- und Milieueffekten unterschieden werden. Wenn Fälle von <strong>Kindeswohlgefährdung</strong><br />
häufig in armen Stadtteilen vorkommen, da dort Familien unter schwierigeren Bedingungen und mit generell<br />
eingeschränkten Ressourcen ihre Kinder aufziehen müssen, so ist dieser Befund auf der Aggregatsebene<br />
ein „Kompositionseffekt“ (selection bias) (Duncan & Raudenbush, 1999). Damit ist aber die Frage nicht<br />
geklärt, welchen zusätzlichen risikoverstärkenden Einfluss das Wohnen in einem Wohnviertel mit armen<br />
Nachbarn für Kinder und Familien mit sich bringt. Solche Effekte werden als positive oder negative „Milieu-“<br />
bzw. „Nachbarschaftseffekte“ bezeichnet. Methodisch ist die Gefahr, auf der Aggregatsebene (Stadtteile)<br />
Kompositionseffekte als Milieueffekte zu interpretieren, nur mit Hilfe von Individualdaten vermeidbar. Aufgrund<br />
der fehlenden allgemeinen Meldepflicht von <strong>Kindeswohlgefährdung</strong> in Deutschland ist die Aussage, dass dort,<br />
wo Arme leben, auch das Risiko von <strong>Kindeswohlgefährdung</strong>en höher ist, so nicht prüfbar. Offen bleiben auch<br />
Fragen bezüglich der Kontrollwirkung von Nachbarn und informeller Unterstützung durch nachbarschaftliche<br />
Beziehungen, die <strong>Kindeswohlgefährdung</strong> vorbeugen könnten.<br />
3.2.1 Sozialräumliche Polarisierungstendenzen<br />
Auf der sozialräumlichen Ebene lässt sich eine zunehmende Polarisierung von Lebenslagen und Lebensbedingungen<br />
sowie von Familien- bzw. Lebensformen beobachten.<br />
Der Suburbanisierungsprozess der letzten drei Jahrzehnte hat zu einer regionalen Umverteilung der<br />
Bevölkerung nach Lebenslagen (arm und reich) und nach Lebensformen (Menschen mit und ohne Kinder)<br />
geführt. Das Umland der Großstädte wurde immer mehr zur „Familienzone“ der bürgerlichen Mittelschicht.<br />
Aus den Kernstädten dagegen ist die Lebensform „Familie mit Kindern“ weitgehend verschwunden. Im<br />
Umland ist der Kinderanteil deutlich höher als in den Städten. In den Städten verbleiben vielfach Arme,<br />
Alleinerziehende, Kinderreiche und Nichtdeutsche. Sie teilen die Nachbarschaft mit kleinen Nicht-Familien-<br />
Haushalten, die ebenfalls arm sind. Diese städtischen Räume, die man euphemistisch als „Stadtteile mit besonderem<br />
Erneuerungsbedarf bezeichnet“, findet man häufig nahe des Stadtzentrums, in der Nähe ehemaliger<br />
Industriestandorte, Werkssiedlungen und Zechen sowie in Großsiedlungen des sozialen Wohnungsbaus.<br />
In diesen Stadtteilen lässt sich eine „unglückliche Allianz“ der drei Segregationsformen <strong>–</strong> Menschen mit<br />
Zuwanderungsgeschichte, Arme und Familien <strong>–</strong> beobachten (Strohmeier, 2000, 2003).<br />
3.2.2 Die Bedeutung der räumlichen Umwelt für Kinder 28<br />
Die sozial-ökologische Sozialisationsforschung insbesondere Bronfenbrenner (z.B. 1976) hat aufgezeigt,<br />
dass nicht nur die Familie als unmittelbare Umwelt Einfluss auf die kognitive und emotionale Entwicklung<br />
von Kindern nimmt, sondern dass um die Familie herum gelagerte „Mesokontexte“, Nachbarschaft, soziale<br />
Gruppen, Institutionen und um diese herum gelagerte gesellschaftliche Makrokontexte als eigenständige<br />
Faktoren und in Interaktion miteinander die Entwicklung von Kindern beeinflussen. Mit zunehmendem Alter<br />
der Kinder gewinnen die „entfernteren“ Umgebungen an Relevanz, während die Bedeutung der Familie und die<br />
Mesokontexte abnehmen.<br />
28<br />
Ausführlicher über den räumlichen Kontext kindlicher Entwicklung in: Strohmeier, Kersting, Citlak & Amonn (2008).