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Das Mirakel von Bernsdorf - Demo - Buch.de

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Impressum<br />

Elke Nagel (Willkomm)<br />

<strong>Das</strong> <strong>Mirakel</strong> <strong>von</strong> <strong>Bernsdorf</strong><br />

Historischer Roman<br />

ISBN 978-3-86394-274-8 (E-Book)<br />

<strong>Das</strong> <strong>Buch</strong> erschien erstmals 1977 im Verlag Neues Leben Berlin.<br />

Gestaltung <strong>de</strong>s Titelbil<strong>de</strong>s: Ernst Franta<br />

© 2013 EDITION digital®<br />

Pekrul & Sohn GbR<br />

Alte Dorfstraße 2 b<br />

19065 Go<strong>de</strong>rn<br />

Tel.: 03860-505 788<br />

E-Mail: verlag@edition-digital.com<br />

Internet: http://www.ddrautoren.<strong>de</strong>


Vorspann<br />

Eintragung im Kirchenbuch zu <strong>Bernsdorf</strong> (Königreich Preußen) vom 27. 12. 1807:<br />

Ein Wun<strong>de</strong>r ließ Gott geschehen in einer wun<strong>de</strong>rarmen Zeit. Am heutigen 27. Dezember<br />

<strong>de</strong>s Jahres 1807 geschah an uns allen und beson<strong>de</strong>rs an <strong>de</strong>m hierselbst anno 1773<br />

geborenen Michael Jakob Mathias Marten ein Wun<strong>de</strong>r Gottes.<br />

Besagter Marten, <strong>de</strong>r auf Befehl <strong>de</strong>r französischen Militärbehör<strong>de</strong> am heutigen Abend acht<br />

Uhr durch Erschießen vom Leben zum To<strong>de</strong> gebracht wer<strong>de</strong>n sollte, wur<strong>de</strong> am heutigen<br />

Vormittag, während die Gemein<strong>de</strong> vollzählig in <strong>de</strong>r Kirche versammelt war und <strong>von</strong> Gott ein<br />

Wun<strong>de</strong>r erflehte, <strong>von</strong> einem Engel gen Himmel getragen, <strong>de</strong>rart, dass in <strong>de</strong>r fest<br />

verschlossenen Kammer nichts <strong>von</strong> ihm zurückblieb als seine Klei<strong>de</strong>r und Stiefel, die in <strong>de</strong>r<br />

gleichen Anordnung, wie er sie getragen, auf <strong>de</strong>m Strohsack liegend vorgefun<strong>de</strong>n wur<strong>de</strong>n.<br />

Der Herr hat uns ein Zeichen gegeben, ein sichtbares Zeichen. Wir wer<strong>de</strong>n uns seiner<br />

Gna<strong>de</strong> würdig erweisen. Amen.<br />

Pfarrer zu <strong>Bernsdorf</strong>, Emanuel Kienast


1. Kapitel<br />

1<br />

Die Glocke. Hörst du, Jean-Pierre? <strong>Das</strong> ist sie. Etwas zu blechern, ich weiß. Aber sie ist<br />

es, meine Glocke, meine Kirche - was soll das, Jean-Pierre, Bru<strong>de</strong>rherz, ich bin aufgeregt<br />

wie selten, ich re<strong>de</strong>, scheint mir, <strong>de</strong>utsch und hab doch all die Jahre nur französisch<br />

gesprochen, sogar gedacht ... Nein, dies ist nicht <strong>Bernsdorf</strong>, son<strong>de</strong>rn Alt-Grö<strong>de</strong>rn. Gehört<br />

aber zum Besitz <strong>de</strong>rer <strong>von</strong> <strong>Bernsdorf</strong>. Komm schneller, Bru<strong>de</strong>rherz. Dieser Hügel nur trennt<br />

Alt-Grö<strong>de</strong>rn <strong>von</strong> <strong>Bernsdorf</strong>. Von da oben kann ich dir zeigen, was ich dir schon oft<br />

beschrieben habe, komm!<br />

Weißt du, was ich mir jetzt vorstelle? Michel Marten, <strong>de</strong>r einst aus <strong>Bernsdorf</strong> fortlief,<br />

heimlich und bei Nacht, kommt als Offizier <strong>de</strong>r Gran<strong>de</strong> Armee zurück, und - da lässt <strong>de</strong>r<br />

gnädige Herr <strong>von</strong> <strong>Bernsdorf</strong> die Kirchenglocken ziehen. Gut, was? Warum die Glocke<br />

läutet? Es ist doch Weihnachtsabend, Bru<strong>de</strong>rherz. Jetzt kommen sie dort, hinter jenem<br />

Hügel, <strong>von</strong> <strong>de</strong>r Christvesper. Sie gehen in ihre Katen. Und essen. Etwas Beson<strong>de</strong>res, lange<br />

Aufgespartes. Manchmal reicht’s sogar zum Sattwer<strong>de</strong>n. Und <strong>de</strong>r Küster geht mit <strong>de</strong>n<br />

Schulkin<strong>de</strong>rn umsingen, durchs Dorf, zum Schloss ... Mein Gott, Jean-Pierre, wie lange ist<br />

das her, dass ich dort die Glocke läutete. Den Blasebalg trat. Umsingen ging. Die Orgel<br />

spielte ...<br />

Welcher Teufel hat mich nur geritten, heute mit dir hierher zu kommen? Heimweh? Ja, da<br />

hast du wohl recht. Denn dieser Leutnant Bertrand, <strong>de</strong>r dort letzte Woche ertrunken ist - ob<br />

verunglückt, ob nicht verunglückt -, ich sage dir, Jean-Pierre, das interessiert mich nicht im<br />

geringsten. Du musst es aufklären, <strong>de</strong>ine Sache - bitte schön. Und ich, da<strong>von</strong> habe ich<br />

unseren General überzeugt, ich muss dir – als Ortskundiger, nicht wahr? - unbedingt<br />

helfen... Zum Teufel, worauf habe ich mich eingelassen! Hab nicht bedacht, dass diese<br />

Glocke bimmeln wird, das ist es. Was ist schon Beson<strong>de</strong>res daran, warum erregt es mich<br />

... Aber recht kräftig wird dort am Strang gezogen, scheint mir ...<br />

So, mon ami, nun müssen wir anhalten. Da. <strong>Das</strong> ist <strong>Bernsdorf</strong>. Siehst du - um die Kirche<br />

herum das Dorf. Pfarrhaus, Schulhaus. Der Teich. Die Trauerwei<strong>de</strong>n. Die Tagelöhnerkaten.<br />

Fast keine Bauernhöfe, nein, Gutsdorf eines Barons, verstehst du nicht? Leibeigene, ein<br />

paar Büdner, vier Bauern, und auch die sind arme Schlucker. Wer weiß, ob’s noch vier sind.<br />

Und dort <strong>de</strong>r Park, siehst du? Und das Schloss. Hofeinfahrt, hintere Seite, <strong>de</strong>m Dorf<br />

zugekehrt: preußischer E<strong>de</strong>lmannsstil. Dagegen die Vor<strong>de</strong>rfront, Parkseite: Kleinsanssouci.<br />

Mit Terrassen, Freitreppe, Orangerie, Puttenskulpturen. Dann die gestutzten Bäume, die<br />

abgezirkelten Wege. Aber <strong>de</strong>r untere Teil <strong>de</strong>s Parks, bis hinunter zum See - das ist ein<br />

Paradies, Jean-Pierre! So verwil<strong>de</strong>rt! Und <strong>de</strong>r See ... Natürlich ist er für das Dorf verboten.<br />

Aber <strong>de</strong>nk nicht, wir hätten dort nicht geba<strong>de</strong>t, schwimmen gelernt, Fische gefangen sogar!<br />

Jean-Pierre Carnette, Offizier <strong>de</strong>r Gran<strong>de</strong> Armee, nickte und unterbrach <strong>de</strong>n Re<strong>de</strong>strom<br />

<strong>de</strong>s Freun<strong>de</strong>s nicht. Er wusste, <strong>de</strong>r re<strong>de</strong>te sich das jahrelang aufgestaute Heimweh <strong>von</strong> <strong>de</strong>r<br />

Seele, und er, Jean-Pierre, vergaß beim Zuhören das eigene Heimweh nach <strong>de</strong>r Tischlerei<br />

<strong>de</strong>s Vaters in Paris, nach <strong>de</strong>m Geruch frischer Bügelwäsche in Mutters Plättstube. Denn er


sah nun <strong>de</strong>n Freund, ein halb nacktes, schmutziges Kerlchen <strong>von</strong> acht Jahren, mager und<br />

behänd, mit dieser zu großen Nase und mit <strong>de</strong>m Helm aus strähnigen, ganz glatten,<br />

weißblon<strong>de</strong>n Haaren.<br />

Anscheinend ausgerissen ist dieser Bursche, <strong>de</strong>nn er sichert wie ein flüchtiges Wild, bevor<br />

er sich aus <strong>de</strong>n schützen<strong>de</strong>n Zweigen <strong>de</strong>r Trauerwei<strong>de</strong> herausschiebt und hastig auf das<br />

Flie<strong>de</strong>rgebüsch an <strong>de</strong>r Schlossmauer zuläuft. Von dort aus späht er noch einmal zur Schule<br />

zurück, und da kein Verfolger in Sicht ist, geht er langsam und ohne beson<strong>de</strong>re Vorsicht an<br />

<strong>de</strong>r hohen Schlossmauer entlang zum See hinunter. Denn wenn Küster Jakob Marten, <strong>de</strong>r<br />

Großvater, bis jetzt noch nicht gemerkt hat, dass er aus <strong>de</strong>m Fenster geklettert und „in die<br />

Welt“ gelaufen ist, dann ist er wie<strong>de</strong>r einmal so sehr in seine Lektüre vertieft: - in Lessing<br />

o<strong>de</strong>r Rousseau o<strong>de</strong>r Forster o<strong>de</strong>r Her<strong>de</strong>r -, dass er das Verschwin<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Enkels<br />

frühestens gegen Mittag bemerken wird. Und petzen - das tun die übrigen Schüler nicht.<br />

Obwohl sie Michel Marten oft hänseln, wegen dieser großen Nase. Aber nicht nur ihn,<br />

ähnliche Nasen sind in <strong>Bernsdorf</strong> nicht selten. Zum Verpetzen ist das kein Grund.<br />

Die Schlossmauer ist hoch, unendlich hoch für einen kleinen Jungen. Lang ist sie auch, aber<br />

keinesfalls unendlich. Wo sie aufhört, fängt <strong>de</strong>r See an, <strong>de</strong>r verbotene. Er ist hier schwer<br />

zugänglich: dichtes Gestrüpp, Sumpf, Schilf. Doch das stört einen eigensinnigen Michel<br />

Marten ganz und gar nicht. Er kauert schon nach kurzer Zeit auf einem ins Wasser<br />

gestürzten Baum im Wald aus Schilf und ist am Ziel seiner Wünsche: Durch <strong>de</strong>n<br />

schwanken<strong>de</strong>n grünen Vorhang kann er spähen, ungesehen, und sein Blick umfasst einen<br />

Teil <strong>de</strong>s Sees und die breite, schilffreie Ba<strong>de</strong>stelle <strong>de</strong>r Herrschaftskin<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>rer <strong>von</strong><br />

<strong>Bernsdorf</strong>, auch <strong>de</strong>n Uferstreifen davor, planiert, geharkt sogar.<br />

Nichts rührt sich heute hinter <strong>de</strong>n hohen Parkbäumen. Er verbirgt seine Enttäuschung vor<br />

sich selbst. Bin ich <strong>de</strong>nn hier, um die aus <strong>de</strong>m Schloss zu sehen? Wollte doch zum See,<br />

heraus aus <strong>de</strong>r langweiligen, dunklen Schulstube ...<br />

In <strong>de</strong>m Ofenwinkel dieser Schulstube sitzt er schon seit reichlich vier Jahren, ohne bis vor<br />

einem Jahr eigentlich Schüler zu sein, während <strong>de</strong>r Großvater sich mit <strong>de</strong>n fast dreißig<br />

Kin<strong>de</strong>rn zwischen sieben und zwölf Jahren abplagt, sich wenig um <strong>de</strong>n Enkel in seinem<br />

Winkel kümmert, oft auch nicht um die an<strong>de</strong>ren Kin<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>nn er hat immer zu lesen o<strong>de</strong>r<br />

Noten zu schreiben ... Der Enkel hat gelernt, was es hier zu lernen gibt, er bekämpft die<br />

Langeweile. Nach <strong>de</strong>r Schule, abends, sonntags - da gibt es freilich noch mehr zu lernen<br />

und an<strong>de</strong>res, weit Schöneres als Bibelverse und Gesangbuchstrophen. Da kann man <strong>de</strong>m<br />

Großvater mit einhun<strong>de</strong>rtsiebenundneunzig Fragen kommen, und er wird genau ebenso viele<br />

Antworten wissen, wird <strong>von</strong> Forsters Weltreisen erzählen und <strong>von</strong> Lessings Schauspiel<br />

„Nathan <strong>de</strong>r Weise“ und immer wie<strong>de</strong>r <strong>von</strong> <strong>de</strong>n wun<strong>de</strong>rschönen Kantaten <strong>de</strong>s Johann<br />

Sebastian Bach, die er in Leipzig gehört hat, und nicht nur gehört - mitgesungen hat er, <strong>de</strong>r<br />

Großvater Marten, als Thomasschüler ...<br />

Michel Marten, auf seinem Baumstamm, baumelt mit <strong>de</strong>n Beinen im seichten Wasser,<br />

blinzelt durch Schilfhalme und Sonnenwogen auf <strong>de</strong>n See, zu <strong>de</strong>n Wil<strong>de</strong>nten und<br />

Wasserhühnern hin, die sich um ihn nicht kümmern, verfolgt mit <strong>de</strong>n Augen eine grünlich<br />

glitzern<strong>de</strong> Libelle. Und gar nicht lange dauert es, da spielt er in Gedanken Cembalo, alle


Etü<strong>de</strong>n, Präludien und Toccaten, die bisher auf seinem Programm stehen. Und dann, kühn<br />

gewor<strong>de</strong>n, berauscht <strong>von</strong> <strong>de</strong>r nur ihm hörbaren Musik, versucht er sich an <strong>de</strong>r Orgel, und<br />

mit Stücken gar, die er noch keineswegs beherrscht, die er noch nicht einmal probieren<br />

durfte, aber er hat sie gehört, oft, wenn <strong>de</strong>r Großvater sie spielte, und hat ihm auf die<br />

Finger gesehen. Obwohl er eigentlich <strong>de</strong>n Blasebalg zu treten hat, wenn Großvater übt. Er<br />

tut das auch, nicht sehr gern, aber er tut’s. Wenn irgend möglich, sucht er sich aber seinen<br />

Freund, <strong>de</strong>n August Lemke, schenkt ihm eine Glasperle o<strong>de</strong>r einen Nagel o<strong>de</strong>r ein Stück<br />

Schnur; August betrachtet <strong>de</strong>n Lohn kritisch, nickt zufrie<strong>de</strong>n und steigt hinter Michel zur<br />

Orgel hinauf. Und für Michel Marten beginnt ein Fest. Er steht neben <strong>de</strong>m Großvater, sieht<br />

abwechselnd auf <strong>de</strong>ssen Hän<strong>de</strong> und Füße und auf die Noten, steht da mit halb offenem<br />

Mund und ineinan<strong>de</strong>r verkrampften Hän<strong>de</strong>n, saugt die Musik in sich ein und bekommt nie<br />

genug <strong>von</strong> ihr; es kommt vor, dass er am ganzen Körper zu zittern beginnt, ohne es zu<br />

merken, dass er, wenn die Orgel schweigt, in krampfartiges Schluchzen ausbricht und lange<br />

nicht zu beruhigen ist. Fantasie und Fuge g-Moll, Johann Sebastian Bach. Was ist dir,<br />

Junge, sagt Jakob Marten erschrocken. Nichts, Großvater. Darf ich’s probieren?<br />

Er darf nicht. Seit einem Jahr spielt er erst auf <strong>de</strong>r Orgel. Da soll man noch nicht nach <strong>de</strong>n<br />

Sternen greifen.<br />

Jetzt aber, allein im Schilf, beginnt er die g-Moll-Phantasie, ohne Rücksicht darauf, dass<br />

seine Hän<strong>de</strong> noch viel zu klein dafür sind und er schon am Anfangsakkord scheitern müsste.<br />

Doch da hört er Stimmen aus <strong>de</strong>m Park und been<strong>de</strong>t sein lautloses Spiel sofort mit einer<br />

gewichtigen Ka<strong>de</strong>nz in Dur.<br />

Heraus treten, gemessenen Schritts, <strong>de</strong>r Prädikant Janke mit <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n ältesten Junkern,<br />

<strong>de</strong>m zwölfjährigen Friedrich und <strong>de</strong>m neunjährigen Herrmann; sie sind in ein Gespräch<br />

vertieft, <strong>von</strong> <strong>de</strong>m Michel nichts verstehen kann. Aber er hat keine Zeit, sich lange darüber zu<br />

ärgern, <strong>de</strong>nn nun sieht er die Kin<strong>de</strong>rfrau Halina Piotrowska, und zu seiner Verblüffung hält<br />

sie nicht nur <strong>de</strong>n achtjährigen Joachim an <strong>de</strong>r Hand, son<strong>de</strong>rn außer ihm ein dunkelhaariges,<br />

zierliches Mädchen. Wer das wohl sein mag, <strong>de</strong>nkt Michel neugierig, und es gefällt ihm<br />

sehr, wie wi<strong>de</strong>rspenstig die Kleine (die ist höchstens fünf!) an <strong>de</strong>r Hand <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>rfrau läuft,<br />

wie sie sich schließlich losreißt und mit lautem Freu<strong>de</strong>nschrei auf <strong>de</strong>n See zueilt. Henriette!<br />

rufen fünf Stimmen hinter ihr. Und Michel wünscht inbrünstig, sie solle doch ins Wasser<br />

laufen, weit, zu weit, damit er, <strong>de</strong>r schon sicher und ausdauernd schwimmt, sie retten könne<br />

...<br />

Natürlich geschieht nichts <strong>de</strong>rgleichen. Henriette macht einen Fußbreit vor <strong>de</strong>m Wasser halt,<br />

betrachtet staunend, betroffen die leicht gekräuselte, sonnenbestrahlte Fläche (unendlich<br />

groß für sie, für Michel schon nicht mehr), lässt sich auf keine Weise, durch Geschimpfe<br />

und Gewalt nicht, mit Zure<strong>de</strong>n und Locken nicht, <strong>von</strong> <strong>de</strong>r Stelle bringen. Da nimmt Halina sie<br />

auf <strong>de</strong>n Arm und geht, Joachim an <strong>de</strong>r Hand, in <strong>de</strong>n Park zurück.<br />

Noch lange hört Michel das empörte, aufsässige Geschrei <strong>de</strong>s Mädchens. Er schürzt<br />

verächtlich die Lippen (wie kann man sich nur so gehen lassen!). Aber er ist sehr befriedigt<br />

über diese Aufsässigkeit.<br />

Und noch jetzt, so viele Jahre später, fühlte er beim Erzählen diese Befriedigung, und er


sagte: Fast glaub ich, Jean-Pierre, ich liebte sie schon damals. Kann das sein?<br />

Jean-Pierre lachte leise auf. Möglich, bei dir ist so was sicher möglich, sagte er.<br />

Die Glocke, sagte Michel. Ist sie schon lange ruhig? Seltsam, ich habe es nicht gemerkt.<br />

Habe sie immerfort gehört.


2<br />

Hinter <strong>de</strong>n letzten, scheppern<strong>de</strong>n Ton <strong>de</strong>r Kirchenglocke setzte <strong>de</strong>r Baron einen<br />

Schlusspunkt: eisenbeschlagener Knotenstock auf <strong>de</strong>n Fliesen <strong>de</strong>r Diele, <strong>de</strong>r lehnte dann in<br />

<strong>de</strong>r Ecke, knorrig und gewichtig, sichtbar je<strong>de</strong>m Eintreten<strong>de</strong>n.<br />

Mit leisem, pfeifen<strong>de</strong>m Geräusch flog das Gesangbuch auf die Konsole, begleitet <strong>von</strong> einem<br />

wehmütig-vorwurfsvollen Blick <strong>de</strong>r Baronin, <strong>de</strong>n <strong>de</strong>r alte Herr übersah. Ächzend sank er in<br />

<strong>de</strong>n grüngepolsterten Lehnstuhl, streckte Ta<strong>de</strong>usz Piotrowski die Füße entgegen, <strong>de</strong>r zog -<br />

schweigend, beflissen, mit undurchdringlicher Miene - die Stiefel <strong>von</strong> <strong>de</strong>n mageren<br />

Greisenbeinen.<br />

Türen schlugen, ein paar Takte Klaviermusik klangen auf, brachen unvermittelt ab, als hätte<br />

nur jemand im Vorbeigehen das Klavier begrüßt; Gänsebratenduft zog durch die Räume,<br />

vielversprechend, dachte Wilhelm <strong>von</strong> <strong>Bernsdorf</strong>, noch immer im Lehnstuhl ausgestreckt, in<br />

Hauspantoffeln jetzt, bestickten, weiter oben aber in preußischer Generalsuniform, behängt<br />

mit Or<strong>de</strong>n und Ehrenzeichen, mit wuchtigen Schulterstücken bela<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r Bauch, leicht<br />

verfettet, wölbte sich und verursachte einige unmilitärische Falten im schneeweißen Rock;<br />

das Gesicht zerfurcht (rüstiger Siebziger), weißgrauer Schnauzbart unter <strong>de</strong>r übergroßen,<br />

gebogenen Nase, über <strong>de</strong>m verkniffenen Mund; das Kinn glatt rasiert und spitz, energisch<br />

vorgestreckt; die Augen eigensinnig und sehr blau, hinter Tränensäcken und starken<br />

Jochbögen verschanzt; spärliches Haar, weiß-grau; die Perücke (weiß, mit Zopf) lag<br />

inzwischen neben <strong>de</strong>m Gesangbuch auf <strong>de</strong>r Konsole.<br />

Ihm war behaglich.<br />

Er schloss genüsslich die Augen und lehnte <strong>de</strong>n Kopf an, die Füße weit <strong>von</strong> sich gestreckt,<br />

die blau geä<strong>de</strong>rten Hän<strong>de</strong> mit <strong>de</strong>n langen, dürren Fingern über <strong>de</strong>m Bauch gefaltet.<br />

Diese Behaglichkeit wür<strong>de</strong> ein flüchtiges Gefühl sein, und er ahnte das, horchte auf die<br />

Geräusche <strong>de</strong>s Hauses (Tellerklappern, leise Stimmen aus <strong>de</strong>m Terrassenzimmer,<br />

neuerlich ein paar Takte Musik, dann die volle, dunkle Stimme Joachims, Friedrichs Diskant,<br />

Henriettes Lachen), und er dachte: Übermorgen siebzig Jahre. Wer<strong>de</strong>n alle angekrochen<br />

kommen. Hofrat schon da, verfluchter Schleimscheißer, erschlichener A<strong>de</strong>l. Und Hamburger<br />

Pfeffersack wird kommen, <strong>de</strong>r Suhrbier. Und sein missratenes Früchtchen, dieser Andreas<br />

Suhrbier. Dieser Jakobiner. Ein Jakobiner unter meinem Dach. Unglaublich. <strong>Das</strong> verzeiht ER<br />

mir nie.<br />

Wi<strong>de</strong>rwillig öffnete er die Augen, Scham überfiel ihn wie seit Jahren, wenn er <strong>de</strong>r<br />

angeheirateten Verwandtschaft gedachte. Und wie immer in solchen Augenblicken suchte er<br />

IHM Rechenschaft zu geben. SEIN Bildnis, lebensgroß, hing in <strong>de</strong>r Diele, <strong>de</strong>m Lehnstuhl<br />

gegenüber, es zeigte IHN stehend, mit verkniffenem Mund und klugen, kalten Augen.<br />

Eure Majestät, dachte <strong>de</strong>r Baron gequält, Herrmann, mein Zweitgeborener, hat mir das<br />

angetan, ist sonst <strong>de</strong>r beste <strong>von</strong> meinen Söhnen, einziger Militär (<strong>de</strong>r Irrtum, <strong>de</strong>n gera<strong>de</strong><br />

abwesen<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Söhne für <strong>de</strong>n besten zu halten, wi<strong>de</strong>rfuhr <strong>de</strong>m Baron nicht zum ersten<br />

Mal), aber diese Heirat, mein Gott, dabei stellte ich vor Heirat doch Bedingung, besagtes<br />

Subjekt ist zu enterben, wur<strong>de</strong> enterbt, ja, wie kommt Verbrecher trotz<strong>de</strong>m in mein Haus,


morgen spätestens wird er da sein, die Zeiten brachten es mit sich, die Zeiten, es gibt<br />

Unbegreifliches, Eure Majestät ...<br />

Woraus ersichtlich ist, dass dieser Baron an keinen Herrgott <strong>de</strong>nkt, wenn er mit IHM re<strong>de</strong>t.<br />

Son<strong>de</strong>rn an sein Idol. An Friedrich II. Dessen „Soldatenkatechismus“ ist die Bibel dieses<br />

alten Herrn, <strong>de</strong>s Generals a. D. Wilhelm <strong>von</strong> <strong>Bernsdorf</strong>, Sieger im Siebenjährigen Krieg,<br />

wenn auch nicht einziger und hauptsächlicher Sieger, wie er manchmal glaubt.<br />

Schuldbedrückt wandte er <strong>de</strong>n Blick ab <strong>von</strong> SEINEM Bild.<br />

Die Stimmen im Zimmer waren lauter gewor<strong>de</strong>n. Bataillone zum Kampf angetreten, dachte<br />

er grimmig, <strong>de</strong>nn Friedrichs Stimme, sonst weich, wie geölt, klang schrill und hoch, zu<br />

verstehen war nichts, wird Lanze für Großen Kaiser brechen, für diesen Emporkömmling<br />

Bonaparte, dachte <strong>de</strong>r Baron, voll <strong>von</strong> Hass auf seinen Ältesten. Joachims wohltönen<strong>de</strong>r<br />

Bariton, hart jetzt, voll Lei<strong>de</strong>nschaft. Lei<strong>de</strong>r kein Soldat, dachte <strong>de</strong>r Baron. Aber<br />

Franzosenfresser. Ähnelt mir wohl am meisten. (Es ist gut, dass er das noch nie in<br />

Gegenwart <strong>von</strong> Dorothea ausgesprochen hat, seiner Frau, <strong>de</strong>r Baronin. Sie wür<strong>de</strong><br />

möglicherweise - was durchaus nicht zu ihr passt und also schwer vorstellbar ist - in<br />

schallen<strong>de</strong>s Gelächter ausbrechen.)<br />

Wo nur Herrmann bleibt, dachte er, Herrmann - da zerschlug <strong>de</strong>r Gong seine Gedanken, die<br />

Streitstimmen im Zimmer verstummten, Henriettes Lachen wie<strong>de</strong>r, ächzend stand <strong>de</strong>r alte<br />

Herr auf und ging ins Speisezimmer. Dort reckte eine Gans ihre Keulen in die<br />

bratendufterfüllte Luft, und plötzlich war sein Behagen wie<strong>de</strong>r vollständig, seine Seele<br />

ungetrübt, nichts sah er als diese knusprig-braunen Keulen.<br />

Ein beschwören<strong>de</strong>r Blick Dorotheas bannte ihn aber hinter seinen Stuhl. Schweigend, mit<br />

gefalteten Hän<strong>de</strong>n und gesenkten Köpfen, verharrten alle vor ihren Tellern, während die<br />

Baronin, füllig, schwarz geklei<strong>de</strong>t, ein Tischgebet murmelte, <strong>de</strong>ssen Worte niemand<br />

verstand, weil niemand auf sie hörte. Nur das „Amen“ verstan<strong>de</strong>n alle, „gesegnete Mahlzeit“<br />

dann noch und etwas <strong>von</strong> „Gottesgabe in diesen schweren Zeiten“, aber das ging schon im<br />

Stühlerücken und Tellerklappern unter und im dröhnen<strong>de</strong>n „Na, <strong>de</strong>nn woll’n wir mal!“ <strong>de</strong>s<br />

Barons.<br />

Halina Piotrowska, dreiundfünfzigjährig, klein, blond, huschte lautlos um <strong>de</strong>n Tisch, reichte<br />

das Brot herum, balancierte die schwere Schüssel, in <strong>de</strong>r das Sauerkraut dampfte, in <strong>de</strong>r<br />

linken Hand, während sie die Teller füllte; sie reichte <strong>de</strong>m Baron die Bratenplatte und<br />

verschwand lautlos, <strong>von</strong> nieman<strong>de</strong>m bemerkt, wie es schien.<br />

Doch kaum hatte sich die Tür hinter ihr geschlossen, da sagte Henriette - laut und aggressiv<br />

sagte sie es und schaute aus ihren braunen Augen dabei harmlos-naiv in die Run<strong>de</strong>:<br />

Wenigstens am Weihnachtsabend hätte Halina doch mit uns zusammen essen können,<br />

fin<strong>de</strong>t ihr nicht?<br />

Zusammenzuckte die Baronin, hauchte entsetzt: Henriette, du vergisst dich!<br />

Und Hofrat Joseph <strong>von</strong> Janke, sommersprossig, kupferfarbig das schüttere Haar, sehr<br />

groß, sehr voll im Fleisch, neben ihr sitzend, da er ihr angetraut ist seit nunmehr vierzehn<br />

Jahren - Janke raunte sanft ta<strong>de</strong>lnd: Aber, Henriette!


Sie warf ihm einen spöttischen Blick zu, in <strong>de</strong>m er - nicht zu Unrecht - abgrundtiefe<br />

Verachtung las.<br />

Der Baron knurrte nur in sich hinein, Gänsekeule zwischen <strong>de</strong>n Zähnen, aber dies Knurren<br />

klang aufgebracht.<br />

Aufgebracht war auch <strong>de</strong>r Blick, <strong>de</strong>n <strong>de</strong>r weißblon<strong>de</strong>, hagere Friedrich, ältester<br />

<strong>Bernsdorf</strong>junker, Erbe <strong>de</strong>s <strong>Bernsdorf</strong>gutes und <strong>de</strong>r <strong>Bernsdorf</strong>schen Besitzungen im<br />

Polnischen (bei Bromberg) seiner Cousine zuschleu<strong>de</strong>rte wie einen Feh<strong>de</strong>handschuh, aber<br />

sie nahm ihn lächelnd auf, sodass er, entwaffnet, sich mit großer Aufmerksamkeit seinem<br />

Stück Gänsebraten widmete.<br />

Weil aber auch Joachim ihr nicht beisprang, nicht einmal aufsah <strong>von</strong> seinem Teller, da sagte<br />

sie - und sah ihn dabei an, ihren Lieblingsvetter: Frie<strong>de</strong>n auf Er<strong>de</strong>n und allen Menschen ein<br />

Wohlgefallen - verlang ich zu viel, in diesem Hause zu viel, ja?<br />

Und nun Blitz und Donner auf einen Schlag, und alle erstarrten, <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r alte Herr, kauend,<br />

schlug die Faust auf <strong>de</strong>n Tisch, brüllte mit vollem Mund: Ruhe im Glied, Kruzitürken,<br />

Himmelsakra, jetzt wird Essen gefasst, in diesem Hause, jawohl!<br />

Dorothea schickte einen verzweifelten Blick über <strong>de</strong>n Tisch, ihre grünen Augen in <strong>de</strong>m<br />

weißen, schwammigen Gesicht suchten Joseph <strong>von</strong> Janke, <strong>de</strong>n Hofrat. Der tat beschäftigt,<br />

war es auch, mit Messer und Gabel und Gänsebrust, und erst, als er seinen Teller leer<br />

gegessen, sauber getunkt hatte mit einem Stück Brot, hob er <strong>de</strong>n Kopf, nickte ihr Hilfe<br />

versprechend zu, stand auf, klopfte an sein Glas, begann leise und friedfertig zu re<strong>de</strong>n, als<br />

wäre hier nicht vor Kurzem gebrüllt wor<strong>de</strong>n mit vollem Mund.<br />

Meine Freun<strong>de</strong>, sagte er. Ein ereignisreiches Jahr neigt sich seinem En<strong>de</strong> zu, und nicht<br />

Streit und Krieg, son<strong>de</strong>rn Frie<strong>de</strong> und Versöhnung stehen an diesem En<strong>de</strong>. Jawohl, Frie<strong>de</strong>n<br />

auf Er<strong>de</strong>n. Und allen Menschen ein Wohlgefallen. Aber in einem weiteren, höheren Sinn.<br />

Herrmann <strong>von</strong> <strong>Bernsdorf</strong>, <strong>de</strong>r verdienstvolle Sohn dieses Hauses, mit <strong>de</strong>ssen Eintreffen wir<br />

täglich, ja stündlich rechnen, weilt vielleicht noch jetzt an <strong>de</strong>n historischen Stätten dieses<br />

historischen Jahres - bei ihm übrigens mein Sohn Wilhelm (mein Sohn, dachte Henriette<br />

zornig) -, und ich sage nur: Memel, Tilsit, Königsberg. Und, meine Freun<strong>de</strong>, wir alle <strong>de</strong>nken<br />

dann mit Genugtuung an das, was sich dort vor wenigen Wochen ereignet hat. Wir<br />

ge<strong>de</strong>nken vor allem <strong>de</strong>s glorreichen Augenblicks an jenem fünfundzwanzigsten Juni dieses<br />

Jahres, da die bei<strong>de</strong>n Größten dieser Welt, Napoleon und Alexan<strong>de</strong>r (die Größten, dachte<br />

Henriette erbittert, größer als Napoleon und Alexan<strong>de</strong>r - niemand, nicht Goethe, nicht<br />

Schiller, nicht Fichte, Beethoven, ach du mein Gott ...), sich in <strong>de</strong>r Mitte <strong>de</strong>s Grenzflusses<br />

trafen, in einem Pavillon, auf einem Floß, sonnenüberstrahlt, fürwahr, ein einzigartiger<br />

Augenblick, und sie reichten sich die Bru<strong>de</strong>rhand. Und einbezogen in diesen Bund wur<strong>de</strong> zu<br />

Tilsit am neunten Juli auch unser ruhmreicher König <strong>von</strong> Preußen. Friedrich Wilhelm III., (<strong>de</strong>r<br />

Trottel, dachte Henriette) und unsere strahlen<strong>de</strong> junge Königin, die holdselige Luise, die so<br />

standhaft und mutig <strong>de</strong>m genialen Kaiser gegenübergetreten ist. (Wer weiß, womit sie ihn<br />

umgarnt hat, aber Mag<strong>de</strong>burg hat er sich trotz<strong>de</strong>m nicht abhan<strong>de</strong>ln lassen, dachte<br />

Henriette.) Sodass also dieses Jahr zu En<strong>de</strong> geht in Frie<strong>de</strong>n und Eintracht. Und auf dass<br />

auch in diesem Hause, meine Freun<strong>de</strong>, stets Frie<strong>de</strong>n und Eintracht herrschen mögen, und


auf dass unsere teure Königsfamilie bald aus <strong>de</strong>r Verbannung zurückkehren darf in ihr<br />

heimatliches Berlin (unser Dämel sitzt in Memel, dachte Halina, die eben hereingekommen<br />

war und <strong>de</strong>n Tisch abzu<strong>de</strong>cken begann), darauf, liebe Freun<strong>de</strong>, lasst uns unsere Gläser<br />

erheben!<br />

Ein dankbarer Blick Dorotheas belohnte Janke für die Anstrengung, Henriettes ironisches<br />

Lächeln nahm er nicht zur Kenntnis.<br />

Während sie <strong>de</strong>n Wein auf <strong>de</strong>r Zunge zergehen ließen, setzten in <strong>de</strong>r Diele die<br />

Kin<strong>de</strong>rstimmen ein: „Es ist ein’ Ros’ entsprungen aus einer Wurzel zart.“<br />

„Wie uns die Alten sungen ...“ Und das jetzt, nach dieser unerträglichen Tischre<strong>de</strong>. Henriette<br />

stützte <strong>de</strong>n Kopf in die Hän<strong>de</strong> und starrte in ihr Weinglas. Zwar hörte sie, wie unsauber die<br />

Kin<strong>de</strong>r sangen - einstimmig-vielstimmig -, und <strong>de</strong>r raue Bass <strong>de</strong>s Kantors, dieses<br />

holzbeinigen Feldwebels Johannes Rietz, bil<strong>de</strong>te eine so hässliche Dissonanz zu <strong>de</strong>n hellen<br />

Kin<strong>de</strong>rstimmen, dass Henriette wie fröstelnd die Schultern hochzog. Aber da war schon die<br />

Gegenwart <strong>von</strong> ihr abgefallen. Da war sie schon keine zweiunddreißigjährige Frau mehr,<br />

<strong>de</strong>ren fast fünfzigjähriger Mann Karriere gemacht hatte und weiterhin zu machen gesonnen<br />

war, in <strong>de</strong>ren dunkelbraunem Haar zwei weiße Fä<strong>de</strong>n schimmerten (sie hatte sie noch nicht<br />

ent<strong>de</strong>ckt), unter <strong>de</strong>ren Augen - bei genauem Hinsehen - die ersten Fältchen nisteten.


3<br />

„Und hat ein Blümlein bracht ...“ Henriette kaut aufgeregt an <strong>de</strong>m En<strong>de</strong> ihres linken Zopfes.<br />

Sie reckt sich auf die Zehenspitzen, um über Friedrich hinwegsehen zu können. Aber es hilft<br />

nichts. Da nimmt sie ihre Ellenbogen zu Hilfe und schiebt sich zwischen die <strong>Bernsdorf</strong>junker.<br />

„Mitten im kalten Winter ...“ Nun endlich sieht sie durch die geöffnete Stubentür auf die<br />

Diele, sieht die Kin<strong>de</strong>r stehen, streng ausgerichtet, mit frostroten Gesichtern, aufmerksame<br />

Augen hängen am Kantor (<strong>de</strong>r alte Marten ist das nun aber, Jakob Marten), er bewegt die<br />

Hän<strong>de</strong>, bewegt auch die Lippen, singt aber nicht. Im sauberen, dreistimmigen Satz bringen<br />

die Kin<strong>de</strong>r die Strophe zu En<strong>de</strong>: „Wohl zu <strong>de</strong>r halben Nacht.“<br />

Henriette atmet aus, hörbar, begeistert, es klingt wie ein neidisches Seufzen.<br />

„<strong>Das</strong> Röslein, das ich meine ...“ Henriette schließt die Augen, es kommt ihr vor, als falle sie<br />

in einen weichen, unendlichen Abgrund. Sie lächelt dabei. Sie weiß nicht, was da mit ihr<br />

geschieht. Sie ist sechs Jahre alt. In eine warme Geborgenheit wird sie getragen <strong>von</strong> einer<br />

einzelnen, klaren Kin<strong>de</strong>rstimme, die sich über einem dreistimmigen Summchor erhebt.<br />

„Mitten im kalten Winter.“<br />

Plötzlich reißt sie die Augen weit auf, <strong>de</strong>nn jetzt erst wird ihr bewusst, dass dort jemand<br />

singt, wer ist das, wer bist du, es gibt dich also ... Und ebenso betroffen <strong>de</strong>nkt sie (auch<br />

<strong>de</strong>shalb wird sie diesen Augenblick niemals vergessen): Und mich gibt es. Ich bin ich. Und<br />

sie weiß keineswegs, welche große Ent<strong>de</strong>ckung ihr damit gelungen ist, eine Ent<strong>de</strong>ckung,<br />

die manch einer erst in sehr späten Jahren macht. Und manch einer niemals.<br />

Wenig später aber wird ihr bewusst, dass <strong>de</strong>r kleine Sänger, <strong>de</strong>ssen Stimme nun wie<strong>de</strong>r im<br />

Chor <strong>de</strong>r übrigen aufgeht, sie ansieht. Sie nimmt rasch und verwirrt das Zopfen<strong>de</strong> aus <strong>de</strong>m<br />

Mund, wirft es hinter sich, steht gera<strong>de</strong>r als vorher, weniger unbefangen, weniger<br />

eingefangen <strong>von</strong> diesem Lied, das nun zu En<strong>de</strong> ist. Sie mustert Michel Marten interessiert,<br />

aber mit Abstand (kein Gedanke mehr wie: Es gibt dich also), betrachtet verstimmt die<br />

weißblon<strong>de</strong>n Haare, die an <strong>de</strong>n ältesten <strong>de</strong>r Vettern, an Friedrich, erinnern, <strong>de</strong>n sie nicht<br />

mag, betrachtet auch die Nase, die <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r meisten <strong>Bernsdorf</strong>s ähnelt. Sieht die<br />

verwaschene, geflickte Hose, das saubere, ausgewachsene Hemd, das unter einem<br />

abgeschabten Jäckchen weiß hervorleuchtet. Mitten im kalten Winter, <strong>de</strong>nkt sie, obwohl<br />

jetzt ein an<strong>de</strong>res Lied gesungen wird, <strong>von</strong> Hirten und Engeln und Christuskind.<br />

Er hat dort einen sehr guten Sänger unter seinen Kin<strong>de</strong>rn, Herr Kantor, wessen Sohn ist<br />

das? fragt die Baronin.<br />

Sie bemerkt nicht das kurze, verlegene Räuspern Jakob Martens, nickt gnädig und<br />

anscheinend gleichmütig, als er „Es ist mein Enkel und <strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Herrn Pfarrer“ gesagt hat.<br />

Aber sie hat es plötzlich eilig, die Mohnstriezel und die kleinen Beutelchen mit <strong>de</strong>n<br />

Geschenken unter die Kin<strong>de</strong>r verteilen zu lassen. Danke auch schön, gnä’ Frau, vielen Dank<br />

auch, Frau Baronin, danke, gnä’ Frau - und das dreißigmal, Diener, Knickse,<br />

Holzschuhgeklapper auf <strong>de</strong>r Diele, auf <strong>de</strong>r Treppe, auf <strong>de</strong>m frostharten Hof.<br />

Prädikant Joseph Janke, Hofmeister, während er die <strong>Bernsdorf</strong>junker und das Henriettchen<br />

vor <strong>de</strong>m Flügel postiert (<strong>de</strong>nn nun hat die Familienvorstellung zu beginnen, Nummer vier <strong>de</strong>s


Weihnachtsabendzeremoniells nach Kirchgang, Essen und Dorfkin<strong>de</strong>rsingen), Janke bettelt<br />

mit <strong>de</strong>votem Lächeln und kleinen Räuspern um die Aufmerksamkeit Dorotheas. Die<br />

übersieht das eine ganze Weile, hat zu tun damit, die Erregung nie<strong>de</strong>rzuhalten, in die sie<br />

zum Erstaunen Henriettes plötzlich geraten ist. Sie mei<strong>de</strong>t nicht nur Jankes Blicke, son<strong>de</strong>rn<br />

auch die <strong>de</strong>s Barons, <strong>de</strong>r schweigend, zeitweise schläfrig im Lehnstuhl sitzt, neben <strong>de</strong>m<br />

früchtebehängten, kerzenbestückten Birkenbaum. Henriette betrachtet verwun<strong>de</strong>rt und<br />

neugierig die Tante, die aus <strong>de</strong>m Fenster sieht, in <strong>de</strong>n dämmrigen Abend, in die verwirrten<br />

Äste <strong>de</strong>r alten Baumriesen hinter <strong>de</strong>r Terrasse. Als sie sich schließlich umwen<strong>de</strong>t, ist ihr<br />

Gesicht wie immer: sehr hell, voll, noch nicht schwammig, die grünlichen Augen verträumt,<br />

ein wenig gelangweilt, ein wenig blasiert, noch nicht ganz ohne Hoffnung.<br />

Sie sieht Janke ermunternd an, da wagt er die Bemerkung: Dieser Enkel <strong>de</strong>s Marten und<br />

<strong>de</strong>s Schulz, gnädige Frau Baronin, dieser Michel Marten, ist ein äußerst begabtes Kind, das<br />

schon sehr or<strong>de</strong>ntlich Klavier und Orgel zu spielen imstan<strong>de</strong> ist, besser liest, schreibt und<br />

rechnet als die meisten <strong>de</strong>r Schulabgänger ...<br />

Weil sie <strong>de</strong>n Enkel noch nebenbei unterrichten wer<strong>de</strong>n, die bei<strong>de</strong>n Alten, unterbricht<br />

Dorothea <strong>de</strong>n Hauslehrer feindselig.<br />

Gewiss, stimmt <strong>de</strong>r sofort zu, natürlich, das wer<strong>de</strong>n sie, und er schweigt fortan über dieses<br />

Thema. Denkt vielleicht ab und zu daran, während er seine Zöglinge sich auf <strong>de</strong>m Klavier<br />

produzieren lässt und sie Weihnachtsgedichte hersagen und Henriette „Vom Himmel hoch,<br />

da komm ich her“ singt. Sie sieht <strong>de</strong>n Baron dabei an, <strong>de</strong>r finster vor sich hinblickt.<br />

Wahrscheinlich <strong>de</strong>nkt er, vom Himmel komme sie nun gera<strong>de</strong> nicht her, diese Göre. Hat mir<br />

noch gefehlt, ein Mädchen, hab genug an drei Jungen, verdammte Bülowsche<br />

Verwandtschaft, erst Soldatenausbildung <strong>de</strong>s Großen Königs bekritteln, Denkschrift an<br />

Friedrich schreiben, dann auf Geschriebenem bestehen, in Spandau eingelocht wer<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r<br />

in Küstrin, weiß <strong>de</strong>r Teufel, mir das Gör aufhalsen, keine Mutter, Vater auf Festung,<br />

Dorotheas Verwandtschaft das, könnte keinem <strong>Bernsdorf</strong> passieren ...<br />

Henriettchen singt, mit hauchen<strong>de</strong>r Stimme, zaghaft, <strong>de</strong>nn sie erinnert sich zu genau an<br />

„<strong>Das</strong> Röslein, das ich meine ...“<br />

Sie fühlt sich seit diesem Weihnachtsfest geborgener in <strong>de</strong>r <strong>Bernsdorf</strong>familie, in die sie aus<br />

ihr unerklärlichen Grün<strong>de</strong>n geraten ist. Unerklärlich auch die Ursache für dies neue Gefühl,<br />

das sie nicht zu benennen wüsste, über das sie auch keinesfalls nach<strong>de</strong>nkt; bewusst wird<br />

ihr allein eine anhalten<strong>de</strong>, beglücken<strong>de</strong> Heiterkeit.


4<br />

Jetzt war sie weit entfernt <strong>von</strong> solcher Heiterkeit.<br />

Auf einen Wink <strong>de</strong>r Baronin hatte Halina die Stubentür geöffnet, sie sahen die Kin<strong>de</strong>r vor<br />

<strong>de</strong>m stelzfüßigen Kantor stehen, Henriette dachte: Zerlumpt und ausgehungert ... mitten im<br />

kalten Winter ..., und Tante wird keine Mohnstriezel verteilen und keine Geschenkpaketchen<br />

...<br />

Sie war ins Jetzt zurückgekehrt, aber diese Wirklichkeit schien ihr ein Traum zu sein, einer<br />

<strong>de</strong>r unsinnigen, quälen<strong>de</strong>n Träume, aus <strong>de</strong>nen man nicht herauszufin<strong>de</strong>n fürchtet. Sie<br />

horchte <strong>de</strong>m Holzschuhgeklapper nach, heiß vor Scham (trockene Brotstückchen in <strong>de</strong>n<br />

Hän<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r); reglos auf ihrem Stuhl sitzend, ließ sie diesen Traum an sich<br />

vorbeiziehen, lieferte sich ihm aus, wehrlos, wi<strong>de</strong>rstandslos.<br />

Die Familie, <strong>von</strong> Janke ins Nebenzimmer dirigiert, „zwanglos“ gruppiert um <strong>de</strong>n Birkenbaum<br />

und <strong>de</strong>n Flügel; drei Kerzen flackern zwischen <strong>de</strong>n grünen Blättchen (drei nur, die schweren<br />

Zeiten, ja, seufzt Dorothea); unter <strong>de</strong>r Birke die Geschenke.<br />

Für je<strong>de</strong>n etwas. Kleinigkeiten nur. Die schweren Zeiten, ja.- <strong>Das</strong> war wie<strong>de</strong>r Dorothea.<br />

Und auch dies: Ein gesun<strong>de</strong>s Weihnachtsfest dann, meine Lieben, Frie<strong>de</strong>n und Eintracht,<br />

wie <strong>de</strong>r Joseph gera<strong>de</strong> so schön gesagt hat, ja. - Nun das Abgeküsse. Ich wer<strong>de</strong> aufstehen<br />

müssen. - Komm doch, meine Liebe! - <strong>Das</strong> war dieser Janke, Gott, ja - mein Mann ...<br />

Willenlos stand Henriette auf, ließ sich küssen, küsste wie<strong>de</strong>r, begriff keineswegs, was für<br />

sie dort unter <strong>de</strong>r Birke lag, was Janke ihr in die Hand drückte, welches <strong>Buch</strong> Joachim ihr<br />

zusteckte, heimlich, wie’s ihr vorkam. Küsste noch <strong>de</strong>n Onkel, <strong>de</strong>n alten Herrn, <strong>de</strong>r als<br />

einziger nicht aufgestan<strong>de</strong>n war, in seinem Lehnstuhl saß - mürrisch, aber anscheinend<br />

gerührt -, setzte sich wie<strong>de</strong>r und war immer noch nicht aufgewacht. Sie hörte Dorothea<br />

nach <strong>de</strong>m Gesin<strong>de</strong> rufen.<br />

Ein Schal für Ta<strong>de</strong>usz Piotrowski. - Danke, Frau Baronin, sagte er. Mehr nicht.<br />

Ein wollenes Tuch für Halina. - Dank auch vielmals, gnä’ Frau. - Ein getragener Rock<br />

(schwarz, noch gut erhalten) für Maria Piotrowska. Ein leises „Danke, gnä’ Frau Baronin“,<br />

kaum zu verstehen. Maria, zwanzigjährig, klein, zierlich und hell wie ihre Mutter, knickste tief<br />

vor Baron und Baronin, die Augen fest auf die Er<strong>de</strong> gerichtet; das Gesicht, gerötet, wur<strong>de</strong><br />

dunkelrot, als <strong>de</strong>r Baron ihr gnädig (lüstern, <strong>de</strong>nkt Henriette) Wangen, Hals und Nacken<br />

tätschelte.<br />

In diesem Moment warf Henriette <strong>de</strong>n Traum <strong>von</strong> sich. Erschrocken, befrem<strong>de</strong>t ent<strong>de</strong>ckte<br />

sie die Wi<strong>de</strong>rstandslosigkeit in sich, für wenige Sekun<strong>de</strong>n nur erblickte sie diesen<br />

gefährlichen Feind <strong>de</strong>r Seele, <strong>de</strong>nn solcherart Ent<strong>de</strong>ckungen haben die wun<strong>de</strong>rbare Folge,<br />

dass das Ent<strong>de</strong>ckte im Augenblick <strong>de</strong>s Erkennens sich verflüchtigt, Erinnerung wird, und<br />

Auflehnung tritt an seine Stelle.<br />

Sie stand auf und ging hinaus, wartete die „Bescherung“ <strong>von</strong> Kutscher, Köchin,<br />

Küchenmädchen, Stallmäg<strong>de</strong>n und Pfer<strong>de</strong>knechten nicht ab (die Kleinigkeiten wür<strong>de</strong>n immer<br />

kleiner wer<strong>de</strong>n), ignorierte mit verächtlichem Lächeln sowohl die erstaunten Blicke <strong>de</strong>s alten<br />

Herrn und <strong>de</strong>s Lieblingsvetters Joachim als auch die ta<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Tante, <strong>de</strong>s Ehemanns,


<strong>de</strong>s ältesten Vetters.<br />

Sie lief hinauf in ihr Zimmer (obwohl sie seit Langem mit Janke in Berlin wohnte,<br />

Behrenstraße, hatte sie ihr Zimmer im <strong>Bernsdorf</strong>schen Schloss nicht hergegeben), suchte in<br />

ihren Sachen, fand schnell, woran sie gedacht hatte: ihr bestes, weißsei<strong>de</strong>nes Kleid. Legte<br />

es zusammen, lief wie<strong>de</strong>r hinunter, fand noch alles wie gehabt, stellte sich mit strahlen<strong>de</strong>m,<br />

unwi<strong>de</strong>rstehlichem Lächeln vor Maria Piotrowska, sagte: Da, Kleine. Damit du übermorgen<br />

noch viel schöner aussiehst als jetzt. Und küsste sie.<br />

Maria allerdings, Maria war mehr erschrocken als erfreut. Wegen dieses „übermorgen“.<br />

Weil doch <strong>de</strong>r Baron noch gar nichts wusste. Nichts wissen sollte. Und weil es so ein<br />

unglaublich schönes Kleid war ...<br />

Die Tür schloss sich hinter Kutscher, Mäg<strong>de</strong>n, Knechten, Köchin, hinter <strong>de</strong>m Leibburschen<br />

Ta<strong>de</strong>usz Piotrowski, <strong>de</strong>r Zofe, Kin<strong>de</strong>rfrau a. D., Serviererin, Vorsteherin <strong>de</strong>s Gesin<strong>de</strong>s<br />

(Mädchen für alles) Halina Piotrowska und hinter <strong>de</strong>m Stubenmädchen Maria Piotrowska,<br />

das <strong>de</strong>mnächst Maria Lemke heißen will.<br />

Wür<strong>de</strong> nun peinliches Schweigen über die spärlich beleuchtete Birke fallen? O<strong>de</strong>r erbitterter<br />

Streit? Ach, Henriette, dass du es nicht lassen kannst ...<br />

Aber Joachim spielt <strong>de</strong>n Retter aus <strong>de</strong>r Not, sitzt schon am Flügel, hämmert mit zornigem,<br />

aufgewühltem Gesicht die c-Moll-Fantasie <strong>de</strong>s Johann Sebastian Bach, seine rechte Hand<br />

schlägt die Triller wie Alarmsignale. Ihm gegenüber steht Henriette, die Ellenbogen auf <strong>de</strong>n<br />

Flügel, <strong>de</strong>n Kopf in die Hän<strong>de</strong> gestützt, sie sehen sich an. Kennst du das noch, fragt<br />

Joachim mit <strong>de</strong>n Augen, und sie bestätigt ebenso: Ja, wie sollte ich nicht, spielte es oft<br />

genug, hörte es oft genug, <strong>von</strong> ihm gespielt, meinem Liebsten, oft genug, um es nicht zu<br />

vergessen. Doch wer weiß, vielleicht hätte ich’s auch dann nicht vergessen, wenn ich’s nur<br />

an diesem einen Tag gehört hätte, als wir Kin<strong>de</strong>r waren ...<br />

Weißt du noch, Henriettchen, damals erfuhren wir, dass es nicht nur <strong>de</strong>n Carl Philipp<br />

Emanuel Bach gibt, son<strong>de</strong>rn auch <strong>de</strong>n Johann Sebastian gegeben hat ...<br />

Ich weiß, Joachim ...<br />

Sie nimmt endlich das <strong>Buch</strong>, das sie vorhin auf <strong>de</strong>n Flügel geschoben hatte, unter einen<br />

Notenberg. Er, spielend, beobachtet sie, bestätigt ihre unausgesprochene Frage mit <strong>de</strong>n<br />

Augen: Ja, Henriette, das ist endlich mein <strong>Buch</strong>, dahinein hab ich mich gerettet nach ihrem<br />

Tod, und nun geb ich’s dir, o<strong>de</strong>r brauchst du es nicht mehr, hast du ihren Tod schon<br />

verwun<strong>de</strong>n, vergessen?<br />

Sie lässt seinen Blick los, blättert in <strong>de</strong>m <strong>Buch</strong>, Gedichte; sie liest, und als sie ihn wie<strong>de</strong>r<br />

ansieht, verschwimmt ihr sein Gesicht hinter einem Schleier aus Tränen. Da sieht er auf<br />

seine Hän<strong>de</strong>, als könnte er sonst die Fantasie nicht zu En<strong>de</strong> bringen. Und sie hat das <strong>Buch</strong><br />

wie<strong>de</strong>r unter die Noten geschoben, hastig, als brenne es ihr in <strong>de</strong>r Hand.<br />

Außer Henriette klatschten alle, als Joachim aufstand.<br />

Ja, die Musik! sagte die Baronin mit verträumtem Augenaufschlag. Henriette dachte<br />

erbittert: Ach, Tante. <strong>Das</strong> hätten Sie damals nicht gesagt, da hatte es Sie getroffen.


Inzwischen haben Sie sich in Ihre Unverwundbarkeit gerettet, in diese leere Höhle, in <strong>de</strong>r<br />

keine Blumen blühen, nicht einmal weiße, geschweige <strong>de</strong>nn blaue ...<br />

Der alte Herr in<strong>de</strong>ssen setzte seine Pfeife in Brand, langstielige Porzellanpfeife (die Bil<strong>de</strong>r,<br />

bunt und zierlich, die <strong>de</strong>n Pfeifenkopf schmückten, illustrierten verschie<strong>de</strong>ne Punkte <strong>de</strong>s<br />

preußischen Exerzierreglements). Ach was, Musik, sagte er, Pfeife zwischen <strong>de</strong>n Zähnen,<br />

preußische Armeemusik, das ist Musik. Und Kompositionen König Friedrichs.<br />

Aber Friedrich liebte doch die Musik, Onkel, auch diese!<br />

Selbstre<strong>de</strong>nd würdigte <strong>de</strong>r Baron die Nichte keines Wortes und Blickes (Weibergeschwätz<br />

!), wandte sich schroff mit <strong>de</strong>m ganzen Oberkörper in die entgegengesetzte Richtung,<br />

wodurch er sich mit seinem ältesten Sohn konfrontierte, <strong>de</strong>m gelangweilt vor sich<br />

hindösen<strong>de</strong>n Friedrich. Vor <strong>de</strong>m Essen Streit gehabt, sagte <strong>de</strong>r Baron, worum ging's?<br />

Ach, mein Gott, dachte Henriette, nun geht das sicher wie<strong>de</strong>r <strong>von</strong> vorn los: <strong>Das</strong> Genie<br />

Napoleon - <strong>de</strong>r Tyrann Napoleon. Sieh an, genauso formuliert Friedrich das umstrittene<br />

Thema. Unsinn, brummte <strong>de</strong>r Baron, we<strong>de</strong>r Genie noch Tyrann, zu viel Ehre für <strong>de</strong>n<br />

Emporkömmling, <strong>de</strong>n Rebellenkaiser!<br />

Es ist eine unbedingte Notwendigkeit für das kleine, besiegte Preußen, sich vor <strong>de</strong>r Macht<br />

dieses Kaisers zu beugen, dozierte Janke mit sanfter Stimme, er ist die einzige Macht <strong>de</strong>r<br />

Welt, die unsere polnischen Besitzungen vor <strong>de</strong>r Unersättlichkeit <strong>de</strong>s russischen Zaren<br />

schützen kann ...<br />

Papperlapapp, unterbrach ihn <strong>de</strong>r Baron, können uns selber schützen, ruiniert uns doch mit<br />

idiotischer Kontinentalsperre, das sieht ein Säugling ein, mit England muss man Han<strong>de</strong>l<br />

treiben, aber nicht England schnei<strong>de</strong>n, Blödsinn, so was, wir wer<strong>de</strong>n Getrei<strong>de</strong>überschuss<br />

haben, wohin damit, he?<br />

Ach, das Getrei<strong>de</strong>, sagte da Joachim. Als ginge es nur um Getrei<strong>de</strong>, und er ist auch kein<br />

Rebellenkaiser, er ist ein Verräter an <strong>de</strong>n heiligen I<strong>de</strong>alen <strong>de</strong>r Neufranken, und <strong>de</strong>r Tilsiter<br />

Frie<strong>de</strong>n ist eine Schan<strong>de</strong> für Preußen und ganz Deutschland, wir brauchen ein Bündnis<br />

gegen <strong>de</strong>n Eroberer, nicht mit ihm, sind wir <strong>de</strong>nn Franzosen, sind wir nicht Deutsche?<br />

Blödsinn, knurrte <strong>de</strong>r Baron, Deutsche? Scheißdreck. Preußen sind wir, fertig.<br />

Joachim schüttelte <strong>de</strong>n Kopf. Nein, Vater, sagte er, da könnt Ihr sagen, was Ihr wollt, ich<br />

bin zuerst einmal Deutscher.<br />

Sieh da, unser Studierter, unser Dichter, höhnte Friedrich mit öliger Stimme, er hat<br />

ent<strong>de</strong>ckt, dass er Deutscher ist, hat dir das <strong>de</strong>in hochverehrter Herr Fichte beigebracht, ja?<br />

Mit seinen aufrührerischen Re<strong>de</strong>n? Eine Fata Morgana ist das - Deutschland. Und selbst als<br />

solche nur <strong>de</strong>nkbar im Schutz Napoleons. Und meinst du <strong>de</strong>nn, unser weiser König hat sich<br />

nichts dabei gedacht, als er <strong>de</strong>n Frie<strong>de</strong>n mit Napoleon abschloss? Willst du klüger sein als<br />

ein König aus <strong>de</strong>m Hause Hohenzollern, ja?<br />

Ja, sagte Joachim. Sagte es spöttisch, unterließ die hitzige Re<strong>de</strong>, mit <strong>de</strong>r er eben noch die<br />

„Fata Morgana“ wi<strong>de</strong>rlegen wollte. Fügte nur noch hinzu: „Sapere au<strong>de</strong>. Habe Mut, dich<br />

<strong>de</strong>ines eigenen Verstan<strong>de</strong>s zu bedienen“, Kant, Imanuel, verehrter Bru<strong>de</strong>r. Doch um es zu


eherzigen, bedarf es zunächst <strong>de</strong>s Verstan<strong>de</strong>s, mein Lieber. Kannst du mir folgen?<br />

Er wird gleich platzen vor Ärger, dachte Henriette, während sie belustigt ihren Vetter<br />

Friedrich betrachtete, <strong>de</strong>ssen blasses, knochiges Gesicht plötzlich rot gefleckt war, <strong>de</strong>r vor<br />

Erregung zu stammeln begann und doch keinen vollständigen Satz entgegnen konnte,<br />

sodass Janke ihm mit wohlgesetzten Worten zu Hilfe eilte.<br />

Da kehrte sie <strong>de</strong>n Streiten<strong>de</strong>n <strong>de</strong>n Rücken, hörte nicht mehr auf ihre Re<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>nn all das,<br />

was hier verhan<strong>de</strong>lt wur<strong>de</strong>, schien ihr unentwirrbar verstrickt, aussichtslos verdunkelt, selbst<br />

ihr Vetter Joachim, wie er da stand und sich erhitzte, war ihr fremd, auch ihn begriff sie<br />

nicht. Aber morgen wird sie ihn fragen, warum er „zuerst einmal Deutscher“ ist. Warum<br />

nicht zuerst einmal Mensch, Joachim? Morgen.<br />

Sie sah in <strong>de</strong>n dunklen Park hinaus. Da hatte sie <strong>de</strong>n alarmieren<strong>de</strong>n Triller <strong>de</strong>r Bachfantasie<br />

wie<strong>de</strong>r im Ohr, gespielt jetzt weniger zornig, <strong>von</strong> Kin<strong>de</strong>rhän<strong>de</strong>n gespielt: Michel Marten,<br />

zehnjährig, vor <strong>de</strong>m <strong>Bernsdorf</strong>schen Flügel sitzend, im Sommer nach jenem Weihnachtsfest,<br />

das Henriette vor Kurzem gegenwärtiger gewesen war als das gegenwärtige.


5<br />

Sie spielt mit <strong>de</strong>n Vettern haschen. Durch <strong>de</strong>n Park hinunter zum See wie die wil<strong>de</strong> Jagd.<br />

Herrmann ist nicht einzuholen, sosehr sich Joachim und Henriette auch anstrengen. Und<br />

Friedrich, <strong>de</strong>r Älteste zwar, aber sehr behäbig, bleibt weit zurück.<br />

Gemessenen Schritts folgt Joseph Janke, <strong>de</strong>r junge Hauslehrer, ein <strong>Buch</strong> in <strong>de</strong>r Hand, ein<br />

zufrie<strong>de</strong>nes Lächeln im Gesicht. Die Kin<strong>de</strong>r spüren seine Zufrie<strong>de</strong>nheit, spüren, dass er sie<br />

heute nicht stören wird beim Herumtollen, nicht mit lateinischen Exerzitien, nicht mit<br />

französischer Konversation; <strong>de</strong>r Zusammenhang zwischen seiner zeitweiligen<br />

Ungefährlichkeit und <strong>de</strong>r Ausfahrt <strong>von</strong> Baron und Baronin ist ihnen unklar, wäre ihnen<br />

gleichgültig.<br />

Auch Halina wird sie nicht belästigen, nicht einmal beaufsichtigen. Sie spielt mit ihrem<br />

einjährigen Adam, ruft ihn mit fremd klingen<strong>de</strong>n Kosenamen, bittet ihn mit liebevollem<br />

zweisprachigen Gestammel um Verzeihung für alle vergangenen und noch bevorstehen<strong>de</strong>n<br />

Einsamkeiten. Und Adam kräht glücklich. Man hört sein Krähen im Park nicht.<br />

Man hört ein Aufklatschen und einen Aufschrei, bei<strong>de</strong>s aus <strong>de</strong>m Schilf.<br />

Die <strong>Bernsdorf</strong>junker und das Henriettchen stehen erschrocken still, starren zum See.<br />

Prädikant Janke fährt <strong>von</strong> <strong>de</strong>r Bank hoch, auf die er sich gera<strong>de</strong> gesetzt hat. <strong>Das</strong> <strong>Buch</strong><br />

noch in <strong>de</strong>r Hand, läuft er mit Schuhen ins Wasser, kommt, ein triefen<strong>de</strong>s, sich sträuben<strong>de</strong>s<br />

Bün<strong>de</strong>l im Arm, zurück, sorgfältig bemüht, das <strong>Buch</strong> nicht zu ver<strong>de</strong>rben. Es fällt ihm dann<br />

doch aus <strong>de</strong>r Hand, als er seinen Fund absetzt - ohne ihn loszulassen freilich -, es blättert<br />

auf: ein Werk Emanuel Swe<strong>de</strong>nborgs, <strong>de</strong>s Mystikers aus Schwe<strong>de</strong>n.<br />

Bist du nicht <strong>de</strong>r Marten-Michael?<br />

Nicken. Schniefen.<br />

Und was hast du zu suchen, dort, im Schilf?<br />

Schweigen.<br />

Kannst du nicht re<strong>de</strong>n?<br />

Ich kann.<br />

Und willst nicht sagen, was du zu suchen hattest im Schilf?<br />

Nein. <strong>Das</strong> heißt - doch. Nichts hatte ich dort zu suchen.<br />

Aha!<br />

<strong>Das</strong> klingt drohend - trotz<strong>de</strong>m: Janke ist ratlos. Denn was soll er tun? Den Jungen<br />

durchprügeln. <strong>Das</strong> täte <strong>de</strong>r Baron. Mit seinem Knotenstock. Eigenhändig. Also wird er,<br />

Joseph Janke, es nicht tun. Aber es wird sich nicht verheimlichen lassen, dass hier jemand<br />

eingedrungen war, man wird sich rechtfertigen müssen ...<br />

Er sieht seine Zöglinge an; Neugier<strong>de</strong>, Scha<strong>de</strong>nfreu<strong>de</strong>, ein wenig hochmütige Herablassung.<br />

Frierst du? Bist du aber nass! sagt Henriette.<br />

Er muss sich umziehen, sagt Joachim.


Man erkältet sich sonst, ergänzt Herrmann.<br />

Michel Marten lächelt überlegen.<br />

Selber schuld, sagt Friedrich. Was hat er auch hier zu suchen!<br />

Na, wie<strong>de</strong>rholt er Jankes Frage, was hattest du hier zu suchen?<br />

Sagte ich schon. Nichts.<br />

Mein Vater wird dich durchprügeln, droht Friedrich stolz.<br />

Herrmann, erschrocken: Soll er schnell fortgehen, ja, Janke?<br />

Denkst wohl, ich hab Angst? trumpft Michel auf.<br />

Ha, hast seinen Knotenstock noch nicht gesehen!<br />

Hab ich doch! Zuletzt gestern in <strong>de</strong>r Kirche.<br />

Da warst du gar nicht, sagt Joachim. Wir waren alle da, aber du nicht.<br />

Die drei an<strong>de</strong>ren nicken.<br />

Michel Marten lacht. Weil ihr mich nicht gesehen habt, war ich also nicht da. Seid ihr aber<br />

klug!<br />

Gib nicht so an, sagt Herrmann beleidigt. Natürlich sind wir klüger als du. Du könntest nun<br />

endlich verschwin<strong>de</strong>n.<br />

Wollen wir ihn verhauen? fragt Friedrich, seine Augen glitzern plötzlich böse.<br />

Er ist kleiner, sagt Herrmann verächtlich, großmütig.<br />

Michel reckt sich, um größer zu scheinen. Wenn ihr mich schon nicht gesehen habt in <strong>de</strong>r<br />

Kirche - gehört habt ihr mich.<br />

Wieso? fragt Henriette neugierig.<br />

Wieso? äfft er sie wütend nach, weil ich gespielt habe.<br />

Jawohl, die Orgel gespielt, schreit er, stampft sogar mit <strong>de</strong>m Fuß auf, <strong>de</strong>nn sie lachen,<br />

außer Henriette und Prädikant Janke lachen alle.<br />

Herrmann, plötzlich ernst und würdig, sagt: Nun hör aber mit <strong>de</strong>n Angebereien auf, sonst<br />

setzt es doch noch was. Gespielt hat natürlich <strong>de</strong>in Großvater, meine Mutter hat gesagt, es<br />

war sehr, sehr schön, und <strong>de</strong>in Großvater ist ein Meister. Aber du bist ein Angeber.<br />

Wetten, dass ich es war?<br />

Sie lachen wie<strong>de</strong>r.<br />

Was willst du <strong>de</strong>nn verwetten, du dummer Kerl, sagt Friedrich, vielleicht <strong>de</strong>ine jämmerliche<br />

Hose? O<strong>de</strong>r das ludrige Hemd? O<strong>de</strong>r hättest du sonst noch was anzubieten?<br />

Michel wird weiß. Seine Finger krampfen sich zusammen, ohne dass er es merkt, aber alle<br />

sehen die kleinen, nassen Fäuste, gleich wer<strong>de</strong>n sie Friedrich ins Gesicht fahren.<br />

Du bist gemein, Friedrich, ruft Henriette empört. Gemein, echot Joachim, sogar Herrmann<br />

nickt, wi<strong>de</strong>rwillig zwar, aber er nickt, und Michels Fäuste fahren nicht in Friedrichs Gesicht.


Soll er doch beweisen, was er behauptet, sagt Herrmann spöttisch. O ja, er soll uns<br />

vorspielen, ruft Henriette und hüpft <strong>von</strong> einem Bein aufs an<strong>de</strong>re, jetzt gleich soll er spielen!<br />

Alle sehen sie Janke an.<br />

Janke zweifelt nicht daran, dass Michel Marten beweisen könnte, was er behauptet hat.<br />

Janke weiß, dass gestern nicht <strong>de</strong>r alte Marten, son<strong>de</strong>rn sein Enkel die Orgel gespielt hat.<br />

Er könnte das einfach sagen. Hätte es längst sagen können.<br />

Die Kin<strong>de</strong>r begreifen sein Zögern nicht. Ungeduldig wie<strong>de</strong>rholt Henriette: Jetzt gleich soll er<br />

spielen, ja? Jetzt gleich, so kommt doch!<br />

Da nickt Janke, wi<strong>de</strong>rstrebend nickt er, und doch ist Erleichterung in seinen run<strong>de</strong>n Augen<br />

und sogar Freu<strong>de</strong>. O<strong>de</strong>r ist es Furcht?<br />

Die Kin<strong>de</strong>r geraten in Bewegung, wollen <strong>de</strong>n schmutzigen, nassen Eindringling zum Schloss<br />

ziehen.<br />

<strong>Das</strong> geht nun freilich nicht. Janke schickt ihn nach Hause, durch das Schilf zurück. Nachher,<br />

sagt er, kommst du, gewaschen und umgezogen, durch <strong>de</strong>n Haupteingang ins Schloss,<br />

verstan<strong>de</strong>n?<br />

Und wenn man mich fortjagt?<br />

Halina wird dich am Hoftor erwarten.<br />

Janke dreht sich plötzlich um, nimmt Henriette an die Hand, geht eilig mit ihr in <strong>de</strong>n Park,<br />

zum Schloss. Die <strong>Bernsdorf</strong>junker folgen. Jankes Abgang gleicht einer Flucht. Ganz in<br />

Gedanken versunken, steigt er die Freitreppe hinauf, Henriette hüpft auf einem Bein <strong>von</strong><br />

Stufe zu Stufe, Janke vergisst, sie <strong>de</strong>swegen zu ta<strong>de</strong>ln.<br />

Henriette ist erregt. Sie hat „<strong>Das</strong> Röslein, das ich meine“ nicht vergessen. Gleich wird er<br />

kommen, <strong>de</strong>nkt sie. Wie lange braucht er, um sich zu waschen und umzuziehen?<br />

Die Zeit läuft im Schneckengang. Was tut er so lange, <strong>de</strong>nkt Henriette. Sie hat es sich<br />

später, viel später, ganz genau <strong>von</strong> ihm erzählen lassen.<br />

Michel Marten trottet zum Schulhaus. Verdächtige Ruhe herrscht dort. Sollte <strong>de</strong>r<br />

Nachmittagsunterricht schon zu En<strong>de</strong> sein?<br />

Nirgends eine Spur <strong>von</strong> Großvater Marten. Michel versucht, die schwere Truhe zu öffnen,<br />

dort liegt seine gute Hose und das weiße Hemd. Es gelingt ihm nicht.<br />

Und wenn er einfach nicht wie<strong>de</strong>r ins Schloss geht?<br />

Ausgeschlossen. Ganz unmöglich.<br />

Also <strong>de</strong>n Großvater suchen. Im Stall, bei Ziege, Schaf und Schwein. Im Garten. Auf <strong>de</strong>m<br />

Kartoffelacker. Im Bienenhaus. Letzte Möglichkeit: bei Großvater Schulz. Denn Michel hat<br />

zwar we<strong>de</strong>r Vater noch Mutter, noch Großmutter, dafür aber zwei Großväter.<br />

Zusammenhänge sind ihm unklar. Großvater Schulz - das ist <strong>de</strong>r Pfarrer Mathias Schulz,<br />

Großvater Martens Freund seit vielen, vielen Jahren, viel mehr weiß Michel nicht darüber.<br />

Nur noch, dass sie als Kin<strong>de</strong>r beim Johann Sebastian Bach in die Schule gegangen sind und<br />

im Thomanerchor gesungen haben. Und dass Großvater Schulz immer „ein bisschen mehr


Glück“ gehabt hat als Großvater Marten, weshalb er studieren durfte und Pfarrer wer<strong>de</strong>n<br />

(Glück hatte mit Geld zu tun, in diesem Fall zumin<strong>de</strong>st), während Großvater Marten nicht<br />

Musiker wer<strong>de</strong>n konnte, aber „eigentlich sehr, sehr froh“ war, dass sein alter Freund ihn<br />

hierher nach <strong>Bernsdorf</strong> geholt hat, wo er Lehrer und Küster und Bauer und Tierarzt und<br />

Bienenzüchter ist und <strong>de</strong>s Nachts in seinem Zimmer sitzt und Noten zu Papier bringt o<strong>de</strong>r<br />

Bücher liest. Und dann gab es noch ein Unglück, dass bei<strong>de</strong> Großväter gleichermaßen und<br />

wohl auch gleichzeitig betroffen hat und dass irgendwie mit ihm, Michel Marten,<br />

zusammenhängt, über das er aber nichts Genaues erfahren konnte. Und schließlich ist da<br />

noch ein Geheimnis, das die bei<strong>de</strong>n verwitweten Alten miteinan<strong>de</strong>r haben, <strong>de</strong>nn sie hocken<br />

häufig im Pfarrhaus hinter verriegelten Türen und verhängten Fenstern zusammen, und beim<br />

Spähen durchs Schlüsselloch hat Michel allerlei Merkwürdigkeiten erblickt: blaue Vorhänge,<br />

brennen<strong>de</strong> Kerzen, unerklärliche Geräte, die neben einer Bibel und einem Hammer<br />

angeordnet waren, und seltsames Gemurmel hat er vernommen, und Prädikant Janke ist<br />

nach einem rhythmischen Klopfen an <strong>de</strong>r Tür eingelassen wor<strong>de</strong>n. (Michel hat sich hastig in<br />

<strong>de</strong>r Küche versteckt.) Am nächsten Tag ist er in das betreffen<strong>de</strong> Zimmer eingedrungen, hat<br />

aber nichts, gar nichts Bemerkenswertes ent<strong>de</strong>cken können, sogar die Leuchter waren<br />

verschwun<strong>de</strong>n ...<br />

Nun läuft er also zum Pfarrhaus hinüber; ohne sich aufzuhalten, ohne nachzu<strong>de</strong>nken, stürmt<br />

er ins Wohnzimmer und - prallt zurück. Im ersten Augenblick, so erzählte er es später<br />

Henriette, sah ich nichts als die Kerzen und das hellblaue Tischtuch. Dann die bei<strong>de</strong>n Alten,<br />

wie sie mich entsetzt anstarrten, <strong>de</strong>nn sie hatten ja vergessen, die Tür zu verriegeln. Auf<br />

<strong>de</strong>m Tisch lag die Bibel. Daneben ein Hammer. <strong>Das</strong> übrige wusste ich damals nicht zu<br />

benennen: Winkelmaß, Zirkel, Senkblei, eben alle diese Symbole, die bei <strong>de</strong>n Freimaurern<br />

üblich sind. Denn in eine Freimaurerloge war ich hineingeraten, eine Zweimannloge, stell dir<br />

das vor! Mit Janke stan<strong>de</strong>n sie sich nicht mehr zum besten, <strong>de</strong>r re<strong>de</strong>te schon zu viel <strong>von</strong><br />

Stein und Weisen und Lebenselexier, vom Goldmachen und Geisterbeschwören, das war<br />

nichts für meine Großväter. O<strong>de</strong>r vielmehr: das war für sie wie das rote Tuch für <strong>de</strong>n Stier,<br />

verstehst du? Sie haben sich später redliche Mühe gegeben, mir das zu verlei<strong>de</strong>n, ihre<br />

Schuld war es gewiss nicht, dass ich Janke und Kienast auf <strong>de</strong>n Leim gegangen bin.<br />

Wessen Schuld <strong>de</strong>nn? Meine natürlich, Henriette! O<strong>de</strong>r soll ich sagen: die Schuld meiner<br />

Neugier? Und meiner Ungeduld? Ist es nicht ein verlocken<strong>de</strong>r Gedanke: Du fin<strong>de</strong>st <strong>de</strong>n<br />

Stein <strong>de</strong>r Weisen, und plötzlich hast du alles, was du brauchst, weißt auf alle Fragen eine<br />

Antwort, eine endgültige, unbestreitbar richtige Antwort? Die absolute Wahrheit, hinter <strong>de</strong>r<br />

nichts mehr zu suchen ist? <strong>Das</strong> war für mich so verlockend, dass ich Lessing und Her<strong>de</strong>r<br />

und Voltaire - kurz, die ganze Aufklärung darüber vergaß, die meine bei<strong>de</strong>n Alten mir<br />

beigebracht hatten, einfach vergaß, Henriette. Für lange, lange Zeit. Wie ein Rausch war<br />

das. Und sogar das gefiel mir - dieser Rausch, dieses Geheimnisvolle, diese Aufregungen.<br />

Auch an <strong>de</strong>r Freimaurerei meiner Großväter hatten mich <strong>von</strong> Anfang an die geheimnisvollen<br />

Riten und Symbole am meisten fasziniert. Die bei<strong>de</strong>n hielten zwar keine Verbindung mehr<br />

zur Großen Lan<strong>de</strong>sloge in Berlin; ihr Leitspruch war Lessings Satz, dass Loge sich zur<br />

Freimaurerei verhalte wie Kirche zum Glauben: Sie hielten viel <strong>von</strong> Freimaurerei und<br />

Glauben, wenig o<strong>de</strong>r gar nichts <strong>von</strong> Loge und Kirche. Und trotz<strong>de</strong>m spielten sie gern mit<br />

<strong>de</strong>n freimaurerischen Riten und Formeln und Symbolen; so ein bisschen Theater brauchten


sie eben für ihr seelisches Gleichgewicht.<br />

Und da war ich ihnen nun hineingeplatzt. Ihre entsetzten Gesichter bezogen sich nicht nur<br />

auf mein Eindringen. Sie hatten einen Brief vor sich liegen, und sie weinten. Wirklich, sie<br />

weinten. Am meisten Großvater Marten, <strong>de</strong>n schüttelte es richtig vor Weinen. Großvater<br />

Schulz, <strong>de</strong>r knochendürre, bleiche Mann, hatte nur noch ein paar Tränen auf seinem<br />

schwarzen Schnauzbart sitzen. Und re<strong>de</strong>te mit mir. Ich sei nun einmal da, sie hätten vor<br />

Aufregung vergessen, die Tür zu verschließen, das alles seien Freimaurersymbole, und ich<br />

brauche keine Angst davor zu haben - hatte ich auch gar nicht -, und <strong>de</strong>r Brief sei aus<br />

Hamburg, <strong>von</strong> ihrem gemeinsamen Freund Karl-Ernst Suhrbier, und Lessing sei tot, schon<br />

seit <strong>de</strong>m Februar. So lange schon, wir hatten April o<strong>de</strong>r Anfang Mai. Suhrbier hatte nicht<br />

gleich geschrieben, o<strong>de</strong>r die Post war irgendwo hängen geblieben, wie üblich, je<strong>de</strong>nfalls<br />

erschütterte die bei<strong>de</strong>n anscheinend am meisten, dass Lessing schon bald ein Vierteljahr<br />

tot war und sie in ihrem abgelegenen Nest es nicht eher erfahren hatten. Sie hatten also<br />

<strong>de</strong>n Brief vor sich und ein paar Lessingbän<strong>de</strong> und noch eine Menge handbeschriebener<br />

Blätter, und sie hießen mich sitzen und lasen aus diesen Blättern, vorher sagten sie mir, es<br />

seien Äußerungen Lessings über die Freimaurerei, <strong>von</strong> Freun<strong>de</strong>n abgeschrieben, unter<br />

Freun<strong>de</strong>n <strong>von</strong> Hand zu Hand gereicht. Ich verstand fast nichts. Ich rutschte ungeduldig auf<br />

meinem Stuhl hin und her. Ich war schließlich sehr in Eile. Aber plötzlich horchte ich auf. Da<br />

las Großvater Schulz - später hab ich’s auswendig gelernt, Henriette! -: „Zum Besten <strong>de</strong>r<br />

Menschheit kann niemand beitragen, <strong>de</strong>r nicht aus sich selbst macht, was aus ihm wer<strong>de</strong>n<br />

kann und soll, Her<strong>de</strong>r.“ Ich klapperte inzwischen mit <strong>de</strong>n Zähnen, <strong>de</strong>nn ich war noch immer<br />

ziemlich nass, und zähneklappernd rief ich: Wenn das wahr ist, muss ich mich jetzt aber<br />

gleich umziehen und aufs Schloss. Ich soll vorspielen. Und so, wie ich jetzt friere, kann ich<br />

morgen erfroren sein.<br />

Da hättest du die Alten sehen sollen! Wie sie ihr Zeug liegen ließen und um mich rum waren.<br />

Sie kamen gar nicht auf die I<strong>de</strong>e, zu schimpfen wegen <strong>de</strong>r nassen Sachen. O<strong>de</strong>r auch nur<br />

zu fragen, wie ich <strong>de</strong>nn ins Wasser gekommen war. Großvater Marten vor allem, <strong>de</strong>r<br />

mümmelte immer vor sich hin: Jaja, aus dir soll was Bessres wer<strong>de</strong>n als aus unsereinem!<br />

Sodass ich schließlich sagte: Großvater, wenn ich so gut spielen könnte wie Sie, wär ich<br />

wohl ganz zufrie<strong>de</strong>n, warum was Bessres, und all die Noten, die Sie schon aufs Papier<br />

geschrieben haben! Ach Junge, Junge, jammerte er, was nützt das alles, hab doch <strong>de</strong>n<br />

Kontrapunkt nicht studiert, wird doch nichts, kann doch nichts ... aber du, du wirst lernen,<br />

Junge - und so fort, mir wur<strong>de</strong> ganz schwindlig. Da fiel mir ein: Ich hatte mit keinem Wort<br />

erwähnt, dass die Einladung nur <strong>von</strong> Janke und <strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rn kam, dass ich Baron und<br />

Baronin selbst hatte fortfahren sehen. Jetzt tat es mir leid, das nachzutragen, sie wären zu<br />

sehr enttäuscht gewesen, meine bei<strong>de</strong>n Alten. Und du weißt ja - es war unnötige Besorgnis.<br />

Halina bringt ihn ins Terrassenzimmer; seine Haare sind noch nass.<br />

Er setzt sich an <strong>de</strong>n Flügel, spielt ohne Zögern und fehlerlos alle Choräle <strong>de</strong>s gestrigen<br />

Sonntags herunter.<br />

Na ja, sagt Friedrich bedächtig, ganz schön. Aber Klavier und Orgel ist doch wohl ein kleiner


Unterschied.<br />

<strong>Das</strong> ärgert Michel. Da schlägt er <strong>de</strong>n Triller aus <strong>de</strong>r c-Moll-Fantasie an. Bricht ab, sieht alle<br />

mit überlegenem Lächeln an, spielt die ganze Fantasie, nicht fehlerfrei, ihn stört je<strong>de</strong>r<br />

Schnitzer, aber sie merken nichts, das sieht er, sie stehen stumm vor Bewun<strong>de</strong>rung.<br />

Niemand hört Dorothea hereinkommen. Sie sitzt nun auf <strong>de</strong>m Lehnstuhl, die Hän<strong>de</strong> im<br />

Schoß, <strong>de</strong>n Blick unverwandt auf das spielen<strong>de</strong> Kind gerichtet, Tränen in <strong>de</strong>n Augen.<br />

Als er fertig ist, sagt sie: Bestell <strong>de</strong>inem Großvater, du kannst ab morgen je<strong>de</strong>n Nachmittag<br />

aufs Schloss kommen, wenn Henriette und Joachim Unterricht haben, und kannst mit ihnen<br />

lernen. Und nun geh.<br />

Aber <strong>de</strong>r Herr Baron ...? fragt Janke zögernd.<br />

Lass Er das meine Sorge sein, sagt sie ruhig.


6<br />

Henriette zuckte zusammen, als Joachim ihr <strong>de</strong>n Arm um die Schultern legte. Wo warst du?<br />

fragte er leise.<br />

Sie lächelte schwach. Weit fort, sagte sie. Diese ewige Sehnsucht nach rückwärts. Man<br />

darf ihr wohl nicht nachgeben. Sie ist sicher gefährlich ...<br />

Ich weiß nicht, sagte er nach<strong>de</strong>nklich. Vielleicht ist sie gut? Wie schön und groß und<br />

wohlgeordnet war das <strong>de</strong>utsche Reich unter einem Friedrich Barbarossa, Henriette.<br />

Vielleicht ist es gut, sich danach zu sehnen?<br />

Sie sah ihn verständnislos an. Nun re<strong>de</strong>n sogar wir bei<strong>de</strong> aneinan<strong>de</strong>r vorbei, dachte sie<br />

traurig.<br />

Katholisch müsste man wer<strong>de</strong>n, sagte er scheinbar ohne Zusammenhang.<br />

Bist du verrückt? rief sie erschrocken.<br />

Wieso verrückt, Henriette?<br />

Da klopfte es. Ta<strong>de</strong>usz Piotrowski steckte seinen grauen Kopf vorsichtig zur Tür herein.<br />

Zwei französische Offiziere, wenn’s gestattet ist, sagte er, leicht stotternd vor Aufregung,<br />

sie sind vor Kurzem eingetroffen, als Ersatz für diesen ertrunkenen Leutnant, wollen <strong>de</strong>n<br />

gnädigen Herrschaften ihre Aufwartung machen, wenn’s gestattet ist, wollen sich<br />

anscheinend auch hier einquartieren, wenn’s gestattet ist.<br />

Aber wer hat hier zu gestatten, ist wohl die Frage ...<br />

Je<strong>de</strong>nfalls dachte Michel Marten das, als er nun hinter Jean-Pierre ins Zimmer trat. Die<br />

Herrschaften gestatten? fragte Jean-Pierre freundlich und in vorschriftsmäßiger Haltung,<br />

Leutnant Carnette, Leutnant Marten (er spricht Michels Namen französisch aus), <strong>de</strong>r<br />

Einquartierung in <strong>Bernsdorf</strong> zubeor<strong>de</strong>rt, man wird uns doch im Schloss beherbergen?<br />

Sein breiter Rücken ver<strong>de</strong>ckt mich fast ganz, dachte Michel, das ist gut. Dazu diese<br />

Dämmerbeleuchtung. Wie eilfertig Friedrich aufgesprungen ist und sich vorstellt mit<br />

sämtlichen Titeln und Ämtern (Baron Friedrich <strong>von</strong> <strong>Bernsdorf</strong>, Geheimer Oberfinanzrat,<br />

königlicher Kabinettsminister, zurzeit beurlaubt), weit hat er’s gebracht, fürwahr, aber wie<br />

seine Augen flackern, wie unsicher er ist ... Und so sieht also Joseph Janke heute aus. Von<br />

Janke, bitte. Hofrat, Kabinettssekretär. Auch zurzeit beurlaubt. <strong>Das</strong> kupferbraune Haar<br />

gelichtet. (Die alte Perücke wird er jetzt praktisch fin<strong>de</strong>n und wird ihr nachtrauern. Aber man<br />

geht mit <strong>de</strong>r Zeit, wenn man <strong>von</strong> Janke heißt.) Und feist ist er gewor<strong>de</strong>n. Beflissenheit in<br />

allen Knopflöchern. Und in <strong>de</strong>n Augen, vor allem in <strong>de</strong>n Augen. Groß und rund und blau, wie<br />

sie sind, erinnern sie am ehesten an Knöpfe, immer noch. Als ich diese Knöpfe zum ersten<br />

Mal dicht vor mir hatte (war das ein Schreck, das kalte Wasser, ich hatte so schön<br />

geträumt auf meinem Baumstamm), da schienen sie mir vertrauenerweckend. Da war<br />

etwas Bekanntes in ihnen. Wie lange das her ist ...<br />

Er hat mich ebenso wenig erkannt wie Friedrich. O<strong>de</strong>r tun sie nur so? Der Baron steht nicht<br />

einmal auf. Natürlich. Verbirgt auch nicht die Feindseligkeit, sie steht ihm im Gesicht<br />

geschrieben. Gut, also unterlassen wir die Begrüßung. Nur zwei hatten es eilig damit. Aber


zwei Maulwürfe. Was hattest du eigentlich an<strong>de</strong>res erwartet, Michel Marten? Was an<strong>de</strong>res<br />

als dies verlegene, feindselige o<strong>de</strong>r unterwürfige Schweigen? Offene Arme? Freundschaft?<br />

Hoffnung? <strong>Das</strong> alles hast du auch im übrigen Preußen vergebens gesucht, Michel Marten.<br />

Er stand noch immer im Schatten <strong>de</strong>s breitschultrigen Jean-Pierre, er hatte Henriette noch<br />

gar nicht gesehen, die ihn hier am meisten anging.<br />

Dafür sah er nun Joachim. Denn <strong>de</strong>r warf plötzlich die Erstarrung <strong>von</strong> sich, die ihn bei<br />

Piotrowskis Ankündigung befallen hatte, straffte sich, stand auf, ging auf die Tür zu, das<br />

Gesicht eine gefrorene Maske.<br />

Sein Blick streifte Michel Marten. Sie sahen sich sekun<strong>de</strong>nlang in die Augen. <strong>Das</strong>s ein<br />

Gesicht sich so schnell verän<strong>de</strong>rn kann, dachte Michel, so plötzlich aufbrechen: ungläubiges<br />

Erstaunen, Erschütterung über unerwartetes Wie<strong>de</strong>rsehen, Freu<strong>de</strong> und sogar Hoffnung,<br />

bei<strong>de</strong>s aber sofort ausgelöscht durch Abwehr und Enttäuschung ...<br />

Einen Moment nur hatte Joachim gezögert, dann ging er weiter, quer durchs Zimmer, zur<br />

Tür, als liefe er auf einer ihm vorgeschriebenen, nur ihm sichtbaren Bahn. Außer Michel und<br />

Henriette hatte niemand sein Zögern bemerkt. Noch sein Rücken re<strong>de</strong>te <strong>von</strong> Stolz und<br />

Ablehnung.<br />

Da geriet Dorothea in Bewegung. Hieß die unwillkommenen Gäste herzlich willkommen. Die<br />

Weihnachtsbotschaft vom Frie<strong>de</strong>n auf Er<strong>de</strong>n - wie<strong>de</strong>r einmal. Und dazwischen ein Ruf an<br />

Joachim, <strong>de</strong>r gera<strong>de</strong> noch zur rechten Zeit kam: Joachim konnte seinen Gang zur Tür<br />

ummo<strong>de</strong>ln in einen Gang zum dort stehen<strong>de</strong>n Sessel, und das war ihm nicht unlieb, die<br />

Begegnung mit <strong>de</strong>m einstigen Freund hatte seine Sicherheit erschüttert. Michel Marten bei<br />

<strong>de</strong>n Franzosen, dachte er, aber was <strong>de</strong>nn, wo sollte Michel Marten eigentlich sonst sein,<br />

wenn nicht bei <strong>de</strong>n Franzosen? Und er stellte sich vor, wie sie im Park gesessen hatten,<br />

versteckt im Gebüsch, Schillers „Räuber“ lesend, wie sie glühten vor Begeisterung. Und<br />

gera<strong>de</strong>, als sie Henriette holen wollten, um sie die Amalia lesen zu lassen, kam Herrmann<br />

nach Hause und erzählte vom Ausbruch <strong>de</strong>r Revolution in Paris. Herrgott, sind sie<br />

umhergesprungen, haben Schiller zitiert und Schubart, sind wie<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n Park gelaufen, in<br />

ihr Versteck gekrochen und haben geschworen, mit Blut: ewige Freundschaft gegenseitig,<br />

ewige Freundschaft <strong>de</strong>n mutigen Franken, Tod allen Tyrannen ... Wie die Kin<strong>de</strong>r waren sie.<br />

- Ist er <strong>de</strong>nn ein Kind geblieben, dieser Michel Marten? Meint er <strong>de</strong>nn, was sie als<br />

Siebzehnjährige schworen, damit könne man heute noch leben? Wo sind die Franken <strong>von</strong><br />

damals? Was ist aus ihren I<strong>de</strong>alen gewor<strong>de</strong>n?<br />

Joachim hatte sich in <strong>de</strong>n Sessel fallen lassen, trommelte mit <strong>de</strong>n Fingern einen punktierten<br />

Rhythmus auf die Knie, sah finster in die flackern<strong>de</strong>n, fast herabgebrannten Kerzen, hörte<br />

nicht zu, was um ihn hergere<strong>de</strong>t wur<strong>de</strong>. Denn gere<strong>de</strong>t wur<strong>de</strong> nun. Über das Wetter: <strong>Das</strong>s<br />

es Schnee geben könnte zum Fest. Über die politische Lage: <strong>Das</strong>s <strong>de</strong>r Tilsiter Frie<strong>de</strong>n ein<br />

Segen für die Menschheit sei, dass die französischen Truppen das preußische Königreich<br />

bald räumen wür<strong>de</strong>n, mit Ausnahme <strong>de</strong>r Festungen natürlich. Janke, Friedrich und Jean-<br />

Pierre bestritten das Gespräch.<br />

Die Frauen hatten sich abseits gesetzt, an <strong>de</strong>n grünen Kachelofen, Henriette sah<br />

unverwandt <strong>de</strong>n schweigen<strong>de</strong>n blon<strong>de</strong>n Franzosen an, <strong>de</strong>r sie in Aufruhr versetzt hatte, als


er aus <strong>de</strong>m Schatten <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren herausgetreten war, und in <strong>de</strong>m sie nicht einen Michel<br />

Marten erkennen wollte, obwohl sie ihn sofort erkannt hatte.<br />

Leutnant Bertrand, wie konnte dieser - Unglücksfall eigentlich geschehen? fragte Jean-<br />

Pierre in französisch akzentuiertem Deutsch.<br />

Ja, ein bedauerlicher Unglücksfall, sagte Friedrich schnell, nun, wie so etwas eben passiert,<br />

nicht wahr?<br />

War es tatsächlich ein Unglücksfall? fragte Michel Marten. <strong>Das</strong> war hier sein erster Satz.<br />

Alle hörten seine unverkennbar märkische Sprache. Henriette zuckte zusammen; diese<br />

Stimme war nicht zu vergessen. Kein Selbstbetrug half mehr. Sie verbarg das Zittern ihrer<br />

Hän<strong>de</strong>, zwang sich zu Unbeweglichkeit, sah ihn nicht mehr an.<br />

Na, was <strong>de</strong>nn sonst, sagte <strong>de</strong>r Baron, <strong>de</strong>m Gedanken an einen Michel Marten viel zu fern<br />

lagen, als dass er ihn hätte erkennen können, er dachte nur: Also auch eins dieser<br />

Subjekte, ein Verräter. Und knurrte: Spiegelblanke Eisfläche letzte Woche auf unserem<br />

See, ist eben ersoffen, ehe jemand auch nur niesen konnte, niemand war dabei, selber<br />

schuld, Dorfidiot hat ihn rausgeangelt, war schon mausetot.<br />

Wie nebenbei sagte Jean-Pierre, blickte aber aufmerksam in die Run<strong>de</strong>: Die Stimmung <strong>de</strong>r<br />

Dorfbevölkerung gegenüber unseren Truppen scheint mir nicht sehr gut zu sein.<br />

Aber, aber, stotterte Friedrich erregt, es wird doch niemand verdächtigt? Es ist doch nichts<br />

..., nun, ich meine, man kann nichts mehr nachprüfen, <strong>de</strong>r Pfarrer Kienast, zu <strong>de</strong>m unser<br />

Glöckner - ein armer Irrer, verstehen Sie? - <strong>de</strong>n Ertrunkenen brachte, hat ein<strong>de</strong>utig Tod<br />

durch Ertrinken festgestellt, hat ihm ein christliches Begräbnis gegeben ...<br />

Was besagt das? fragte Jean-Pierre dazwischen, und Friedrich verstummte.<br />

Wie sollte die Stimmung <strong>de</strong>r Dorfbevölkerung aber auch besser sein, sagte Joachim, wenn<br />

die französischen Soldaten <strong>de</strong>n Leuten das letzte Korn requirieren und dazu täglich verpflegt<br />

wer<strong>de</strong>n müssen, pro Haus zwei Mann, und das zum Weihnachtsfest? Und dass sie sich<br />

höflich benehmen, kann man nicht behaupten, sie benehmen sich wie Welteroberer, und<br />

zwar auch nach <strong>de</strong>m gepriesenen Tilsiter Frie<strong>de</strong>n, meine Herren!<br />

Ach, sagte Michel Marten, ist <strong>de</strong>nn das Schloss nicht in <strong>de</strong>r Lage, diese kleine<br />

Einquartierung zu verpflegen?<br />

Er bemühte sich, ruhig und sachlich zu sprechen, kam aber mehr und mehr in Erregung, gab<br />

sich schließlich keine Mühe mehr, das zu verbergen.<br />

O<strong>de</strong>r wenigstens <strong>de</strong>n Bauern etwas dazuzugeben? rief er. O<strong>de</strong>r ihnen die Abgaben zu<br />

erleichtern? Von erlassen will ich schon gar nicht erst re<strong>de</strong>n. Aber was wird hier gemacht?<br />

Den Leuten wird verheimlicht, dass es ein Oktoberedikt gegeben hat.<br />

Oktoberedikt? brauste <strong>de</strong>r Baron auf, existiert für mich nicht, <strong>Bernsdorf</strong>s sitzen hier seit<br />

Zeiten <strong>de</strong>s Großen Kurfürsten, nicht mal Friedrich hat es geschafft, die Leibeigenschaft<br />

aufzuheben, nun dieser Trottel, ist sein Nachkomme, lei<strong>de</strong>r Gottes, Hampelmann, ererbte<br />

Rechte, unveräußerlich, heilig, jawohl, Wilhelm <strong>von</strong> <strong>Bernsdorf</strong> heiß ich, basta!<br />

Er zitterte vor Wut, nach<strong>de</strong>m er diese Satzbrocken herausgestoßen hatte, je<strong>de</strong>n einzelnen


wie einen Gewehrschuss, abgefeuert gegen die französischen Offiziere.<br />

Ja, aber Vater ..., rief Friedrich erschrocken, verstummte jedoch sofort unter <strong>de</strong>m<br />

drohen<strong>de</strong>n Blick und <strong>de</strong>m wüten<strong>de</strong>n „kein Aber“ <strong>de</strong>s Barons, sah angstvoll Hilfe heischend<br />

zu Janke.<br />

Dem schien es heiß gewor<strong>de</strong>n zu sein in <strong>de</strong>m kühlen Zimmer, er wischte mit einem großen,<br />

karierten Taschentuch <strong>de</strong>n Schweiß <strong>von</strong> <strong>de</strong>r Stirn. Ich weiß nicht, verehrter Onkel, sagte er,<br />

ob die Worte <strong>de</strong>s Herrn Leutnant, entschärft gewissermaßen ... Sie verstehen sicher ...<br />

Absolut nicht, polterte Wilhelm <strong>von</strong> <strong>Bernsdorf</strong>, entschärft o<strong>de</strong>r nicht entschärft, Rebellion<br />

das, Aufruhr, Kruzitürken!<br />

Sie sehen Gespenster, sagte da Joachim, und <strong>de</strong>r alte Herr war sichtbar getroffen <strong>von</strong> <strong>de</strong>m<br />

unerwarteten Wi<strong>de</strong>rspruch seines Jüngsten, die Aufhebung <strong>de</strong>r Erbuntertänigkeit ist eine<br />

Notwendigkeit für Preußen und für ganz Deutschland. Sie wer<strong>de</strong>n sich damit abfin<strong>de</strong>n<br />

müssen, Papa, hat sich doch sogar Ihr Freund <strong>von</strong> <strong>de</strong>r Marwitz inzwischen damit abfin<strong>de</strong>n<br />

müssen.<br />

Aufhebung? fragte Michel Marten spöttisch, ich höre immer Aufhebung. Dabei wer<strong>de</strong>n sich<br />

doch die <strong>de</strong>utschen Krämerseelen nur zur Ablösung gegen Bezahlung aufraffen, nicht wahr?<br />

Und nun hier nicht einmal das? An all diese Privilegien aus <strong>de</strong>m Mittelalter wollt ihr euch also<br />

weiter klammern, an diese menschenunwürdigen Rechte ...<br />

Er schwieg plötzlich, und es war gut, dass <strong>de</strong>r Baron die Faust auf <strong>de</strong>n Tisch schlug und<br />

schrie: Jawohl, wollen wir, wer<strong>de</strong>n wir!<br />

Denn die an<strong>de</strong>ren blickten nun betreten vor sich hin, selbst Janke und Friedrich gestan<strong>de</strong>n<br />

sich ein, wen sie hier vor sich hatten, und die Formulierung „menschenunwürdige Rechte“<br />

ließ sie alle mit mehr o<strong>de</strong>r weniger starkem Bangen an die kommen<strong>de</strong>n Tage <strong>de</strong>nken. Und<br />

daneben an an<strong>de</strong>res, Zurückliegen<strong>de</strong>s.<br />

Dorothea verbarg ihr Erschrecken hinter einem hastigen Re<strong>de</strong>schwall, mit <strong>de</strong>m sie sich<br />

plötzlich in das Gespräch <strong>de</strong>r Männer einmischte. Einiges müsse schon geän<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n,<br />

alles sei nicht so ablehnungswürdig, was die Oktobergesetze gebracht hätten, <strong>de</strong>r<br />

Herrmann, wenn er nur erst da wäre, wer<strong>de</strong> das schon richtig erläutern, er sei doch<br />

bekannt, wenn nicht gar befreun<strong>de</strong>t mit <strong>de</strong>m Freiherrn vom Stein ...<br />

<strong>Das</strong> verwechseln Sie, Mama, warf Friedrich dazwischen, Herrmann arbeitet beim Oberst<br />

<strong>von</strong> Scharnhorst, in <strong>de</strong>r Militärreorganisationskommission, trotz<strong>de</strong>m - ja, es wäre gut, wenn<br />

er bald käme, er hat <strong>de</strong>n großen Überblick, dort ...<br />

Militär - re - wie bitte? fragte, ausnahmsweise höflich, <strong>de</strong>r Baron und blickte seine Söhne<br />

verdutzt an.<br />

Militärreorganisationskommission, wie<strong>de</strong>rholte an <strong>de</strong>ren Stelle Janke.<br />

Und was soll das Ding?<br />

Vielleicht soll sie feststellen, warum die preußischen Heere sich bei Jena und Auerstedt<br />

vergangenen Oktober so ruhmvoll geschlagen haben? fragte Michel Marten spöttisch.


Da erstarrten alle in Erwartung eines neuen Gewitterausbruchs. Doch <strong>de</strong>r blieb aus.<br />

Joachim allerdings, Joachim stand nun doch auf und verließ schweigend das Zimmer.<br />

Der Baron aber sank in sich zusammen bei <strong>de</strong>r Erwähnung <strong>de</strong>r Katastrophe Preußens, die<br />

die Katastrophe seines Lebens war, nach <strong>de</strong>r er <strong>de</strong>n Abschied aus <strong>de</strong>r preußischen Armee<br />

genommen hatte und seine Besitzungen unter die Söhne verteilt und die ihm<br />

unverständlicher erschien, als einem Analphabeten ein <strong>Buch</strong> sein konnte.<br />

Warten wir ab, sagte er schließlich, stand auf, unerwartet für alle, und been<strong>de</strong>te damit <strong>de</strong>n<br />

Abend.<br />

Dorothea rief geschäftig nach Halina, um die französischen Gäste unterzubringen, löschte<br />

die Kerzen, die nur noch glimmten, wartete, bis alle aus <strong>de</strong>m Zimmer waren, blieb allein<br />

zurück, ohne dass es jeman<strong>de</strong>m aufgefallen wäre.<br />

Sie setzte sich ans Fenster, dachte: Der Mond hängt dort, als hätte er sich in <strong>de</strong>n Ästen<br />

verfangen. Sie begriff sich selbst nicht ganz: Warum saß sie hier und ging nicht ins Bett zum<br />

alten Herrn?<br />

Da war ein Erschrecken gewesen, sie hatte jeman<strong>de</strong>n wie<strong>de</strong>rerkannt, und er steckte in<br />

französischer Uniform. <strong>Das</strong> letztere war unbe<strong>de</strong>utend; sie begriff gar nichts <strong>von</strong> Politik, und<br />

wenn sie wie heute Abend darüber re<strong>de</strong>te, so sprach sie nur nach, was sie <strong>von</strong> an<strong>de</strong>ren<br />

gehört hatte und was ihr gera<strong>de</strong> nötig schien zu sagen. Aber Michel Marten. Ziemlich spät,<br />

später als an<strong>de</strong>re, hatte sie ihn erkannt. Und so gewiss, wie Henriette heute Abend darüber<br />

nach<strong>de</strong>nken wird, wie Michel Marten aus diesem Hause gegangen ist, heimlich und für<br />

immer, so gewiss wird Dorothea nun daran <strong>de</strong>nken müssen, wie er gekommen ist - in<br />

dieses Haus, vor allem aber in diese Welt. Und <strong>de</strong>shalb wird sie - mehr als an ihn - an <strong>de</strong>n<br />

an<strong>de</strong>ren Marten <strong>de</strong>nken, <strong>de</strong>m er so gar nicht ähnelt, an Heinrich Marten, <strong>de</strong>n „Zigeuner-<br />

Marten“.<br />

Still für sich nennt sie ihn manchmal ihren „Sün<strong>de</strong>nfall“. Aus Rache tat ich’s, <strong>de</strong>nkt sie dann.<br />

Und bezweifelt es sofort: Wirklich? Nein, nein, nichts und nieman<strong>de</strong>n hab ich so geliebt wie<br />

ihn.<br />

Aus Liebe also. Aber das wur<strong>de</strong> ihr erst viel später bewusst. Als es lange zu spät war. Für<br />

alles zu spät. Als sie schon durch sieben Höllen <strong>de</strong>r Verzweiflung geirrt war und einen<br />

Ausweg nur gefun<strong>de</strong>n hatte, in<strong>de</strong>m sie sich selbst angeklagt und <strong>de</strong>r tiefsten Sün<strong>de</strong><br />

bezichtigt und in <strong>de</strong>mütiger Reue zu einem Gott geflüchtet hatte, <strong>de</strong>n sie sich als gütig und<br />

allverzeihend dachte. Und nach<strong>de</strong>m sie glaubte, er habe ihr verziehen, da führte sie das<br />

Werk <strong>de</strong>r Selbstzerstörung zu En<strong>de</strong>, da nahm sie an, er habe ihr die Strafe auferlegt, ihrem<br />

herrischen, ungeliebten Mann eine gefügige, liebevolle Gattin zu sein. Da unterwarf sie sich<br />

<strong>de</strong>r Strafe, sie wollte es so, sie beugte sich ihr nicht <strong>de</strong>mütig, son<strong>de</strong>rn mit Wollust, sie<br />

ver<strong>de</strong>ckte so die grenzenlose Leere in ihrem Innern, sie strich das Wort „ich“ aus ihren<br />

Gedanken, sie kannte nur noch das „Dein Wille geschehe“. Und als dann einer kam, <strong>de</strong>r ihr<br />

sagte, sie sei ein Sprachrohr Gottes, da glaubte sie ihm nur zu gern, da war sie wie Wachs<br />

in <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n dieses Emanuel Kienast ... Aber die Reue war da versiegt; während sie<br />

gefügig geschehen ließ, was mit ihr geschah, wusste sie: Was Gewicht gehabt hatte in<br />

ihrem Leben, das war dieser eine Moment <strong>de</strong>r Auflehnung. <strong>Das</strong> war dieser Heinrich Marten,


<strong>de</strong>n sie jetzt, reuelos, ein wenig triumphierend sogar, ihren „Sün<strong>de</strong>nfall“ nennt.<br />

Sie hatte sich viele Jahre um Vergessen bemüht und war nun ungeübt im Erinnern. So<br />

tauchten die Bil<strong>de</strong>r mosaikartig aus ihrem zugeschütteten Innern auf, unscharf manchmal,<br />

wur<strong>de</strong>n rasch wie<strong>de</strong>r zurückgeholt, eingeschlossen.


7<br />

Ein kühler, früher Morgen. Herbst? O<strong>de</strong>r Frühjahr?<br />

Neuer Kantor ist heute im Schulhaus eingezogen, sagte <strong>de</strong>r Baron. Hat einen erwachsenen<br />

Sohn, Stu<strong>de</strong>nt in Leipzig, gera<strong>de</strong> Semesterferien, hab ihn herbestellt, wir brauchen einen<br />

Hauslehrer, <strong>de</strong>r alles unterrichten kann, auch Klavier und Französisch. Geld sparen.<br />

Baron Wilhelm <strong>von</strong> <strong>Bernsdorf</strong>, Mitte dreißig, blond und helläugig, große Nase, schlank und<br />

hochgewachsen, Offizier im Generalquartiermeisterstab Friedrichs II., muss seine junge<br />

Frau sehr oft alleine lassen, <strong>de</strong>nn sein Leben ist die Armee, ob Krieg, ob Frie<strong>de</strong>n. Ist er<br />

aber anwesend auf Schloss <strong>Bernsdorf</strong>, regelt er - voller Energie und ohne Wi<strong>de</strong>rspruch zu<br />

dul<strong>de</strong>n - alle Angelegenheiten <strong>de</strong>s Gutes, <strong>de</strong>s Schlosses, <strong>de</strong>r übrigen Besitzungen. Er ist<br />

immer glücklich, wenn er befehlen darf o<strong>de</strong>r Befehle <strong>von</strong> Vorgesetzten auszuführen hat. Und<br />

da es in seinem Leben nur diese bei<strong>de</strong>n Möglichkeiten gibt, fühlt er sich ständig glücklich,<br />

eins mit sich und <strong>de</strong>r Welt. Diese Welt aber - heil und rund und unvergleichlich schön - ist<br />

ihm gleichbe<strong>de</strong>utend mit <strong>de</strong>m Königreich Preußen; die Sonne, die in ihr leuchtet, heißt<br />

Friedrich II. <strong>von</strong> Hohenzollern, und einer ihrer unersetzbaren Planeten heißt Wilhelm <strong>von</strong><br />

<strong>Bernsdorf</strong>.<br />

Aber will er <strong>de</strong>nn Hauslehrer sein, fragt Dorothea, wenn er doch Stu<strong>de</strong>nt in Leipzig ist?<br />

Blödsinn, will, knurrt <strong>de</strong>r Baron. Es genügt doch, wenn ich es will. Friedrich ist jetzt drei<br />

Jahre und muss einen Hauslehrer haben. Und nicht mehr lange, noch drei Jahre, dann ist<br />

Herrmann auch so weit.<br />

Wie auf Stichwort macht sich Herrmann, <strong>de</strong>r Säugling, durch Geschrei bemerkbar.<br />

Dorothea geht zu ihm, lässt ihn sich <strong>von</strong> Sophie Schulz, Kin<strong>de</strong>rmädchen, Pfarrerstochter, in<br />

<strong>de</strong>n Arm legen. Sie vergisst das Gespräch über seinem Anblick, streichelt ihm die schon gut<br />

erkennbare <strong>Bernsdorf</strong>nase.<br />

Am gleichen Tag - o<strong>de</strong>r am folgen<strong>de</strong>n? - stellt sich <strong>de</strong>r Kantorsohn vor.<br />

Wie kommt es, dass dieser Leipziger Jurastu<strong>de</strong>nt so schnell bereit ist, Hauslehrer zu<br />

wer<strong>de</strong>n? Waren es die Bitten seines Vaters, <strong>de</strong>s Jakob Marten, <strong>de</strong>r sich mit seinem Patron<br />

nicht überwerfen wollte? O<strong>de</strong>r die Erinnerung an <strong>de</strong>n schmalen Geldbeutel in Leipzig und<br />

<strong>de</strong>n Bru<strong>de</strong>r Hunger, <strong>de</strong>n treuesten aller Freun<strong>de</strong>? Vielleicht auch bei<strong>de</strong>s, und dazu die<br />

dunklen Augen <strong>de</strong>r Sophie Schulz, die ihm die Tür öffnet.<br />

Der Baron mustert <strong>de</strong>n Sohn seines Kantors <strong>von</strong> Kopf bis Fuß. Fragt dann: Er sieht an<strong>de</strong>rs<br />

aus als sein Vater. Mutter wohl Zigeunerin? Dorothea erschrickt vor <strong>de</strong>m maßlosen Stolz,<br />

<strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>n schwarzen Augen <strong>de</strong>s Achtzehnjährigen bricht. Heinrich Marten sagt leise, ganz<br />

<strong>de</strong>utlich aber: Sie war es nicht, gnädiger Herr Baron, aber wenn sie es gewesen wäre,<br />

wür<strong>de</strong> ich mich <strong>de</strong>ssen nicht schämen. Papperlapapp, sagt <strong>de</strong>r Baron.<br />

Dann die Einweisung. Der Baron liest sie <strong>von</strong> einem Blatt Papier ab, das er wer weiß woher<br />

hat, er liest steif und stockend.<br />

Die stolzen Einwürfe <strong>de</strong>s zukünftigen Informators sind programmwidrig.<br />

Baron: Die Kin<strong>de</strong>r sind <strong>von</strong> <strong>de</strong>m Erzieher stets reinlich anzuziehen, sauber zu waschen und


so weiter.<br />

Heinrich Marten: Ich wer<strong>de</strong> ihnen die Reinlichkeit anerziehen, wer<strong>de</strong> mich aber nicht mit<br />

Aufgaben <strong>de</strong>r Hausgehilfen befassen.<br />

Baron: Der Hauslehrer darf dreimal wöchentlich mit seinen Zöglingen spazieren gehen.<br />

Heinrich: <strong>Das</strong> wird öfter o<strong>de</strong>r weniger oft geschehen, je nach Zeit und Umstän<strong>de</strong>n.<br />

Baron: Während <strong>de</strong>s Spazierengehens wird sich <strong>de</strong>r Informator mit seinen Zöglingen über<br />

nützliche Dinge unterhalten.<br />

Heinrich: Wenn die Umstän<strong>de</strong> es gestatten, wird das selbstverständlich sein.<br />

Baron: Bei Tisch wird <strong>de</strong>r Hauslehrer das Fleisch tranchieren.<br />

Heinrich: Damit wer<strong>de</strong> ich mich nicht befassen.<br />

So ungefähr, es wer<strong>de</strong>n noch ein paar Vorschriften mehr gewesen sein. Und also auch ein<br />

paar Entgegnungen mehr.<br />

Aber: Was war fürs erste mit diesen Zöglingen anzufangen, mit einem vierjährigen und<br />

einem einjährigen Kind? Ergo: Ist es <strong>de</strong>m Heinrich Marten, <strong>de</strong>m Zigeuner-Marten, <strong>de</strong>nn<br />

schlecht ergangen auf Schloss <strong>Bernsdorf</strong>? Hatte er nicht Zeit im Überfluss für seine Bücher<br />

und seine Schreibereien? Sophie Schulz, auch sie achtzehnjährig, hatte sich häufiger mit<br />

<strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rn zu befassen als er. Und es konnte nicht ausbleiben, dass sie auch bei<strong>de</strong><br />

gemeinsam mit ihnen spazieren gingen. Und miteinan<strong>de</strong>r, ohne Kin<strong>de</strong>r. Natürlich<br />

miteinan<strong>de</strong>r, Dorothea, und warum fiel dir das sofort auf? Und störte dich, sofort? Sechs<br />

Jahre warst du älter als sie. Was faszinierte dich an diesem Jungen? <strong>Das</strong> Zigeunerhafte<br />

doch wohl nicht. Sein Wissen? Sein Stolz? Seine Empfindsamkeit? Du hättest ihn nie mit<br />

<strong>de</strong>m Baron vergleichen dürfen ..., da fing es an, als du zu vergleichen begannst. All das,<br />

was du an diesem um zehn Jahre älteren Mann bisher <strong>de</strong>mütig hingenommen hattest,<br />

dankbar sogar, all das störte dich nun an ihm. Wur<strong>de</strong> dir unerträglich. Wo war er überhaupt<br />

in diesem einen Jahr? War er nicht zum Oberst avanciert, hatte ein Regiment übernommen,<br />

stand dieses Regiment nicht im polnischen Teil Preußens? O<strong>de</strong>r im preußischen Teil<br />

Polens, das blieb sich gleich. In diesem unaussprechbaren Nest, aus <strong>de</strong>m er <strong>de</strong>n<br />

Leibburschen Ta<strong>de</strong>usz Piotrowski mitgebracht hatte und seine Frau, die Halina ...<br />

Nun dieser Tag im Frühjahr, an <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Baron, für kurze Zeit zu Hause, <strong>de</strong>n ganzen<br />

Vormittag über im Jagdzimmer sitzt, im Kellergeschoss, stun<strong>de</strong>nlang hockt er dort mit<br />

Inspektor Neumann zusammen über <strong>de</strong>n Büchern - Ausgaben, Einnahmen, Schul<strong>de</strong>n -, und<br />

in <strong>de</strong>r Diele warten die bei<strong>de</strong>n alten Herren: <strong>de</strong>r Pfarrer Schulz und <strong>de</strong>r Küster Marten.<br />

Warten stun<strong>de</strong>nlang, um beim Baron vorgelassen zu wer<strong>de</strong>n. Mehrmals hat sie ihnen<br />

gesagt: Kommt lieber morgen. Nein, heute. Es ist wichtig.<br />

Sie sitzen nebeneinan<strong>de</strong>r, Hän<strong>de</strong> im Schoß - <strong>de</strong>r dürre, bleiche Schulz, <strong>de</strong>r kleine, zierliche<br />

Marten, schweigend; ab und zu sehen sie sich an, Marten lächelt, froh und ängstlich<br />

zugleich, Schulz erwi<strong>de</strong>rt das Lächeln nicht, blickt ernst und finster, als ahne er kommen<strong>de</strong>s<br />

Unheil. (Sind sie eigentlich schon sehr alt? Doch wohl nicht. Kaum über fünfzig. Aber schon<br />

damals sahen sie nicht viel an<strong>de</strong>rs aus als zehn Jahre später: alt.)


Schließlich ist <strong>de</strong>r Inspektor gegangen.<br />

Sie erheben sich und steigen die Treppe hinunter. Der Baron empfängt nur im Keller, im<br />

Jagdzimmer, inmitten seiner Trophäen, flankiert <strong>von</strong> <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n englischen Settern.<br />

Dorothea macht sich in <strong>de</strong>r Diele zu schaffen, lauscht hinunter. Was wollen die bei<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r<br />

Pfarrer und <strong>de</strong>r Küster?<br />

Stun<strong>de</strong>n später, längst sind Schulz und Marten gegangen, reitet <strong>de</strong>r Baron zur Jagd. Allein.<br />

Dorothea schickt nach Ta<strong>de</strong>usz Piotrowski, trägt ihm Nebensächliches auf, fragt, wie <strong>von</strong><br />

ungefähr: Du warst doch im Keller, Ta<strong>de</strong>usz?<br />

Ja, gnä’ Frau.<br />

Was wollten die bei<strong>de</strong>n Alten vom Baron?<br />

Ich nicht lauschen, gnä’ Frau.<br />

Weiß ich doch, Ta<strong>de</strong>usz. Nun?<br />

Und als er immer noch misstrauisch schweigt, sucht sie nach ein paar Groschen, die<br />

besiegen ihn.<br />

Wollten bitten Hochzeit machen, gnä’ Frau.<br />

Ja, das hat sie befürchtet. Es erübrigt sich zu fragen, wer da mit wem Hochzeit machen<br />

will.<br />

Und, und, Ta<strong>de</strong>usz? Sie hat Mühe, ihre Erregung nicht zu zeigen.<br />

Hat Baron gesagt ja, gnä' Frau, wenn junge Leute bleiben auf Schloss Informator und<br />

Kin<strong>de</strong>rfrau und wohnen in Zimmer in Gesin<strong>de</strong>haus. Wollten bei<strong>de</strong> Alte, dass sie sollten<br />

wohnen in Pfarrhaus o<strong>de</strong>r Schule, hat Baron gesagt nein, gnä’ Frau. Soll Hochzeit sein zu<br />

Johannis, gnä’ Frau.<br />

Ja, Ta<strong>de</strong>usz, ja. Ist gut, du kannst gehen.<br />

<strong>Das</strong> kann er doch nicht machen, <strong>de</strong>nkt Dorothea.<br />

Und warum nicht? Warum sollte er nicht können? Weil we<strong>de</strong>r Schulz noch Marten ihm<br />

erbuntertan sind, darum sollte er nicht können? Ach, er wird, Dorothea, und niemand wird<br />

ihn hin<strong>de</strong>rn. Auch wenn dies sogenannte Recht auf die erste Nacht mit einer Neuvermählten<br />

hier wohl gar nicht zutrifft, dieses zweifelhafte Recht, das <strong>von</strong> <strong>de</strong>n Tagelöhnern, Mäg<strong>de</strong>n<br />

und Knechten so <strong>de</strong>mütig hingenommen wird, auf das <strong>de</strong>r Baron noch nie verzichtet hat,<br />

auch nicht nach <strong>de</strong>r Heirat mit Dorothea <strong>von</strong> Bülow. Weiß er, wie sehr er sie damit stets<br />

kränkt? Aber wie sollte er das wissen - es war doch sein Recht, seit Menschenge<strong>de</strong>nken,<br />

wie ihm schien. Wie könnte er auf <strong>de</strong>n Gedanken kommen, alle diese jungen Frauen damit<br />

tödlich zu <strong>de</strong>mütigen? Und ihre Ehemänner. Und seine Frau. Die Erstgeborenen vieler<br />

Tagelöhner tragen nun seine Nase durch die Welt, die unverkennbare <strong>Bernsdorf</strong>nase. Auch<br />

dieser Gedanke ist ihm noch nie gekommen: <strong>Das</strong>s hier seine Kin<strong>de</strong>r umherlaufen. Und hier<br />

müsste man ihm wohl ausnahmsweise recht geben: Seine Kin<strong>de</strong>r sind das nicht.<br />

Johannistag. Sommeranfang. Warum gera<strong>de</strong> Johannistag, Dorothea? <strong>Das</strong> konntest du nicht


wissen, du warst eine Frau. Und <strong>de</strong>r Bund <strong>de</strong>r Freimaurer, obwohl er laut freimaurerischem<br />

Gesetzbuch „Alte Pflichten“, erschienen 1723, arbeitet „an <strong>de</strong>r Errichtung <strong>de</strong>s auf Weisheit,<br />

Stärke und Schönheit gegrün<strong>de</strong>ten Tempels <strong>de</strong>r allgemeinen Menschenliebe“, ist ein Bund<br />

<strong>von</strong> Männern. Obwohl? Nein - weil. Denn: „Männer machen die Geschichte, und<br />

Freimaurerei ist Männerarbeit.“ Fürwahr. Ihr Schutzpatron heißt Johannes, <strong>de</strong>r biblische<br />

Johannes, <strong>de</strong>r ihnen gilt als „die Verkörperung <strong>von</strong> freudigem Gehorsam, strenger<br />

Wahrhaftigkeit, mannhaften Mutes, <strong>de</strong>mütiger Beschei<strong>de</strong>nheit, religiöser Hingabe“. Darum<br />

beginnt mit seinem Geburtstag das Freimaurerjahr. Und wenn nun zwei aufrichtige<br />

Freimaurer und Freun<strong>de</strong> ihren insgeheim lange gehegten, niemals ausgesprochenen<br />

Wunsch in Erfüllung gehen sehen: sich über ihre Kin<strong>de</strong>r noch enger zu verbin<strong>de</strong>n als vorher -<br />

wann sonst, wenn nicht am Johannistag, wer<strong>de</strong>n sie die Hochzeit feiern wollen? Mit Rosen,<br />

versteht sich, mit vielen Rosen, die zum Johannisfest gehören, die ihnen Symbol sind für<br />

Schönheit, Jugend, Freu<strong>de</strong> und Verschwiegenheit. Erwähnten wir schon, dass auch <strong>de</strong>r<br />

Baron zu diesem Bund gehört? Doch, auch er. (Und warum nicht - sogar sein König nennt<br />

sich Freimaurer.) Jedoch - es wäre Wilhelm <strong>von</strong> <strong>Bernsdorf</strong> äußerst unangenehm gewesen,<br />

hätten sein Pastor und sein Küster ihn mit <strong>de</strong>m gewissen Hän<strong>de</strong>druck begrüßt, an <strong>de</strong>m sich<br />

die Maurer erkennen. Und sie taten das auch nie. Nur einmal, am Abend dieses<br />

Johannistages, versuchte einer <strong>von</strong> ihnen, <strong>de</strong>n Baron an gewisse Gemeinsamkeiten,<br />

Brü<strong>de</strong>rlichkeiten, Verpflichtungen zu erinnern.<br />

Der Geist <strong>de</strong>r wahren, reinen Menschenliebe, gnädiger Herr Baron, sagte da Mathias<br />

Schulz, ist Richtschnur für alles freimaurerische Tun. Maurer streben nach <strong>de</strong>r<br />

harmonischen Bildung <strong>de</strong>s einzelnen und nach harmonischer Gestaltung <strong>de</strong>r Gesellschaft,<br />

durch Erziehung, durch gemeinsames Tun, durch unser Vorbild. Gnädiger Herr Baron, ich<br />

flehe Euch an, wie vereinbaren sich damit diese Privilegien? Mit welchem Recht vergeht Ihr<br />

Euch gegen die Menschenwür<strong>de</strong>? Be<strong>de</strong>nkt doch, was Ihr tun wollt, gnädiger Herr Baron!<br />

So re<strong>de</strong>te Mathias Schulz, und ihm war heiß dabei, nicht nur vor Erregung, nicht nur aus<br />

Angst um seine Tochter. Ihm war durchaus bewusst, dass er zum ersten Mal gegen das<br />

Recht <strong>de</strong>s Barons auf die erste Nacht auftrat, dass er es möglicherweise auch jetzt noch<br />

nicht täte, ginge es nicht um Sophie Schulz und Heinrich Marten. Und die Scham darüber<br />

setzte ihm zu und ließ ihn Worte fin<strong>de</strong>n, zu <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r Mut allein nicht ausgereicht hätte.<br />

Sein Freund Jakob Marten, bleich und angstvoll neben ihm stehend, war trotz<strong>de</strong>m<br />

unzufrie<strong>de</strong>n mit ihm. Er hätte - und das versuchte er sofort, als Schulz erschöpft verstummte<br />

-, er hätte das Problem lieber juristisch behan<strong>de</strong>lt und nicht moralisch: We<strong>de</strong>r Pfarrer noch<br />

Küster sind erbuntertan. We<strong>de</strong>r Hauslehrer noch Kin<strong>de</strong>rmädchen - freiwillig <strong>von</strong> Pfarrer und<br />

Küster <strong>de</strong>m Baron in Dienst gegeben, min<strong>de</strong>rjährig bei<strong>de</strong> - gehören zum Gesin<strong>de</strong>. Ergo:<br />

<strong>Das</strong> Recht <strong>de</strong>r ersten Nacht trifft hier nicht zu. Kannst du dich <strong>de</strong>nn nicht bezähmen, Freund<br />

Schulz, dachte Marten, musst du nun unbedingt, was du all die Jahre nicht tatest, <strong>de</strong>m<br />

Baron dies Recht ganz und gar absprechen? Womit du ihn nur um so hartnäckiger machen<br />

wirst ...<br />

<strong>Das</strong> alles weiß Dorothea nicht so genau. <strong>Das</strong> wissen überhaupt nur die Toten - Mathias<br />

Schulz, Jakob Marten, Sophie Marten. Und Heinrich Marten - aber wo ist <strong>de</strong>r?


Der Baron? Ja gewiss, <strong>de</strong>r. Aber was weiß <strong>de</strong>r schon.<br />

Dorothea <strong>de</strong>nkt an <strong>de</strong>n Abend dieses Johannistages, und sie <strong>de</strong>nkt nicht gern an ihn.<br />

Er bestand auf seinem „Recht“. Nahm es wahr, mit allen Zeremonien, wie üblich: <strong>Das</strong><br />

Hochzeitsgeschenk, <strong>von</strong> ihm persönlich überreicht - Wäsche und Geschirr. <strong>Das</strong> Aben<strong>de</strong>ssen<br />

im Schulhaus. Er nimmt das beklemmen<strong>de</strong> Schweigen <strong>de</strong>r Hochzeitsgesellschaft nicht zur<br />

Kenntnis, macht <strong>de</strong>rbe Witze, über die kaum gelacht wird, Bier wird getrunken, mehr als<br />

nötig, mehr als gut, <strong>de</strong>r erste Tanz: Baron und Braut, <strong>de</strong>r letzte Tanz: Baron und Braut,<br />

dann führt er die Braut in die neue Wohnung, in die Kammer im Gesin<strong>de</strong>haus also, sein<br />

Knotenstock bleibt vor <strong>de</strong>r Tür stehen: Besetztzeichen.<br />

All das ist bekannt - <strong>de</strong>m Dorf. Nicht <strong>de</strong>m Heinrich Marten.<br />

Und es ist üblich - normal also. Nicht für Heinrich Marten.<br />

Aber was tun, Heinrich Marten? Mit <strong>de</strong>m Knotenstock, <strong>de</strong>m stehen gebliebenen, gegen die<br />

verschlossene Tür schlagen? An <strong>de</strong>r Klinke rütteln? Mit <strong>de</strong>m Kopf gegen die Tür fallen,<br />

wie<strong>de</strong>r und wie<strong>de</strong>r? Gewiss, das alles kann man tun, das tut er, doch was än<strong>de</strong>rt das?<br />

Du kannst nicht mit <strong>de</strong>m Kopf durch die Wand, Heinrich. So <strong>de</strong>r alte Jakob Marten, <strong>de</strong>r ihm<br />

nachgegangen ist. Von Schulz weit und breit nichts zu sehen.<br />

Was ist mit Freiheit <strong>de</strong>r Persönlichkeit, mit Menschenrecht und Menschenwür<strong>de</strong>, Vater?<br />

Seid ihr alle Lügner, ihr Maurer?<br />

Die Tür bleibt verschlossen, Stun<strong>de</strong> um Stun<strong>de</strong>.<br />

Sie wird bis morgen früh verschlossen sein, Heinrich.<br />

Er sieht auf - Dorothea re<strong>de</strong>t zu ihm. Jakob Marten ist gegangen, hat sich auf die Suche<br />

nach Freund Schulz gemacht, <strong>von</strong> Unruhe und Ahnungen getrieben. (Fand ihn am See,<br />

verzweifelt ins Wasser starrend, brachte ihn nach Hause.)<br />

Heinrich sieht die Herrin an, die Frau dieses Barons. Er will sie hassen, wie er ihn hasst.<br />

Aber er fin<strong>de</strong>t in ihren Augen <strong>de</strong>n eigenen Jammer, seine eigene Demütigung, mehr noch:<br />

nicht Mitleid - dann hätte er sie vielleicht hassen können -, son<strong>de</strong>rn Liebe. Er will kalt<br />

bleiben, aber er kann sich nicht selbst belügen, das konnte er noch nie. Und er gesteht sich<br />

ein, dass ihr Blick ihn anrührt, empfin<strong>de</strong>t Mitleid mit ihr und sogar Zärtlichkeit. So lässt er<br />

sich wegführen <strong>von</strong> dieser Tür, ohne zu begreifen, wohin sie ihn bringt. Erst in ihrem<br />

Schlafzimmer kommt er zu sich. Entsetzt sieht er sich um, will fortlaufen, sie hält ihn zurück.<br />

Warum rächst du dich jetzt nicht an ihm, Heinrich Marten, sagt sie leise, bittend sogar. Sie<br />

erschrickt vor seinem Gesicht, er sieht sie wild und voll Verachtung an, aber er bleibt.<br />

Er weiß, ein paar Stun<strong>de</strong>n später, nicht recht, ob es Befriedigung über die gelungene Rache<br />

o<strong>de</strong>r Scham über sich selbst ist, das ihn durch <strong>de</strong>n Park treibt, wegauf, wegab, zum See<br />

hinunter, zum Schloss zurück, immerfort im Kreis. Plötzlich bleibt er stehen. Ein Satz ist ihm<br />

gelungen, endlich, <strong>de</strong>r Satz, mit <strong>de</strong>m er die Zeitschrift einleiten will, die er - alter Traum -<br />

irgendwann herausgeben wird. Am nächsten Tag, bevor er <strong>Bernsdorf</strong> für immer verlässt,<br />

sagt er ihn Dorothea: „Die Privilegien, welcher Art sie auch immer sein mögen und wer sie<br />

sich auch immer anmaßt - sie sind es, die <strong>de</strong>n Menschen zum Tier herabwürdigen, und


zwar sowohl <strong>de</strong>n Privilegierten als auch <strong>de</strong>n dadurch Benachteiligten.“<br />

Dorothea erinnert sich zu ihrer eigenen Verwun<strong>de</strong>rung dieses Satzes ganz genau, hat sogar<br />

<strong>de</strong>n Klang <strong>de</strong>r Stimme im Ohr. Und sie erinnert sich auch, dass sie sagte: Man kann aber<br />

nicht dagegen an, Heinrich Marten. Du wirst zugrun<strong>de</strong> gehen bei <strong>de</strong>inen Höhenflügen. Da<br />

sah er sie lange nach<strong>de</strong>nklich an, sagte: Und wennschon. Denken Sie <strong>de</strong>nn, Dorothea,<br />

Ikarus wäre nicht geflogen, wenn man ihm gesagt hätte, er müsse abstürzen? Er wäre<br />

trotz<strong>de</strong>m geflogen. Weil er es musste.<br />

Sie hatte danach nie wie<strong>de</strong>r <strong>von</strong> Heinrich Marten gehört.<br />

Auch Sophie Marten blieb nicht im Schloss, ging ins Pfarrhaus zu ihrem Vater. Sie starb im<br />

März, ein paar Stun<strong>de</strong>n nach <strong>de</strong>r Geburt Michel Martens. Dorothea sah dieses Kind zum<br />

ersten Mal an einem Weihnachtsabend, es sang da „<strong>Das</strong> Röslein, das ich meine ...“ Auch<br />

sie hatte im März einen Jungen zur Welt gebracht, ein dunkelhaariges, dunkeläugiges Kind,<br />

ihren Joachim.<br />

Schlägt <strong>de</strong>n Bülows nach, hatte <strong>de</strong>r Baron missbilligend gesagt, hat meine Nase nicht.<br />

Sie verbarg ihr Lächeln, in<strong>de</strong>m sie sich über das Kind beugte und es küsste.<br />

Plötzlich raffte sie sich auf, Dorothea <strong>von</strong> <strong>Bernsdorf</strong>, die alte Baronin, wandte sich ab vom<br />

Fenster, <strong>von</strong> <strong>de</strong>m run<strong>de</strong>n Mond, <strong>de</strong>r noch immer in <strong>de</strong>n Zweigen <strong>de</strong>s uralten, großen<br />

Baumes gefangen hing. Langsam und sehr mü<strong>de</strong> ging sie zur Terrassentür, öffnete sie, trat<br />

hinaus.<br />

Es war frostklar und kalt. Und ganz still. Totenstill, dachte sie.<br />

Die Stimme eines Betrunkenen zerschlug die Stille. Er sang. Aber das ist kein Betrunkener,<br />

dachte Dorothea, das ist <strong>de</strong>r Toten-Heinrich, dieser arme Irre ... Was singt er eigentlich?<br />

„Allons, enfants <strong>de</strong> la patrie ...' Er singt tatsächlich die Marseillaise ...<br />

Sie ging zurück, zog die Tür hinter sich zu. Sie fror sehr.


2. Kapitel<br />

1<br />

Mit hängen<strong>de</strong>n Schultern, <strong>de</strong>n linken Fuß nachschleppend, bewegte er sich auf die Kirche<br />

zu, und er brauchte für <strong>de</strong>n kurzen Weg vom Pfarrhaus zur Kirchhofsmauer - vom<br />

Pfer<strong>de</strong>stall <strong>de</strong>s Pfarrhauses besser, <strong>de</strong>nn das war seine Bleibe - eine halbe Ewigkeit.<br />

Was er vor sich hin pfiff, war schon wie<strong>de</strong>r die Marseillaise, <strong>de</strong>r Refrain nun aber, und<br />

immerfort die gleichen vier Takte; sie kamen mit <strong>de</strong>r Monotonie eines Uhrwerkes aus<br />

seinem gespitzten Mund und gefroren an <strong>de</strong>r kalten Luft zu weißem Dampf, <strong>de</strong>r sich fast<br />

sofort in Nichts auflöste.<br />

Beim Anblick <strong>de</strong>s Glockenstrangs im Vorraum <strong>de</strong>r kleinen Kirche brach er sein Pfeifen ab,<br />

mitten im Takt, auf <strong>de</strong>m höchsten Ton. Blö<strong>de</strong> lächelnd sah er auf <strong>de</strong>n Strick, <strong>de</strong>r ganz leicht<br />

hin und her schwankte; mit <strong>de</strong>m kleinen Finger seiner verstümmelten linken Hand tippte er<br />

ihn an, verfolgte stärker lächelnd seine zunehmen<strong>de</strong>n Bewegungen; und plötzlich verzerrte<br />

sich sein Gesicht - ein verstümmeltes Gesicht, fehlen<strong>de</strong>s linkes Ohr, leere Augenhöhle auf<br />

<strong>de</strong>r linken Seite, breite Narbe schräg über <strong>de</strong>r linken Gesichtshälfte, die rechte Seite<br />

unversehrt, ein schwarzes Auge, das jetzt böse leuchtete, in die Stirn und bis auf die<br />

Schulter fallen<strong>de</strong>s graues Haar, langer, grauer Vollbart, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Mund fast unsichtbar<br />

machte. Im gleichen Augenblick, in <strong>de</strong>m das irre, gutmütige Lächeln in ein böses Grinsen<br />

übergegangen war, hatte sich <strong>de</strong>r gebeugte, greisenhafte Körper gestrafft; die Arme<br />

hochreißend, sprang <strong>de</strong>r Mann <strong>de</strong>n Glockenstrang an, hängte sich an ihn mit <strong>de</strong>r gesun<strong>de</strong>n<br />

rechten und <strong>de</strong>r verstümmelten linken Hand, zog das rechte Bein an, spreizte das linke,<br />

lahmen<strong>de</strong> vom Körper ab, hing nun sekun<strong>de</strong>nlang in <strong>de</strong>r Luft, und nur <strong>de</strong>r nicht vorhan<strong>de</strong>ne<br />

Buckel unterschied ihn <strong>von</strong> Quasimodo, <strong>de</strong>m Glöckner <strong>von</strong> Notre-Dame. Und die Kirche<br />

selbstre<strong>de</strong>nd, diese kleine märkische Dorfkirche - Feldsteine unten und Backsteine oben,<br />

niedriger Turm mit Satteldach, kleine, bleigefasste Fenster -, sie erinnerte in nichts an<br />

Notre-Dame. Auch <strong>de</strong>r Glockenton nicht, <strong>de</strong>r nun hörbar wur<strong>de</strong>, dieser scheppern<strong>de</strong>, dünne<br />

Ton, <strong>de</strong>n man schon kennt. Den kleinen Kirchenvorraum füllte er jedoch aus, hier dröhnte er<br />

gewichtig, <strong>de</strong>r erste schon, mehr noch <strong>de</strong>r folgen<strong>de</strong> und <strong>de</strong>r dritte; immer schneller<br />

hintereinan<strong>de</strong>r schlugen sie an, während <strong>de</strong>r Toten-Heinrich sich am Strang hochzog und<br />

wie<strong>de</strong>r fallen ließ, nur mit <strong>de</strong>m gesun<strong>de</strong>n rechten Fuß <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n berührend, hochzog, fallen<br />

ließ, hochzog, fallen ließ, verbissen, wütend, rasend.<br />

An ihm vorbei mussten sie nun, die ins Kirchenschiff wollten: Bauern, Tagelöhner, Büdner,<br />

Mäg<strong>de</strong>, Knechte. Sie sahen ihn nicht an, machten sogar einen <strong>de</strong>utlichen Bogen um <strong>de</strong>n<br />

Wüten<strong>de</strong>n, nur die Kin<strong>de</strong>r warfen ihm einen neugierigen, scheuen Blick zu, ihm, <strong>de</strong>n sie zu<br />

je<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Tageszeit ungescheut und furchtlos verspotteten. Der Verrückte. Der Idiot,<br />

<strong>de</strong>r Toten-Heinrich. Der ihnen <strong>de</strong>n Glöckner und Totengräber und Harlekin machte und <strong>de</strong>m<br />

Pfarrer Kienast <strong>de</strong>n Pfer<strong>de</strong>knecht und das Experimentierobjekt, wo<strong>von</strong> noch zu re<strong>de</strong>n sein<br />

wird. Und <strong>de</strong>r für sie alle Gegenstand <strong>von</strong> Spott und Neugier<strong>de</strong> war durch seine I<strong>de</strong>e, diese<br />

total verrückte I<strong>de</strong>e, eine Flugmaschine zu bauen. Wer <strong>von</strong> ihnen hatte noch nicht <strong>de</strong>s<br />

Nachts voll Furcht und Spannung am Fenster <strong>de</strong>r Totenkapelle gehangen und gebannt auf<br />

diesen Menschen gestarrt, <strong>de</strong>r dort neben seiner Laterne kauerte und an <strong>de</strong>m seltsamen


Gestell baute, mit <strong>de</strong>m er angeblich fliegen wollte wie die Vögel in <strong>de</strong>r Luft? Denn das war<br />

<strong>de</strong>r Inhalt seiner seltenen Re<strong>de</strong>n, darüber sprach er mit ihnen - wenn er überhaupt sprach.<br />

Und er re<strong>de</strong>te da<strong>von</strong> so wie sie, richtig und ruhig und vernünftig, dass sie an seine<br />

Verrücktheit nur durch diese ganz und gar verrückte I<strong>de</strong>e erinnert wur<strong>de</strong>n.<br />

Die aus <strong>de</strong>m Schloss, Bewohner wie Besucher, mussten nicht an ihm vorbei. Eingang für<br />

Herrschaften: diesen Vorzug hatte auch eine Dorfkirche. Er führte ins Seitenschiff, <strong>von</strong> dort<br />

stieg man eine schmale Treppe hoch in <strong>de</strong>n einzigen Chor. Holzgestühl auch hier; aber<br />

Halina und Tochter Maria schleppten Kissen und Decken für Dorothea und <strong>de</strong>n Baron, auch<br />

Henriette wur<strong>de</strong> bedacht.<br />

Es bedarf einer Erklärung, wie dies Läuten zum Verstummen gebracht wer<strong>de</strong>n kann, das<br />

nicht an<strong>de</strong>rs als wild o<strong>de</strong>r wütend zu nennen ist, auch wenn es <strong>de</strong>n Frühgottesdienst <strong>de</strong>s<br />

ersten Weihnachtstages einleitet. Denn keine Vernunft wird ihm Einhalt gebieten können.<br />

Wohl aber <strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r sich nun nähert: Aus <strong>de</strong>r Tür <strong>de</strong>s Pfarrhauses tritt Pastor Emanuel<br />

Kienast. Ein stattlicher, ein schöner Mann. Nur - er weiß das. Man sieht es <strong>de</strong>utlich an <strong>de</strong>r<br />

Art, wie er <strong>de</strong>n langen, faltenreichen schwarzen Talar rafft, wenn er die Schwelle<br />

überschreitet. Wie er das blütenweiße Bäffchen am Hals mit sorgfältigen Handbewegungen<br />

glättet, obwohl es glatt und richtig sitzt, so wie Margarete es ihm vor knapp fünf Minuten<br />

umgelegt hat. Wie er sich dann das schwarze Käppchen auf <strong>de</strong>m vollen, schwarzgrauen<br />

Haar zurechtrückt, gemessenen Schritts nun auf die Kirche zugeht, ohne sich auch nur<br />

einmal umzusehen nach ihr, <strong>de</strong>r Frau Margarete Kienast, die ihm getreulich folgt, ein<br />

Notenheft tragend, <strong>de</strong>nn sie wird die Orgel spielen, mehr schlecht als recht zwar, doch<br />

gewiss besser als <strong>de</strong>r kriegsinvali<strong>de</strong> Schulmeister Johannes Rietz, <strong>de</strong>r da<strong>von</strong> so viel<br />

versteht wie ein preußischer General: nichts.<br />

Kienast stellte sich hinter <strong>de</strong>n am Strick Schaukeln<strong>de</strong>n, während Margarete schattengleich<br />

vorbeihuschte, das Treppchen zur Orgel hinauf. (<strong>Das</strong>s sie die Bank besetzt fin<strong>de</strong>n wird,<br />

ahnt sie nicht.) Er tippte ihm mit <strong>de</strong>m rechten Zeigefinger auf die Schulter und rief ihm ins<br />

Ohr: Heinrich!<br />

Wild warf <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Kopf zurück, sein rechtes Auge funkelte <strong>de</strong>n Pastor böse an. Kienast<br />

tauchte seinen Blick in dieses eine Auge hinein und wie<strong>de</strong>rholte zum hun<strong>de</strong>rtstenmal eins<br />

seiner Experimente mit <strong>de</strong>m Irren: Er bannte ihn, in<strong>de</strong>m er dies ungebärdige Auge besiegte.<br />

Und Heinrichs Körper erschlaffte, nicht plötzlich, aber genau sichtbar (Kienast verfolgte <strong>de</strong>n<br />

Vorgang mit sachlichem Interesse, ohne seinen Blick <strong>von</strong> <strong>de</strong>m schwarzen Auge<br />

abzuziehen), <strong>de</strong>r rechte Fuß stieß nicht mehr vom Bo<strong>de</strong>n ab, die verkrampften Hän<strong>de</strong> ließen<br />

<strong>de</strong>n Strick zwar noch nicht fahren, aber ihr Griff lockerte sich allmählich; statt zu ziehen,<br />

wur<strong>de</strong>n sie jetzt gezogen und wie<strong>de</strong>r heruntergelassen, vom Strang, <strong>de</strong>n die Glocke<br />

bewegte, <strong>de</strong>m Trägheitsgesetz gehorchend; die Glockentöne trennten sich <strong>von</strong>einan<strong>de</strong>r,<br />

wur<strong>de</strong>n wie<strong>de</strong>r zum zaghaften, zögern<strong>de</strong>n Gebimmel, und ganz plötzlich verstummte das<br />

Läuten. Der Irre stand mit hängen<strong>de</strong>n Schultern. Kienast, zufrie<strong>de</strong>n mit seinen suggestiven<br />

Fähigkeiten, nickte ihm kurz zu, wies auf einen Schemel an <strong>de</strong>r Tür. Gehorsam humpelte<br />

Heinrich dort hin, setzte sich, sah <strong>de</strong>mütig <strong>von</strong> unten zu ihm hoch: <strong>de</strong>r Hund zum Herrn.<br />

Sekun<strong>de</strong>n nur Stille zwischen <strong>de</strong>m letzten Ton <strong>de</strong>r Glocke und <strong>de</strong>m Aufrauschen <strong>de</strong>r Orgel,


das Kienast zusammenzucken ließ - unbegreiflicher, frem<strong>de</strong>r Akkord, nicht Margarete<br />

spielte da - und <strong>de</strong>n Irren aus <strong>de</strong>m Bann befreite, sodass er seinen Herrn und Meister<br />

vergaß, langsam aufstand und sich <strong>de</strong>r Kirchentür näherte, an Kienast vorbei; <strong>de</strong>r sah nur<br />

die rechte, unversehrte Gesichtshälfte, sah betroffen: Ergriffenheit, Verzückung,<br />

Verzweiflung. Heinrich lächelte, verstört, aber durchaus nicht irre, und gleichzeitig weinte er.<br />

Weinte sein einziges, schwarzes Auge.<br />

Die Orgel. Niemand in dieser Kirche, <strong>de</strong>r nicht erschrocken, zumin<strong>de</strong>st erstaunt, verwun<strong>de</strong>rt<br />

aufhorchte, <strong>de</strong>n Kopf wandte, hochsah. Die Frau Pastor? Man kann nicht sehen, wer dort<br />

spielt. Aber wenn das die Frau Pastor ist, wie viele Jahre hat sie uns da betrogen mit ihren<br />

artig gespielten, langsamen Präludien? So nun freilich, so dachte das niemand, zumin<strong>de</strong>st<br />

niemand im Kirchenschiff. Doch sie fühlten es so ähnlich. Im Chor aber, Henriette, Joachim<br />

auch, sie dachten es so. Und darum beugten sie sich vor, <strong>de</strong>nn dann konnten sie die<br />

Orgelbank sehen, auf <strong>de</strong>r nicht Margarete Kienast saß (die hockte mit verstörter Miene<br />

daneben, auf einem Schemelchen), son<strong>de</strong>rn es saß da, in <strong>de</strong>r Uniform Bonapartes,<br />

Leutnant Michel Marten, und was er spielte, war ein Bach-Präludium, zweifellos. Und man<br />

konnte sich nun fragen, ob es am Leipziger Kantor o<strong>de</strong>r am <strong>Bernsdorf</strong>schen Interpreten lag,<br />

dass ein ganz irdisches Schicksal hier mit gewichtigen, großen Intervallschritten - Sexten,<br />

Septimen, Oktaven - daherkam, nichts Göttliches, son<strong>de</strong>rn etwas durch und durch<br />

Menschliches; und schwer möglich war es, wenn nicht gar unmöglich, an Engelchöre o<strong>de</strong>r<br />

göttliche Gna<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r ewige Seligkeit zu <strong>de</strong>nken, wenn jetzt, beim Wechsel aufs obere<br />

Manual, die Flöten, zart und weich, eine Kette leiser Fragen durch das Kirchenschiff<br />

schickten, <strong>de</strong>nn Fragen waren es, keine Verheißungen, bange Fragen an das Leben.<br />

Henriette dachte: Wann ist hier zuletzt so gespielt wor<strong>de</strong>n? Wie lange war er fort, <strong>de</strong>r nun<br />

dort sitzt? Und <strong>de</strong>r Alte, sein Großvater, wie lange ist er schon tot?<br />

Auch <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Großvater fiel ihr ein, <strong>de</strong>r hagere, <strong>de</strong>r Pfarrer Schulz. Den sie zu To<strong>de</strong><br />

gehetzt hatten.<br />

Wie ist das nur gekommen, dass sie plötzlich bei<strong>de</strong> fort sind, wer hat das getan, wo ist da<br />

ein Sinn?<br />

<strong>Das</strong> nun fragt nicht mehr die Henriette <strong>von</strong> Janke, sie glaubt das inzwischen zu wissen.<br />

Henriettchen fragt sich das, das Mädchen mit <strong>de</strong>n braunen, langen Zöpfen, <strong>de</strong>ren Spitzen<br />

sie zum Verdruss <strong>de</strong>r Tante so gern in <strong>de</strong>n Mund steckt. Auch jetzt noch, kurz nach ihrem<br />

vierzehnten Geburtstag.


2<br />

Steht da, auf <strong>de</strong>m Zopfen<strong>de</strong> kauend, dicht neben Michel Marten, auf <strong>de</strong>m Friedhof, vor <strong>de</strong>m<br />

offenen Grab. <strong>Das</strong>s sie hier nicht zu stehen hat, ist ihr bewusst. Niemand vom Schloss<br />

sollte am Begräbnis <strong>de</strong>s alten Marten teilnehmen. Sie begreift das nicht, und darum tut sie,<br />

was sie für richtig hält und für notwendig.<br />

Notwendig. Um welche Not zu wen<strong>de</strong>n? Ihre eigne wohl, vor allem die. Denn wenn das<br />

Denken nur noch aus Fragen besteht und niemand ist da, <strong>de</strong>m man sie stellen könnte -<br />

wäre das keine Not?<br />

Michel Marten? Mit siebzehn Jahren müsste man doch mehr begreifen als mit vierzehn.<br />

Aber sie haben ihn verrückt gemacht mit ihrem Hokuspokus. Ich frage ihn: Warum ist er<br />

<strong>de</strong>nn gestorben, Michel, er war doch nicht krank. Und er sagt: Ich hab schuld, Henriette.<br />

Hätte ich mir mehr Mühe gegeben, könnte ich das Lebenselexier schon heraus<strong>de</strong>stilliert<br />

haben, und nie wär er gestorben. Und er selbst hat schuld, dass ich nicht damit zuran<strong>de</strong><br />

kam, weil er nicht daran geglaubt hat, weil er gelästert hat, nannte es Aberglauben und<br />

Quacksalberei, ja, wollte er mich nicht sogar verprügeln, zum ersten Mal, bin ich ihm nicht<br />

fortgelaufen, zu euch?<br />

So re<strong>de</strong>t Michel, <strong>de</strong>nn sie haben ihm <strong>de</strong>n Kopf verdreht, Janke und nun dieser neue Pfarrer,<br />

<strong>de</strong>r Kienast.<br />

Der tritt an das Grab. Re<strong>de</strong>t <strong>de</strong>m alten Kantor ein Loblied nach, ein verlogenes. Vergisst<br />

aber nicht, alle Welt zu warnen vor <strong>de</strong>n Irrtümern <strong>de</strong>r teuflischen Aufklärung. Ach du mein<br />

Gott. Sicher wür<strong>de</strong> er seinem eigenen Vorgänger im Amt, Michels Großvater Schulz,<br />

ähnliche Lügen und ähnliche Warnungen nachgere<strong>de</strong>t haben. Aber <strong>de</strong>r wur<strong>de</strong> verscharrt.<br />

Wer weiß wo. Wer weiß wann.<br />

Darüber ist er gestorben, <strong>de</strong>r alte Marten, nun weiß ich es: Weil sie ihm seinen Freund<br />

getötet haben und seinen Enkel gestohlen. Aber was hatte Pastor Schulz ihnen getan?<br />

Warum das alles, warum nur?<br />

Ist vielleicht unser Lehrer schuld? Janke? Fing da nicht alles an, begann nicht da <strong>de</strong>r<br />

Gespensterspuk ...<br />

Er kam <strong>von</strong> seiner Reise nach Breslau zurück. Stieg aus <strong>de</strong>m Wagen. Nicht nur Urlaub hatte<br />

die Tante ihm genehmigt, son<strong>de</strong>rn auch <strong>de</strong>n herrschaftlichen Reisewagen. Mit Pfer<strong>de</strong>n und<br />

Kutscher. Und aus diesem Wagen trug er nun - und ließ er tragen - diese neuen Apparate,<br />

wohlverpackt, und seine Retorten und Flaschen und Trichter und Schachteln und Paketchen<br />

... Seine Augen glühten verräterisch. Wir durften nicht mehr in seine Kammer. Die Tante<br />

stellte ihm <strong>de</strong>n Ahnensaal zur Verfügung - <strong>de</strong>r nun immer, fast immer, verschlossen war -,<br />

und nur da<strong>von</strong> wur<strong>de</strong> noch gere<strong>de</strong>t: Der Stein <strong>de</strong>r Weisen. <strong>Das</strong> Lebenselexier. Die Geister<br />

<strong>de</strong>r Verstorbenen.<br />

Ach, aufregend war das schon. Aber ich war misstrauisch. Sie kamen mir alle vor wie diese<br />

Schauspieler, die wir im Frühjahr hatten Komödie spielen sehen. Irgendwann kam <strong>de</strong>r Onkel<br />

für ein paar Tage, lachte, als er ihre neuen Vokabeln hörte, lachte. Rief dann: Verdammtes<br />

Theater, Besseres nicht zu tun?


Aber neugierig war ich. Ich wollte wissen, was dahintersteckte. Es musste etwas<br />

dahinterstecken.<br />

Wollen wir sie nicht belauschen, Michel?<br />

Wir beratschlagten zu dritt, Michel, Joachim, ich. (Friedrich war Jankes Schatten gewor<strong>de</strong>n.<br />

Herrmann schon bei <strong>de</strong>r Armee.)<br />

Wir hatten manches gehört, was nicht für unsere Ohren bestimmt war. Friedrich, stolz auf<br />

sein Wissen, sein Auserwähltsein, hatte ab und zu geschwatzt. Also - Besuch wird kommen,<br />

hochgestellter, geheimer. Inkognito nennt man das, hatte Friedrich wichtigtuerisch gesagt.<br />

Ihm zur Ehre (wieso zur Ehre?) sollen Geister beschworen wer<strong>de</strong>n. Der Name Ignatius <strong>von</strong><br />

Loyola war gefallen. (Warum gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Jesuitenpater?) Also ein Wun<strong>de</strong>r. Und wir wer<strong>de</strong>n<br />

ausgesperrt? Als könnte man sich nicht, kennt man dieses Schloss, im Ahnensaal<br />

verstecken!<br />

Wir hockten hinter einem Vorhang in einer <strong>de</strong>r neunhun<strong>de</strong>rtneunundneunzig Nischen <strong>de</strong>s<br />

Saales, je<strong>de</strong>r ein winziges, eingeschnittenes Loch im Stoff vor <strong>de</strong>m Auge. Sahen Janke und<br />

Friedrich hereinkommen, sie waren nervös, fingerten an Apparaturen herum, die in <strong>de</strong>r<br />

dunkelsten Ecke <strong>de</strong>s Saales stan<strong>de</strong>n, fast nicht zu sehen. Gar nicht mehr zu sehen,<br />

nach<strong>de</strong>m Friedrich alle Fenster zugezogen hatte, dann sechs Kerzen anzün<strong>de</strong>te, drei auf<br />

<strong>de</strong>r rechten, drei auf <strong>de</strong>r linken Seite. Halbdunkel, zu unserem Kummer, <strong>de</strong>nn wir wollten<br />

doch die hohen Unbekannten genau in Augenschein nehmen ...<br />

Außer <strong>de</strong>r Tante kamen fünf Personen herein: eine verschleierte Dame, drei Herren, ein<br />

Bediensteter, <strong>de</strong>r sich gleich hinter Janke und Friedrich stellte, als sei er ihnen als Helfer<br />

beigegeben. Hätten nicht zwei <strong>de</strong>r Herren ständig <strong>de</strong>m dritten und seiner Dame hofiert, ihn<br />

schließlich gar angere<strong>de</strong>t: Eure Hoheit - unsere Neugier<strong>de</strong> wäre vorläufig unbefriedigt<br />

geblieben. Nun wussten wir, was wir vorher nur geahnt hatten (<strong>de</strong>nn <strong>von</strong> Jankes<br />

Verbindungen zum Hof <strong>de</strong>s Kronprinzen war geflüstert wor<strong>de</strong>n): <strong>de</strong>r Kronprinz <strong>von</strong> Preußen<br />

also. Und die Dame dann seine viel bere<strong>de</strong>te Geliebte, Wilhelmine Enke. Die Herren? Nicht<br />

wichtig - damals. Hofschranzen. Doch inzwischen fraglos, <strong>de</strong>nn seit <strong>de</strong>r Kronprinz König ist,<br />

sagt Michel, sind es zwei Männer, die Preußen beherrschen, und weil Janke sie damals<br />

schon seine Freun<strong>de</strong> nannte, wird er bald gea<strong>de</strong>lt wer<strong>de</strong>n. Janke. Wird er jetzt gea<strong>de</strong>lt<br />

wer<strong>de</strong>n, wo Schulz und Marten fort sind, nicht ohne sein Zutun fort sind?<br />

Also Wöllner, <strong>de</strong>r Pfaff, und Bischoffwer<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r General, waren es. Die sich heute Minister<br />

nennen ...<br />

Sie setzten sich in einen Halbkreis, Janke umschritt sie, murmelte Unverständliches. Reichte<br />

ihnen Gläser, ein dampfen<strong>de</strong>s, rötliches Getränk, er selbst trank nicht, auch Friedrich nicht,<br />

auch <strong>de</strong>r unbekannte Gehilfe nicht, mir fiel das auf, sofort ...<br />

Wen wünschen Eure Hoheit zu sprechen?<br />

Jaja, vielleicht, vielleicht - er stotterte. Ein Name fiel: Ignatius <strong>von</strong> Loyola. Janke war<br />

überrascht. Er tut überrascht, dachte ich. (Und das mussten doch Michel und Joachim auch<br />

<strong>de</strong>nken?) Dann nickte er schwerfällig, zögernd und seufzte, als stän<strong>de</strong> ihm eine fast<br />

unlösbare Aufgabe bevor. Bat alle Anwesen<strong>de</strong>n um unbedingte Ruhe, Beibehaltung <strong>de</strong>r


Plätze und ähnliches. Wo war Friedrich? Fort. Ach, es war doch so durchsichtig, Michel.<br />

Dann Jankes Beschwörungsformeln, leise erst, immer intensiver, er erhitzte sich, er<br />

ereiferte sich, er rief schließlich - dreimal - nach <strong>de</strong>m Bru<strong>de</strong>r Ignatius. Stille. Donnergetöse<br />

plötzlich - da stand Janke neben <strong>de</strong>n unsichtbaren Apparaten, Michel! -, und ein dichter,<br />

weißer, ätzend riechen<strong>de</strong>r Nebel erschien, gleichzeitig erloschen die sechs Kerzen, wie <strong>von</strong><br />

Geisterhand ausgeblasen. Ein Lichtschein, links neben <strong>de</strong>r Apparatur, im Nebelschleier eine<br />

Gestalt, Umrisse nur, ein weiter Umhang, Kapuze, <strong>de</strong>utlich aber unter <strong>de</strong>r Kapuze ein<br />

starres Greisengesicht, gebogene Nase, aus <strong>de</strong>n Augen scheinen Funken zu sprühen. <strong>Das</strong><br />

Gesicht <strong>de</strong>s Jesuitenpaters war unverkennbar.<br />

Jankes Stimme, flüsternd: Eure Hoheit können <strong>de</strong>m Geist nun Fragen stellen.<br />

Was steht mir bevor? Was wird <strong>von</strong> mir erwartet?<br />

Ohne zu stottern, aber mit flackern<strong>de</strong>r Stimme fragte er.<br />

Die Antwort kam wie aus <strong>de</strong>m Grab. Aus welcher Richtung kam sie? Die Erscheinung<br />

bewegte die Lippen, aber die Stimme kam <strong>von</strong> links, <strong>von</strong> links unten ... Ich weiß nicht,<br />

Michel ... als alles vorbei war, die Kerzen wie<strong>de</strong>r brannten, stand dort links dieser frem<strong>de</strong><br />

Diener. Auch Friedrich war plötzlich wie<strong>de</strong>r da. Seine Haare waren ungekämmt, mir fiel das<br />

auf, weißt du, er ist doch sonst immer so gestriegelt ... Ach, Michel, du warst so aufgeregt,<br />

du zittertest. Joachim war schweißnass - warum habt ihr nicht ruhig und genau hingesehen?<br />

Und nachgedacht, gedacht, Michel?<br />

Was hatte dieser Geist eigentlich gesagt? Etwa so: Du wirst herrschen, Mensch. Aber du<br />

sollst <strong>de</strong>n Antichrist und seine Werke und seine Anhänger vertilgen <strong>von</strong> Gottes Erdbo<strong>de</strong>n.<br />

Wann, wann wer<strong>de</strong> ich herrschen? Unbeherrscht rief er das, schrie er es, Friedrich Wilhelm,<br />

<strong>de</strong>r Kronprinz <strong>von</strong> Preußen. Und diese dumpfe Stimme, die Grabesstimme: Bald, bald, bald.<br />

Ja, so ungefähr.<br />

Bald, sagte die Tante ein paar Wochen später, wer hätte gedacht, dass es so bald sein<br />

wür<strong>de</strong>!<br />

Und sie sagte das mit <strong>de</strong>r gebühren<strong>de</strong>n Trauer, <strong>de</strong>nn ein König war gestorben, und <strong>de</strong>r<br />

gebotenen Freu<strong>de</strong>, <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r Kronprinz war nun König. Die gebühren<strong>de</strong> Trauer glaubte ich<br />

we<strong>de</strong>r ihr noch allen an<strong>de</strong>ren, Onkel ausgenommen. Die Freu<strong>de</strong> war echt, nicht nur bei ihr.<br />

Wie hoch Janke seit<strong>de</strong>m <strong>de</strong>n Kopf trägt, Michel! Sicher, jetzt nahm das Verhängnis seinen<br />

Lauf, <strong>von</strong> nun an hing es über <strong>de</strong>n Köpfen <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Alten. Und heute ist ihr Schicksal<br />

erfüllt. Warum? War es nicht abzuwen<strong>de</strong>n, dieses Verhängnis? Hätte jemand es abwen<strong>de</strong>n<br />

können?<br />

Wie an<strong>de</strong>rs seit<strong>de</strong>m Jankes Unterricht ist. Nichts mehr über Voltaire. Lessing und Her<strong>de</strong>r<br />

sind verbotene, je<strong>de</strong>nfalls gemie<strong>de</strong>ne Namen. Wüten<strong>de</strong> Hassgesänge auf Rousseau. Und<br />

die ewigen, eifrigen Belehrungen über diesen Or<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Rosenkreuzer, <strong>de</strong>r bislang im<br />

Geheimen gewirkt, nun aber an <strong>de</strong>r Spitze <strong>de</strong>s Staates stehe ... Du selbst hast mir erzählt,<br />

dass Wöllner in Berlin „<strong>de</strong>r kleine König“ genannt wird. Stun<strong>de</strong>nlang re<strong>de</strong>t Janke uns <strong>von</strong><br />

<strong>de</strong>n Rosenkreuzern, und du hängst an seinen Lippen, Michel, als kämen da Offenbarungen<br />

zum Vorschein. Ich kann diese Sätze schon gar nicht mehr hören, sie verfolgen mich bis in


<strong>de</strong>n Traum: „Der Or<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Rosenkreuzer ist im Besitz untrüglicher Weisheiten und <strong>de</strong>s<br />

Geheimnisses, <strong>de</strong>n Stein <strong>de</strong>r Weisen zu bereiten, Armut und Krankheit zu bannen. In seinen<br />

Reihen fin<strong>de</strong>t <strong>de</strong>r Gläubige alles, was ihn zeitlich und ewig beglücken kann. Die Natur<br />

verleiht ihm ihre Kräfte, gibt ihm Kenntnis und Erlaubnis, <strong>de</strong>n Körper zu befreien und zu<br />

erhellen und auf <strong>de</strong>n Höhepunkt <strong>de</strong>r Vollkommenheit zu führen ...“<br />

Wenn ich nur wüsste, Michel, warum dich das beeindruckt? Waren wir vorher nicht immer<br />

einer Meinung in solchen Dingen? Und nun erregt und befriedigt dich, was mir unbehaglich<br />

und verdächtig ist. Weil ich nicht mag, wenn man mir das Denken austreiben will ... Hat dich<br />

eigentlich dieser Italiener nicht misstrauisch gemacht, dieser Signore Rossi? (Wie viele<br />

seltsame Gestalten bei uns auftauchen, seit die Prophezeiung <strong>de</strong>s Geistes erfüllt ist ... Und<br />

immer, wenn <strong>de</strong>r Onkel nicht da ist. Ob sie alle Angst vor seinem Knotenstock haben?)<br />

Janke hatte uns neugierig gemacht: „Or<strong>de</strong>nsbru<strong>de</strong>r Roberto Rossi besitzt seit<br />

Jahrhun<strong>de</strong>rten die Kenntnis darüber, wie man das Lebenselexier gewinnt. Er zählt<br />

eintausendachthun<strong>de</strong>rtundvierzig Jahre und kennt die Evangelisten, ganz beson<strong>de</strong>rs gut <strong>de</strong>n<br />

Apostel Paulus, <strong>von</strong> Angesicht zu Angesicht ...“<br />

War etwas Beson<strong>de</strong>res an ihm zu sehen? Ich konnte nichts fin<strong>de</strong>n. Nur Friedrich durfte im<br />

Zimmer bleiben. Sie verhan<strong>de</strong>lten lange. Weißt du, dass sie ihm sein Rezept abkaufen<br />

wollten, aber er verlangte Unerschwingliches? Wozu braucht er Geld, angeblich kann er<br />

doch auch Gold machen? Verkaufte ihnen nur ein kleines Fläschchen „Lebenselexier“, und<br />

das untersucht ihr nun seit Wochen, um seine Bestandteile zu erforschen ... Ach, Michel, du<br />

musstest doch misstrauisch gewor<strong>de</strong>n sein bei unserem Gespräch mit diesem Kutscher <strong>de</strong>s<br />

Signore. Aber du experimentierst mit einem Tröpfchen Flüssigkeit, das gewiss nichts<br />

an<strong>de</strong>res ist als Fuchtsaft ...<br />

Ist Euer Herr tatsächlich eintausendachthun<strong>de</strong>rtundvierzig Jahre alt? fragtest du <strong>de</strong>n<br />

Kutscher. Der saß auf <strong>de</strong>m Bock, würdig, ernsthaft, schwieg beharrlich, bis ich meine<br />

ersparten Groschen holte und ihm zusteckte. Er nahm sie und lächelte unter seinem<br />

Schnauzbart. Dann sagte er - und das war unverkennbar Sächsisch, Michel: Nu ja, so<br />

genau kann ich’s freilich nicht wissen, glaub’s aber schon, bin selbst nicht gar so alt.<br />

Wie alt <strong>de</strong>nn?<br />

Äh nu, so an die fünfhun<strong>de</strong>rt, ’s können freilich auch fünfhun<strong>de</strong>rtundvier Jährchen sein, nicht<br />

wahr?<br />

Ach, Michel ... diese frem<strong>de</strong>n Gesichter in <strong>de</strong>r Kirche, als <strong>de</strong>in Großvater, <strong>de</strong>r alte Schulz,<br />

gegen Wöllners Religionsedikt predigte ... Je<strong>de</strong>r im Dorf hatte das Thema <strong>de</strong>r Predigt<br />

gekannt. Und je<strong>de</strong>r im Schloss. Aber die Herren aus Berlin, woher haben die das gewusst?<br />

Und er, <strong>de</strong>r Schulz - hatte er sie nicht gesehen, o<strong>de</strong>r warum hat er gere<strong>de</strong>t, als wären sie<br />

nicht gekommen? Sprach wie immer: ruhig und freundlich, ohne die Stimme künstlich zu<br />

heben, re<strong>de</strong>te vom Recht je<strong>de</strong>s Menschen auf Glaubens- und Gewissensfreiheit, das durch<br />

Gesetze, Institutionen, Inquisition nicht aufzuheben sei, <strong>de</strong>nn es sei ein göttliches Recht, ein<br />

natürliches Recht, ein unveräußerliches ... <strong>de</strong>r ganze Rousseau schimmerte durch diese<br />

Predigt. Und unüberhörbar war, was er zu sagen hatte: Wöllners Edikt, das je<strong>de</strong><br />

Abweichung <strong>von</strong> <strong>de</strong>r Lutherischen Lehre mit harten Strafen belegt, das je<strong>de</strong>m Geistlichen


und je<strong>de</strong>m Schulmeister verbietet, die Schrift auszulegen mithilfe ihrer eigenen Köpfe, das<br />

sie verpflichtet, gegen die Irrlehren <strong>de</strong>r Aufklärer zu eifern vom frühen Morgen bis zum<br />

späten Abend - dieses Gesetz existierte für ihn nicht. Sogar vom Totengräber Preußens<br />

sprach er. Wer wusste nicht, wen er meinte?<br />

<strong>Das</strong> Dorf hatte es gehört. <strong>Das</strong> Schloss hatte es gehört. Die Spione hatten es gehört.<br />

Drei Tage später kam <strong>de</strong>r Bote: Mathias Schulz wur<strong>de</strong> vor Wöllners Inquisition gela<strong>de</strong>n.<br />

Mathias Schulz kam nie wie<strong>de</strong>r.<br />

Du kennst ja die knappen Nachrichten, die Friedrich mitbrachte: Er war unbelehrbar. Er<br />

beugte sich auch nicht <strong>de</strong>mütig <strong>de</strong>r Strafe, <strong>de</strong>r Kerkerhaft. Er floh. Sie hetzten ihn, sie<br />

fan<strong>de</strong>n ihn, er starb nach drei Tagen Gefangenschaft. Freiwillig starb er.<br />

So viel weiß ich, Michel, aber nichts versteh ich. Und am wenigsten versteh ich dich ...<br />

Sie gehen nebeneinan<strong>de</strong>r vom Friedhof, Hand in Hand, trotz<strong>de</strong>m ist je<strong>de</strong>r mit seiner<br />

Einsamkeit allein. Ich versteh dich nicht, Michel, sagt sie. Er antwortet nicht.<br />

Wohin gehst du jetzt?<br />

Er sieht sie unschlüssig an. Wohin soll ich gehen, zu euch doch, sagt er langsam, Janke<br />

sagte, ich soll aufs Schloss kommen, nach <strong>de</strong>m Begräbnis, er wird's inzwischen mit <strong>de</strong>iner<br />

Tante ausgemacht haben, dass ich bleiben darf. Ganz, verstehst du? Bin ja schon lange<br />

mehr bei euch als im Schulhaus.<br />

Sie schweigt, nickt nicht, schüttelt nicht <strong>de</strong>n Kopf.<br />

Henriette, sagt er erschrocken, willst du's nicht auch? Sind wir nicht Freun<strong>de</strong>, wir drei?<br />

Ich weiß nicht, sagt sie. Ist das so einfach? Ich weiß nichts mehr, Michel. Vor allem nicht,<br />

wer du bist.<br />

Ich bin ich, sagt er. Ich bin, wer ich immer war.<br />

Mach dir doch nichts vor, Michel, sagt sie traurig. Was suchst du bei Janke? Bei Kienast?<br />

Bei <strong>de</strong>r Tante?<br />

Ablehnend sagt er: Die Tante, die Baronin, lass aus <strong>de</strong>m Spiel. Ach, die Tante, sagt<br />

Henriette. Die Tante ist schon gut. Aber sie ist ihnen verfallen. Ich weiß nicht, wodurch. Sie<br />

haben ihr <strong>de</strong>n Willen genommen, Michel. Und sie sind dabei, ihn dir auch zu nehmen. Dieser<br />

Kienast ist mir unheimlich. Überleg doch nur, Michel, wie er predigt. Hat <strong>de</strong>in Großvater je<br />

so gere<strong>de</strong>t, dass alle wie gebannt saßen und zitterten und heulten ohne Grund und nichts<br />

mehr <strong>de</strong>nken konnten und gar nicht wussten, was mit ihnen geschehen war? Joachim freut<br />

sich, dass er diesen Herbst nach Jena zum Studium darf, dass er hier herauskann. Wie ich<br />

ihn benei<strong>de</strong>, Michel! Und dich wer<strong>de</strong>n sie willenlos machen wie die Tante, dann kannst du<br />

an Friedrichs Stelle treten, wenn er erst ganz am Hofe bleibt, kannst ihnen <strong>de</strong>n Handlanger<br />

machen bei ihren Experimenten. Dann sind wir keine Freun<strong>de</strong> mehr, Michel. Was wird<br />

dann?<br />

Ihre Stimme zittert, er begreift, dass sie gleich weinen wird. Er lacht plötzlich leise. Hast du


davor Angst, Henriette? Nein, du, ich weiß, was ich will. Und ich weiß auch, eine ganze<br />

Weile schon, dass Janke ein Schwindler ist. Er und dieser Italiener und <strong>de</strong>r „kleine König“<br />

und seine <strong>Bernsdorf</strong>er Kleinausgabe, dieser Kienast - Schwindler alle, Hochstapler,<br />

Henriette. Keiner hat die Materia prima bisher gefun<strong>de</strong>n. Vielleicht gibt es diese<br />

unbekannten Oberen auch gar nicht, die im Besitz <strong>de</strong>s Geheimnisses sein sollen. Vielleicht.<br />

Henriette bleibt stehen. Michel, sagt sie erschrocken, das alles weißt du, aber du spielst mit<br />

in ihrer Komödie? Ach, Michel, ich versteh dich nicht.<br />

Überlegen lächelnd sagt er: Was macht es <strong>de</strong>nn, dass sie Schwindler sind? Ich,<br />

ich,Henriette, wer<strong>de</strong> dahinterkommen. Sie sind Unwürdige, nicht begna<strong>de</strong>te, niemals wird<br />

es ihnen gelingen, mit <strong>de</strong>r Geisterwelt wirklich in Berührung zu kommen. Und darum wird<br />

das Quecksilber bei ihnen immer Quecksilber bleiben, nicht zu Silber, nicht zu Gold wer<strong>de</strong>n,<br />

schon gar nicht zur Materia prima, zum Stein <strong>de</strong>r Weisen. Und erst dann komme ich zum<br />

Lebenselexier, wenn ich die Materia prima habe, Henriette. Und <strong>de</strong>nkst du <strong>de</strong>nn, ich will das<br />

- an Friedrichs Stelle treten, Jankes Schatten wer<strong>de</strong>n? Irgen<strong>de</strong>ine Leiter hochklettern,<br />

vielleicht bei Jankes Freun<strong>de</strong>n in Berlin? Jankes Traum ist das sicher; und auch dieser<br />

Kienast - Pfarrer in <strong>Bernsdorf</strong> will <strong>de</strong>r gewiss nicht bleiben, <strong>de</strong>r ist doch auf Macht aus, <strong>de</strong>r<br />

wird sich nie damit begnügen wollen, in <strong>Bernsdorf</strong> kleine Politik zu machen, eines Tages<br />

wird er mit <strong>de</strong>n Großen die Karten mischen wollen. Aber das will ich doch nicht, Henriette.<br />

Ja, was willst du <strong>de</strong>nn, Michel?<br />

Was? Natürlich die Wahrheit fin<strong>de</strong>n, sagt er erstaunt, was <strong>de</strong>nn sonst?<br />

Vor <strong>de</strong>m Tor bleibt Henriette stehen. Michel, sagt sie, die ganze Zeit <strong>de</strong>nke ich schon:<br />

Bevor wir hineingehen, müsstest du für <strong>de</strong>ine Großväter spielen. In <strong>de</strong>r Kirche, ja? Komm.<br />

Ich tret dir auch <strong>de</strong>n Blasebalg. Wie lange hast du nicht mehr gespielt, Michel?<br />

Sie re<strong>de</strong>t mit leiser Stimme auf ihn ein, er sieht unschlüssig auf seine Zehenspitzen, er nickt<br />

wi<strong>de</strong>rstrebend.<br />

Da kehren sie um und gehen <strong>de</strong>n Weg zurück - auf <strong>de</strong>n Friedhof, am frischen Grab <strong>de</strong>s<br />

alten Marten vorbei, durch eine Seitentür in die Kirche; <strong>de</strong>n Schlüssel trägt Michel bei sich,<br />

immer, niemand weiß das, nur er und Henriette. Sie steigen die schmale Treppe zur Orgel<br />

hinauf, Michels Hän<strong>de</strong> streichen über die kalten Tasten. Langsam, wie zögernd, zieht er die<br />

Register.<br />

Henriette, am Blasebalg, müht sich sehr ab bei <strong>de</strong>r ungewohnten Tätigkeit. Sie horcht<br />

gespannt auf <strong>de</strong>n ersten Ton, vergisst dann fast ihre Aufgabe, weil die Töne <strong>von</strong> ihrem<br />

ganzen Körper Besitz ergreifen, dass sie zu zittern beginnt: Unirdische, übermenschliche,<br />

geheimnisvolle Gewalten fallen, aus grundloser Tiefe kommend, über sie her, was ist das,<br />

fragt sie sich erschüttert, er spielt seine Geister, <strong>de</strong>m Schicksal liefert er uns aus, hab ich<br />

ihn darum hierhergebracht ..., und nun sanfte, beruhigen<strong>de</strong> Verheißungen, o diese gütige<br />

göttliche Gna<strong>de</strong>, ich will mich aber nicht besänftigen lassen, Michel, auch nicht <strong>von</strong> dieser<br />

überirdischen Schönheit, ich will nicht, will nicht, will nicht - sie <strong>de</strong>nkt es in <strong>de</strong>m Rhythmus, in<br />

<strong>de</strong>m ihr Fuß auf <strong>de</strong>n Blasebalg tritt. Dann zuckt sie zusammen. Was war das, ist aus<br />

<strong>de</strong>inem Schicksal nun Auflehnung gewor<strong>de</strong>n, endlich, ja, zieh nur alle Register, ich halt


schon mit (dabei könnt ich auf <strong>de</strong>r Stelle atemlos umfallen), lehn dich nur auf, du sollst nicht<br />

im Staub liegen vor irgen<strong>de</strong>inem göttlichen Schicksal, du nicht, das ertrag ich nicht. Nun die<br />

Fuge. Unbeschwert und heiter. Und das heute ..., was <strong>de</strong>nkst du, Michel Marten? Und was<br />

ist das in mir: diese Spannung bis in die Fingerspitzen, bis in die Fußspitzen ...<br />

Als sie die schmale Treppe wie<strong>de</strong>r hinuntersteigen, hält sie ihn noch einmal zurück. Sagt<br />

nichts. Sieht ihn nur an, ratlos, forschend. Er hält <strong>de</strong>n Blick lange aus, weniger ratlos,<br />

staunend aber. Sie sind <strong>von</strong> <strong>de</strong>r Musik erfüllt und <strong>von</strong>einan<strong>de</strong>r, sie sind sich nicht bewusst,<br />

dass ihre Lippen sich suchen und fin<strong>de</strong>n, dass sie auf einer <strong>de</strong>r Treppenstufen sitzen, und<br />

erst, als sie <strong>von</strong>einan<strong>de</strong>r lassen, sehen sie sich verwun<strong>de</strong>rt an, fragen stumm: Was ist das?<br />

Haben keine Antwort. Wollen keine Antwort. Und ein wenig bang, ein wenig erstaunt, aber<br />

sehr froh sagt Henriette, ganz ernsthaft sagt sie: Jetzt hast du mich verzaubert, glaub ich.<br />

Da schüttelt er <strong>de</strong>n Kopf und sagt, ebenso ernsthaft: O<strong>de</strong>r du mich?<br />

Und nun gehen sie wirklich. Ins Schloss.<br />

Es ist ein an<strong>de</strong>rer Weg, <strong>de</strong>n sie gehen. Ein an<strong>de</strong>rer Friedhof. An<strong>de</strong>re Gräber. Eine an<strong>de</strong>re<br />

Mauer. Ein an<strong>de</strong>res Tor. Ein an<strong>de</strong>res Schloss.<br />

Als sie die Treppen hochsteigen, <strong>de</strong>nkt Henriette: Er hat gar nicht für die Großväter<br />

gespielt, son<strong>de</strong>rn für mich. Und eigentlich wollte ich das auch ... Aber sie <strong>de</strong>nkt es ohne<br />

Schuldgefühl und ohne Reue.


3<br />

Wie lange schwieg die Orgel schon? Seit wann re<strong>de</strong>te dieser Mensch dort? Ach, re<strong>de</strong>te ...,<br />

er tönte, er säuselte, er schrie, er flüsterte, er winselte, er donnerte ... Was sagte er aber?<br />

Henriette bemühte sich eine Weile ganz ernsthaft, Kienast zuzuhören. Und staunte wie<br />

immer darüber, dass er es fertigbrachte, unentwegt zu re<strong>de</strong>n, ohne mehr zu sagen als ein,<br />

zwei Gedanken, die er dann pausenlos variierte. Christus wur<strong>de</strong> geboren, freuet euch,<br />

halleluja - darauf wäre seine Predigt heute zu reduzieren, dachte sie, wütend und belustigt<br />

zugleich. Und seufzte innerlich: Lass ihn re<strong>de</strong>n, er wird doch einmal aufhören müssen. Der<br />

kleine Wöllner. Der <strong>Bernsdorf</strong>sche Wöllner. Um ein Haar wäre er ein mächtiger Mann in<br />

Preußen gewor<strong>de</strong>n. Für <strong>de</strong>n Rest seines Lebens hat er nun an seinem Schicksal zu tragen.<br />

<strong>Das</strong>s <strong>de</strong>r Tod Friedrich Wilhelms II. und damit <strong>de</strong>r Sturz <strong>de</strong>s allmächtigen Wöllner seinem<br />

Aufstieg zuvorgekommen sind, wird er nie verwin<strong>de</strong>n. Zu früh mussten seine Freun<strong>de</strong> <strong>von</strong><br />

<strong>de</strong>r Bühne abtreten; während Janke noch <strong>de</strong>n heiß ersehnten, lang erstrebten<br />

Kabinettsrattitel errang und auch - welch Glück! - durch <strong>de</strong>n Luftzug, <strong>de</strong>r beim<br />

Thronwechsel aufkam, nicht vom Stuhl <strong>de</strong>s Kabinettsekretärs geweht wur<strong>de</strong>, blieb Kienast<br />

in <strong>Bernsdorf</strong> hängen, <strong>de</strong>r Herr Hypnotiseur und Geisterbeschwörer, <strong>de</strong>r kleine „kleine König“<br />

...<br />

Sie sah zur Orgel hinüber - kein Michel Marten mehr zu sehen, Frau Kienast hockte dort,<br />

das verschüchterte Hühnchen - da fiel ein Gedanke über sie her, <strong>de</strong>r sie vorläufig vor <strong>de</strong>r<br />

Dezemberkälte besser schützte als Halinas Decken. Er hat dasselbe gespielt, dachte sie,<br />

dasselbe wie damals, nach Jakob Martens Beerdigung. Und das fällt dir jetzt erst ein,<br />

Henriette? Aber er hat es ganz an<strong>de</strong>rs gespielt.<br />

Und sie überlegte, welches Jahr man damals schrieb - was gibt es da zu überlegen,<br />

vierzehn war ich, im Herbst ging Joachim nach Jena, und vorher, im Sommer, waren wir alle<br />

vom Revolutionsfieber erfasst, waren berauscht vom großen Sonnenaufgang in Franken;<br />

nach dieser Beerdigung schon - <strong>de</strong>r Sommer war noch weit - hatten wir gespürt, dass<br />

etwas kommen wür<strong>de</strong>, aus Frankreich musste es kommen, und die Namen Mirabeau und<br />

Lafayette waren uns schon geläufig ... 1789 ... , wir alle wären nicht so, wie wir sind, ohne<br />

dieses Jahr ... Die Briefe, dachte sie. Gleich nach <strong>de</strong>r Kirche wer<strong>de</strong> ich die Briefe<br />

heraussuchen, die wir nach Jena schrieben. Er hat sie mir vor Jahren überlassen - nein,<br />

verbrennen wollte er sie, als Bonaparte Kaiser wur<strong>de</strong>, und ich hin<strong>de</strong>rte ihn. Da gab er sie<br />

mir, mein lieber Vetter Joachim ...<br />

Sie sah ihn an, rechts neben ihr saß er, sein gespannter Gesichtsausdruck fiel ihr auf. Da<br />

drang Kienasts sonore Stimme wie<strong>de</strong>r in ihr Bewusstsein, sie begriff, dass die Predigt<br />

schon vorüber war, dass er jetzt das Aufgebot verlas.<br />

„Am morgigen 26. Dezember <strong>de</strong>s Jahres 1807 ge<strong>de</strong>nken in <strong>de</strong>n Stand <strong>de</strong>r Heiligen Ehe zu<br />

treten: August Wilhelm Lemke, herrschaftlicher Kutscher, Sohn <strong>de</strong>s Landarbeiters Karl-<br />

Wilhelm Lemke und seiner Ehefrau Amalia Lemke geborene Bruns, und Maria Piotrowska,<br />

Stubenmädchen, Tochter <strong>de</strong>s herrschaftlichen Dieners Ta<strong>de</strong>usz Piotrowski und seiner<br />

Ehefrau Halina Piotrowska geborene Sagorska.“<br />

Sie spähte zum Baron, aus <strong>de</strong>n Augenwinkeln nur. Auch Dorothea sah <strong>de</strong>n Baron an, <strong>von</strong>


<strong>de</strong>r Seite, ängstlich forschend, und bei<strong>de</strong> sahen sie, was sie befürchteten zu sehen: Seine<br />

schläfrigen Züge (Kienasts Predigten bewirkten bei ihm stets das Gegenteil <strong>von</strong> <strong>de</strong>m, was<br />

sie bei an<strong>de</strong>ren bewirkten, nämlich Schlafbedürfnis), dieses mü<strong>de</strong> Greisengesicht belebte<br />

und verjüngte sich.<br />

Michel war gleich nach seinem Spiel auf Zehenspitzen am Blasebalg vorbei und die<br />

Wen<strong>de</strong>ltreppe hinuntergeschlichen, stand dann noch einen Moment im Vorraum, gefesselt<br />

<strong>von</strong> <strong>de</strong>m unerwarteten Anblick <strong>de</strong>s verstümmelten Irren, <strong>de</strong>r an <strong>de</strong>r Tür zum Kirchenschiff<br />

lehnte, geduckt, horchend, die Hän<strong>de</strong> hielten das Hemd über <strong>de</strong>r Brust umklammert, als<br />

wollten sie es auseinan<strong>de</strong>rreißen. Er nahm Michel nicht wahr, und <strong>de</strong>r wandte sich schnell<br />

und erschrocken ab, irgen<strong>de</strong>twas an diesem Menschen beunruhigte ihn, ohne dass er zu<br />

sagen vermochte, was das war, und vor allem wollte er es nicht wissen, doch das gestand<br />

er sich nicht ein.<br />

Hastig überquerte er <strong>de</strong>n Friedhof, verhielt einen Augenblick vor <strong>de</strong>m Grab <strong>de</strong>s alten<br />

Marten, lief weiter, an <strong>de</strong>r Schlossmauer entlang, zum See hinunter.<br />

Der See lag unbeweglich, zugefroren, aber er war mit Milliar<strong>de</strong>n Raureifkörnern bestreut,<br />

und aus je<strong>de</strong>m einzelnen funkelte ein Sonnenstrahl. Da schloss Michel Marten geblen<strong>de</strong>t die<br />

Augen. Im gleichen Moment fiel ihm auf, dass noch immer das Fugenthema in ihm<br />

herumsprang, diese unvergleichlich gelöste Melodie, die <strong>von</strong> niemand an<strong>de</strong>rem erdacht sein<br />

konnte als <strong>von</strong> <strong>de</strong>m Leipziger Kantor: Sie tanzte, ohne zu tän<strong>de</strong>ln, ihre Heiterkeit war tief<br />

und ernsthaft und schloss sogar die Trauer ein ...<br />

So war es nach Großvater Martens Beerdigung, dachte Michel. Und Henriette verstand<br />

mich nicht. Sie fürchtete, ich wollte Jankes Schatten wer<strong>de</strong>n. Ich wollte aber nichts weniger<br />

als das. Wollte auch keine Karriere, wie Janke sie hinter sich hatte und noch vor sich. War<br />

lange genug auf <strong>de</strong>m Schloss, um die Zwitterstellung zu hassen, die ich dort einnahm -<br />

freiwillig und nicht ungern einnahm! Die abgetragenen Klei<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r <strong>Bernsdorf</strong>junker, mit<br />

<strong>de</strong>nen ich herumlief, <strong>de</strong>mütigten mich. Und gefielen mir doch besser als meine alten,<br />

verwaschenen ... Manchmal hasste ich mich selbst - <strong>de</strong>n Großvätern wur<strong>de</strong> ich fremd und<br />

frem<strong>de</strong>r, ganz zu schweigen <strong>von</strong> <strong>de</strong>n Dorfjungen. Vom Lemke-August zum Beispiel. Da war<br />

kein Gespräch mehr möglich o<strong>de</strong>r gar ein Spiel. Denn die gleichaltrigen Jungen krochen<br />

längst auf <strong>de</strong>m Acker herum o<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n Ställen. Ich dachte darüber nicht nach, es<br />

interessierte mich nicht. Meistens dachte ich auch nicht über diese seltsame Rolle nach, die<br />

ich spielte, lebte in <strong>de</strong>n Tag hinein und in die Jahre, fühlte mich durchaus nicht unglücklich,<br />

lernte mit Besessenheit, wusste im Grun<strong>de</strong>, dass ich ein bequemes Leben führte und nicht<br />

tauschen wür<strong>de</strong> - mit <strong>de</strong>m August Lemke beispielsweise, und niemals dachte ich darüber<br />

nach, wie ich eigentlich dazu kam, meine Tage auf <strong>de</strong>m Schloss zuzubringen, halb<br />

Spielgefährte, halb Dienstbote, teils Freund, teils mitleidig Gedul<strong>de</strong>ter, vom Baron<br />

übersehen, <strong>von</strong> Janke gehätschelt. Denk an mich, Michel Marten, sagte Janke oft zu mir,<br />

dann weißt du, welche Chancen das Leben bietet! Er sei nur ein kleiner Hütejunge in einem<br />

sächsischen Dorf gewesen, <strong>de</strong>ssen helles Köpfchen einem e<strong>de</strong>lmütigen Patron auffiel. Wer<br />

aber sei er jetzt? Und was wer<strong>de</strong> er <strong>de</strong>mnächst sein? Ein Herr, vor <strong>de</strong>m sich <strong>de</strong>r Bürger zu<br />

verbeugen habe! Dem alle Wege offenstün<strong>de</strong>n. Man könne schon zu etwas kommen im<br />

Leben, wenn man seine Chancen nicht verspiele. Man erreiche schon, was man wolle!


Aber Janke wollte Macht und Reichtum.<br />

Ja, was willst du <strong>de</strong>nn, Michel? fragte Henriette mich.<br />

Was? Natürlich die Wahrheit fin<strong>de</strong>n, sagte ich. Ich war erstaunt - wie konnte sie daran<br />

zweifeln? Wie konnte sie annehmen, ich wollte etwas an<strong>de</strong>res?<br />

Sie dachte nach, krauste die Stirn, steckte wie üblich ein Zopfen<strong>de</strong> in <strong>de</strong>n Mund. Wie sie so<br />

dastand - kindlich und reif zugleich, naiv und mir trotz<strong>de</strong>m überlegen, aber das wusste ich<br />

damals nicht -, da mochte ich sie sehr, da ahnte ich, dass ich sie, ihre Freundschaft, ihre<br />

Achtung, nicht aufs Spiel setzen durfte, auf das ungewisse (das gestand ich mir ein:<br />

ungewisse) Spiel um diesen Stein <strong>de</strong>r Weisen. Ja, ich dachte sogar: Ist sie nicht wichtiger<br />

als je<strong>de</strong>s Wun<strong>de</strong>r? Wichtiger als die endgültige Wahrheit?<br />

Doch das war nur ein Augenblick, und schon befiel es mich wie<strong>de</strong>r wie ein Fieber: Ich, ich<br />

wer<strong>de</strong> es herausbekommen. Und dann kann ich zu ihr gehen und sagen: Siehst du,<br />

Henriette, ich habe es geschafft, hier ist die Materia prima.<br />

Manchmal zweifelte ich zwar, fragte mich: Was dann, Michel Marten, wenn du die Materia<br />

prima hast? Wirst du dann im Besitz <strong>de</strong>r ewigen, <strong>de</strong>r absoluten Wahrheit sein, die alle<br />

Fragen beantwortet? Die allem Geschehen einen Sinn gibt? Und bei solchen Gedanken<br />

erschrak ich, <strong>de</strong>nn ich musste weiterfragen: Und dann?<br />

Als wir nach Großvaters Beerdigung noch einmal zurückgegangen waren in die Kirche und<br />

ich Bachs Fantasie und Fuge g-Moll gespielt hatte, da wusste ich: Dies ist das größte,<br />

vielleicht das einzige Wun<strong>de</strong>r, das möglich ist, diese Musik und diese Henriette ... Und ich<br />

hätte zugeben können, da schon, dass mich <strong>de</strong>r Stein <strong>de</strong>r Weisen kaum noch interessierte.<br />

Fort war das Fieber. Aber natürlich gab ich mir das nicht zu. Immer versuchen wir, uns so<br />

lange wie möglich über uns selbst zu täuschen ... Warum nur? Gehen mit verbun<strong>de</strong>nen<br />

Augen umher, aus Angst, die Wahrheit könnte uns blen<strong>de</strong>n, und schreien doch, wir wollten<br />

die Wahrheit, nur sie ... Mir haben die Dunkelmänner selbst die Bin<strong>de</strong> <strong>von</strong> <strong>de</strong>n Augen<br />

genommen, gegen ihren Willen freilich, an diesem Nachmittag, als wir <strong>von</strong> <strong>de</strong>r Kirche<br />

zurückkamen, Hand in Hand, wir hatten uns zum ersten Mal geküsst und waren noch immer<br />

wie verzaubert ...<br />

Sie treten in die Diele. Pfarrer Kienast steht dort, ist anscheinend kurz vor ihnen<br />

angekommen, streicht noch an seinem Rock herum, obwohl es da nichts zu streichen gibt,<br />

kein Stäubchen ist zu sehen, Ta<strong>de</strong>usz hält ihm die Tür zum Terrassenzimmer auf, sehr<br />

aufrecht geht er auf diese Tür zu, verschwin<strong>de</strong>t hinter ihr. Sekun<strong>de</strong>n später: Jankes Kopf<br />

schiebt sich aus <strong>de</strong>r gleichen Tür, ungeduldig suchend die Augen, <strong>de</strong>r massige Körper folgt<br />

<strong>de</strong>m Kopf. Janke zieht Michel zur Seite (dass Henriette sich kein Wort entgehen lässt, kann<br />

er trotz<strong>de</strong>m nicht verhin<strong>de</strong>rn).<br />

Hör zu, Michel Marten, wispert Janke - er ist aufgeregt, er stottert sogar ein wenig -, was<br />

du heute zu sehen bekommst, daran wirst du <strong>de</strong>in ganzes Leben lang <strong>de</strong>nken.<br />

Er bemerkt, dass Michel ihn wie abwesend ansieht, packt ihn an <strong>de</strong>n Schultern, schüttelt<br />

ihn: Michel Marten, wo bist du, was ist los mit dir, <strong>de</strong>r Herr Pfarrer, Michel, er wird uns die


Zukunft weissagen, durch eine Somnambule, hörst du?<br />

Nun sieht Michel ihn aufmerksam an. Er wun<strong>de</strong>rt sich nicht über das Wort, das Janke recht<br />

vorsichtig skandiert hat, es ist ihm geläufig, er hat in <strong>de</strong>n letzten Wochen etliche Bücher aus<br />

<strong>de</strong>m Schrank <strong>de</strong>s Herrn Pfarrer studiert, Bücher über Magnetismus und Hypnose und<br />

Weissagung und Geisterbeschwörung. Er sieht also aufmerksam in Jankes run<strong>de</strong>, ein wenig<br />

vorquellen<strong>de</strong> helle Augen, und seltsamerweise fällt ihm ein, während er ganz sachlich fragt,<br />

wer <strong>de</strong>nn die Somnambule sein wer<strong>de</strong>, dass dieser Janke kaum noch an <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren<br />

erinnert, <strong>de</strong>r ihn vor Jahren aus <strong>de</strong>m Wasser gezogen hat. Als hätte er eine Maske über<br />

sein Gesicht gezogen, <strong>de</strong>nkt Michel, aber doch nicht erst heute, seit wann <strong>de</strong>nn, und warum<br />

sehe ich das heute zum ersten Mal ...<br />

Trotz dieser Überlegungen hört er Jankes Antwort, und sie gefällt ihm nicht. Die Baronin,<br />

flüstert Janke, nicht triumphierend, eher schuldbewusst, Michel wun<strong>de</strong>rt sich darüber, <strong>de</strong>nkt<br />

aber nicht weiter darüber nach, <strong>de</strong>nn Henriettes Worte sind ihm eingefallen: Sie ist ihnen<br />

verfallen ..., willenlos gemacht ... Und nun - Zukunft weissagen, die Baronin.<br />

Und wir dürfen zuhören?<br />

Janke nickt. Wenn ihr euch ruhig verhaltet, sagt er und verschwin<strong>de</strong>t im Terrassenzimmer.<br />

Der kurze Disput mit Henriette, bevor sie ihm nachgehen.<br />

Ich halte das nicht aus, Michel, ich wer<strong>de</strong> dazwischenschreien, bestimmt. Und du wirst<br />

wie<strong>de</strong>r schrecklich beeindruckt sein. Wirst ihnen wie<strong>de</strong>r alles glauben. Komm, Michel, wir<br />

gehen nicht hinein.<br />

Doch, wir gehen, Henriette. Wir müssen das sehen. Ich will es wissen, alles. Und du doch<br />

auch, nicht? Und wir wer<strong>de</strong>n sehen, ob etwas daran ist o<strong>de</strong>r nicht.<br />

Wenn ich nicht mitkomme, gehst du trotz<strong>de</strong>m?<br />

Er zögert keine Sekun<strong>de</strong> mit seinem Ja.<br />

Sie senkt <strong>de</strong>n Kopf. Wirft dann mit <strong>de</strong>r üblichen energischen Bewegung die Zöpfe nach<br />

hinten und sagt: Also gut, komm.<br />

Halbdunkel im Zimmer. Die Nachmittagssonne ist ausgesperrt, nicht nur durch die hohen<br />

Bäume hinter <strong>de</strong>r Terrasse, die jetzt voll im Laub sind, son<strong>de</strong>rn auch durch grüne<br />

Samtvorhänge.<br />

Auf <strong>de</strong>m Sofa hinter <strong>de</strong>m Ecktisch: Pfarrer Kienast und Dorothea. Auf <strong>de</strong>m Stuhl davor:<br />

Janke. Und nun Michel Marten und Henriette, sie wer<strong>de</strong>n durch eine Kopfbewegung Jankes<br />

auf die Stühle in <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Zimmerecke verwiesen. Leise steht dann auch er auf,<br />

schleicht auf Zehenspitzen zu ihnen, sein großer Körper schwankt dabei ungeschickt hin und<br />

her, Michel sieht, dass Henriette sich auf die Lippen beißt, um nicht zu lachen. Janke setzt<br />

sich neben Henriette, etwas zu dicht neben sie, Michel stellt es mit Unbehagen fest.<br />

Mit Unbehagen betrachtet er auch die Baronin und <strong>de</strong>n Pfarrer. Sie re<strong>de</strong>n halblaut<br />

miteinan<strong>de</strong>r, man versteht nichts. Aber Michel hat <strong>de</strong>n <strong>de</strong>utlichen Eindruck, dass nur Kienast<br />

die Frau ansieht, ihr Blick dagegen <strong>von</strong> ihm festgehalten wird. Denn sie sieht nicht, sie starrt<br />

ihn an, unbeweglich die geweiteten Pupillen.


<strong>Das</strong> Gespräch wird mehr und mehr zu einem gemurmelten Monolog <strong>de</strong>s Pfarrers. Langsam<br />

lehnt die Baronin sich zurück. Ebenso langsam folgt sein Kopf ihrer Bewegung, seine Augen<br />

lassen sie nicht los, mit <strong>de</strong>r rechten Hand streicht er über ihr Gesicht, dann löst die linke<br />

sich vorsichtig aus <strong>de</strong>r ihren, legt sich auf ihre Brust, liegt nicht ruhig dort, gleitet dann über<br />

ihren Leib, <strong>de</strong>r zu zittern beginnt, gleitet zum Schoß, liegt auch dort nicht ruhig, sie zittert<br />

stärker, da holt er seine Hän<strong>de</strong> zurück, bei<strong>de</strong>, schiebt seinen Kopf so nahe an ihren, dass<br />

es aussieht, als wolle er sie küssen, er tut das wohl auch, möglich ist es schon, vor allem<br />

begutachtet er aber ihre Pupillen, horcht auf ihren Atem, richtet sich schließlich auf und sagt<br />

leise - zufrie<strong>de</strong>n und stolz, nicht ohne Erregung -: Sie schläft. Gebt nun acht, meine<br />

Freun<strong>de</strong>. Er ruft ihren Namen. Leise, eindringlich.<br />

Sie wirft <strong>de</strong>n Kopf hin und her, stöhnt gequält.<br />

Noch einmal ruft er ihren Namen, stärker, befehlen<strong>de</strong>r, sie zuckt wie unter einem<br />

Peitschenhieb, da sagt er, immer in diesem leisen, kalten Befehlston: Sage, was du siehst,<br />

Dorothea.<br />

Sie bewegt die Lippen, noch ist nichts zu verstehen. Dann kommen Worte, Satzbrocken,<br />

sinnloses Gestammel, was soll man damit anfangen? Von Wasser und Feuer ist die Re<strong>de</strong>.<br />

Erschlagen soll jemand wer<strong>de</strong>n. Da wird Blut fließen. Fliehen muss man und sich verbergen.<br />

Ein Namenloser, er wird Du genannt. Oft kommt nun dieses Du, einem Hilferuf ähnlich.<br />

Offensichtlich ist er im Besitz <strong>de</strong>s Schwertes Gi<strong>de</strong>on. Hier folgen noch an<strong>de</strong>re<br />

apokalyptische An<strong>de</strong>utungen, <strong>von</strong> <strong>de</strong>r babylonischen Hure ist die Re<strong>de</strong>, Paris wird gerufen<br />

(ein schriller Aufschrei das), und dann bekommt das Du einen Namen, <strong>de</strong>n Namen Ikarus,<br />

flieg nicht, ruft die Frau, aber ihrem lange anhalten<strong>de</strong>n Stöhnen ist zu entnehmen, dass er<br />

doch geflogen ist und abgestürzt, verbrannt, ruft sie, das Feuer wird uns verschlingen, alle<br />

alle ...<br />

Hier nun springt Henriette auf - mühsam zurückgehalten hat sie bisher Abscheu, Empörung,<br />

Mitleid -, sie ruft, nein, sie schreit: Aufwachen, wachen Sie doch auf, Tante, es ist ja nichts.<br />

Sie stürzt zu Dorothea, sie umfasst sie, sie lässt ihre Tränen laufen, hemmungslos, und<br />

Dorothea, aufwachend, verstört um sich blickend, streichelt das Mädchen, das ihr am Hals<br />

hängt, fragt erschrocken: Was <strong>de</strong>nn, Henriettchen, was ist <strong>de</strong>nn, wer hat dir <strong>de</strong>nn was<br />

getan? Und sieht erstaunt auf <strong>de</strong>n wütend dreinblicken<strong>de</strong>n Janke und auf Pfarrer Kienast,<br />

<strong>de</strong>r am Tisch sitzt und mit fliegen<strong>de</strong>r Fe<strong>de</strong>r die letzten Sätze ihrer Traumre<strong>de</strong> festhält,<br />

unwillig vor sich hin murmelnd: Diese Kin<strong>de</strong>r, wer hat ihnen <strong>de</strong>nn gestattet, dabei zu sein,<br />

waren Sie das, Janke, so ein Unverstand ...<br />

Dann überfliegt er seine Notizen, nickt zufrie<strong>de</strong>n, trotz<strong>de</strong>m, sagt er, man kann etwas damit<br />

anfangen, Joseph.<br />

Und er schiebt die Vorhänge beiseite, öffnet die Terrassentür, winkt Janke ungeduldig, ihm<br />

zu folgen.<br />

Michel Marten geht ihnen nach, ist bemüht, sich kein Wort entgehen zu lassen, bemüht<br />

auch, Zorn und Abscheu zu vergessen, für <strong>de</strong>n nächsten Moment zu vergessen, aber er<br />

weiß ganz genau: Er hasst diese bei<strong>de</strong>n Männer, <strong>de</strong>nen er jetzt folgt, und er glaubt ihnen<br />

nichts mehr.


Nicht je<strong>de</strong>n <strong>von</strong> Kienasts Sätzen versteht er.<br />

<strong>Das</strong>s aus Paris das Unheil kommen wird, scheint mir einleuchtend, sagt Emanuel Kienast.<br />

Es war ein Kardinalfehler <strong>de</strong>s französischen Königs, die Generalstän<strong>de</strong> einzuberufen. Die<br />

Entlassung Neckers ..., die Rührigkeit dieser Freimaurer in aller Welt, auch bei uns, und<br />

beson<strong>de</strong>rs in Paris ... und vor allem, seit sie in Amerika ..., bezeichnend auch <strong>de</strong>r Hinweis<br />

auf die Apokalypse, leuchtet Ihnen das ein, Janke? Nur - was soll Ikarus? Diese<br />

Ballonfahrten <strong>de</strong>s Franzosen vielleicht ... o<strong>de</strong>r symbolisch, gewissermaßen ..., ich wer<strong>de</strong> es<br />

noch genauer ...<br />

Sie entfernen sich, auf <strong>de</strong>m Weg zum See wan<strong>de</strong>rn sie, Michel bleibt zurück, ist sich seines<br />

maßlosen Zornes nun ebenso bewusst wie dieses Hassgefühls, und Sätze seiner bei<strong>de</strong>n<br />

Großväter kommen ihm in <strong>de</strong>n Sinn, die er bislang bewusst ignoriert hat, absichtlich<br />

vergessen.<br />

Bald nach <strong>de</strong>m Tod König Friedrichs hatte Janke diesen Emanuel Kienast <strong>von</strong> einer seiner<br />

Breslaufahrten mitgebracht, um ihn <strong>de</strong>r Baronin vorzustellen, seit<strong>de</strong>m war Kienast häufiger<br />

G st auf <strong>de</strong>m Schloss. Und eines Abends wur<strong>de</strong>n Jakob Marten und Mathias Schulz aufs<br />

Schloss befohlen, zu einem „Disput über Glauben und Lehre“.<br />

Hellwach und mit fest geschlossenen Augen lag Michel Marten in seinem Bett, als sie<br />

zurückkamen. Mü<strong>de</strong> und nie<strong>de</strong>rgeschlagen saßen sie auf <strong>de</strong>r Ofenbank, schwiegen lange,<br />

seufzten vor sich hin.<br />

Dann sagte Jakob Marten: So ist das nun, Mathias. <strong>Das</strong> ist das En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Geistesfreiheit in<br />

Preußen. Mit Männern dieses Schlages umgibt sich dieser König. Kienasts Bru<strong>de</strong>r ist ein<br />

Vertrauter <strong>de</strong>s Herrn Wöllner ... Wo sie nur plötzlich alle herkommen, diese Leute?<br />

Dieser je<strong>de</strong>nfalls kommt aus Breslau, sagte Schulz. Und Hohn und Hass in <strong>de</strong>r Stimme: Wo<br />

sie herkommen, Jakob? <strong>Das</strong> Ungeziefer kriecht aus allen Ritzen. Ein verkappter Jesuit ist<br />

dieser Kienast. So etwas rieche ich wie <strong>de</strong>r Teufel das Weihwasser, Jakob.<br />

Du sollst dich aber vorsehen, Mathias, sagte Jakob Marten. Wenn du immer so re<strong>de</strong>n willst<br />

wie heute Abend ..., diese Leute haben nun schließlich die Macht, Mathias.<br />

Ja, sagte Schulz.<br />

Ja - na und? sagte Schulz.<br />

Ich habe nichts mehr zu verlieren, sagte Schulz. Und auch wenn ich noch etwas zu verlieren<br />

hätte, ja, <strong>de</strong>r Michel, ich weiß - trotz<strong>de</strong>m, Jakob, es geht nicht. Es gibt da eine Grenze.<br />

Unsere I<strong>de</strong>ale sind nichts wert gewesen, wenn wir jetzt nichts an<strong>de</strong>res fertigbringen, als<br />

ihnen einen Grabgesang nachzuschicken.<br />

Ja, sagte Jakob Marten. Aber es war ein leises, zaghaftes Ja, ein hilfloses, wehrloses.<br />

Ein verkappter Jesuit, wie<strong>de</strong>rholt Michel sich nun erbittert und starrt die Bäume an,<br />

zwischen <strong>de</strong>nen Kienast und Janke verschwun<strong>de</strong>n sind. Aber du wolltest es nicht<br />

wahrhaben: Erst hat dich ihr Theater geblen<strong>de</strong>t, die Geisterbeschwörung, <strong>de</strong>r<br />

Goldmacherrausch, dann hast du auf <strong>de</strong>n Stein <strong>de</strong>r Weisen gesetzt, auf die endgültige,<br />

absolute Wahrheit - Herrgott, Michel Marten, ausgerechnet diese Leute sollten aus


ehrlichem Herzen die absolute Wahrheit suchen?<br />

An die Trauer <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Alten muss er <strong>de</strong>nken - Trauer um ihn - und an ihre Vorwürfe:<br />

Wozu haben wir dich Lessing und Rousseau lesen lassen? Wozu haben wir dir eingeschärft:<br />

Traue nur <strong>de</strong>inen Augen, höre nur auf <strong>de</strong>in Herz, richte dich nur nach <strong>de</strong>inem Verstand?<br />

Aber er wollte ihre Belehrungen nicht. Er wollte überhaupt keine Belehrungen. Er wollte das<br />

Abenteuer. Und er wollte es ihnen beweisen. Aber was eigentlich ...<br />

Kienast und Janke tauchen hinter einer Baumgruppe auf, biegen in <strong>de</strong>n Hauptweg ein, <strong>de</strong>r<br />

zum Schloss führt; da dreht Michel sich um und läuft aus <strong>de</strong>m Park, über <strong>de</strong>n Hof, durch<br />

das Tor, läuft gehetzt und fluchtartig, erst auf <strong>de</strong>m Friedhof geht er langsamer, steht dann<br />

lange vor <strong>de</strong>m frischen Grab <strong>de</strong>s alten Marten.<br />

Schritte hinter ihm stören ihn auf. Du, August?<br />

Wollte zum Grab, zum Schulmeister, sagt August Lemke mürrisch. Sein Gesicht ist starr vor<br />

Ablehnung, er sieht an Michel vorbei auf das Grab, Hän<strong>de</strong> in <strong>de</strong>n Taschen, Schultern<br />

hochgezogen, das alles unterstreicht: Nicht zu dir wollte ich. Nur - Michel übersieht das, weil<br />

er es nicht glaubt.<br />

Warst du nicht bei <strong>de</strong>r Beerdigung?<br />

Nein. - Und nach einer Weile, wi<strong>de</strong>rwillig: Durfte nicht, musste misten. Es durfte ja niemand<br />

vom Schloss. Auch niemand aus <strong>de</strong>n Ställen.<br />

Die Henriette war.<br />

Ja, die.<br />

Abweisend noch immer Haltung und Stimme.<br />

Wir waren mal Freun<strong>de</strong>, August.<br />

Der spuckt aus, langsam und bedächtig, unmissverständlich.<br />

Michel erinnert sich sofort, dass August schon immer unvergleichlich gut spucken konnte,<br />

am besten, weitesten und genauesten <strong>von</strong> allen Dorfjungen. Darum nimmt er ihm nun die<br />

Geste nicht übel, die im Grun<strong>de</strong> ein<strong>de</strong>utig war, sagt vielmehr: Du hast oft <strong>de</strong>n Blasebalg für<br />

mich getreten, weißt du nicht?<br />

August schweigt.<br />

Michel wird unsicher. Hast was gegen mich, jetzt, sag doch, August!<br />

Spöttisches Lächeln. Die Hän<strong>de</strong> nicht mehr in <strong>de</strong>n Taschen.<br />

Warum fragst du das heute erst, Michel Marten? Bin ich dir in <strong>de</strong>n letzten drei Jahren, seit<br />

ich Pfer<strong>de</strong>knecht bin, nicht oft genug über <strong>de</strong>n Weg gelaufen?<br />

Und nun merkt Michel selbst, wie lächerlich dumm all seine Fragen sind, und vor allem<br />

diese: Wirklich, August, drei Jahre bist du schon im Pfer<strong>de</strong>stall?<br />

Da wäre es <strong>de</strong>m August Lemke gewiss nicht übel zu nehmen, wenn er sich wütend<br />

umdrehte und ginge. Tut er aber nicht.<br />

Sagt <strong>de</strong>r Augsut Lemke: Bist ja nun was Besseres als unsereins, ziemlich lange schon, kein


Wun<strong>de</strong>r, dass du keinen Pfer<strong>de</strong>knecht mehr kennen kannst, nicht wahr?<br />

Und Michel, sehr erstaunt: Du <strong>de</strong>nkst doch nicht, es war Absicht? Nee du, das nicht, aber<br />

...<br />

Sagt <strong>de</strong>r August Lemke: Aber? Was <strong>de</strong>nn aber? Weiß selbst, dass es nicht Absicht war.<br />

Fühlst dich schon noch bisschen als <strong>de</strong>m da sein Enkel (Kopfbewegung zum Grab), bist es<br />

natürlich nicht, aber ... Und Michel, aufs Höchste erstaunt: Bin es nicht? Na, weißt du, das<br />

muss ich doch wohl selbst am besten wissen!<br />

Sagt <strong>de</strong>r August Lemke: Wieso? Du bist ein Träumer, weiß doch je<strong>de</strong>r. Zinken-Michel<br />

haben schon viele zu dir gesagt, genau wie zu mir Zinken-August, zu Kröger-Hans Zinken-<br />

Hannes, zur Bruns-Wilhelmine Zinken-Minna, aber du, du <strong>de</strong>nkst dir nichts dabei, und bist<br />

doch weiß Gott wie gelehrt.<br />

Und Michel, ratlos: Ja, aber August, was soll ich mir <strong>de</strong>nn dabei <strong>de</strong>nken?<br />

Sagt <strong>de</strong>r August Lemke: <strong>Das</strong>s du genauso ein Knotenstockkind bist wie viele in <strong>Bernsdorf</strong>,<br />

Michel Marten. Wenn du weißt, was ein Knotenstockkind ist.<br />

Und Michel sagt nichts mehr. Was ein Knotenstockkind ist, weiß er freilich. Und plötzlich<br />

weiß er sehr viel, <strong>de</strong>nn durch lange Geahntes, Verdrängtes, Zusammenhangloses ist ein<br />

Blitz gefahren, hat es verbun<strong>de</strong>n, erhellt, geklärt ...<br />

Langsam, nach<strong>de</strong>nklich sagt er: Und <strong>de</strong>shalb, <strong>de</strong>nkst du, sollte ich einen Pfer<strong>de</strong>knecht ...<br />

Quatsch, unterbricht August ihn grob. Dachte mir doch, dass du das nicht mal ahnst.<br />

Aber <strong>de</strong>shalb, <strong>de</strong>nkst du doch, hat es mich zum Schloss gezogen?<br />

August schüttelt fassungslos <strong>de</strong>n Kopf. Du bist tatsächlich ein gelehrter Dummkopf, sagt er.<br />

Zieht es mich <strong>de</strong>nn aufs Schloss? O<strong>de</strong>r die Bruns-Minna? O<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Krögerhannes?<br />

Michel, ratlos: Ta, was dann, August? Was wolltest du mir dann eigentlich sagen? Denn<br />

dass ich hier stehe, hast du ja vom Tor aus schon gesehen. Wenn du mir nichts sagen<br />

wolltest, wärest du nicht jetzt gekommen, son<strong>de</strong>rn später.<br />

Sagt <strong>de</strong>r August Lemke: Wie klug nun wie<strong>de</strong>r. Michel Marten. Wollte dir eben nur mal<br />

sagen, wer du bist. Meine:<br />

Wer du eigentlich bist: ein gelehrter Dummkopf. Scha<strong>de</strong>, Michel Marten.<br />

Und geht da<strong>von</strong>.<br />

Und lässt einen recht verwirrten Michel Marten zurück, <strong>de</strong>r dieses Lemke-August-Orakel zu<br />

<strong>de</strong>uten versucht, aber nur auf die Frage kommt: Wer bin ich <strong>de</strong>nn eigentlich? Herrgott, ja,<br />

wer bin ich? Und dann wird ihm bewusst, dass er heute schon einmal gefragt wur<strong>de</strong>: Wer<br />

bist du? Nicht so direkt, aber es lief darauf hinaus, und er hat mit großer Sicherheit<br />

geantwortet: Ich bin, wer ich immer war. Ich bin ich. Und nun dämmert es ihm, während er<br />

mit <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n seine Haare zerwühlt, ohne es zu merken; diese Sicherheit war gar keine<br />

Sicherheit, son<strong>de</strong>rn eine leichtfertige Maske, die er sich vorgebun<strong>de</strong>n hatte vor sein<br />

unbekanntes, unsicheres Ich. Ihm selbst unbekannt. Ihm selbst unsicher.


4<br />

Eine Woche nach <strong>de</strong>r Beerdigung Jakob Martens wird <strong>de</strong>r neue Schulmeister examiniert,<br />

auf <strong>de</strong>m Schloss, vom Pfarrer Kienast und einem Herrn aus Berlin. Michel war neugierig<br />

gewesen auf dieses Examen. Laut Entscheid <strong>de</strong>s seit drei Tagen anwesen<strong>de</strong>n Barons wird<br />

er nicht, wie je<strong>de</strong>rmann im Dorf glaubte - Kienast und Janke ausgenommen -, die Stelle<br />

seines Großvaters einnehmen. Noch nicht trocken hinter <strong>de</strong>n Ohren, hatte <strong>de</strong>r Baron<br />

gesagt, und infiziert, ganz sicher infiziert <strong>von</strong> Hirngespinsten <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n alten Kerle.<br />

Willst du dir das Examen anhören, Michel Marten? fragt Janke.<br />

Janke ist freundlich. Janke ist glücklich. Denn seit gestern weiß er, dass er <strong>de</strong>mnächst<br />

gea<strong>de</strong>lt wird. Joseph <strong>von</strong> Janke, wie das klingt, <strong>de</strong>nkt Michel. Michael <strong>von</strong> Marten - klingt<br />

das auch? Er muss lachen, laut. Janke sieht ihn befrem<strong>de</strong>t an, schnell nimmt er sich<br />

zusammen, nickt auf die Frage und geht ihm nach, die Treppe hinunter, ins Arbeitszimmer<br />

<strong>de</strong>s Barons, drückt sich in die hinterste Ecke. Der Baron thront hinter <strong>de</strong>m eichenen<br />

Schreibtisch, flankiert heute nicht <strong>von</strong> <strong>de</strong>n englischen Settern, son<strong>de</strong>rn <strong>von</strong> Emanuel Kienast<br />

und diesem Herrn aus Berlin, einem fülligen alten Mann mit gewaltiger Perücke und Kneifer.<br />

Alle drei machen einen schläfrigen Eindruck.<br />

Janke setzt sich neben Kienast, er weiß nicht recht, wohin mit seinen Füßen, wickelt sie<br />

umeinan<strong>de</strong>r. Muss sie aber gleich wie<strong>de</strong>r auseinan<strong>de</strong>r wickeln, <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r Baron be<strong>de</strong>utet<br />

ihm, <strong>de</strong>n Examinan<strong>de</strong>n hereinzuführen.<br />

Und nun Johannes Rietz, stelzfüßig, schon angegraut.<br />

Der Baron re<strong>de</strong>t jovial-herablassend mit ihm: Nenne Er uns Name, Stand, Alter, Beruf und<br />

so fort, sagt er.<br />

Johannes Rietz nickt, sagt dann, langsam und schwerfällig an <strong>de</strong>n Worten kauend: Bin<br />

Rietz-Johannes, <strong>de</strong>m Rietz-Karl aus Jüterbog sein Sohn, <strong>de</strong>r ein Schnei<strong>de</strong>r war, Gott hab<br />

ihn selig, hab auch das Schnei<strong>de</strong>rn gelernt, in jungen Jahren, bin jetzt zweiundfünfzig, war<br />

Soldat <strong>de</strong>s Großen Königs, lange, Feldwebel, tat auch Schreibstubendienst, ging als Kind<br />

drei Jahre in eine Schule, war auch <strong>de</strong>m Herrn Baron <strong>von</strong> <strong>Bernsdorf</strong> sein Bursche, bis zur<br />

Blessur in Polen, wo ich ein Bein verlor, bin aber nicht dran gestorben, ja.<br />

Der Herr aus Berlin räuspert sich, gut, gut, sagt er, kommen wir zur Sache, welchen<br />

Glaubens ist Er?<br />

Glaubens? Nun, lutherisch wohl, sagt Rietz.<br />

Wohl? Will Er sagen, Er weiß es nicht genau? <strong>Das</strong> fragt Pfarrer Kienast, und mit scharfer<br />

Stimme.<br />

Unzufrie<strong>de</strong>n knurrt <strong>de</strong>r Baron: Natürlich lutherisch, verbürg mich.<br />

Verbeugung <strong>de</strong>s sitzen<strong>de</strong>n Herrn aus Berlin gegen <strong>de</strong>n Baron. Dann lässt er sich hersagen,<br />

wobei er <strong>de</strong>n Prüfling durch seinen Kneifer mustert: <strong>Das</strong> Vaterunser. Die Zehn Gebote mit<br />

<strong>de</strong>n Erläuterungen unseres Herrn Martin Luther. <strong>Das</strong> Glaubensbekenntnis. Die Bücher <strong>de</strong>s<br />

Alten und <strong>de</strong>s Neuen Testaments.<br />

Der Prüfling macht, sieht man <strong>von</strong> einem gewissen ausdruckslosen Tonfall ab, einen guten


Eindruck, notiert er auf ein Blatt Papier.<br />

(Hier sei eingefügt, dass Johannes Rietz während <strong>de</strong>s ganzen, eine reichliche Stun<strong>de</strong><br />

dauern<strong>de</strong>n Examens vor <strong>de</strong>m Schreibtisch stand, das Holzbein leicht ausgestellt, und er<br />

drehte fast ununterbrochen mit <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n seine Mütze.)<br />

Die weiteren Fragen sind: <strong>Das</strong> Wesen <strong>de</strong>r Sakramente (nicht beantwortet), <strong>de</strong>r Inhalt <strong>von</strong><br />

Christi Bergpredigt (sehr unvollständig beantwortet), Jesu Wun<strong>de</strong>rtaten (ausführlich<br />

geschil<strong>de</strong>rt), die Stammväter <strong>de</strong>s Volkes Israel (richtig genannt), die Ankündigung <strong>de</strong>s<br />

Heilands durch die Propheten (verworren und unklar). Zufrie<strong>de</strong>n nickt <strong>de</strong>r Herr aus Berlin,<br />

sagt erleichtert: Gut, Johannes Rietz.<br />

Baron, Janke, Kienast: ebenfalls erleichtertes Nicken.<br />

So, und nun noch ganz schnell, sagt <strong>de</strong>r Herr aus Berlin und reicht Johannes Rietz die Bibel,<br />

lies Er hier dies.<br />

Langsam, manchmal buchstabierend, auch oft eine Weile überlegend, insgesamt recht<br />

or<strong>de</strong>ntlich gelesen, notiert <strong>de</strong>r Herr aus Berlin.<br />

Schön, schön, sagt er freundlich, und wie steht es mit <strong>de</strong>m Schreiben?<br />

Verlegen wie<strong>de</strong>r seine Mütze drehend, nach<strong>de</strong>m er die Bibel zurückgegeben hat, sagt<br />

Rietz: Na ja.<br />

Bekommt einen Zettel, eine Fe<strong>de</strong>r, ein Tintenfass, jetzt auch einen Stuhl.<br />

Schreibt langsam, sehr fehlerhaft und äußerst ungelenk, notiert <strong>de</strong>r Herr aus Berlin.<br />

Er hat seine Sache sehr gut gemacht, sagt er zu Rietz, <strong>de</strong>r sofort wie<strong>de</strong>r aufgestan<strong>de</strong>n ist,<br />

aufatmet und plötzlich lächelt. Traut Er sich zu, die Kin<strong>de</strong>r dieses Dorfes und <strong>de</strong>r zum<br />

Kirchspiel gehören<strong>de</strong>n Gemein<strong>de</strong>n in wahrer Gottesfurcht, in <strong>de</strong>mütigem Gehorsam zu<br />

erziehen und sie im Wort <strong>de</strong>s Herrn zu unterweisen sowie auch im Lesen und Schreiben?<br />

Johannes Rietz nickt nun, eifrig sogar, und ein frohes Leuchten ist in seinen Augen, Michel<br />

sieht das zwar nicht, aber er ahnt es, <strong>de</strong>nn die Stimme dieses ehemaligen Feldwebels<br />

leuchtet plötzlich auch, als er - viel sicherer und viel weniger schwerfällig als bisher - sagt:<br />

Darauf freu ick mir schon. Seit meiner Blessur da führ ick doch ein nutzloses Leben, nicht<br />

wahr, ick meine ...<br />

Was er meint, sagt er nicht, doch <strong>de</strong>r Baron ergänzt: Kenn ihn, wird mit Gören keine<br />

Schwierigkeiten haben, weiß seinen Prügel immer rechtzeitig zu brauchen. Kannst gehn,<br />

Johannes. Die Besoldung, sagt da <strong>de</strong>r Herr aus Berlin, wird wie üblich durch <strong>de</strong>n gnädigen<br />

Herrn Baron erfolgen, dazu kommt <strong>de</strong>r Schulgeldpfennig <strong>von</strong> <strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rn aus Dörfern, die<br />

nicht zu <strong>de</strong>n <strong>Bernsdorf</strong>schen Besitzungen gehören. Der Baron knurrt: Besoldung, na ja. Zahl<br />

kein Geld, zahl immer in Naturalien. Hat ja noch zwei Hän<strong>de</strong>, kann schnei<strong>de</strong>rn <strong>von</strong> früh bis<br />

Abend, dabei Kin<strong>de</strong>r unterweisen, ganz einfach, zerschlag Er nur Elle nicht auf ihnen, komm<br />

nicht auf dafür!<br />

Und Kienast fügt <strong>de</strong>m allen hinzu, Rietz habe als Küster zwar nicht die Orgel zu spielen, da<br />

er <strong>de</strong>s Orgelspielens lei<strong>de</strong>r nicht mächtig sei, wohl aber ihm, <strong>de</strong>m Pfarrer, bei<br />

Begräbnissen, Hochzeiten, Kindtaufen und so weiter zur Hand zu gehen, ein paar Pfennige


kämen dabei auch ein.<br />

Zu allem nickt dieser Johannes Rietz, <strong>de</strong>mütig, zufrie<strong>de</strong>n, aber man hat nicht <strong>de</strong>n Eindruck,<br />

dass er so recht begreift, was ihm da gesagt wird.<br />

Ja, siehst du, Michel Marten, so ein Examen wirst du auch einmal ablegen müssen. Er sitzt<br />

im ausgestorbenen Schulhaus, sortiert seine Siebensachen und etliche <strong>de</strong>s alten Marten in<br />

einen großen Wäschekorb.<br />

Was <strong>de</strong>nkt er da, während er packt? Bin ich also ein <strong>Bernsdorf</strong>scher? <strong>de</strong>nkt er. Wer will<br />

das wissen - vielleicht bin ich’s nicht? Und wenn - was än<strong>de</strong>rt das eigentlich? Nehme also<br />

mal an, <strong>de</strong>r Baron ist mein Vater.<br />

Er horcht in sich hinein, vergisst das Einpacken für eine Weile, stellt fest, erleichtert: Der<br />

Baron ist ihm durch diese Annahme nicht nähergerückt. Im Gegenteil. Seit Augusts<br />

lakonischen Auskünften hasst er ihn ebenso, wie er - auch seit diesem Tag - Janke hasst<br />

und Kienast. O<strong>de</strong>r - schon immer - Friedrich. Und da sagt er sich: Falls er wirklich mein<br />

Vater ist, hat er sich gewaltsam dazu gemacht. Ich wer<strong>de</strong> das ignorieren. Soll ich <strong>de</strong>nn in<br />

<strong>de</strong>m käsigen, duckmäuserischen Friedrich, diesem Scharwenzler, diesem Kriecher, diesem<br />

künftigen Höfling, meinen Bru<strong>de</strong>r sehen? Nichts da. Und Großvater Marten bleibt Großvater<br />

Marten.<br />

Also packt er weiter, bis <strong>de</strong>r Wäschekorb beinahe überläuft und die Truhe leer ist. Aber da<br />

ist noch das Schränkchen am Fenster. Nichts will er hier für <strong>de</strong>n neuen Schulmeister<br />

zurücklassen als die Möbel, die sowieso <strong>de</strong>m Baron gehören.<br />

Es wird mir nichts an<strong>de</strong>res übrig bleiben über kurz o<strong>de</strong>r lang, <strong>de</strong>nkt er, als auch so eine<br />

Küsterstelle irgendwo. Schließlich kann ich nicht ewig so weiterleben ... O<strong>de</strong>r hast du<br />

gedacht, Michel Marten, sie wer<strong>de</strong>n dich studieren schicken, diese <strong>Bernsdorf</strong>s? Selbst<br />

Joachim hat’s nur mit Mühe und Not erreicht, dass er nun zum Studium darf. Meinst du<br />

<strong>de</strong>nn, sie wer<strong>de</strong>n dich noch auf <strong>de</strong>m Schloss behalten, wenn Joachim fort ist? Als<br />

Henriettes Gesellschafter vielleicht? O<strong>de</strong>r als Unterhalter etwaiger Abendgesellschaften ...<br />

<strong>Das</strong> gefällt sogar <strong>de</strong>m alten Herrn, wenn seine Gäste <strong>de</strong>inem Klavierspiel applaudieren; sie<br />

bewun<strong>de</strong>rn damit sein Haus, nicht dich, Michel Marten ... Aber dafür wird er dich auf die<br />

Dauer nicht ernähren ..., und das willst du doch auch nicht ...<br />

Ja, aber was will ich <strong>de</strong>nn?<br />

Henriette.<br />

Ach, Michel Marten. Sie wer<strong>de</strong>n dir gera<strong>de</strong> die Henriette lassen. Wer bist du <strong>de</strong>nn, Michel<br />

Marten ...<br />

Wütend reißt er das zweite Schubfach <strong>de</strong>s kleinen Schränkchens auf, wirft die Papiere <strong>de</strong>s<br />

alten Marten auf die Er<strong>de</strong>. Noch nie hat er sich ernsthaft überlegt, was aus ihm wer<strong>de</strong>n<br />

könnte, kaum Gedanken über die Zukunft hat er sich bisher gemacht, <strong>de</strong>nn: wäre es ihm<br />

erst gelungen, Quecksilber in Gold und Gold in die Materia prima zu verwan<strong>de</strong>ln ... Und<br />

nichts zeigt ihm so klar das En<strong>de</strong> dieses verführerisch schönen Traumes als <strong>de</strong>r


schreckliche Gedanke an eine Küsterstelle. In einer dunklen Schulstube sieht er sich stehen,<br />

ungebärdigen Dorfkin<strong>de</strong>rn das Abc einbläuen mit <strong>de</strong>m Rohrstock ... Katechismus und Bibel<br />

... Rechnen ist nicht vorgesehen ..., sieht sich die Schulgeldpfennige einsammeln aus<br />

mageren, schmutzigen Kin<strong>de</strong>rhän<strong>de</strong>n, weiß, dass sein Magen immer leer sein wird, dass er<br />

Bienen und Ziege und Acker und möglichst noch ein Handwerk nötig haben wird, um ihn<br />

nicht ständig laut knurren zu hören ... Und dann fällt ihm das Wöllnersche Edikt ein. Du<br />

musst diesen eingeschüchterten, hungrigen Kin<strong>de</strong>rn täglich Lügen und Prügel statt Wahrheit<br />

und Wissen zukommen lassen, Michel Marten, an<strong>de</strong>rnfalls wird nicht einmal <strong>de</strong>r<br />

Hungerposten <strong>de</strong>s Dorfschulmeisters für dich vakant sein ...<br />

Und da, aufspringend, stößt er das Häuflein Papier mit <strong>de</strong>m Fuß auseinan<strong>de</strong>r und sagt laut:<br />

Nein. Niemals. <strong>Das</strong> nicht. Auf gar keinen Fall.<br />

Erschrickt vor <strong>de</strong>r eigenen Stimme. Sieht dann die Sachen durch, flüchtig nur, wenig<br />

neugierig. Noten, viele Noten, ein paar Briefe. Briefe? Von wem hat Großvater Marten <strong>de</strong>nn<br />

Briefe bekommen? Ungeduldig plötzlich, faltet er die Bogen auseinan<strong>de</strong>r, liest, setzt sich auf<br />

die Er<strong>de</strong>, liest weiter.<br />

„Dessau, am 18. Februar 1776“, steht da.<br />

„Mein lieber Vater, ich danke Ihnen für Ihre gütigen Zeilen, die mir wohltaten, ersah ich doch<br />

daraus, dass Sie mir nicht mehr zürnen. Und ich beeile mich, Ihnen meine neue Anschrift<br />

mitzuteilen. Sobald ich gehört hatte, dass <strong>de</strong>r <strong>von</strong> mir hochverehrte Johann Bernhard<br />

Basedow vom Fürsten Friedrich Franz <strong>von</strong> Dessau die Mittel zur Errichtung seiner<br />

Pflanzschule erhalten, hielt mich nichts mehr im Königreich Preußen, und ich eilte, zu ihm zu<br />

gelangen. Und <strong>de</strong>nken Sie sich meine Freu<strong>de</strong>, liebster Vater, als ich in Dessau auch jenen<br />

Peter Villaurne wie<strong>de</strong>rfand, <strong>von</strong> <strong>de</strong>m ich Ihnen letztens schrieb, weiterhin Salzmann und<br />

GuthsMuths, <strong>de</strong>ren Schriften ich bei Villaurne gelesen hatte. Freilich sagen sie mir<br />

persönlich weniger zu, doch in Hinsicht auf unser großes Vorhaben sind wir eine einzige<br />

Familie: <strong>Das</strong> Philanthropin zu Dessau wird eine Werkstatt <strong>de</strong>r Menschenfreundschaft<br />

wer<strong>de</strong>n, eine Pflanzschule <strong>de</strong>r Aufklärung, aus <strong>de</strong>r gebil<strong>de</strong>te, freie, selbstbewusste<br />

Persönlichkeiten hervorgehen wer<strong>de</strong>n. Ach, Vater, ich weiß: Was ich Ihnen hier schreibe,<br />

muss Sie traurig stimmen, <strong>de</strong>nn wohl nirgendwo in Deutschland, die mecklenburgischen<br />

Herzogtümer ausgenommen, sieht es so finster an <strong>de</strong>n Schulen <strong>de</strong>s Volkes aus wie in<br />

diesem Preußen. Was ist <strong>de</strong>nn ein Volksschullehrer - und dies freilich nicht nur in Preußen<br />

und Mecklenburg, son<strong>de</strong>rn in allen <strong>de</strong>utschen Lan<strong>de</strong>n, was ist er mehr als einer <strong>de</strong>r<br />

niedrigsten Bediensteten, und <strong>de</strong>r Dorfschulmeister steht zu allerunterst. Und darf er etwa<br />

ein Volkserzieher sein? Muss er nicht ein Exekutor und Prügelmeister sein, soll er nicht je<strong>de</strong><br />

Persönlichkeit zerbrechen, die in ihrer Entwicklung <strong>von</strong> <strong>de</strong>r Norm <strong>de</strong>s Untertanen abweicht?<br />

Aber man darf sich nicht abfin<strong>de</strong>n, Vater, man muss sich auflehnen, immer wie<strong>de</strong>r auflehnen<br />

gegen die Privilegien, in <strong>de</strong>nen ich die Wurzel allen Übels sehe.<br />

Meinen Plan zur Herausgabe einer Zeitschrift habe ich keinesfalls aufgegeben, sehe aber im<br />

Moment noch immer keine Möglichkeit, ihn zu verwirklichen.<br />

Gern schickte ich Ihnen Herrn Basedows <strong>Buch</strong> „Vorstellungen an Menschenfreun<strong>de</strong> über


Schulen“, es wird Sie interessieren, fürchte aber, es passiert die preußische Zensur nicht.<br />

Lieber Vater, sobald ich hier meine Verhältnisse geordnet und mich eingelebt habe, wer<strong>de</strong><br />

ich Ihnen Genaues über meine Arbeit mitteilen. Auch hoffe ich, Ihnen <strong>de</strong>mnächst etwas<br />

Geld schicken zu können. Bitte grüßen Sie meinen guten Schwiegervater <strong>von</strong> mir, küssen<br />

Sie <strong>de</strong>n Jungen, es ist Sophies Kind, alles an<strong>de</strong>re ist jetzt unwesentlich. Und vergessen Sie<br />

nicht, an Sophies To<strong>de</strong>stag einen Strauß in meinem Namen auf ihr Grab zu legen.<br />

Ihr dankbarer Sohn<br />

Heinrich Marten“<br />

„Dessau, <strong>de</strong>n 5. März 1778<br />

Mein lieber guter Vater, sobald <strong>de</strong>r März beginnt, wächst meine Sehnsucht nach <strong>de</strong>r Heimat<br />

unermesslich, und ich bezwinge sie nur, in<strong>de</strong>m ich Ihnen schreibe. Wie ich Ihrem letzten<br />

Brief entnahm, haben Sie mehrere meiner Sendungen nicht erhalten, in <strong>de</strong>nen ich Ihnen über<br />

meine Arbeit am Philanthropin berichtete. Doch dass Sie das Geld erhalten haben, ist<br />

entschei<strong>de</strong>nd; meine begeisterten Berichte über unsere Pflanzschule müsste ich jetzt<br />

wi<strong>de</strong>rrufen, hätten Sie sie gelesen. Zeit ist vergangen, die manches verän<strong>de</strong>rt hat; man soll<br />

sich nicht in die Nähe seiner Götter begeben, sie könnten sonst aufhören, es zu sein. Doch<br />

heilsame Enttäuschungen haben ihr Gutes, möglicherweise ist es besser, zu sagen: Man<br />

soll sich in die Nähe seiner Götter begeben, <strong>de</strong>nn wenn sie dadurch aufhören, Götter zu<br />

sein, sind sie’s nie gewesen.<br />

Vielleicht brauche ich mich gar nicht näher zu erklären? Sie warnten mich schon vor einem<br />

Jahr, als Sie schrieben, ich solle nur nicht zu unkritisch gegenüber Herrn Basedow sein, und<br />

ich wun<strong>de</strong>rte mich sehr, wie gut Sie durch Briefe und <strong>Buch</strong>sendungen Ihres Hamburger<br />

Freun<strong>de</strong>s Suhrbier unterrichtet sind über Basedow und sein Vorhaben, ja sogar Pestalozzis<br />

Experimente und Campes Pläne, eine pädagogische Enzyklopädie betreffend, kennen Sie.<br />

So wird Sie nicht wun<strong>de</strong>rn, wenn ich Ihnen nun meine große Enttäuschung auf die Seele<br />

lege, damit ich die meine ein wenig erleichtere. Was Herrn Basedow betrifft, so musste ich<br />

sehr bald feststellen, dass allzu viel Eitelkeit und Selbstgefälligkeit in seinem Wesen ist,<br />

wodurch er mir sehr fremd gewor<strong>de</strong>n ist. Außer<strong>de</strong>m gehört er zu <strong>de</strong>n Erziehern, die außer<br />

ihrem Willen keinen an<strong>de</strong>ren kennen und gelten lassen wollen, es sei <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>n <strong>de</strong>r<br />

Geldgeber. <strong>Das</strong> alles wäre nicht gar so schlimm, <strong>de</strong>nn da er ein gutes Ziel verfolgt und im<br />

Grun<strong>de</strong> ein herzensguter Mensch ist, mag man ihm einiges nachsehen. Viel schlimmer ist,<br />

dass meine Begeisterung für das Philanthropin zu kühler Ernüchterung wur<strong>de</strong>, als ich<br />

begreifen musste, dass wir zwar die Stan<strong>de</strong>sprivilegien im wesentlichen ignorieren, die<br />

Privilegien <strong>de</strong>s väterlichen Geldbeutels aber keineswegs, sodass ein genialer armer<br />

Schlucker auch bei uns keine Aussicht auf ein Fortkommen hat, er mag sich drehen, wie er<br />

will. Und ich hatte unter <strong>de</strong>n armen Schülern unserer Anstalt, die - lei<strong>de</strong>r Gottes - eine<br />

an<strong>de</strong>re, viel schlechtere Ausbildung erhalten und <strong>de</strong>n Bevorrechteten zu persönlichen<br />

Diensten verpflichtet sind, so einen genialen Kerl ent<strong>de</strong>ckt, ein wahres Wun<strong>de</strong>r an<br />

Denkvermögen, und habe ihn sehr ins Herz geschlossen. Wir waren um die Zeit alle <strong>von</strong><br />

Begeisterung über die Erklärung <strong>de</strong>r Menschenrechte durch die tapferen Amerikaner erfüllt,


wir veranstalteten Umzüge und Versammlungen, Schüler und Lehrer, und die Dessauer<br />

Bevölkerung war <strong>von</strong> <strong>de</strong>r gleichen Begeisterung erfasst. Da griff ich in meinem<br />

Freu<strong>de</strong>ntaumel zu <strong>de</strong>n Sternen (so sagte mein Freund Peter Villaurne später zu mir). Ich<br />

stellte <strong>de</strong>n versammelten Erziehern <strong>de</strong>s Philanthropins vor, wie wenig es mit <strong>de</strong>n<br />

Menschenrechten übereinstimmt, wenn die Privilegien <strong>de</strong>s Stan<strong>de</strong>s nun durch die Privilegien<br />

<strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s ersetzt wer<strong>de</strong>n. Und ich zeigte ihnen einen an<strong>de</strong>ren Weg - meinen Plan<br />

erläuterte ich ihnen: Wir könnten auf die Mittel <strong>de</strong>r begüterten Eltern nach einer gewissen<br />

Zeit verzichten, wenn wir eine produzieren<strong>de</strong> und lernen<strong>de</strong>, vollkommen gleichberechtigte<br />

Gemeinschaft bil<strong>de</strong>ten, in <strong>de</strong>r alle Güter allen gemeinsam sind. Denn wir haben unsere<br />

Werkstätten, unsere Gärten, unsere Äcker, wir könnten ... Ach, bester Vater, da kam ich<br />

übel an! Seit<strong>de</strong>m gehen meine lieben Kollegen mit mir um wie mit einem Aussätzigen, und<br />

nur unter vier Augen gibt mir <strong>de</strong>r eine o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re zu verstehen, dass ich so unrecht<br />

vielleicht gar nicht habe ... Für meinen kleinen Freund konnte ich gar nichts erreichen, da ich<br />

mich nicht damit begnügen konnte und wollte, für ihn allein etwas zu än<strong>de</strong>rn. Er wird einst<br />

ein tüchtiger Tischler sein, es könnte doch aber ein großer, ein ganz großer Gelehrter aus<br />

ihm wer<strong>de</strong>n ..., und immer, wenn er mir einfällt, kann ich mich nicht bezwingen und streite<br />

mich mit meinen Herren Kollegen. Aber ich bin mir nun sicher, dass ich hier nichts erreichen<br />

kann, und wer<strong>de</strong> mein Glück <strong>de</strong>mnächst an<strong>de</strong>rswo suchen. Mein Plan einer Arbeits- und<br />

Erziehungskolonie ist gut, das <strong>de</strong>nke ich je<strong>de</strong>n Tag aufs neue, ich wer<strong>de</strong> ihn in einem <strong>Buch</strong><br />

genau erläutern, und ich träume auch da<strong>von</strong>, ihn irgendwann einmal zu verwirklichen.<br />

Vielleicht befolge ich nun doch <strong>de</strong>n Rat, <strong>de</strong>n Sie mir beim Abschied gaben, und gehe nach<br />

Hamburg. Mir scheint das ein Ort zu sein, wo man freier atmen kann. Und Ihr alter Freund<br />

Karl-Ernst Suhrbier wird mir gewiss weiterhelfen, ohne dass ich ihn um Almosen bitten<br />

muss. Denn ich fühle mich in <strong>de</strong>r Lage, selbstständig durchs Leben zu kommen, und wer<strong>de</strong><br />

ihm alles, was er mir möglicherweise vorstreckt, auf Heller und Pfennig zurückzahlen.<br />

Küssen Sie <strong>de</strong>n Jungen, lieber Vater; ich bin recht froh, dass er so ein gescheites und<br />

musikalisches Kerlchen ist, lehren Sie ihn soviel wie möglich, lassen Sie ihn sehr bald<br />

Lessing und Her<strong>de</strong>r lesen, damit sich sein Verstand entwickelt und er <strong>de</strong>n Gefahren<br />

entgeht, die uns drohen, wenn wir glauben, ohne zu <strong>de</strong>nken.<br />

Ihr dankbarer Sohn<br />

Heinrich Marten“<br />

Er faltet die Briefe zusammen. Auf einmal weiß er, was er tun wird. Nicht heute und<br />

morgen; die Trennung <strong>von</strong> Henriette ist ihm vorerst unvorstellbar. Aber irgendwann, bevor er<br />

Schulmeister wer<strong>de</strong>n muss, da wird er diesem Heinrich Marten nachfahren. Wird ihn<br />

suchen. Wird ihn fin<strong>de</strong>n. Natürlich wird er ihn fin<strong>de</strong>n. Und er wird Vater zu ihm sagen ... Und<br />

dann - ja, vielleicht kann er dann doch studieren? O<strong>de</strong>r eine Organistenstelle antreten,<br />

irgendwo in einer großen Stadt, an einer großen Kirche ... Ach, <strong>de</strong>r Heinrich Marten wird<br />

ihm schon sagen, was er dann tun kann, wird ihm schon auf <strong>de</strong>n Weg helfen ...<br />

Aber wo ist er jetzt? Michel sortiert die Briefe, vergleicht ihre Daten. Der letzte Brief kommt<br />

aus Hamburg, datiert vom 3. November 1786. Warum hat er seinem Vater danach nicht


mehr geschrieben?<br />

Michel begreift, welchen Kummer <strong>de</strong>r Alte in seinen letzten Lebensjahren mit sich<br />

herumgeschleppt hat, und heiß wird ihm vor Scham, <strong>de</strong>nn er begreift auch: Kein Vertrauen<br />

hat er mehr zu mir gehabt, nie hat er <strong>von</strong> diesem Kummer gesprochen und nie <strong>von</strong> diesen<br />

Briefen ...<br />

Er sammelt auch die Notenblätter ein, ent<strong>de</strong>ckt dabei - und sein Herz klopft vor Freu<strong>de</strong> - die<br />

Freimaurerbriefe Lessings, blättert darin, fin<strong>de</strong>t diesen Her<strong>de</strong>rsatz wie<strong>de</strong>r: „Zum Besten <strong>de</strong>r<br />

Menschheit kann niemand beitragen, <strong>de</strong>r nicht aus sich selber macht, was aus ihm wer<strong>de</strong>n<br />

kann und soll.“ Liest ihn laut, mehrmals, bis er ihn im Kopf hat. Steckt dann das alles nicht in<br />

<strong>de</strong>n Wäschekorb, son<strong>de</strong>rn unter sein Hemd, verschließt das Zimmer und die Haustür und<br />

geht hinüber zum Schloss, gebeugt unter <strong>de</strong>r Last <strong>de</strong>s Korbes, doch viel weniger ratlos, als<br />

er es in <strong>de</strong>n letzten Tagen war.


5<br />

Natürlich steht <strong>de</strong>r Leutnant Michel Marten, Offizier <strong>de</strong>r Gran<strong>de</strong> Armee, jetzt nicht mehr am<br />

zugefrorenen See hinter <strong>de</strong>m Schlosspark. Da waren ihm die Füße kalt gewor<strong>de</strong>n, sodass<br />

er alle Wege <strong>de</strong>s Parks ablief, um sich zu erwärmen, dabei in seiner Brusttasche suchte<br />

und ein paar vielfach gefaltete, abgegriffene Briefe herauszog, las, wie<strong>de</strong>r wegsteckte. Im<br />

gleichen Augenblick hörte er die Kirchenglocke, und er eilte, aus <strong>de</strong>m Park zu kommen,<br />

<strong>de</strong>nn nicht <strong>de</strong>r Herrschaft wollte er jetzt begegnen, son<strong>de</strong>rn, wenn möglich, <strong>de</strong>m August<br />

Lemke. Gelangte auch noch rechtzeitig hinter die kleine Kapelle, bevor sie gemessenen<br />

Schritts aus <strong>de</strong>r Seitentür <strong>de</strong>r Kirche heraustraten: Baron und Baronin, Joachim und<br />

Friedrich und dann Henriette am Arm <strong>de</strong>s Joseph <strong>von</strong> Janke. Zum Schluss Halina und Maria,<br />

mit Decken und Kissen bela<strong>de</strong>n.<br />

Er sah sie, <strong>de</strong>nn er konnte es nicht lassen, um die Ecke <strong>de</strong>r Kapelle zu spähen, er sah vor<br />

allem Henriette. Und er wusste, was er noch gestern Abend nicht wahrhaben wollte: er<br />

liebte sie noch immer. Wirklich, Michel Marten? Aber weißt du <strong>de</strong>nn, wer sie ist - heute? Ist<br />

diese Frau <strong>von</strong> Janke <strong>de</strong>nn noch <strong>de</strong>ine Henriette? Wie kann sie noch Henriette sein, wenn<br />

sie <strong>von</strong> Janke heißt, Michel Marten.<br />

Während er so mit sich re<strong>de</strong>te, versuchte er das Gefühl zurückzuholen, das ihn vor Jahren<br />

überfallen hatte, in Hamburg, als Andreas Suhrbier sagte: Meine Schwester hat Post <strong>von</strong><br />

ihrem Verlobten, Michel, in <strong>Bernsdorf</strong> war Hochzeit, die Henriette hat <strong>de</strong>n Herrn <strong>von</strong> Janke<br />

geehelicht. - Ein paar Wochen warst du da erst in Hamburg, Michel Marten, belogen und<br />

betrogen kamst du dir vor, und: ich lieb sie nicht mehr! hast du dir eingere<strong>de</strong>t, was soll das<br />

also jetzt, Michel Marten, natürlich liebst du sie nicht mehr, sie ist doch wie alle diese<br />

Herrschaften: launisch, vergesslich, selbstsüchtig. Und er suchte angestrengt nach an<strong>de</strong>ren<br />

Eigenschaften, mit <strong>de</strong>nen er Henriette ausstattete: überheblich, dachte er, oberflächlich,<br />

allzu anpassungsfähig, und er wusste nicht, dass er sich nur <strong>de</strong>shalb so anstrengte, weil er<br />

eine Stimme in sich zum Schweigen bringen wollte, die aber trotz<strong>de</strong>m unüberhörbar<br />

weitersprach: Deine Schuld, Michel Marten, <strong>de</strong>ine Schuld, <strong>de</strong>ine ...<br />

Bei all <strong>de</strong>m Sinnieren vergaß er, auf <strong>de</strong>n Strom <strong>de</strong>r Dorfbewohner zu achten, <strong>de</strong>r nun aus<br />

<strong>de</strong>m Hauptportal <strong>de</strong>r Kirche quoll, sich auf <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n Wegen <strong>de</strong>s Kirchhofs ausbreitete,<br />

langsam an <strong>de</strong>r Kapelle vorbeifloss, und erst eine Stimme schreckte ihn auf, ein Satz, <strong>de</strong>r<br />

hieß: Sieh da, die französische Armee überwacht auch <strong>de</strong>n Weihnachtsgottesdienst!<br />

Ein Halbwüchsiger hatte das gerufen, laut und ungeniert, aber er wur<strong>de</strong> schnell zur Ordnung<br />

gerufen, flüsternd. Wussten doch die meisten seit gestern, dass dieser Franzose keiner<br />

war und also <strong>de</strong>utsch verstand.<br />

Michel stieß sich <strong>von</strong> <strong>de</strong>r Mauer ab, an <strong>de</strong>r er gelehnt hatte, überwand Verlegenheit und<br />

Unsicherheit (warum eigentlich unsicher, Michel Marten?), mischte sich unter sie. Versuchte<br />

es. Aber es blieb ein Raum zwischen ihm und ihnen. Bin ich ein Aussätziger? dachte er<br />

wütend. Er re<strong>de</strong>te einen mit Namen an: Tag auch, Kröger-Hannes, kennst mich nicht mehr?<br />

Der wich mit <strong>de</strong>n Augen aus, murmelte: Doch, doch, Herr, kenn Sie schon noch. Und fügte<br />

noch hinzu, nach kurzer Pause: Haben sehr schön gespielt vorhin.


Da sagte die Frau neben ihm: Ja, sehr schön, wir haben alle gleich an <strong>de</strong>n alten<br />

Schulmeister <strong>de</strong>nken müssen, nicht wahr, Hannes? An <strong>de</strong>n Marten-Jakob, ja.<br />

Plötzlich drehte sich <strong>de</strong>r um, <strong>de</strong>r vor ihnen ging, ein kleines altes Männchen, wie ein<br />

Hutzelmännchen sieht er aus, dachte Michel, aber er erkannte ihn, <strong>de</strong>n Karl-Wilhelm Lemke,<br />

August Lemkes Vater.<br />

Und das kleine Männchen blieb stehen, und da <strong>de</strong>r Weg zwischen <strong>de</strong>n Gräbern schmal war,<br />

blieben die Nachfolgen<strong>de</strong>n auch stehen, und das kleine Männchen sagte - nicht laut, aber<br />

ganz gut zu verstehen für alle Umstehen<strong>de</strong>n: Michel Marten, ich sag Michel Marten zu dir<br />

und nicht Herr und nicht Misjö, was willst du <strong>von</strong> uns, wir mögen diese Uniform nicht, weil<br />

die Leute in solchen Uniformen, verstehst du, uns im Herbst fast alles genommen haben,<br />

was das Schloss uns gelassen hatte, und <strong>de</strong>n Rest, Michel Marten, <strong>de</strong>n haben sie letzte<br />

Woche geholt, wir haben nichts zu fressen, verdammt noch mal, da wird <strong>de</strong>r Mensch<br />

ungemütlich, auch Weihnachten, gera<strong>de</strong> Weihnachten, lass mich re<strong>de</strong>n, Amalia, zupf mir<br />

nicht am Ärmel herum, jetzt hab ich angefangen mit Re<strong>de</strong>n zu diesem Misjö hier, <strong>de</strong>r hat<br />

vorhin gespielt wie sein Großvater früher o<strong>de</strong>r auch wie er selbst früher, aber er trägt diese<br />

Uniform, und jetzt will er sich mit uns gemeinmachen, <strong>de</strong>r Mensch lässt sich nicht alles<br />

bieten, Michel Marten, heute wur<strong>de</strong> das Aufgebot verlesen, und wenn <strong>de</strong>in Baron es wagt,<br />

Michel Marten, wenn er es morgen wagt und mit seinem Knotenstock kommt - ich weiß<br />

nicht, was dann passiert, und einer eurer Soldaten hat uns erzählt, wir sind nicht mehr<br />

erbuntertan, Michel Marten, und darum re<strong>de</strong> ich jetzt eigentlich mit dir, was hat das auf sich<br />

mit diesem Gesetz, o<strong>de</strong>r war es gelogen?<br />

Hatte jemals jemand <strong>de</strong>n Lemke-Karl-Wilhelm so viele Worte hintereinan<strong>de</strong>r re<strong>de</strong>n hören?<br />

Amalia Lemke, mit angstvoll-<strong>de</strong>mütigen Augen, hatte es aufgegeben, ihn zu hin<strong>de</strong>rn. Und<br />

alle an<strong>de</strong>ren stan<strong>de</strong>n verblüfft, nickten aber hin und wie<strong>de</strong>r zustimmend, stan<strong>de</strong>n wie eine<br />

Mauer, und das mochte ihn ermutigt haben, ihr Stehen und ihr Nicken. Und vielleicht auch<br />

die Kirchenglocke, die noch nicht aufgehört hatte zu läuten, was nicht gewöhnlich war und<br />

trotz<strong>de</strong>m <strong>von</strong> kaum jemand bemerkt wur<strong>de</strong>.<br />

Nun wäre es an Michel Marten gewesen, zu re<strong>de</strong>n. Karl-Wilhelm Lemke schwieg nun,<br />

wartete aber offensichtlich auf eine Antwort.<br />

Michel Marten war um diese Antwort verlegen. Sah darum erst in die Run<strong>de</strong>, forschte in<br />

diesen verschlossen-feindseligen, aber auch hoffnungsvoll-neugierigen Gesichtern, begriff,<br />

dass die Feindseligkeit seiner Uniform galt und die Hoffnung ihm selbst, begriff es mit<br />

Schrecken, <strong>de</strong>nn da durfte es keinen Wi<strong>de</strong>rspruch geben.<br />

Ach, Michel Marten, du weißt doch nicht erst seit heute, dass es ihn gibt, warum willst du’s<br />

nicht zugeben?<br />

Plötzlich sah er <strong>de</strong>n August Lemke, <strong>de</strong>r hatte sich <strong>von</strong> hinten zu ihm durchgearbeitet, stand<br />

nun neben seinem Vater, war so groß wie dieser Vater früher, Rücken noch gera<strong>de</strong>, hatte<br />

sonst keine Ähnlichkeit mit Karl-Wilhelm, hatte die <strong>Bernsdorf</strong>nase, man erinnere sich. Michel<br />

las weniger Feindseligkeit in seinem Blick, mehr Forschen<strong>de</strong>s, Hoffen<strong>de</strong>s, da re<strong>de</strong>te er<br />

endlich.


Also, sagte Michel Marten, was sagst du „<strong>de</strong>in Baron“, Lemke-Karl-Wilhelm, mein Baron ist<br />

das ganz und gar nicht. War’s auch noch nie. <strong>Das</strong> wisst ihr ja wohl alle.<br />

Sie nickten nicht. Sie wi<strong>de</strong>rsprachen aber auch nicht.<br />

Und was das Oktoberedikt betrifft, da hat dieser Soldat nicht gelogen. Und ihr dürft es euch<br />

nicht gefallen lassen, dass <strong>de</strong>r Baron es euch verheimlicht. Die Erbuntertänigkeit in Preußen<br />

ist aufgehoben, das ist Gesetz seit <strong>de</strong>m Oktober.<br />

Erklär’s uns! verlangte August Lemke, ohne Feindschaft in <strong>de</strong>r Stimme, aber ungeduldig.<br />

Was gibt’s da viel zu erklären, sagte Michel unwillig.<br />

Mit <strong>de</strong>m Martinitag achtzehnhun<strong>de</strong>rtzehn hört alle Gutsuntertänigkeit auf. Nach <strong>de</strong>m<br />

Martinitag achtzehnhun<strong>de</strong>rtzehn gibt es in Preußen nur freie Leute. Ihr könnt das Gut<br />

verlassen, wenn ihr das wollt. Ihr braucht keine Erlaubnis mehr zum Heiraten. Kein<br />

Gesin<strong>de</strong>zwangsdienst mehr. Dienste, Lasten und Abgaben, die bleiben noch bestehn, da ist<br />

noch nichts darüber gesagt, das soll wohl durch Loskauf geregelt wer<strong>de</strong>n, das weiß man<br />

noch nicht. Wer erbliches Land hat, ist schon jetzt ein freier Mann, seit <strong>de</strong>m Oktober schon.<br />

Nur, was mit seinen Diensten und Lasten und Abgabepflichten ist, das weiß man nicht. So<br />

ist das also.<br />

Er wun<strong>de</strong>rte sich nicht, dass kein Jubel ringsumher ausbrach. Schweigend stan<strong>de</strong>n sie,<br />

dachten angestrengt nach, und plötzlich fiel ihnen auf, dass die Glocke noch immer wie<br />

wütend bimmelte. <strong>Das</strong> ist noch drei Jahre hin, bis 1810, sagte langsam Karl-Wilhelm<br />

Lemke. Denn wer hat schon Erbland bei uns? Vier Bauern sind das, ganze vier. Wir sind ein<br />

Tagelöhnerdorf, Michel Marten.<br />

Ich weiß, sagte <strong>de</strong>r.<br />

Und freikaufen, sagte da einer, <strong>de</strong>r Kröger-Hannes sagte das, und <strong>de</strong>r hatte zwei Hufen<br />

Erbland, freikaufen - womit <strong>de</strong>nn? Mit <strong>de</strong>m Land? Aber was hab ich dann?<br />

Ich weiß, sagte Michel Marten leise.<br />

In drei Jahren erst? sagte August Lemke, ich will aber morgen heiraten, nicht in drei Jahren.<br />

Und die Erlaubnis hab ich vom Herrn Friedrich, weil doch <strong>de</strong>r Ta<strong>de</strong>usz Piotrowski uns<br />

verraten hat, dass <strong>de</strong>r Baron vergangenen Herbst die <strong>Bernsdorf</strong>schen Besitzungen an <strong>de</strong>n<br />

Junker Friedrich übergeben hat, in aller Stille, ja. Aber das Recht <strong>de</strong>r ersten Nacht,<br />

Herrgott, <strong>de</strong>r Baron wird es morgen for<strong>de</strong>rn, wie er’s immer gefor<strong>de</strong>rt hat, was nützt mir<br />

überhaupt dies ganze Oktoberedikt, einen feuchten Kehricht nützt es mir, er hätte es uns<br />

gar nicht zu verschweigen brauchen, <strong>de</strong>r Alte, <strong>de</strong>r ... <strong>de</strong>r ...<br />

Ich weiß, sagte Michel Marten wütend, ich weiß, aber ihr müsst for<strong>de</strong>rn, was euch zusteht,<br />

er kann nicht mehr machen, was er will, und wenn ihr mehr for<strong>de</strong>rt, müssen sie euch mehr<br />

geben, Herrgott, in Frankreich haben die Bauern die Schlösser in Brand gesteckt und die<br />

Unterlagen über ihre Unfreiheit verbrannt, da waren sie frei, versteht ihr? Und ihr wollt euch<br />

noch drei Jahre verwehren lassen, was ihr schon heute haben könntet? Viel mehr könntet<br />

ihr doch haben, wenn ihr wolltet, wenn ihr nicht wie eine geduldige Hammelher<strong>de</strong> wartetet,<br />

was irgendjemand euch gnädig gewährt! Warum, was meint ihr, warum trage ich wohl diese


Uniform, die euch nicht gefällt? Eben <strong>de</strong>shalb, weil diese Franken nicht gewartet haben, bis<br />

die Freiheit vom Himmel fiel. Son<strong>de</strong>rn weil sie nach <strong>de</strong>n Sternen gegriffen und sich die<br />

Freiheit geschaffen haben, die sie gemeint hatten.<br />

Glaubst du, was du sagst, Michel Marten? Haben sie nun die Freiheit, die sie gemeint<br />

hatten? Solange er re<strong>de</strong>te, glaubte er an seine Worte. Als er aber nun schwieg und die<br />

Gesichter vor sich sah, verschlossene Gesichter, feindselige auch darunter, und die Glocke<br />

bimmelte noch immer, stärker als zuvor, schien ihm - da stellte er sich solche Fragen, da<br />

wusste er, dass er gere<strong>de</strong>t hatte, was er gern geglaubt hätte, aber nicht mehr glauben<br />

konnte.<br />

Gut, dass du mich an diese Uniform erinnert hast, sagte Karl-Wilhelm Lemke. Wir müssen<br />

verhungern, und unser bisschen elen<strong>de</strong>s Vieh muss verhungern, eure Pfer<strong>de</strong> fressen unser<br />

letztes Korn, Misjö!<br />

Herrgott im Himmel, brüllte da Michel Marten unbeherrscht (und ihm war durchaus klar,<br />

dass er so brüllte, weil er sich bei halben Wahrheiten - o<strong>de</strong>r ganzen Lügen? - ertappt hatte<br />

und sich doch im Recht fühlte und nicht aus noch ein wusste in diesem Dilemma), stellt doch<br />

<strong>de</strong>m Baron eure For<strong>de</strong>rungen! Kann <strong>de</strong>nn das Schloss nicht diese paar Soldaten<br />

verpflegen, samt ihren Gäulen? Und for<strong>de</strong>rt auch für euch, for<strong>de</strong>rt höheren Gesin<strong>de</strong>lohn,<br />

und in Geld, nicht in Naturalien, und for<strong>de</strong>rt, for<strong>de</strong>rt - die Freiheit, jetzt, nicht in drei Jahren,<br />

und <strong>de</strong>n Erlass aller Dienste und Abgaben, ohne Loskauf, versteht ihr, ohne, sonst kommt<br />

ihr vom Regen in die Traufe. For<strong>de</strong>rn müsst ihr, for<strong>de</strong>rn, das ist euer Recht, euer gutes<br />

Recht als Menschen, o<strong>de</strong>r seid ihr keine, seid ihr Würmer? - Michel Marten, was re<strong>de</strong>st du<br />

da? Hast du vergessen, wer du bist, Michel Marten? Wie heißt <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>in Befehl, Befehl <strong>von</strong><br />

Davout, nein - Befehl <strong>von</strong> Napoleon selbst: Je<strong>de</strong>r Aufruhr, je<strong>de</strong> Unruhe im besetzten Land<br />

sind zu verhin<strong>de</strong>rn, mit allen Mitteln, notfalls auch ... Du hast also soeben <strong>de</strong>inen<br />

Instruktionen zuwi<strong>de</strong>rgehan<strong>de</strong>lt, Michel Marten. Bewusst? Du hast dich hinreißen lassen,<br />

nicht wahr? Ich habe nicht zu Aufruhr und nicht zu Unruhen aufgefor<strong>de</strong>rt, son<strong>de</strong>rn zu - einem<br />

Bittgang.<br />

Eine Bittschrift: Müsst ihr aufstellen, sagte er. Und eine Abordnung wählen, die sie <strong>de</strong>m<br />

Baron vorträgt. Morgen zum Beispiel. Da könnt ihr es verbin<strong>de</strong>n mit <strong>de</strong>n besten Wünschen<br />

zu seinem siebzigsten Geburtstag. Und ihr nutzt die gute Laune, die er da sicher haben<br />

wird. Sicher <strong>de</strong>nkt er da gar nicht an sein Knotenstockrecht. Am besten, <strong>de</strong>r Bräutigam<br />

selbst überbringt die Gratulation und die Bittschrift, ich hielte das je<strong>de</strong>nfalls für sehr günstig,<br />

für äußerst günstig.<br />

Na, wun<strong>de</strong>rbar. Da hast du aus „for<strong>de</strong>rn“ ganz einfach „bitten“ gemacht, Michel Marten. Ja,<br />

hab ich. Na und? Nur ein an<strong>de</strong>res Wort. Auf das Ergebnis kommt es doch letzten En<strong>de</strong>s an,<br />

nicht wahr?<br />

Ein paar Kin<strong>de</strong>r hatte das unentwegte Läuten neugierig gemacht, zumal sie <strong>von</strong> <strong>de</strong>r heißen<br />

Debatte zwischen <strong>de</strong>n Gräbern nichts begriffen. Nun kamen sie aufgeregt <strong>von</strong> <strong>de</strong>r<br />

Kirchentür hergelaufen: Der Totenheini, er will nicht zu läuten aufhören, <strong>de</strong>r Pfarrer schafft<br />

ihn nicht, schafft ihn nicht, schafft ihn nicht, schrien sie durcheinan<strong>de</strong>r.<br />

Plötzlich verliefen sich die Leute. Einige eilten nach Hause, als wäre ihnen ihr


außergewöhnliches Verhalten bewusst gewor<strong>de</strong>n, die meisten rannten zur Kirchentür.<br />

Zurück blieben Michel Marten und August Lemke. Sahen sich an, ein wenig unsicher bei<strong>de</strong>,<br />

lächelten dann, bei<strong>de</strong> zur gleichen Zeit, und sahen auf das Grab, vor <strong>de</strong>m sie stan<strong>de</strong>n - das<br />

Grab <strong>de</strong>s alten Marten war das. Plötzlich gaben sie sich die Hand. Schienen sich dann<br />

gleich dieser Gefühlsanwandlung zu schämen, <strong>de</strong>nn sie ließen sich schnell wie<strong>de</strong>r los, und<br />

Michel Marten sagte: Ich wer<strong>de</strong> mich selbstverständlich morgen, vielleicht heute schon,<br />

beim Baron für euch verwen<strong>de</strong>n, August.<br />

Der nickte und sagte: Lad dich zu meiner Hochzeit ein, Michel Marten, morgen also. Und<br />

ging, grußlos.<br />

Da verstummte das Läuten. Michel sah Emanuel Kienast, zerzauste Haare, zerrissener<br />

Talar; mit zornigen Schritten ging er zum Pfarrhaus hinüber. Ihm nach schleppten ein paar<br />

Männer <strong>de</strong>n Irren, sie hielten ihn an Armen und Beinen, sie hatten Mühe, ihn zu halten.


3. Kapitel<br />

1<br />

Henriette, während sie an Jankes Arm zum Schloss hinüberging, starrte auf <strong>de</strong>n weißen<br />

Zopf <strong>de</strong>s Barons, <strong>de</strong>r bei je<strong>de</strong>m Schritt eigensinnig wippte, und sie erinnerte sich an sein<br />

plötzlich vergnügtes Gesicht, hatte die Stimme Kienasts im Ohr und die Worte <strong>de</strong>s<br />

Aufgebots, und sie war mit ihren Überlegungen, was zu tun sei, noch nicht zu En<strong>de</strong><br />

gekommen. Denn was konnte man tun als abwarten und geschehen lassen?<br />

Abwarten und geschehen lassen, Henriette, was hast du <strong>de</strong>nn überhaupt getan in <strong>de</strong>inem<br />

Leben als das? fragte sie sich erbittert. Und sie versuchte sich nicht zu täuschen, in<strong>de</strong>m sie<br />

all das zu ihrer Verteidigung anführte, was sie zum Ärger <strong>de</strong>s Gatten und <strong>de</strong>r Verwandten<br />

bisweilen tat. Denn letzten En<strong>de</strong>s, das wusste sie, sah man ihr diese Dinge schulterzuckend<br />

nach, weil sie grundsätzlich geschehen ließ, was geschah. O<strong>de</strong>r hat es vielleicht große<br />

Auseinan<strong>de</strong>rsetzungen gegeben wegen <strong>de</strong>s Weißsei<strong>de</strong>nen, das ich <strong>de</strong>r Maria geschenkt<br />

habe? Die Bekanntschaft mit <strong>de</strong>n anrüchigen Fröhlichs in <strong>de</strong>r Behrenstraße sieht Janke mir<br />

nach, selbst gegen meine gelegentlichen Besuche im Salon <strong>de</strong>r Rahel Levin lehnt er sich<br />

nicht mehr auf. Obwohl er sich anfänglich aufgeführt hat, als wollte er mich schlagen,<br />

zerreißen, verstoßen <strong>de</strong>swegen ... Ach, es mag ihm aufgegangen sein, dass ihm ganz und<br />

gar nicht zum Scha<strong>de</strong>n gereicht, wenn er eine schöne, kluge Frau hat, <strong>von</strong> echtem A<strong>de</strong>l<br />

sogar, die mit be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>n Männern und Frauen <strong>de</strong>r Geisteswelt umgeht - Wilhelm <strong>von</strong><br />

Humboldt ist doch ein klingen<strong>de</strong>r Name, nicht wahr? Wenn auch ein politischer Gegner,<br />

gewiss, aber doch ein vornehmer ... Und auch Rahel Levin, ja, obwohl sie jüdisch ist und<br />

liberal und freigeistig, aber es verkehrt sogar ein Hohenzollernspross bei ihr, da darf<br />

schließlich auch Henriette <strong>von</strong> Janke, nicht wahr?<br />

Ach, einmal nicht geschehen lassen, was geschieht, einmal ausbrechen, ganz und gar und<br />

endgültig, <strong>de</strong>nn sonst ...<br />

Was sonst, Henriette? Könnte es sonst zu spät dazu wer<strong>de</strong>n?<br />

Ja, die Baronin. Sieh sie dir an, dann weißt du, was sonst aus dir wird.<br />

Als ginge es jetzt um mich - sie schob <strong>de</strong>n gefährlichen Gedanken beiseite, schnell, bevor<br />

die Panik sie überfallen konnte, die sie hinter ihm ahnte -, um Maria geht es. Und ich muss<br />

etwas tun. Mit Friedrich muss ich re<strong>de</strong>n. Wenn doch Herrmann bald käme ... Der hat doch<br />

mitgearbeitet an <strong>de</strong>n neuen Gesetzen, <strong>de</strong>r wür<strong>de</strong> doch alles daransetzen, um zu verhin<strong>de</strong>rn,<br />

dass ausgerechnet sein Vater sie mit Füßen tritt ... Und vor allem - Herrmann hat wirklich<br />

Gewalt über <strong>de</strong>n alten Herrn. Vielleicht, weil er ein Militär ist ... und dazu königlicher<br />

Adjutant ..., aber was hilft's, er ist noch nicht da, und ich muss mich an Friedrich halten.<br />

Da waren sie schon in <strong>de</strong>r Diele, als sie das dachte, da warf sich <strong>de</strong>r Baron schon in <strong>de</strong>n<br />

Lehnstuhl und streckte Ta<strong>de</strong>usz die Stiefel entgegen, hatte das Gesangbuch schon auf die<br />

Konsole geschleu<strong>de</strong>rt, seufzte behaglich, Henriette sah Friedrich die Kellertreppe<br />

hinuntergehen und folgte ihm, unwillig sah er sich um, sie sagte: Ich muss mit dir re<strong>de</strong>n.<br />

Sie ging ihm nach ins Arbeitszimmer <strong>de</strong>s Barons, ins Jagdzimmer.


Kann ich mir <strong>de</strong>nken, sagte er in ta<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>m und schon verzeihen<strong>de</strong>m Ton, in <strong>de</strong>m ein Lehrer<br />

zum reuigen Schüler spricht. Hast Schönes angerichtet, meine Liebe.<br />

Ich? Wieso?<br />

Da wur<strong>de</strong> seine Stimme scharf und hoch. Wieso? sagte er, meine Güte, Henriette, bist du<br />

so naiv? <strong>Das</strong> Dorf wird da<strong>von</strong> schwätzen, jetzt schon, <strong>von</strong> <strong>de</strong>m Kleid natürlich!<br />

Ach so, sagte sie leichthin. An<strong>de</strong>re Sorgen hast du nicht?<br />

Reicht das nicht? Stell dir doch vor, Henriette: <strong>Das</strong> Kleid <strong>von</strong> dir. Und dann, morgen Abend,<br />

<strong>de</strong>r Vater. O<strong>de</strong>r <strong>de</strong>nkst du, er fühlt sich zu alt für so was? Der doch nicht, <strong>de</strong>r wird sich in<br />

zehn Jahren noch nicht zu alt dazu fühlen.<br />

Friedrich, sagte Henriette, sagte es vertraulich, schwesterlich, obwohl ihr das schwerfiel,<br />

hör mal, Friedrich, kannst du es nicht verhin<strong>de</strong>rn? Schließlich hat doch <strong>de</strong>r Onkel dir<br />

<strong>Bernsdorf</strong> übergeben, nicht?<br />

Gewiss, sagte Friedrich stolz, mir hat er die Stammbesitzungen übergeben und die im<br />

Polnischen, <strong>de</strong>m Herrmann die Briesenschen, <strong>de</strong>m Joachim die Güterslohschen. Hätt’ er nie<br />

getan, wenn er vorigen Herbst, nach Jena - Auerstedt, nicht so wahnsinnig <strong>de</strong>primiert<br />

gewesen wäre, <strong>de</strong>r Alte. Als ob nicht klar auf <strong>de</strong>r Hand lag, dass <strong>de</strong>m Genie Bonapartes<br />

niemand wi<strong>de</strong>rstehen kann, aber das begreift er bis heute noch nicht, dabei ...<br />

Jaja, unterbrach Henriette ihn erschrocken, <strong>de</strong>nn sie sah, dass er sich festre<strong>de</strong>n wollte an<br />

seinem Lieblingsthema; Friedrich, sagte sie, lass das doch jetzt, aber wenn du nun Herr <strong>von</strong><br />

<strong>Bernsdorf</strong> bist, hat doch <strong>de</strong>r Onkel auch nicht mehr das Recht <strong>de</strong>r ersten Nacht, o<strong>de</strong>r?<br />

Begriffsstutzig sah er sie an, sein längliches, hageres Gesicht schien noch länger zu<br />

wer<strong>de</strong>n, seine hellblauen Augen wur<strong>de</strong>n groß und größer, er sagte: Du meinst, ich,<br />

Henriette? Aber was fällt dir ein, <strong>de</strong>nkst du, ich fass in meinem Leben eine Magd an, eine<br />

polnische noch dazu, <strong>de</strong>nkst du das? Dann lass dir gesagt sein: Nicht einmal eine<br />

Bürgerliche mit Geld rühr ich an, nicht einfach so und schon gar nicht im Ernst, wie <strong>de</strong>r<br />

Herrmann das gemacht hat, und auch keine Bürgerliche mit Geist, wie Joachim, aber die ist<br />

zum Glück übern Jordan gegangen, bevor er sie in die Familie bringen konnte ...<br />

Friedrich! fuhr Henriette auf, und er sah erstaunt, dass sie vor Zorn zitterte; ach so,<br />

spottete er, <strong>de</strong>ine Heilige, man darf ihr nicht zu nahetreten, nicht mal mit Worten, nicht<br />

wahr? Seltsame Heilige war das, diese Marianne, möchte nicht wissen, mit wie vielen sie<br />

unseren naiven Joachim betrogen hat, die ...<br />

Friedrich! sagte Henriette, leise und drohend zwar, aber sie fühlte, wie hilflos, wie wehrlos<br />

sie war und um wie viel mehr sie sich noch wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>mütigen müssen, wenn sie etwas<br />

erreichen wollte. Gut, gut, sagte er lächelnd, ich hör schon auf mit <strong>de</strong>iner Heiligen, nur - was<br />

wolltest du eigentlich sagen?<br />

Sie zwang sich zu ruhiger Sachlichkeit, sagte: Ich mein doch nur, du könntest <strong>de</strong>m Onkel<br />

klarmachen, dass er nun tatsächlich das Recht nicht mehr hat, Friedrich. Natürlich meine ich<br />

nicht, dass du es etwa wahrnehmen sollst, das doch nicht.<br />

Ach so, ach so, na ja, sagte er. Denn wenn ich Frauen nötig habe, und natürlich hab ich mal


welche nötig, und <strong>de</strong>r Heirat mit Ernestine <strong>von</strong> Marquart, du weißt, stehen noch immer<br />

einige Hin<strong>de</strong>rnisse im Wege, nicht mehr lange, gewiss ..., was wollte ich sagen? Ach so -<br />

also wenn ich -, dann fin<strong>de</strong> ich bei Hofe genug stan<strong>de</strong>sgemäße Gelegenheiten sozusagen<br />

(stan<strong>de</strong>sgemäße Huren, du geschwätziger Dummkopf, dachte Henriette wütend), aber du<br />

irrst, beste Henriette. Der Vater hat die Güter aufgeteilt, aber er bleibt <strong>de</strong>r Herr aller<br />

Besitzungen bis zu seinem To<strong>de</strong>, er wird sich kein Recht streitig machen lassen, zumal ich<br />

es für mich nicht beanspruchen kann.<br />

Auch nicht zum Schein, Friedrich?<br />

Wo <strong>de</strong>nkst du hin, Henriette!<br />

Aber versuchen musst du, ihn da<strong>von</strong> abzubringen, Friedrich, du hast selbst gesagt, dass es<br />

eine ... peinliche Sache ist, wegen <strong>de</strong>s Kleids, mein ich, ich hab das doch gestern nicht<br />

bedacht, Friedrich, so weit wie du <strong>de</strong>nke ich eben nicht ...<br />

Dafür bist du eine Frau, sagte er geschmeichelt und versöhnt. Ja, Friedrich, sagte sie und<br />

sah auf die Er<strong>de</strong>, was einem <strong>de</strong>mütigen Schuldbekenntnis gleichkam; aber ich hoffte eben,<br />

du wirst nun schon einen Ausweg fin<strong>de</strong>n, er hört doch auf dich, auf wen <strong>de</strong>nn sonst,<br />

Friedrich!<br />

Und ihre Stimme war sanft und bittend, und Friedrich lächelte eitel und sagte: Ist schon gut,<br />

Henriettchen, ich wer<strong>de</strong> darüber nach<strong>de</strong>nken, aber nun geh, ich habe Wichtigeres zu tun.<br />

Sie schämte sich. Aber sie dachte: Ging es an<strong>de</strong>rs? Nein. Also was soll’s? Auf das<br />

Ergebnis kommt es doch letzten En<strong>de</strong>s an, nicht wahr?<br />

Doch als sie dann in ihrem Zimmer stand, ließ sie sich plötzlich aufs Bett fallen. Und weinte<br />

lange.<br />

Stand dann auf, warf <strong>de</strong>n Kopf zurück (das war die gleiche Bewegung, mit <strong>de</strong>r sie früher<br />

ihre Zöpfe nach hinten geworfen hatte) und holte ihre Briefmappe. Zwei verschnürte<br />

Päckchen. Sie faltete die Briefe auseinan<strong>de</strong>r, ordnete sie, las hier ein paar Stellen und dort.<br />

1789 ist wie<strong>de</strong>r, 1790 dann, und ihre Haare sind nun aufgesteckt, <strong>de</strong>nn die Konfirmation ist<br />

vorbei, und im Schloss ist es leer gewor<strong>de</strong>n, Friedrich ist fast nur noch in Berlin und<br />

Potsdam, seine Karriere geht steil aufwärts, Henriette vermisst ihn nicht, aber Joachim ist in<br />

Jena, ihn vermisst sie, und sie schreibt ihm oft, er antwortet weniger oft, aber ausführlich.<br />

„Lieber Joachim, schreib nicht noch einmal, ich brauchte Deine Briefe ja nicht, ich hätte <strong>de</strong>n<br />

Michel hier. Sei nicht dumm, Joachim, sei nicht eifersüchtig auf <strong>de</strong>n Michel. Er ist doch Dein<br />

Freund, und Dich hab ich auch lieb. Nur an<strong>de</strong>rs. Erklären kann ich’s nicht, brauch’s auch<br />

wohl nicht. - Ich habe Angst, viel Angst, Joachim. Der Janke schleicht um mich herum, beim<br />

Unterricht verschlingt er mich mit <strong>de</strong>n Augen, beim Klavierunterricht greift er nach meinen<br />

Schultern und Hän<strong>de</strong>n, und mir graut vor ihm. Und ich hab’s auch satt, immer schön zu tun<br />

und gesittet zu sein und vornehm; wenn Gäste da sind, soll man hübsch französisch<br />

parlieren und Klavier spielen, und sie schwatzen dabei. Und ich will nicht immerfort tun, was<br />

sich schickt, wie’s die Tante sagt, was kümmert mich <strong>de</strong>nn, was sich schickt? Es ist doch<br />

alles Lüge und Heuchelei, ich will mich nie und nimmer zügeln lassen, will auf das vertrauen,


was in mir ist, ganz und gar ich selbst sein - und ich weiß ganz sicher, es ist genug in mir,<br />

vor allem genug Sehnsucht nach Leben, nach ungeheucheltem, niemals en<strong>de</strong>n<strong>de</strong>m Leben.<br />

Es en<strong>de</strong>t, sagst Du? Nein, es en<strong>de</strong>t nicht, es gibt keinen Tod. Er ist nur eine Erfindung <strong>de</strong>r<br />

Schwachen, <strong>de</strong>r Gezähmten ... “<br />

„Henriette, meine Gute, mit <strong>de</strong>m nicht en<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Leben hast Du vielleicht recht, ich<br />

je<strong>de</strong>nfalls wi<strong>de</strong>rspreche Dir gar nicht. Nimm Dich in acht vor Janke. Er hat zu seiner Karriere<br />

nur noch eine adlige Frau nötig, das musst Du be<strong>de</strong>nken. Und er beginnt in <strong>Bernsdorf</strong><br />

überflüssig zu wer<strong>de</strong>n, also hat er’s nun eilig. Aber wenn Du nicht willst, erreicht er nichts.<br />

Sie wer<strong>de</strong>n Dich nicht zwingen. We<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Vater noch die Mutter mögen ihn. Friedrich ist<br />

sein einziger Verbün<strong>de</strong>ter. Du hast also gar nichts zu befürchten. Bleib nur, wie Du bist, Du<br />

bist gut so. Ich hätte Dir heute viel zu erzählen, weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Mit<br />

<strong>de</strong>m Besten fang ich an: mit ihr. Ja, mit ihr, Henriette, siehst Du nun, wie unnötig es war,<br />

mir die Eifersucht abzumahnen? Ich sah sie erst jetzt, Marianne Vischer, die Tochter meines<br />

Lehrers und Tischherrn, <strong>de</strong>nn sie war so lange bei Verwandten in Berlin. Wir sahen sie alle<br />

jetzt erst - wir sind vier Mittagsgäste beim Professor Vischer - und verliebten uns in sie.<br />

Was soll ich Dir <strong>von</strong> ihr schreiben, Henriette - sie ist so, wie ich noch kein Mädchen sah,<br />

Dich ausgenommen, so klug und schön und so ungekünstelt und frei. Wüsste ich nur, ob sie<br />

mir gut ist ... Ich schrieb ein schönes Gedicht für sie, und sie sagte mir viel Gutes darüber,<br />

doch mehr nicht, sie sucht nicht zu gefallen, we<strong>de</strong>r mir noch an<strong>de</strong>ren, sie ist ganz ohne<br />

Maske und ganz unzerbrechbar. Ich könnte sie mir nicht als Frau eines dieser<br />

verknöcherten Gelehrten vorstellen, die uns tagtäglich die Wissenschaft wi<strong>de</strong>rkäuen. Jawohl<br />

wi<strong>de</strong>rkäuen, Henriette, wie die Ochsen. Sie basteln sich ihre Kollegia zusammen aus<br />

etlichen Büchern, die man besser selber läse, und leiern das dann so langweilig wie möglich<br />

daher, da ist kein bisschen eigner Geist und keine Kraft dahinter, sie sind die reinsten<br />

Brotgelehrten. Der Magister Vischer macht freilich eine Ausnahme, er ist ein lieber Mensch<br />

und re<strong>de</strong>t nicht nur für sein Brot, doch ein Pedant ist er auch, kein Denker, ein kleiner Geist.<br />

Er teilt die Welt in genau nachzählbare Schubfächer ein, obwohl er <strong>de</strong>n Emanuel Kant<br />

studiert hat und ihn uns anpreist, aber mir scheint, er hat nicht recht verdaut, was er<br />

gelesen, und kaut nun unaufhörlich darauf herum. Überhaupt - was sind alle diese Leute,<br />

<strong>de</strong>r gute Vischer eingeschlossen, gegen <strong>de</strong>n einen einzigen Schiller! Wahrhaftig - ich hätte<br />

Jena schon vor Wochen verlassen und - schrecklicher Gedanke - Marianne nie gesehen,<br />

gäbe es <strong>de</strong>n Schiller hier nicht! <strong>Das</strong> ist nun mal ein Erzgenie! Nichts da mit pedantischem,<br />

steifem Gehabe, schwungvoll ist er und ganz poetisch, und was er sagt, klingt nicht nur neu,<br />

es ist’s auch, da schreibt man wie besessen und fragt sich nicht mehr, wozu eine Vorlesung<br />

wohl gut sein soll, da weiß man’s. Brachte <strong>de</strong>m Schiller gestern mein Kollegiumsgeld,<br />

wusste vor Befangenheit nicht, wo ich hinsehen sollte, als ich ihm so ganz allein<br />

gegenüberstand, schlimmer war aber, dass auch er sehr verlegen war, wohl <strong>de</strong>s leidigen<br />

Gel<strong>de</strong>s wegen (an <strong>de</strong>m er nicht gera<strong>de</strong> Überfluss lei<strong>de</strong>n soll), und ich suchte das Weite, so<br />

schnell ich konnte. Und hätte ihm doch gern erzählt, mit welchem Enthusiasmus wir<br />

vergangenen Sommer seine „Räuber“ gelesen haben, heimlich, im Park, und wie gera<strong>de</strong> da<br />

Herrmann uns die Nachricht vom Ausbruch <strong>de</strong>r Revolution in Paris brachte ...


Vom Revolutionsfieber sind hier alle erfasst, namentlich die Stu<strong>de</strong>nten, doch auch einige <strong>de</strong>r<br />

Professoren. Selbstverständlich hängt auch <strong>de</strong>r Magister Vischer <strong>de</strong>n Franken an, und die<br />

Marianne. Ich erfahre so beim Mittagstisch je<strong>de</strong> Neuigkeit, die aus Paris gekommen ist.<br />

Mirabeau wird allenthalben bewun<strong>de</strong>rt und verehrt, Lafayette nicht min<strong>de</strong>r. Die fränkische<br />

Revolution ist gewiss die größte Begebenheit aller Jahrhun<strong>de</strong>rte, und ich möchte <strong>de</strong>n<br />

Menschen nicht zum Freund haben, <strong>de</strong>r bei so viel Hoffnung, wie auch uns nun aus<br />

Frankreich kommt, kalt bleiben kann.“<br />

„Und wie sieht sie <strong>de</strong>nn aus, Deine Marianne? Es ist nicht Deine? Doch, doch, das fühl ich,<br />

Joachim. Dich muss man lieben, und wenn sie die ist, <strong>von</strong> <strong>de</strong>r Du schreibst, wenn sie es<br />

wert ist, dass Du so <strong>von</strong> ihr schreibst - dann wird sie Dich lieben müssen. Ich möchte sie<br />

auch lieben, tu’s schon, ohne sie noch zu kennen; schreib mir nur, wenn sie wie<strong>de</strong>r in Berlin<br />

ist, ich will sie dann sehen! Aber ich wer<strong>de</strong> wohl klein und dumm sein gegen sie. Was ist<br />

zum Exempel mit <strong>de</strong>m Imanuel Kant? Schreib mir <strong>von</strong> ihm, wer sagt mir sonst etwas<br />

darüber? Auch <strong>de</strong>r Michel möchte es wissen. Ich zeige ihm Deine Briefe alle und lass ihn<br />

auch lesen, was ich Dir schreibe, so sind es immer unsere Briefe, die an Dich abgehen. -<br />

Herrmann war für ein paar Tage hier; erst waren wir uns sehr fremd, wir sehen uns zu<br />

selten, doch dann wur<strong>de</strong>n wir schnell vertraut. Er wusste einiges aus Frankreich zu<br />

berichten, er hat viele Sympathien für die Franken, wenn auch nichts <strong>von</strong> unserem<br />

vorbehaltlosen Enthusiasmus. <strong>Das</strong>s <strong>von</strong> einem Bündnis Preußens mit Österreich gegen die<br />

Franken gere<strong>de</strong>t wird, macht ihm Sorgen. Doch er wür<strong>de</strong> in diesen Krieg ziehen, zu <strong>de</strong>m es<br />

hoffentlich nie kommen wird; gegen die Freiheit, die er doch begrüßt, wür<strong>de</strong> er fechten,<br />

Joachim! So wie er begrüßen noch an<strong>de</strong>re Offiziere diese Freiheit und wür<strong>de</strong>n doch ziehen<br />

wie er ... Seit Herrmanns Besuch ist hier bei uns Gewitterstimmung. Denn Herrmann hat in<br />

Königsberg die Tochter eines Hamburger Kaufmanns kennengelernt, ihr Vater hielt sich<br />

Geschäfte halber da auf, und unser schüchterner Herrmann, <strong>de</strong>r gewiss noch keiner Frau<br />

zu nahe gekommen ist, hat sich in dieses Mädchen verliebt, hat sich verlobt, ohne die Eltern<br />

zu fragen - man <strong>de</strong>nke! -, und will sie partout heiraten. Kannst Du Dir vorstellen, wie <strong>de</strong>r<br />

Onkel tobt? Und wie die Tante barmt? Denn mit <strong>de</strong>r Beför<strong>de</strong>rung wär’s hinfort aus, wenn er<br />

eine ,Nichtgeborene' heiratet. Aber gegen die Franken ziehen, die solche unwürdigen<br />

Bräuche abgeschafft haben, das täte er ... Er ist sich selbst nicht gut; man sah, wie er sich<br />

quält; am letzten Abend sagte er zu mir, es sei ihm ganz ernst mit <strong>de</strong>r Susanna Suhrbier, er<br />

wird sie heiraten, auch dann, wenn er <strong>de</strong>shalb enterbt wird und nie mehr beför<strong>de</strong>rt ...“<br />

„Du schriebst ,Suhrbier‘ und ,Hamburg‘, Henriette, und ich hatte das noch sehr gut in<br />

Erinnerung, als ich gestern nach <strong>de</strong>r Vorlesung <strong>de</strong>s Magisters Vischer mit einem Stu<strong>de</strong>nten<br />

ins Gespräch - besser: in Streit geriet, <strong>de</strong>r seiner Sprache nach Hamburger schien. Unser<br />

Streit dauerte lange und war hitzig, aber nicht feindlich, son<strong>de</strong>rn <strong>von</strong> <strong>de</strong>r Art, dass man sich<br />

darüber befreun<strong>de</strong>n kann. Es ging um die Philosophie Kants, die dieser Mensch nur zu<br />

einem Teil anerkennen will, nämlich da, wo sie Voltaire und Rousseau nicht wi<strong>de</strong>rspricht.<br />

Wenn Kant aber darlegt, dass das Recht <strong>de</strong>s Menschen auf Freiheit nicht abzuleiten sei aus<br />

<strong>de</strong>m Naturzustand <strong>de</strong>s Menschen, son<strong>de</strong>rn aus seinem Selbstbewusstsein, da verwirft er


ihn, weil er meint, das liefe letzten En<strong>de</strong>s darauf hinaus, dass <strong>de</strong>r Mensch nur die Freiheit<br />

<strong>de</strong>s Gedankens for<strong>de</strong>rn will und darf - wie <strong>de</strong>r Marquis Posa in Schillers letztem Drama, in<br />

,Don Carlos‘ -, aber nicht das Recht für sich in Anspruch nimmt, <strong>de</strong>n Gesellschaftsvertrag<br />

zu kündigen, notfalls mit Gewalt, sich eine neue Verfassung zu geben, wie die Franken zu<br />

tun im Begriff sind. (Wenn ich in <strong>de</strong>n Sommerferien nach Hause komme, wer<strong>de</strong> ich Euch<br />

Genaues über Kant erzählen. Den ,Don Carlos“ habt Ihr gelesen? Aber woher ... Ich bring<br />

ihn mit, wir lesen ihn zusammen, ja?) Nun, wir kamen zu keinem Ergebnis bei unserem Streit<br />

als <strong>de</strong>m: Wir freun<strong>de</strong>ten uns an. Und <strong>de</strong>nke Dir mein Erstaunen, Henriette - dieser Mensch<br />

stellte sich vor und sagte: Suhrbier, Andreas Suhrbier aus Hamburg. Darauf ich: Ihre<br />

Schwester heißt doch nicht etwa Susanna? Und er - mit einer Spur Misstrauen: Doch, so<br />

heißt sie, aber woher ... Da nannte ich meinen Namen, und er war im Bil<strong>de</strong>, gestand mir,<br />

dass <strong>de</strong>r ganze Han<strong>de</strong>l ihm nicht recht gefallen wolle, man wisse schließlich, was man <strong>von</strong><br />

Offizieren, diesen ,Herren <strong>von</strong> und zu', zu halten habe, die hätten schon manch bürgerliches<br />

Mädchen um die Ehre gebracht und dann sitzen gelassen, doch wenn mein Bru<strong>de</strong>r so sei<br />

wie ich, könne er wie<strong>de</strong>r ein wenig ruhiger schlafen. Ich habe ihm Herrmanns<br />

Ehrenhaftigkeit bestätigt, wenngleich ich mir nicht ganz sicher bin: Wird er <strong>de</strong>r Drohung<br />

,Enterbung‘ auch wirklich standhalten? Lasse ihn wissen, Henriette, dass ich auf je<strong>de</strong>n Fall<br />

zu ihm stehe und notfalls mein Erbteil mit ihm teilen wer<strong>de</strong>!<br />

Lass dir zum Schluss aufschreiben, liebe Henriette, was ich an schönen Sätzen in mein<br />

Kollegheft eintrug, Sätze <strong>von</strong> Kant, <strong>de</strong>nn bis zum Sommer ist’s noch lange hin, und dies sollt<br />

Ihr gleich lesen:<br />

,Aufklärung ist <strong>de</strong>r Ausgang <strong>de</strong>s Menschen aus seiner selbst verschul<strong>de</strong>ten Unmündigkeit.<br />

Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstan<strong>de</strong>s ohne Leitung eines an<strong>de</strong>ren zu<br />

bedienen. Selbst verschul<strong>de</strong>t ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache <strong>de</strong>rselben nicht am<br />

Mangel <strong>de</strong>s Verstan<strong>de</strong>s, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Entschließung und <strong>de</strong>s Mutes liegt, sich seiner ohne<br />

Leitung eines an<strong>de</strong>ren zu bedienen. Sapere au<strong>de</strong>! Habe Mut, dich <strong>de</strong>ines eigenen<br />

Verstan<strong>de</strong>s zu bedienen!“<br />

Soweit also Kant, Emanuel, Professor zu Königsberg, und wenn ich dieses Jena satthabe -<br />

dorthin muss ich ...“


2<br />

Es klopfte, Henriette zuckte zusammen und steckte hastig die Briefe in die Mappe zurück.<br />

Ohne sie zu falten, ohne sie zu ordnen.<br />

Ja, bitte? sagte sie, und sie bemühte sich, es gleichgültig zu sagen, wie nebenbei. Aber ihre<br />

Stimme klang heiser, und sie hielt die Tischkante umklammert; also blickte sie sich nicht um,<br />

als Michel Marten die Tür öffnete, ließ ihn sekun<strong>de</strong>nlang auf <strong>de</strong>r Schwelle stehen, war in<br />

keiner dieser Sekun<strong>de</strong>n im Zweifel darüber, dass er es war und niemand an<strong>de</strong>rs. Und dann<br />

gelang es ihr, sich langsam umzuwen<strong>de</strong>n und mit abweisend frem<strong>de</strong>r Miene und<br />

unbeteiligter Stimme zu sagen: Ach - Sie? Und Sie wünschen, Leutnant Marten? Und sie<br />

sprach <strong>de</strong>n Namen französisch aus.<br />

Entschuldigen Sie bitte, Frau <strong>von</strong> Janke, sagte er (wolltest du nicht eben noch ganz einfach<br />

Henriette sagen, Michel Marten?), aber es ist wegen <strong>de</strong>s Aufgebots, ich sprach mit <strong>de</strong>m<br />

August Lemke, ich wollte Sie fragen: Kann man nicht <strong>de</strong>n Baron da<strong>von</strong> abbringen, das<br />

Recht <strong>de</strong>r ersten Nacht, Sie verstehen sicher, ich meine - das Dorf wird es sich<br />

möglicherweise nicht mehr bieten lassen, so etwas, heutigentags ...<br />

Er verstummte plötzlich unter ihrem Blick.<br />

Ja, sagte sie nach<strong>de</strong>nklich, das wäre wohl das beste ...<br />

Wie bitte? fragte er erstaunt.<br />

Nun, sagte sie, froh plötzlich und erleichtert, es wäre das beste, wenn sie es sich nicht<br />

bieten ließen, die Leute, wenn sie endlich ...<br />

Aber das be<strong>de</strong>utete Unruhe, Frau <strong>von</strong> Janke, rief er erschrocken.<br />

Ja. Und? fragte sie, sah ihn spöttisch an. Fürchten die Franzosen Unruhe, heutigentags, ja?<br />

Wissen Sie, Leutnant Marten (sie sprach <strong>de</strong>n Namen noch immer französisch aus), ich<br />

kannte einmal jeman<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>ssen Name <strong>de</strong>m Ihren ähnelte, <strong>de</strong>r ging zu <strong>de</strong>n Franzosen, ich<br />

glaube, vor allem <strong>de</strong>shalb, weil die solche Unruhen liebten. Aber die Zeiten sind wohl an<strong>de</strong>rs<br />

gewor<strong>de</strong>n, nicht wahr?<br />

Und das alles in diesem spöttischen, kalten Ton und mit hochmütiger Miene ...<br />

Nicht nur die Zeiten, sagte er da bitter, auch die Menschen. Ein neuer Name, ein neuer<br />

Mensch. So ist das wohl im Leben, ja.<br />

Ja? fragte sie lächelnd (und dachte: schreien könnt ich vor Traurigkeit und Zorn, aber da<strong>von</strong><br />

soll er nichts merken, niemals, wollen doch sehen, ob ich noch so gut Theater spielen kann<br />

wie in <strong>de</strong>m Sommer, als wir <strong>de</strong>n „Don Carlos“ aufführten, zu dritt ...). Und immer dies<br />

überlegene Lächeln um <strong>de</strong>n Mund, sagte sie: Möglich wäre das schon - man legt <strong>de</strong>n<br />

Namen ab, damit man ein neuer Mensch wer<strong>de</strong>n kann. Damit man an Vergangenes nicht<br />

fortwährend erinnert wird. Nur - ob man tatsächlich dadurch ein an<strong>de</strong>res Ich eingetauscht<br />

hat, ja, ob man das überhaupt wollte - wer will das wissen? Wer kann das wissen? Im<br />

Höchstfall man selbst, nicht wahr? Im Höchstfall, sag ich.<br />

Was fängst du damit an, Michel Marten? Was antwortest du darauf? Kommt dir <strong>de</strong>r<br />

Verdacht, dass diese Frau <strong>von</strong> Janke doch <strong>de</strong>ine Henriette noch ist? Ja, <strong>de</strong>r Verdacht


kommt ihm. Aber da ist noch <strong>de</strong>r Stolz. Und die Eigenliebe. Denn wer hat hier jemand<br />

an<strong>de</strong>ren geheiratet, nicht wahr? Wer hat hier wen im Stich gelassen? Ja, wer, Michel<br />

Marten?<br />

Also sagte er weiterhin Frau <strong>von</strong> Janke zu ihr, sprach wie<strong>de</strong>r vom August Lemke und vom<br />

Baron. Und sie sagte, sie habe schon mit Friedrich gesprochen, <strong>de</strong>r wer<strong>de</strong> versuchen, <strong>de</strong>n<br />

Baron zu beeinflussen, mehr könne sie kaum tun, natürlich sei Friedrichs Einfluss auf <strong>de</strong>n<br />

Baron gering, aber Herrmann sei lei<strong>de</strong>r noch immer nicht eingetroffen. Der Leutnant Marten<br />

solle sich besser an <strong>de</strong>n Hofrat <strong>von</strong> Janke, ihren Mann, wen<strong>de</strong>n, mit <strong>de</strong>m wer<strong>de</strong> er, was die<br />

Vermeidung <strong>von</strong> Unruhen beträfe, glänzend harmonieren, auch sei <strong>de</strong>r Hofrat Janke ein<br />

allzeit treuer Diener <strong>de</strong>r französischen Besatzungsmacht.<br />

Und da machte <strong>de</strong>r Leutnant Michel Marten eine exakte militärische Kehrtwendung, und die<br />

Tür schloss sich hinter ihm.<br />

Und sie, Henriette <strong>von</strong> Janke, sie drehte sich wie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Schreibschrank zu (<strong>de</strong>nn<br />

aufgestan<strong>de</strong>n war sie die ganze Zeit über nicht), griff mechanisch nach <strong>de</strong>n unor<strong>de</strong>ntlich<br />

weggesteckten Briefen, um sie zu sortieren, zu falten, zu bün<strong>de</strong>ln.<br />

Sie merkte kaum, was sie tat. In Gedanken re<strong>de</strong>te sie mit <strong>de</strong>m, <strong>de</strong>r eben zur Tür hinaus<br />

war, sagte ihm, was sie ihm niemals sagen wür<strong>de</strong>. Warum nicht, Henriette? Weil es zu spät<br />

ist. Sie erschrak. Zu spät - wozu? Ist es schon zu spät, aus allem auszubrechen und nicht<br />

mehr geschehen zu lassen, was geschieht? Seit wann <strong>de</strong>nn? Hast du nicht all die Jahre in<br />

<strong>de</strong>r Überzeugung gelebt, dies hier sei nur etwas Vorübergehen<strong>de</strong>s, nichts Feststehen<strong>de</strong>s,<br />

nur etwas, das man früher o<strong>de</strong>r später wie<strong>de</strong>r hinter sich lassen kann, als wäre es nie<br />

gewesen? Wie ist es geschehen, dass doch etwas daraus gewor<strong>de</strong>n ist, <strong>von</strong> <strong>de</strong>m man nun<br />

nicht mehr fortkann, nie mehr? Nie mehr ..., und warum nicht? Ich kann, wenn ich will. Und<br />

ich will doch, wollte es immer ...<br />

Wirklich, Henriette? O<strong>de</strong>r ist es <strong>de</strong>shalb zu spät, weil dies Wollen schwächer gewor<strong>de</strong>n ist,<br />

abgenutzt <strong>von</strong> <strong>de</strong>n Jahren, hast du dich unmerklich einschleifen lassen in dies Leben,<br />

eingepasst, eingewöhnt, re<strong>de</strong>st du dir nur ein, du wolltest da noch heraus? Dann hätte er<br />

recht, <strong>de</strong>r Michel Marten, dann wäre ich eine an<strong>de</strong>re gewor<strong>de</strong>n, ein neues Ich wäre<br />

geboren, ohne dass ich’s gemerkt hätte ... Ach, Michel Marten, warum hast du mich <strong>de</strong>nn<br />

hiergelassen? War ich nicht bereit mitzukommen, und sei’s nach Amerika, beson<strong>de</strong>rs gern<br />

dorthin, aber auch nach Hamburg o<strong>de</strong>r Paris - wohin du nur gewollt hättest ... Und unser<br />

Kind wäre mitgekommen, nie hätte ich es verloren an die preußische Armee, so sehr<br />

verloren, dass er mir ein Frem<strong>de</strong>r ist, <strong>de</strong>r Wilhelm, mit seinen vierzehn Jahren, in seiner<br />

Uniform, wenn sie ihm wie<strong>de</strong>r einmal die Nähe <strong>de</strong>r Mutter gestatten, für ein paar Stun<strong>de</strong>n,<br />

für ein paar Tage ... Janke nennt ihn seinen Sohn. Nie hat er sich anmerken lassen, dass er<br />

im Grun<strong>de</strong> recht gut weiß: Es ist nicht sein Sohn. Son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>iner, Michel Marten. Du weißt<br />

das nicht. Vielleicht hätte ich’s dir sagen müssen, damals. Doch gera<strong>de</strong> das wollte ich nicht,<br />

verstehst du? Weil du mich mitnehmen solltest, mich, und um meinetwillen. Nur das. Und<br />

du? Bist du überhaupt auf <strong>de</strong>n Gedanken gekommen, dass ich auf ein Wort <strong>von</strong> dir<br />

wartete? Und wenn nicht - was kanntest du <strong>de</strong>nn da <strong>von</strong> mir? Was liebtest du an mir? Doch<br />

nicht mich. Doch nicht, was ich wirklich war ... Und als ich mich schließlich überwand, als ich


sagte: Ich will mit, Michel? Da hast du ungläubig gelacht. Hast mir nichts zugetraut. Hast<br />

gesagt: Aber Henriette, wie stellst du dir das vor? Ich will zu Schiff die O<strong>de</strong>r runter, als<br />

blin<strong>de</strong>r Passagier, und ebenso <strong>von</strong> Stettin nach Hamburg, wie willst du das machen? <strong>Das</strong> ist<br />

doch nicht <strong>de</strong>in Ernst, das ist doch ganz und gar unmöglich ...<br />

Es war aber mein Ernst, Michel, ganz bittrer Ernst sogar.<br />

Ich hatte hier alles und alle satt, wusste nicht, was ich ohne dich hier anfangen sollte. Und<br />

wusste, was mir bevorstand ... noch passte <strong>de</strong>r Rock, noch sah man mir nichts an, aber<br />

wie lange noch, wie lange?<br />

Sie sitzt auf <strong>de</strong>r Bank am See, <strong>de</strong>r Tag sonnt sich noch am Abend, Juni ist’s, sie hört es im<br />

Schilf rascheln und sieht nicht hin, <strong>de</strong>nn Adam Piotrowski, dieser Knirps, streift da herum,<br />

wo er nichts zu suchen hat. Henriette hat nichts gesehen. Adam! Sie mag ihn, diesen<br />

blon<strong>de</strong>n Jungen, Halinas Ältesten, sie spielt manchmal mit ihm, auch mit seiner Schwester,<br />

<strong>de</strong>r winzigen, drolligen Maria. Nur darf’s die Tante nicht sehen. Es schickt sich nicht,<br />

Henriette. - Ja, Tante. - Aber sie <strong>de</strong>nkt: Was kümmert’s mich, was sich schickt. Und hat<br />

das Bün<strong>de</strong>lchen Maria bald wie<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>m Arm. Beson<strong>de</strong>rs in <strong>de</strong>r letzten Zeit zieht es sie<br />

zu <strong>de</strong>r Kleinen. Seit sie begriffen hat, was da in ihrem Körper vor sich geht. Nein - begriffen<br />

hat sie’s nicht. Sie ahnt es. Aber wen soll sie fragen?<br />

Adams Kopf schiebt sich aus <strong>de</strong>m Schilf.<br />

Na, komm schon, sagt sie, ist keiner zu sehen.<br />

Und wenn wer kommt?<br />

Wer soll schon kommen? Höchstens <strong>de</strong>r Michel.<br />

Höchstens. Dabei wartet sie auf ihn seit fast einer Stun<strong>de</strong>. Diese Nacht will er fort.<br />

Schulmeister in Briesen soll er wer<strong>de</strong>n. Da geht er lieber. Ohne sie. Und wo bleibt er jetzt?<br />

Was hat er im Kopf, am letzten Abend in <strong>Bernsdorf</strong>? Mich anscheinend nicht. Und zum<br />

ersten Mal überlegt sie sich: Wollte das Knotenstockkind sich vielleicht nur schadlos halten,<br />

sich einen nachdrücklichen Abgang sichern? Liebt er mich überhaupt? Sie schämt sich<br />

sofort solcher Gedanken.<br />

Na, komm schon, Adam. Hast du aber einen schönen Stock. Selbst geschnitzt?<br />

Er nickt stolz. Mein Knotenstock, sagt er.<br />

Sie erschrickt. Und - was willst du damit?<br />

Er hält vorsichtig nach allen Seiten Ausschau. Flüstert: Verraten Sie’s auch nieman<strong>de</strong>m,<br />

gnädiges Fräulein?<br />

Sie tut böse (dabei gefällt ihr die Anre<strong>de</strong> nicht schlecht) und sagt: Freilich verrat ich dich,<br />

wenn du so zu mir sagst!<br />

Aber heute bleibt er fest. Die Mutter hat’s gesagt, ich darf nun nicht mehr Henni zu dir<br />

sagen, bin bald erwachsen.<br />

Wie alt ist <strong>de</strong>r Knirps, <strong>de</strong>nkt sie, zwölf? Dreizehn?


Na schön, wenn’s die Mutter gesagt hat. Also, ich verrat dich nicht.<br />

Der Stock, das ist meine Waffe, sagt er. Später besorg ich mir natürlich ’ne richtige.<br />

Gegen wen, Adam?<br />

Er senkt <strong>de</strong>n Kopf.<br />

Wo willst du <strong>de</strong>nn kämpfen, Adam? Mit wem?<br />

Da sieht er hoch. In Polen, sagt er. Und mit <strong>de</strong>n Polen.<br />

Nun schweigt sie. Wo hat <strong>de</strong>r Knirps das her? <strong>de</strong>nkt sie. Von <strong>de</strong>r lieben Halina? Von <strong>de</strong>m<br />

schweigsamen, beflissenen Ta<strong>de</strong>usz? Mein Gott, Henriette, wie lange kennst du die<br />

bei<strong>de</strong>n? Und dachtest, du kennst sie wirklich ...<br />

Henni?<br />

Sie lächelt ihm zu.<br />

Warum sagst du nichts?<br />

Weil ..., nun, ich <strong>de</strong>nke, du bist doch noch nicht erwachsen genug zum Kämpfen, Adam.<br />

Aber du meinst doch auch, dass die Menschenrechte und Freiheit, Gleichheit, Brü<strong>de</strong>rlichkeit<br />

für die Polen ebenso gelten wie für an<strong>de</strong>re Menschen, nicht?<br />

Ja, Adam, sagt sie und starrt ihn an, als sähe sie ihn zum ersten Mal, gewiss doch, wo hast<br />

du das nur her, ich hab dich noch nie so re<strong>de</strong>n hören, Junge.<br />

Sein überlegenes Lächeln nun! Henriette, warst du <strong>de</strong>nn blind, <strong>de</strong>r Junge ist wirklich fast<br />

erwachsen, ist überhaupt gar kein Knirps mehr ...<br />

Von Michel, sagt er.<br />

Von Michel?<br />

Natürlich, gnädiges Fräulein. Aber ich geh nun lieber, Henni, ’s könnte doch wer kommen.<br />

Da lächelt sie wie<strong>de</strong>r über das Durcheinan<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Anre<strong>de</strong>n, während sie ihm nachsieht,<br />

aber sie <strong>de</strong>nkt verwirrt:<br />

Von Michel. Henriette, kennst du Michel Marten eigentlich?<br />

Nein, ich kannte ihn schon damals nicht mehr. Und jetzt? Wie fremd war er mir. Und dabei<br />

doch so vertraut, so erregend vertraut - das Gesicht, die Stimme, je<strong>de</strong> Bewegung ..., und<br />

wie er gespielt hat, früh in <strong>de</strong>r Kirche ... Und vor allem: was er gespielt hat. Aber trotz<strong>de</strong>m -<br />

er ist wohl nicht mehr mein Michel. Er ist ein Frem<strong>de</strong>r. Und ich? Bin ich für ihn auch eine<br />

Frem<strong>de</strong>? So, wie ich eben mit ihm gere<strong>de</strong>t habe, bin ich’s gewiss. Herrgott, warum ist das<br />

alles so entsetzlich verworren, warum kann ich nicht zu ihm hingehen und sagen: Michel<br />

Marten, ich hab dich immer noch lieb, und ich bin die Henriette, die ich immer war, nimm<br />

mich fort <strong>von</strong> hier?<br />

Weil du das gar nicht willst, Henriette. Du möchtest schon, aber du willst nicht.<br />

Und damals wollte ich?


Ja, da wolltest du. Aber schon da hast du zu wenig dafür getan. Viel zu wenig, Henriette ...<br />

<strong>Das</strong>s <strong>de</strong>r Gong nun zum Mittagessen rief, war ihr lieb. Da konnte sie alle diese Gedanken<br />

zusammenpacken wie vorher die Briefe und konnte sie wegschließen.


3<br />

Sie warfen sich auf ihre Betten, so wie sie waren, in Uniform und Stiefeln. <strong>Das</strong> Zimmer war<br />

schmal, durch das Fenster fiel die Mittagssonne. Außer <strong>de</strong>n Betten gab es nur noch einen<br />

Schrank und eine Kommo<strong>de</strong>, einen Tisch mit Stuhl.<br />

Sie kochen nicht schlecht, <strong>de</strong>ine Preußen, sagte Jean-Pierre und <strong>de</strong>hnte sich wohlig. Und<br />

<strong>de</strong>in Geschmack - alle Achtung, mein Lieber, diese Henriette ...<br />

Hör auf, sagte Michel Marten ärgerlich, was weißt du <strong>von</strong> ihr. Außer<strong>de</strong>m - damals hättest<br />

du sie sehen müssen, Bru<strong>de</strong>rherz ...<br />

Hätte ich sie damals gesehen, begriffe ich wahrscheinlich noch weniger als jetzt, wie du dir<br />

das entgehen lassen konntest, Michel Marten, sagte er, gähnte aber dabei, hatte die Augen<br />

schon geschlossen, und Michel Marten war froh, dass er nichts antworten musste. Ich hab<br />

sie mir nicht entgehen lassen, Bru<strong>de</strong>rherz, dachte er. Etwas wie Triumph erfüllte ihn bei<br />

diesem Gedanken. Aber <strong>de</strong>r Triumph hatte einen bitteren Nachgeschmack. Denn gleich<br />

dachte er: Und bin nie mehr <strong>von</strong> ihr losgekommen. Hab sie gesucht in allen Menschen, die<br />

mir über <strong>de</strong>n Weg gelaufen sind, in Männern und Frauen, und in je<strong>de</strong>m doch immer nur ein<br />

Teilchen <strong>von</strong> ihr gefun<strong>de</strong>n. Bis ich’s einsah: Es gibt sie nur einmal. Je<strong>de</strong>n <strong>von</strong> uns gibt es nur<br />

einmal. Unwie<strong>de</strong>rholbar. Aber sind da nicht auch die Austauschbaren, die sich allzu sehr<br />

angepasst haben, bis ihre Unwie<strong>de</strong>rholbarkeit verblasste wie die Farben in einem zu oft<br />

gewaschenen Kleid? Und man muss sich sehr große Mühe geben, wenn man irgendwo in<br />

ihnen noch das ent<strong>de</strong>cken will, was sie eigentlich sind - ent<strong>de</strong>cken, <strong>de</strong>nn zuge<strong>de</strong>ckt,<br />

verschüttet wur<strong>de</strong> es. Aber es ist da, irgendwo ist es auch in diesen Menschen ...<br />

So grübelte er vor sich hin, während Jean-Pierre schon gleichmäßig atmete und ein leises<br />

Schnarchen hören ließ.<br />

Wie man nur jetzt schlafen kann, dachte Michel. Er schloss die Augen, da sah er Henriettes<br />

Gesicht vor sich, hörte ihre Stimme, mit <strong>de</strong>r sie seinen Namen französisch aussprach, und<br />

plötzlich hörte er sie sagen: Nimm mich doch mit, Michel.<br />

Mein Gott, dachte er, wie lange ist das her?<br />

Er sah sich mit ihr am See sitzen, hörte sich antworten: Aber Henriette, das ist doch ganz<br />

und gar unmöglich und ist doch <strong>de</strong>in Ernst nicht, wie <strong>de</strong>nkst du dir das nur? Ich will zu Schiff<br />

die O<strong>de</strong>r hinunter, dann weiter nach Hamburg, wie willst du das machen? Komm, sieh mich<br />

nicht so an, Henriette, ich geh doch nicht aus <strong>de</strong>r Welt, ich geh endlich in die Welt, und<br />

wenn ich dort etwas gewor<strong>de</strong>n bin, dann komm ich und hol dich nach, du musst nur daran<br />

glauben, Henriette !<br />

Hast du eigentlich selbst daran geglaubt, Michel Marten? So ganz tief innen, hast du da<br />

nicht gewusst, dass dies alles fromme Lügen waren? Du gabst dir große Mühe, ihr <strong>de</strong>ine<br />

Freu<strong>de</strong> nicht zu zeigen, Freu<strong>de</strong> darüber, dass du endlich fortkamst aus <strong>Bernsdorf</strong>, hinaus in<br />

die Welt - wo war <strong>de</strong>nn die Welt? Überall, nur nicht in <strong>Bernsdorf</strong>, dachtest du ... Alles war<br />

schon mit Ta<strong>de</strong>usz abgesprochen, er wollte dich mit nach Frankfurt nehmen, wohin er in<br />

aller Frühe, halb in <strong>de</strong>r Nacht noch, zu fahren hatte. Außer Henriette und <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n<br />

Piotrowskis wusste niemand <strong>von</strong> <strong>de</strong>iner Abreise.


Dem Janke tust du einen Gefallen, hatte Halina gesagt, <strong>de</strong>m ist das doch gleich, ob du in<br />

Briesen Schulmeister wirst o<strong>de</strong>r in Hamburg sonst was, <strong>de</strong>r ist auf die Henriette scharf.<br />

Denkst du <strong>de</strong>nn gar nicht an die Henriette, Michel Marten?<br />

Sie wer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>m Janke doch die Henriette nicht geben, Halina. Ebenso wenig wie sie mir<br />

die Henriette geben wür<strong>de</strong>n. Was hab ich hier noch zu suchen?<br />

Nichts, Michel, freilich gar nichts. Aber warum nimmst du die Henriette nicht mit? Ich fürcht,<br />

sie geben sie doch <strong>de</strong>m Janke. Die Tochter ist sie nicht, nur die Nichte, Vermögen hat sie<br />

keins, <strong>de</strong>r Vater ist auf Spandau verstorben - wenn sie solche Verwandtschaft nun<br />

abschieben wollen? Und adlig ist er doch nun, <strong>de</strong>r Janke. Hofrat dazu. Wer weiß, wer weiß,<br />

Michel. Mir tät’s leid um die Henriette, sie ist doch mehr so wie unsereins, das kommt doch<br />

auch durch dich, und nun lässt du sie hier allein ...<br />

Ach, Halina, im Ernst will sie doch gar nicht fort <strong>von</strong> hier, sie ist ein an<strong>de</strong>res Leben gewöhnt<br />

...<br />

Ich war eigentlich auch ein an<strong>de</strong>res Leben gewöhnt als das, das ich dann führte ... Aber ihr<br />

hätte ich es niemals zugetraut - diese Unsicherheit, die Strapazen; ganz und gar<br />

unvernünftig wäre es mir vorgekommen, sie solchen Gefahren auszusetzen.<br />

Michel war sich nun sicher, dass <strong>de</strong>r Schlaf nicht mehr kommen wür<strong>de</strong>; er war ganz wach<br />

und erregt. Ihm fiel ein, dass er eigentlich, statt hier zu liegen, durch die Ställe gehen sollte,<br />

vielleicht wür<strong>de</strong> er <strong>de</strong>n August Lemke treffen, mit <strong>de</strong>m er noch über die Bittschrift zu re<strong>de</strong>n<br />

hatte. Er gestand sich nicht ein, dass er, auf <strong>de</strong>m Bett liegend, an nichts und nieman<strong>de</strong>n<br />

<strong>de</strong>nken konnte als an die Henriette <strong>von</strong> damals und die Frau <strong>von</strong> Janke heute; und noch viel<br />

weniger konnte er zugeben, dass seine Gedanken zu kreisen begannen um etwas, das er<br />

mit Schuld bezeichnen könnte, falls er eine Bezeichnung dafür suchte.<br />

August Lemke stand im Pfer<strong>de</strong>stall, machte sich an Zaumzeug und Sattelgurten zu<br />

schaffen. Na? sagte er und ließ sofort die Arbeit liegen, ging Michel entgegen.<br />

Da kam Michel sich plötzlich - und zum ersten Mal - wie heimgekehrt vor, <strong>de</strong>nn er begriff,<br />

dass August auf ihn gewartet hatte.<br />

Langsam schlen<strong>de</strong>rten sie an <strong>de</strong>n <strong>Buch</strong>ten vorbei, Michel tätschelte <strong>de</strong>n Pfer<strong>de</strong>n die<br />

Rücken. Sie setzten sich nebeneinan<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>n Futterkasten. August stellte keine Fragen,<br />

wie<strong>de</strong>rholte auch sein „Na?“ nicht; geduldig und wortkarg wie immer wartete er, bis Michel<br />

zu re<strong>de</strong>n begann, und <strong>de</strong>r ließ sich Zeit damit.<br />

Stört ihn meine Uniform also nicht mehr? dachte er. Er erwartet etwas <strong>von</strong> mir. Vielleicht -<br />

erwartet er etwas <strong>von</strong> <strong>de</strong>r französischen Armee?<br />

Bist du eigentlich mal rausgekommen aus <strong>Bernsdorf</strong> in all <strong>de</strong>n Jahren? fragte er.<br />

Hm, sagte August. War doch Soldat, nicht? Bin im Frühjahr dreiundneunzig in <strong>de</strong>r<br />

Champagne um ein Haar verreckt.<br />

Ach, sagte Michel, da hätten wir uns beinah treffen können, August. Im Sommer<br />

zweiundneunzig, da bin ich doch <strong>von</strong> <strong>Bernsdorf</strong> weg, und Sommer dreiundneunzig, da bin ich


nach Frankreich, zu Fuß, durch die Champagne, August.<br />

August nickte. Ta<strong>de</strong>usz hat uns erzählt, wie er dich in Frankfurt bei einem Flößer<br />

untergebracht hat. Auf <strong>Bernsdorf</strong>schem Holz bist du nach Stettin, ja?<br />

Plötzlich wur<strong>de</strong> August gesprächig. Zweiundneunzig, sagte er, da war viel los hier, nicht?<br />

Da hat das Fräulein Henriette geheiratet und bald danach <strong>de</strong>r Junker Herrmann, <strong>de</strong>r hat<br />

noch kurz vor <strong>de</strong>r Offensive geheiratet und dann ab in die Scheiße, hat mächtig die Ruhr<br />

gehabt, <strong>de</strong>r junge Herr, wie unsere halbe Armee, wie die Fliegen sind unsere Leute<br />

krepiert, kann ich dir sagen ... Weißt du überhaupt, wieso damals aus dieser<br />

Hamburgischen Heirat doch noch was gewor<strong>de</strong>n ist, wo doch <strong>de</strong>r gnädige Herr Baron erst<br />

so ganz dagegen war? Der Ta<strong>de</strong>usz hat’s uns ja erzählt, <strong>de</strong>r weiß über alles Bescheid, was<br />

auf <strong>de</strong>m Schloss los ist, weil doch die Herrschaften immer <strong>de</strong>nken, unsereins ist blind,<br />

stumm und taub. Die Mitgift <strong>de</strong>r gnädigen Frau Susanna war nämlich so hoch, dass damit<br />

alle Schul<strong>de</strong>n bezahlt wer<strong>de</strong>n konnten, da konnte <strong>de</strong>r Baron gar nicht an<strong>de</strong>rs, als <strong>de</strong>r Heirat<br />

zustimmen. Dazu hat <strong>de</strong>r alte Suhrbier ihm noch Geld geliehen, mit <strong>de</strong>m die Schnapsfabrik<br />

in Briesen gebaut wer<strong>de</strong>n konnte, und hat auch sonst ganz brauchbare Vorschläge<br />

gemacht, wie man aus <strong>de</strong>m Anbau dieser neuen Früchte, <strong>de</strong>r Erdtoffeln, eine Menge Geld<br />

machen könne. Nur <strong>de</strong>r Bru<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r gnädigen Frau Susanna hat <strong>de</strong>m Baron nicht gepasst,<br />

damit konnte er sich nicht abfin<strong>de</strong>n, dass ein Jakobiner in die Familie kommen sollte, und er<br />

hat verlangt, <strong>de</strong>r Herr Suhrbier müsse <strong>de</strong>n Sohn verstoßen und enterben. Und <strong>de</strong>r soll das<br />

<strong>de</strong>nn wohl auch gemacht haben, nicht? Der Baron hat ja selbst damals <strong>de</strong>n Junker Joachim<br />

verstoßen, weil <strong>de</strong>r ein Revolutionsgedicht geschrieben und es auch hatte drucken lassen,<br />

in einer richtigen Zeitschrift und mit vollem Namen unterzeichnet, da hat <strong>de</strong>r alte Herr<br />

getobt, dass wir’s bis in die Ställe hören konnten, Michel Marten! Und wenn <strong>von</strong> <strong>de</strong>m Junker<br />

Joachim Briefe kamen, dann mussten sie ungeöffnet verbrannt wer<strong>de</strong>n. Der Ta<strong>de</strong>usz hat<br />

aber manchmal welche abfangen können und hat sie <strong>de</strong>m Fräulein Henriette zugesteckt.<br />

Und die Baronin, die hat hinter <strong>de</strong>m Rücken <strong>de</strong>s Alten <strong>de</strong>m Junker Joachim Geld zukommen<br />

lassen, über die Bülowsche Verwandtschaft, verstehst du?<br />

Joachim ging damals nach Paris, sagte Michel. Bist du mal in Paris gewesen, August?<br />

August Lemke schüttelte langsam <strong>de</strong>n Kopf. Wie sollt ich wohl, sagte er. Als die<br />

Franzmänner uns in <strong>de</strong>r Champagne so eingeheizt hatten, dass wir schnellstens wie<strong>de</strong>r<br />

abrücken mussten, da hab ich lange in einem stinkigen Lazarett gelegen und dann ab nach<br />

Hause, war nicht mehr tauglich, hatte Glück gehabt. Wär auch nicht noch mal gegen die<br />

Franzmänner losgezogen.<br />

Warum nicht, August?<br />

Warum? - Wie fragst du <strong>de</strong>nn komisch. Weil sie mir zu sehr gefielen, weil mir ihre<br />

Revolution gefiel, zum Teufel, <strong>de</strong>nkst du <strong>de</strong>nn, ich hatte nichts gesehen in Frankreich? Hatte<br />

ihre Flugschriften nicht gelesen, in <strong>de</strong>nen über die Menschenrechte geschrieben war?<br />

Denkst du <strong>de</strong>nn, Freiheit, Gleichheit, Brü<strong>de</strong>rlichkeit - das hat mich kaltgelassen? Mich hat ja<br />

nicht mal sehr gestört, wie sie ihren dicken Ludwig geköpft haben. Wer<strong>de</strong>n schon gewusst<br />

haben, warum, dacht ich mir. Und <strong>de</strong>r Jakob Marten und <strong>de</strong>r Pfarrer Schulz, <strong>de</strong>ine<br />

Großväter, die waren mir oft eingefallen, wenn ich französische Flugblätter las. Ich dachte


nämlich manchmal, die bei<strong>de</strong>n Alten, die wür<strong>de</strong>n sich wohl freuen, wenn sie das alles noch<br />

erlebt hätten, nicht?<br />

Michel nickte heftig. Ja, sagte er, das hab ich auch oft gedacht, in Frankreich.<br />

Nu erzähl mal endlich was, sagte August. Wie bist du überhaupt weitergekommen <strong>von</strong><br />

Stettin? Und hast du diesen Heinrich Marten getroffen, <strong>de</strong>inen ..., na ja, <strong>de</strong>inen Vater? Und<br />

<strong>de</strong>n Bru<strong>de</strong>r <strong>von</strong> <strong>de</strong>r Frau Susanna, diesen Andreas Suhrbier, kennst du <strong>de</strong>n? Und was hast<br />

du in Paris gemacht? Und - warum bist du nicht eher zurückgekommen und - ohne diese<br />

Uniform?<br />

Michel dachte: Also doch. Die Uniform stört ihn doch. Warum re<strong>de</strong>n wir <strong>von</strong> alten<br />

Geschichten, obwohl wir über heute und morgen zu re<strong>de</strong>n hätten? Aber vielleicht re<strong>de</strong>n wir<br />

schon lange über heute und morgen ..., weil wir nacheinan<strong>de</strong>r suchen. Wer bist du, August<br />

Lemke? frage ich. Und er fragt mich: Wer bist du, Michel Marten? Und bei<strong>de</strong> wissen wir: Es<br />

reicht nicht, zu sagen, ich bin ich. Obwohl das viel ist, falls es die Wahrheit trifft.<br />

Na? fragte August verwun<strong>de</strong>rt. Magst du nicht da<strong>von</strong> re<strong>de</strong>n?<br />

Doch, doch, sagte Michel. Also immer <strong>de</strong>r Reihe nach, zuerst Stettin. Da lungerte ich ein<br />

paar Tage im Hafen herum, lernte schließlich ein paar Matrosen kennen, <strong>de</strong>ren Schiff in <strong>de</strong>n<br />

nächsten Tagen nach Lübeck auslaufen sollte, mit ihrer Hilfe konnte ich mich auf <strong>de</strong>n Segler<br />

schmuggeln. Von Lübeck ging ich zu Fuß nach Hamburg. <strong>Das</strong> dauerte Wochen, <strong>de</strong>nn ich<br />

arbeitete unterwegs für Brot und Nachtlager bei <strong>de</strong>n Bauern. Es war Erntezeit. <strong>Das</strong> war ein<br />

schwüler Sommer in diesem Jahr siebzehnhun<strong>de</strong>rtzweiundneunzig, erinnerst du dich,<br />

August? Immerfort eine brüten<strong>de</strong> Hitze, und dann diese schweren Gewitter. Aber das<br />

schlimmste Gewitter brüten sie jetzt in Mainz aus, hörte ich manchmal sagen. Überall<br />

munkelten die Leute <strong>von</strong> einer großen Offensive gegen Frankreich. Bei <strong>de</strong>n tagelangen<br />

Feierlichkeiten zu Ehren Franz I., <strong>de</strong>s neuen Kaisers, in Mainz, so sagten sie, wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>r<br />

große Vorstoß gegen die Franken endgültig beschlossen wer<strong>de</strong>n. Ein Manifest habe <strong>de</strong>r<br />

Herzog <strong>von</strong> Braunschweig in die Welt geschickt, in <strong>de</strong>m er ihnen Tod und Ver<strong>de</strong>rben<br />

versprach, Paris solle <strong>de</strong>m Erdbo<strong>de</strong>n gleichgemacht wer<strong>de</strong>n. Aber sie sagten auch, diese<br />

Bauern und Tagelöhner und Handwerker, mit <strong>de</strong>nen ich zusammenkam: Wenn die<br />

Herrschaften sich man nicht verrechnen. Und: Wie man in <strong>de</strong>n Wald hineinruft, so schallt’s<br />

heraus. Und solche Re<strong>de</strong>nsarten. Ganz sicher wer<strong>de</strong> man diesen Krieg noch am eigenen<br />

Leibe zu spüren bekommen. Und je<strong>de</strong>r müsse sehen, so schnell wie möglich seine<br />

Scheunen zu füllen.<br />

Es wur<strong>de</strong> August, da sah ich Hamburg in <strong>de</strong>r Ferne, da lief ich wie verrückt, dachte: Find<br />

ich heut <strong>de</strong>n Heinrich Marten? In meiner Einfalt nahm ich wirklich an, <strong>de</strong>r Heinrich Marten<br />

habe die ganze Zeit in Hamburg gesessen und auf mich gewartet ... Bevor ich noch<br />

irgendjeman<strong>de</strong>n in Hamburg kennengelernt hatte, wusste ich schon die große Neuigkeit,<br />

<strong>de</strong>nn an allen Straßenecken wur<strong>de</strong> da<strong>von</strong> gere<strong>de</strong>t: Da hatten die Franzosen die Tuilerien<br />

gestürmt und ihren Ludwig abgesetzt und die Republik ausgerufen. Ich fragte mich durch<br />

zum Kaufmann Suhrbier. Zunächst schien das eine einfache Sache zu sein, je<strong>de</strong>r kannte <strong>de</strong>n<br />

Namen, je<strong>de</strong>r wollte mir <strong>de</strong>n Weg zeigen. Ja, <strong>de</strong>r Suhrbier, sagten manche, das sei ein<br />

rechter Kerl! <strong>Das</strong> erste Freiheitsfest in Hamburg, am ersten Jahrestag <strong>de</strong>r Revolution, das


habe im Suhrbierschen Landhaus stattgefun<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r Dichter Klopstock sei dort aufgetreten,<br />

mit einer Hymne auf die fränkische Revolution, ja, <strong>de</strong>r Kaufmann Suhrbier ... Trotz<strong>de</strong>m<br />

verlief ich mich, verwirrt <strong>von</strong> <strong>de</strong>m Getriebe <strong>de</strong>r Großstadt, mir war ganz dumm im Kopf <strong>von</strong><br />

all <strong>de</strong>m Gere<strong>de</strong>, <strong>de</strong>n vielen Menschen, diesem fürchterlichen Häuserwald, <strong>de</strong>n rasen<strong>de</strong>n<br />

Kutschen ... Unversehens stand ich plötzlich in einem Gewirr kleiner, buckliger Gassen,<br />

zwischen niedrigen Häusern mit winzigen blin<strong>de</strong>n Scheiben, die Straßen voll Kot und Staub,<br />

die Häuser verrußt, im Rinnstein spielten kleine, unsäglich schmutzige Kin<strong>de</strong>r ... Sinnlos<br />

natürlich, hier nach <strong>de</strong>m Haus <strong>de</strong>s Großkaufmanns Suhrbier zu fragen. Da mir aber, als ich<br />

mich erschrocken umwandte, ein Mensch entgegenkam, fragte ich in meiner Verwirrung<br />

trotz<strong>de</strong>m. Der Mensch sah mich unverschämt grinsend, aber auch neugierig an, er war<br />

reichlich abgerissen, unrasiert, seine Augen lagen tief in <strong>de</strong>n Höhlen, ich behielt <strong>von</strong> seinem<br />

Gesicht nur diese großen, grün schimmern<strong>de</strong>n Augen in Erinnerung. An <strong>de</strong>nen hab ich ihn<br />

später immer wie<strong>de</strong>r erkannt. Denn ich hatte noch mehrmals mit ihm zu tun. Samuel hieß er.<br />

Suhrbier? sagte er mit seinem unverschämten Grinsen, das ist doch <strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r letzten<br />

Sommer die Flugschrift gegen unseren Aufstand verfasst hat, hä? Was für ein Aufstand?<br />

fragte ich. Gesellenaufstand, sagte er, wir schrien Freiheit, Gleichheit, Brü<strong>de</strong>rlichkeit, aber<br />

in <strong>de</strong>r Flugschrift dieses Suhrbier, da stand dann zu lesen, Freiheit ist nichts weiter als <strong>de</strong>r<br />

ungehin<strong>de</strong>rte Gebrauch <strong>de</strong>s Eigentums, <strong>de</strong>r Besitzlose hat kein Recht, an <strong>de</strong>r staatlichen<br />

Verwaltung teilzunehmen: auf die Freiheit pfeif ich seit<strong>de</strong>m, kein Meister nimmt mich mehr,<br />

immer nur Arbeit für Tagelohn im Hafen, seit einem Jahr schon, aber ... Plötzlich schwieg er<br />

misstrauisch, ließ mich stehen, verschwand um irgen<strong>de</strong>ine Ecke. Ich war ziemlich ratlos,<br />

entschloss mich dann, ihm vorerst nichts zu glauben, und suchte weiter nach <strong>de</strong>m Haus <strong>de</strong>s<br />

Suhrbier. Fand es auch endlich. Übrigens machte mir erst <strong>de</strong>r verächtliche Blick <strong>de</strong>s<br />

Dieners klar, wie ich aussah: Wie ein Vagabund. Brauchte viele Worte, um <strong>de</strong>n Diener zu<br />

bewegen, mich zu mel<strong>de</strong>n. Die Worte hätte ich mir alle sparen können, <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r Name<br />

Heinrich Marten war das „Sesam-öffne-dich“. Ich durfte in <strong>de</strong>r Diele warten. Es roch nach<br />

Reichtum - Plüsch, Samt, Gemäl<strong>de</strong> in Goldrahmen und so. Suhrbier gefiel mir aber. Er<br />

nahm gar keine Notiz <strong>von</strong> meinem Aussehen. Der Heinrich Marten - ja freilich, das sei <strong>de</strong>r<br />

Hauslehrer seiner Kin<strong>de</strong>r gewesen, ein guter Informator, alles was Recht ist! Aber vor<br />

Jahren schon. Denn seine Kin<strong>de</strong>r seien nun erwachsen, das müsse ich ja wissen, wenn ich<br />

aus <strong>Bernsdorf</strong> käme, Susanna wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>mnächst Frau <strong>von</strong> <strong>Bernsdorf</strong> sein, und Andreas<br />

habe in Jena studiert, sei seltsamerweise mit einem Herrn <strong>von</strong> <strong>Bernsdorf</strong> befreun<strong>de</strong>t,<br />

Zufälle gebe es im Leben! Und er wiegte sein gewaltiges Haupt. Nun sei er freilich in Paris,<br />

<strong>de</strong>r Andreas, o<strong>de</strong>r in Mainz, möglicherweise käme er auch in diesen Tagen. Er sei<br />

verstoßen, enterbt? Gott bewahre, das sei nur so eine kleine Kriegslist, damit die Susanna<br />

ihren Herrmann bekäme. Freilich, zum Besten stän<strong>de</strong> man sich mit ihm nicht, er sei zu<br />

radikal, zu unbedingt, jugendlicher Brausekopf eben.<br />

Und dann sagte er zu mir: Aber in <strong>de</strong>r Jugend ist man eben so, Sie doch gewiss auch,<br />

junger Mann? Na also, so was gibt sich mit <strong>de</strong>r Zeit, da darf man doch keine Tragödie<br />

draus machen, mit Verstoßen und Enterben, i bewahre.<br />

Er war sehr gesprächig, <strong>de</strong>r alte Suhrbier, und er re<strong>de</strong>te breit und gemütlich daher,<br />

langsam und bedächtig, seine grauen Augen blinzelten schläfrig und gutmütig - hätte man


<strong>de</strong>nken können. Mir entging aber nicht, dass sein Blick im Grun<strong>de</strong> hellwach und flink war,<br />

ganz aufmerksam; etwas Fuchsähnliches verbarg sich hinter dieser behäbigen<br />

Gelassenheit.<br />

Freilich hab ich ihn gefragt, wo <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r Heinrich Marten steckt, August. Er sagte: Ja, mein<br />

Bester, wenn ich das so genau wüsste. Er hatte ein recht or<strong>de</strong>ntliches Stück Geld verdient,<br />

als ich ihn entließ. Wollte eine Zeitschrift grün<strong>de</strong>n, hat’s auch, aber über ein paar Nummern<br />

ist sie nicht hinausgekommen. „<strong>Das</strong> graue Ungetüm“ o<strong>de</strong>r so ähnlich hat er sie genannt.<br />

Dann hat er ein <strong>Buch</strong> geschrieben, das soll <strong>de</strong>mnächst wohl erscheinen, eine hübsche<br />

Geschichte - wie man Kin<strong>de</strong>r erziehen könne in einer Gemeinschaft, in <strong>de</strong>r alles allen<br />

gehört, die sich gewissermaßen selbst reproduziert, Sie verstehen, eine Art Kommune,<br />

nicht wahr, Unsinn natürlich, aber hübsch ausgedacht, soll sogar <strong>von</strong> <strong>de</strong>m Herrn Chodowicki<br />

illustriert wor<strong>de</strong>n sein, und eine Schlusso<strong>de</strong> soll <strong>de</strong>r Herr Mozart noch kurz vor seinem To<strong>de</strong><br />

in Musik gesetzt haben - alles solche Gerüchte, Herr Marten. Aber wo er steckt, <strong>de</strong>r<br />

Heinrich Marten, Ihr Herr Vater - ehrlich gesagt, hab ich mich nie recht dafür interessiert,<br />

seine Gedankengänge sind mir ein wenig zu fantastisch, auch zu radikal, er hat gewiss viel<br />

schuld an <strong>de</strong>n extremen Ansichten meines Sohnes ...<br />

Da waren seine Augen gar nicht mehr gutmütig, und es fiel ein unsichtbarer eisiger Vorhang<br />

zwischen uns, und also stand ich auf, um zu gehen. Ich wur<strong>de</strong> aber aufgefor<strong>de</strong>rt, in <strong>de</strong>n<br />

nächsten Tagen vorbeizukommen, <strong>de</strong>r Andreas wer<strong>de</strong> dann möglicherweise da sein.<br />

Er war da, eine Woche später, er begrüßte mich wie einen alten Bekannten, Joachim hatte<br />

ihm viel <strong>von</strong> mir erzählt ...<br />

Wart mal, sagte August plötzlich und stand auf, da kommt doch was.<br />

Sie gingen ein Stück zur Tür, da sahen sie <strong>de</strong>n Reisewagen auf <strong>de</strong>n Hof fahren. Die<br />

Suhrbiers, sagte Michel. Und Andreas ist dabei, das ist er, siehst du? Hat Ähnlichkeit mit<br />

seinem Vater, nicht? Er ist jetzt französischer Beamter, Richter in Mainz. Hab ihn schon<br />

sehr lange nicht mehr gesehen ...<br />

Da wirst du jetzt reingehen wollen, sagte August, scha<strong>de</strong>, ich hätte dir gern noch lange<br />

zugehört, hab in <strong>de</strong>n letzten Jahren oft gedacht: Wo wohl <strong>de</strong>r Michel steckt, was <strong>de</strong>r jetzt<br />

wohl macht ...<br />

Ja, sagte Michel, ich erzähl dir schon noch mal weiter. Aber eigentlich müssten wir doch<br />

über an<strong>de</strong>res re<strong>de</strong>n, über morgen zum Beispiel, nicht?<br />

<strong>Das</strong> tun wir ja dabei auch, Michel, sagte August bedächtig. Siehst du, ich muss doch<br />

wissen, wie du dich verhalten wirst, wenn es morgen hier Krach geben sollte. Was <strong>de</strong>ine<br />

Soldaten dann tun wer<strong>de</strong>n. Also muss ich wissen, wer ...<br />

Wer ich bin, ja? unterbrach Michel ihn schnell. Daran dachte ich vorhin schon, August. Weiß<br />

es manchmal selbst nicht genau, wer ich bin. Also gut, heute Abend komm ich ins Dorf, wir<br />

setzen die Bittschrift auf, und dann erzähl ich weiter. Übrigens - ich hab ja angefangen, dich<br />

auszufragen, und aus <strong>de</strong>m gleichen Grund - wollte wissen, wie du zu mir stehst.


<strong>Das</strong> sind zwei Sachen, Michel, sagte August. Nämlich wie ich zu dir stehe und wie ich zu<br />

dieser Uniform stehe, das heißt: zu <strong>de</strong>inem Kaiser.<br />

Mein Kaiser?<br />

Michel ging langsam über <strong>de</strong>n Schlosshof. Mein Kaiser, dachte er. Ist er das? Ist er das je<br />

gewesen? Mein General - ja, das war er. <strong>Das</strong> ist lange her. Doch ich trag seine Uniform,<br />

also ist es mein Kaiser - sagt <strong>de</strong>r August. Hat er nicht recht? So müsste es sein, alles<br />

an<strong>de</strong>re wäre Unsinn. Unsinn, dachte er, das Wort beim Wort nehmend, ohne Sinn ...


4<br />

Henriette war erleichtert, als sich Friedrich und Janke nach <strong>de</strong>m Essen mit Blicken<br />

verständigten, sich an <strong>de</strong>n alten Herrn heranmachten, mit ihm schließlich ins Jagdzimmer<br />

hinuntergingen. Erleichtert - weil etwas geschah, zu <strong>de</strong>m sie zumin<strong>de</strong>st <strong>de</strong>n Anstoß<br />

gegeben hatte. Erleichtert aber auch (obwohl sie sich das nicht eingestand), weil sie nun<br />

gewiss in <strong>de</strong>r ersten Nachmittagsstun<strong>de</strong> vor Janke sicher war - vor seinen möglichen<br />

Vorwürfen und Belehrungen ebenso wie vor <strong>de</strong>n möglichen Zärtlichkeiten. Aber sie war<br />

auch voll Unruhe. Denn sie dachte: Seinen Mittagsschlaf hätten sie ihm lassen müssen.<br />

Wenn sie jetzt nicht sehr diplomatisch vorgehen ...<br />

Die französischen Offiziere zogen sich auf ihr Zimmer zurück - sie stellte es mit Befriedigung<br />

fest. Sie hatte sich während <strong>de</strong>s Essens krampfhaft bemüht, Michel Marten zu übersehen,<br />

hatte dafür mit <strong>de</strong>m Leutnant Carnette ein paar Sätze gewechselt, seine Blicke voll<br />

unverhüllter Bewun<strong>de</strong>rung taten ihr wohl, seine flinken braunen Augen in <strong>de</strong>m dunklen<br />

Gesicht gefielen ihr, auch sein unbeholfenes Deutsch, in <strong>de</strong>m er <strong>de</strong>n Rehbraten lobte und<br />

sogar <strong>de</strong>n Wein und nach <strong>de</strong>r Kartoffelsorte fragte und feststellte, dass die Deutschen doch<br />

recht gut zu kochen verstän<strong>de</strong>n, nicht so gut wie die Franzosen natürlich, aber immerhin<br />

recht gut.<br />

Was ihm die Belehrung durch <strong>de</strong>n Baron einbrachte, er sei hier in Preußen und habe es mit<br />

Preußen zu tun, nicht mit Deutschen.<br />

Was wie<strong>de</strong>rum Joachim zu <strong>de</strong>r Bemerkung veranlasste, er sei sehr wohl Deutscher und<br />

nichts als dies.<br />

Sodass die Baronin rasch das Gespräch an sich riss und <strong>de</strong>m Leutnant Carnette erläuterte,<br />

mit welcher Kartoffelsorte er es zu tun habe und wie man <strong>de</strong>n Rehbraten in saurer Sahne<br />

schmoren müsse, damit er so schmecke und nicht an<strong>de</strong>rs.<br />

Nichts als dies, Joachim?<br />

Sie waren allein im Terrassenzimmer.<br />

Er verstand sofort.<br />

Ja, sagte er nachdrücklich. Und da Henriette ihn noch immer fragend ansah: Einmal bil<strong>de</strong>te<br />

ich mir ein, Weltbürger zu sein, Henriette. Schiller und Kant hießen meine Götter. Und<br />

Danton. Und Georg Forster. Und Robespierre. Ja, auch Robespierre, du müsstest aus<br />

meinen Briefen wissen, wie sehr ich gera<strong>de</strong> ihn liebte. Ebenso sehr, wie ich die Guillotine<br />

hasste. Und wie ich für die fränkische Revolution brannte, solange ich sie vom Parkett aus<br />

abrollen sah wie ein gewaltiges Drama <strong>de</strong>r Menschheitsgeschichte, aber wie ernüchtert, ja<br />

verzweifelt ich war, als ich auf <strong>de</strong>r Bühne stand, dort in Paris, als ich mit <strong>de</strong>n Sansculotten<br />

durch Blut watete und Marat nach mehr Blut schreien hörte, bis sein eigenes floss ...<br />

Trotz<strong>de</strong>m liebte ich Robespierre. Ich verehrte die I<strong>de</strong>e in ihm, die unverfälschte, heilige I<strong>de</strong>e<br />

<strong>von</strong> <strong>de</strong>n Menschenrechten. Und <strong>de</strong>n Weltbürger, Henriette, <strong>de</strong>n sauberen, unbestechlichen<br />

Menschen. Aber mir schau<strong>de</strong>rte vor <strong>de</strong>r Guillotine, die er zwar nicht erfun<strong>de</strong>n hat, wie <strong>de</strong>r<br />

<strong>de</strong>utsche Spießbürger glaubt, aber doch sanktioniert ... Und mir schau<strong>de</strong>rte vor all <strong>de</strong>n


an<strong>de</strong>ren, die nicht sauber und unbestechlich waren, die ein Geschäft aus <strong>de</strong>r Revolution<br />

machten o<strong>de</strong>r ein Theaterspiel ...<br />

Und heute verachtest du ihn, Joachim?<br />

Robespierre? Natürlich nicht, Henriette. Ich bewun<strong>de</strong>re ihn nach wie vor. Und bedaure ihn.<br />

<strong>Das</strong>s er zugrun<strong>de</strong> ging - gehen musste.<br />

Unsicher sagte sie: Aber musste <strong>de</strong>nn aus <strong>de</strong>iner Begeisterung für die Neufranken nun so<br />

ein Franzosenhass wer<strong>de</strong>n, Joachim? Ja, sagte er unwillig. Denn dies Volk war <strong>de</strong>r Freiheit<br />

nicht würdig, was hat es aus <strong>de</strong>r Freiheit gemacht? Ein gut florieren<strong>de</strong>s Geschäft,<br />

Henriette. Schacher, Betrug, Korruption, Konkurrenz, Welteroberung. Restlos alles haben<br />

sie zum Verkauf angeboten: Waren und Weiber, Gewissen und Glauben, Himmel und Er<strong>de</strong>.<br />

Sogar die Er<strong>de</strong>, Henriette, und das machen wir ihnen nun nach, durch das Oktoberedikt<br />

wird auch bei uns das Land käuflich. Sogar die Religion, Henriette. Gott als Privatbesitz -<br />

das sind die Franzosen, nichts ist heilig geblieben, nichts. Begreifst du, darum sagte ich<br />

gestern zu dir: Katholisch müsste man wer<strong>de</strong>n. Alle Deutschen katholisch. Und ein starker<br />

<strong>de</strong>utscher Kaiser, ein neuer Barbarossa. Und dann die Franzosen hinter <strong>de</strong>n Rhein<br />

getrieben. O<strong>de</strong>r noch weiter. Alles an<strong>de</strong>re fän<strong>de</strong> sich, käme dann <strong>von</strong> selbst. Was? Eine<br />

<strong>de</strong>utsche Revolution zum Exempel. Eine <strong>de</strong>utsche, wohlgemerkt, eine Revolution mit<br />

Vernunft und Menschenliebe, eine Revolution durch die Kunst. Hast du mein <strong>Buch</strong> schon<br />

gelesen, Henriette?<br />

Sie hatte ihm staunend zugehört, ungläubig - seit wann hat er solche Gedanken, wie kommt<br />

er dazu - manches schien ihr vernünftig, was er sagte, manches war ihr so fremd, dass es<br />

ihr wi<strong>de</strong>rstrebte, darüber nachzu<strong>de</strong>nken: katholisch ...<br />

Nein, sagte sie, noch nicht, nur hineingesehen. Es sind schöne Verse. Nur - ich vertrag sie<br />

jetzt nicht; so viel Nacht ist darin und so viel To<strong>de</strong>ssehnsucht, Joachim. Wie verträgt sich<br />

das mit <strong>de</strong>inen Träumen vom Krieg gegen die Franken? Weißt du, was ich bisher gelesen<br />

habe, das ist so, wie Mariannes letzte Briefe waren. <strong>Das</strong> machte mir Angst - Angst,<br />

weiterzulesen, und Angst um dich.<br />

Nun legte er ihr <strong>de</strong>n Arm um die Schulter, sie hatte das Frem<strong>de</strong> fortgere<strong>de</strong>t, das so lange<br />

zwischen ihnen gestan<strong>de</strong>n hatte, fortgere<strong>de</strong>t mit einem Namen. Die Angst um mich ist<br />

unnötig, sagte er leise, <strong>de</strong>nn ich hab das geschrieben, um zu leben und nicht, um zu<br />

sterben. Wofür leben - das sagte ich gera<strong>de</strong>, natürlich verträgt sich das miteinan<strong>de</strong>r.<br />

Marianne, siehst du, hat unsere Enttäuschung über die Franken nicht verwun<strong>de</strong>n. Und war<br />

nicht so stark, die Liebe in Hass zu verwan<strong>de</strong>ln und dabei weiterzuleben, <strong>de</strong>nke ich.<br />

Sie schob seinen Arm beiseite, sah ihn lange an, fremd und forschend.<br />

Was ist, Henriette?<br />

So einfach siehst du das also, sagte sie langsam. Wie wenig du sie kanntest. Wie macht ihr<br />

Männer das nur - uns zu lieben, ohne uns zu kennen?<br />

Er hörte <strong>de</strong>n Unterton voll Bitterkeit, sah auch ihren frem<strong>de</strong>n Blick, fragte unsicher: Wie soll<br />

ich das nun verstehen, Henriette?


Sie ist unzerbrechbar, hast du mir <strong>von</strong> ihr geschrieben. Da kannte ich sie noch nicht. Viel<br />

später begriff ich’s: <strong>Das</strong> war falsch. Nicht zu beugen war sie, nicht zu verbiegen. Aber wohl<br />

zu zerbrechen. Eben <strong>de</strong>shalb zu zerbrechen, Joachim. Gewiss - die Enttäuschung über die<br />

Franken. Aber doch vor allem die Unmöglichkeit, etwas zu tun, selbst etwas zu tun. Und das<br />

musste sie, ohne das konnte sie nicht leben. Sie konnte nie geschehen lassen, was<br />

geschieht ... Gewiss - sie hat mehr getan als manch an<strong>de</strong>re Frau -, sie ist <strong>de</strong>r bürgerlichen<br />

Behäbigkeit <strong>de</strong>s Magisters Vischer entflohen, sie war in Paris, sie war in Mainz, als da<br />

Geschichte gemacht wur<strong>de</strong>, sie hat geheiratet aus vermeintlicher Liebe und ihren Mann<br />

verlassen, weil er sie nicht ernst nahm und weil sie ihren Irrtum erkannte; sie hat Bil<strong>de</strong>r<br />

gemalt und ausgestellt und verkauft und in Männerkreisen über Kunst und Politik <strong>de</strong>battiert<br />

... Und nicht das ständige Gefühl <strong>de</strong>s Spießrutenlaufens hat sie zerbrochen, Joachim. Und<br />

auch nicht <strong>de</strong>ine Weigerung, mit ihr zu leben, ohne sie zu heiraten, obwohl sie das getroffen<br />

hat, <strong>de</strong>nn sie hat dich sehr geliebt. Und auch nicht <strong>de</strong>r Jammer über Bonapartes<br />

Kaiserkrönung. Son<strong>de</strong>rn das alles zusammen und dazu die Erkenntnis, dass all ihr Tun<br />

sinnlos war. Man verweigert uns das Elementarste, schrieb sie mir einmal - tätig sein zu<br />

dürfen. Niemand rechnet mit uns. Niemand nimmt uns ernst. Uns Frauen.<br />

Joachim schwieg. Mit diesem Satz, sagte er schließlich leise, i<strong>de</strong>ntifizierst du dich,<br />

Henriette? Es klingt so bitter, wie du das sagst ... Lies das <strong>Buch</strong> nicht zu En<strong>de</strong>, hörst du?<br />

Gib’s mir zurück, bitte.<br />

Sie lachte unfroh. Keine Sorge, Herr <strong>von</strong> <strong>Bernsdorf</strong>, sagte sie, bei mir ist da nichts zu<br />

befürchten. Ich bin an<strong>de</strong>rs als sie. O<strong>de</strong>r <strong>de</strong>nkst du, sie hätte jemals einen Joseph <strong>von</strong> Janke<br />

geheiratet? Ganz unmöglich, schon <strong>de</strong>r Gedanke ... Ich bin nicht jemand, <strong>de</strong>r Selbstmord<br />

verüben könnte. Ich sterbe stückweise.<br />

Er hätte ihr nun gern wie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Arm um die Schulter gelegt. Aber ihre Haltung, ihr Gesicht,<br />

sogar ihr Ton verboten das.<br />

Übrigens habe ich’s nie verstan<strong>de</strong>n ...<br />

Was?<br />

Wieso du, gera<strong>de</strong> du, <strong>de</strong>n Janke heiraten konntest.<br />

Ach, was weißt <strong>de</strong>nn du, sagte sie. Was wisst ihr alle. Was wusstet ihr alle.<br />

Nun kommt er sich abgewiesen vor, natürlich. Dazu ist er zu stolz, jetzt nicht beleidigt zu<br />

sein. Also öffnet er die Terrassentür und geht hinaus, und ihm fällt erst jetzt auf, dass ein<br />

paar Schneeflocken, sehr langsam, sehr vereinzelt, aus einem trübgrauen Himmel fallen.<br />

Weiße Weihnachten, <strong>de</strong>nkt Henriette, auch das noch, Herr, hilf mir gegen die <strong>de</strong>utsche<br />

Sentimentalität. Eigentlich sind mir die Franzosen sympathischer als die Deutschen. Und<br />

mein lieber Joachim war mir lieber, als er noch nicht so <strong>de</strong>utsch tat ... Irgen<strong>de</strong>twas stimmt<br />

da wohl bei mir nicht. O<strong>de</strong>r ich begreife irgen<strong>de</strong>twas nicht. Wenn ich mit Michel Marten<br />

darüber re<strong>de</strong>n könnte ... Aber es gibt nur <strong>de</strong>n Leutnant Marten, scheint’s.<br />

<strong>Das</strong> gefällt dir also auch nicht, Henriette, dass ein Deutscher tut, als wäre er Franzose?<br />

Und Janke, und Friedrich - die allzeit treuen Diener <strong>de</strong>r französischen Besatzungsmacht?<br />

Und <strong>de</strong>r alte Herr, <strong>de</strong>r Franzosenfresser, <strong>de</strong>r aber nur Preuße sein will und nichts als das?


Ja, was willst du <strong>de</strong>nn eigentlich, Henriette? Ja, was ... Und da wun<strong>de</strong>re ich mich, dass<br />

mich niemand versteht. Versteh ich mich <strong>de</strong>nn selbst? Und kann überhaupt jemand einen<br />

an<strong>de</strong>ren verstehen? Vielleicht ist doch je<strong>de</strong>r ganz allein auf <strong>de</strong>r Welt ... Und eine Briefstelle<br />

kam ihr in <strong>de</strong>n Sinn, aus einem <strong>de</strong>r Briefe Joachims, die schon nach Berlin gingen, <strong>de</strong>nn da<br />

war Janke schon Kabinettssekretär beim königlichen Kabinettsminister Friedrich <strong>von</strong><br />

<strong>Bernsdorf</strong>, und er, Joachim, war nach <strong>de</strong>m Pariser und Mainzer Zwischenspiel wie<strong>de</strong>r in<br />

Jena und hörte Fichtes Vorlesungen. „Stell dir das vor, Henriette“, schrieb er, „es gibt nur<br />

das Ich. Alles an<strong>de</strong>re wird <strong>von</strong> diesem Ich geschaffen. <strong>Das</strong> Ich setzt das Nicht-Ich, lehrt<br />

Fichte. Und er schreibt: ,Der Mensch kann, was er soll; und wenn er sagt: ich kann nicht, so<br />

will er nicht.’ <strong>Das</strong> heißt aber auch: Ich bin allein auf <strong>de</strong>r Welt. Schau<strong>de</strong>rt dich? Ein<br />

schrecklicher Gedanke. Ein wun<strong>de</strong>rbarer, kräftiger Gedanke. Ein Ausweg aus <strong>de</strong>m Chaos<br />

<strong>von</strong> Unsinnigkeiten. Ein Fixpunkt, <strong>von</strong> <strong>de</strong>m allein aus man jetzt noch weiterleben kann.“<br />

Ich weiß nicht, Joachim, dachte sie mü<strong>de</strong>. Aber vielleicht bin ich zu schwach für solche<br />

„starken“ Gedanken ...<br />

Sie ging in ihr Zimmer und legte sich aufs Bett, voll Gleichgültigkeit plötzlich, leer, sehr<br />

mü<strong>de</strong>. Es schneit schon stärker, dachte sie, morgen wird alles weiß sein ...<br />

Dann arbeitet sie sich durch eine Schneewehe, versinkt bis an die Hüften, hinter ihr<br />

Joachim, vor ihr die Totenkapelle auf <strong>de</strong>m Friedhof, Dunkelheit, ein schwaches Licht aus<br />

<strong>de</strong>m Fenster <strong>de</strong>r Kapelle, sie recken sich, auf Zehenspitzen stehend, hinter <strong>de</strong>m Fenster<br />

hockt ein Mann auf <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong>, die Laterne steht neben ihm, er schlägt mit <strong>de</strong>m Hammer<br />

Nägel ein in ein unförmiges Gestell aus Latten, einem großen Vogel ähnlich, vielleicht; die<br />

Plane, flüstert sie, will er die Plane daraufnageln? Natürlich, sagt jemand neben ihr, da sieht<br />

sie, dass noch mehr Menschen gekommen sind - Marie und August, <strong>de</strong>r alte Lemke und<br />

Kröger-Hannes, Ta<strong>de</strong>usz und sogar Adam, aber <strong>de</strong>r ist noch immer dreizehn Jahre und hat<br />

seinen Knotenstock in <strong>de</strong>r Hand. Fliegen will er, sagt Joachim, aber <strong>de</strong>r Mensch kann nicht<br />

fliegen. Lasst ihn, sagt <strong>de</strong>r alte Lemke, er ist nicht richtig im Kopf. Aber Maria sagt: Wer<br />

weiß, vielleicht schafft er’s doch. Der Mensch kann, was er will; und wenn er sagt, ich kann<br />

nicht, dann will er nicht. Er wird vielleicht mit uns fortfliegen, vor <strong>de</strong>m Baron wer<strong>de</strong>n wir<br />

da<strong>von</strong>fliegen, stellt euch das Gesicht vor, das <strong>de</strong>r dann zieht!<br />

Jemand packt Henriettes Arm, die Tante, was stehst du hier herum, Kind, das schickt sich<br />

doch nicht. Ja, Tante, sagt sie und folgt ihr, da liegt kein Schnee mehr, da gehen sie über<br />

eine große, bunt getupfte Wiese, Dorothea nimmt sie an die Hand, die kleine Henriette mit<br />

<strong>de</strong>n braunen Zöpfen, aber sie macht sich sofort los und läuft durch das hohe Gras und wirft<br />

sich plötzlich hinein in dieses grüne Bett, lässt sich einen kleinen Abhang hinunterrollen,<br />

jauchzend vor Vergnügen, ganz <strong>von</strong> fern die Stimme Dorotheas: Aber, Henriette, das gute<br />

Kleid.<br />

<strong>Das</strong> Kleid? Ach ja. Es war zu eng, heute Nacht hat sie zwei Nähte geöffnet und ganz knapp<br />

wie<strong>de</strong>r zugenäht, und einen Abnäher aufgetrennt ... Wie schnell war <strong>de</strong>r Sommer vorbei ...<br />

Adam schüttelt <strong>de</strong>n Pflaumenbaum, sie sammelt, Pflaumen über Pflaumen fallen über sie<br />

her, es schneit Pflaumen, sie kann sie nicht so schnell aufheben, wie sie herunterschneien.<br />

Henriette, was tust du <strong>de</strong>nn da? - Ja, Tante, ich weiß, es schickt sich wohl nicht. - Was


hast du <strong>de</strong>nn mit <strong>de</strong>inem Kleid gemacht, Kind? - Mit <strong>de</strong>m Kleid? Aber nichts, Tante. Was ist<br />

<strong>de</strong>nn mit <strong>de</strong>m Kleid? O je, die Nähte platzen auf ..., habe ich so schlecht genäht? Morgen<br />

ist mein Hochzeitstag, morgen ... Ob die Tante ahnt, warum ich es so eilig damit hatte?<br />

Eiliger als Janke selbst, und <strong>de</strong>m ist’s wahrlich eilig ... Es wird Pflaumenkuchen geben. Und<br />

keine Gäste. Nicht einmal Joachim wird da sein. Kienast wird mich fragen: Bist du bereit,<br />

mit diesem Joseph <strong>von</strong> Janke in <strong>de</strong>n Stand <strong>de</strong>r heiligen Ehe zu treten? Und ich wer<strong>de</strong><br />

sagen: Nein. Wer lacht da? Ach, Marianne, du? Mein Gott, dass du lebst? Marianne steht<br />

also da, im grauen, farbenbeklecksten Kittel, mit offenem, wirrem Haar, kastanienbraun,<br />

Pinsel in <strong>de</strong>r Hand, steh doch still, sagt sie, schließlich will ich dich malen. Du und nein<br />

sagen, Henriette. Du <strong>de</strong>nkst dir alles mögliche aus, was du gern tun möchtest, aber du<br />

machst <strong>de</strong>ine Revolution nur in Gedanken. Wie alle Deutschen. Warum hast du diesen<br />

Janke geheiratet, Henriette?<br />

Ach, Marianne. <strong>Das</strong>s nun auch du so etwas fragst. Was sollte ich <strong>de</strong>nn sonst tun? Auf und<br />

da<strong>von</strong> gehen? Zu diesem Michel Marten, <strong>de</strong>r mich allein gelassen hatte? Denkst du, das<br />

kann ich ihm je vergessen? Man kann gewiss vieles vergeben und vergessen. Aber nicht,<br />

wenn man allein gelassen wur<strong>de</strong> in einem Moment, wo man nicht allein sein konnte. O<strong>de</strong>r<br />

sollte ich es machen wie du - mir einen Dolch an die Brust setzen, am Rheinufer womöglich,<br />

ja? Nun hatte ich wenigstens <strong>de</strong>n Triumph, <strong>de</strong>m Janke ein Kind untergeschoben zu haben,<br />

das er selbst, wie’s heute scheint, niemals zustan<strong>de</strong> gebracht hätte. Ja, wenn ich so wäre<br />

wie du, Marianne ... Unsinn, sagt Marianne, wäscht ihren Pinsel aus, tritt zurück, mustert<br />

das Bild, streicht sich über das Gesicht und verschmiert ein wenig grüne Farbe dabei. Wie<br />

du aussiehst. Henriette lacht.<br />

Wie <strong>de</strong>nn?<br />

Rund und rosig und lebenslustig und nun noch grün bemalt. Ja, wenn ich so wäre wie du ...<br />

Unsinn, sagt Marianne noch einmal, man ist so, wie man sein will. Na, komm, sieh dir das<br />

Bild an.<br />

<strong>Das</strong> bin ich? Ach, Marianne.<br />

Auf <strong>de</strong>m Bild steht Frau <strong>von</strong> Janke. Sie ähnelt Dorothea. Aber die Augen, braune, tief<br />

liegen<strong>de</strong>, große Augen, fragend und unnachgiebig <strong>de</strong>n Beschauer ansehend, wo er sich<br />

auch hinstellt, das sind Henriettes Augen.<br />

Ein Säugling greint. Marianne, <strong>de</strong>r Kleine. Komm, du hast meinen Wilhelm noch nicht<br />

gesehen. Hand in Hand gehen sie <strong>de</strong>n Gartenweg hoch, ins Haus. Ein hohes, dunkles Haus.<br />

Berlin, Behrenstraße. Heute Abend gehen wir zur Rahel Levin, Henriette. Und sieh mal, <strong>de</strong>r<br />

Joachim hat geschrieben. - Der Brief liegt im Flur auf <strong>de</strong>m Tisch. Henriette reißt ihn auf, will<br />

lesen, sie strengt sich dabei unglaublich an, aber sie kann kein einziges Wort entziffern.<br />

Was schreibt er, fragt Marianne ungeduldig. Bestellt er mir Grüße? Ach, er weiß nicht, dass<br />

ich hier bin. Morgen fahre ich nach Mainz. Doch, ich fahre zu ihm, warum sollte die Frau<br />

nicht auch zu <strong>de</strong>m Mann gehen können, <strong>de</strong>n sie liebt? Sie umarmt Henriette, die wehrt sich<br />

gegen die Berührung. Sie hat plötzlich das Gefühl, dass es Janke ist, <strong>de</strong>r sie umarmt. Und<br />

das Grauen überkommt sie wie in <strong>de</strong>n ersten Tagen ihrer Ehe.


Und da, sich noch immer wehrend, schlug sie die Augen auf und war nicht überrascht,<br />

Janke über sich zu sehen.<br />

Du schläfst aber fest, sagte er. Die Suhrbiers sind gekommen.<br />

Da weint doch ein Kind?<br />

Ja, natürlich. Herrmanns Tochter, Susannas Luise ist das. Andreas ist auch da, lei<strong>de</strong>r. Na,<br />

komm schon.<br />

Jaja, nicht so eilig. Geh schon, ich komm gleich.<br />

Als er aus <strong>de</strong>m Zimmer war, stand sie schnell auf und holte ihre Briefmappe. Diesen Brief<br />

muss ich rasch lesen, dachte sie, <strong>de</strong>n ich im Traum eben nicht entziffern konnte. „Mainz,<br />

November 1792.“ Da war ich aber noch gar nicht in Berlin. Kannte auch Marianne noch<br />

nicht. Und <strong>de</strong>n Wilhelm gab es noch nicht. Diesen Brief hatte Ta<strong>de</strong>usz vor <strong>de</strong>m Baron<br />

gerettet. Aber es war <strong>de</strong>r, <strong>de</strong>n ich eben im Traum in <strong>de</strong>r Hand hatte.<br />

„Ich schreibe in <strong>de</strong>r Hoffnung, liebe Henriette, dass Dich dieser Brief erreicht und nicht das<br />

Schicksal <strong>de</strong>r vorigen teilt.<br />

<strong>Das</strong>s <strong>de</strong>r alte Herr Dir meine Briefe vorenthält, ist das einzige, was mich an <strong>de</strong>r väterlichen<br />

Verdammung aufbringt. Im übrigen kümmert mich diese sogenannte Enterbung ebenso<br />

wenig wie meine adlige Abkunft. Warum hätte ich nicht meinen vollen Namen unter dies<br />

Revolutionsgedicht setzen sollen? Der A<strong>de</strong>l ist nur ein notwendiger Stand, wenn er adlig<br />

han<strong>de</strong>lt, mir fehlt jeglicher Familienstolz, und ich halte das alles für eine zwecklose,<br />

wi<strong>de</strong>rsinnige Erscheinung. Um so weniger begreife ich, warum Du einen Herrn <strong>von</strong> Janke<br />

ehelichen konntest, und hättest doch einen Michel Marten haben können - er wäre gewiss<br />

zurückgekommen, Du hättest nur <strong>de</strong>r Familie <strong>de</strong>n Rücken kehren müssen. Hattest Du davor<br />

<strong>de</strong>nn Scheu? Und er ist einer <strong>de</strong>r ehrlichsten Menschen, die ich kenne, und noch dazu ein<br />

ganz be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>r Orgelvirtuose, auch wenn das niemand weiß und er nicht <strong>de</strong>n Ehrgeiz<br />

hat, es bekannt zu machen. Aber Du musst wissen, was Du tust, es soll <strong>de</strong>swegen keine<br />

Fremdheit zwischen uns entstehen.<br />

Die verbrannten Briefe waren voll <strong>von</strong> meinem Jammer; heute kann ich über all das ruhiger<br />

schreiben, und so hatte <strong>de</strong>r Scheiterhaufen auch sein Gutes. Nicht mich hat die Marianne<br />

Vischer erwählt, son<strong>de</strong>rn einen Magister Hauschildt, <strong>de</strong>n ich für einen sehr<br />

durchschnittlichen Menschen halte. Und ich war in Verzweiflung. <strong>Das</strong>s sie diesen Mann dann<br />

schon nach einem halben Jahr verlassen hat, be<strong>de</strong>utete mir keine Hoffnung. Da zu dieser<br />

Zeit auch Schillers Vorlesungen seiner Krankheit wegen aufhörten, war mir Jena verlei<strong>de</strong>t.<br />

Andreas Suhrbier bere<strong>de</strong>te mich, mit ihm nach Paris zu gehen, und wohin sollte man sich<br />

sonst heutzutage wen<strong>de</strong>n, wenn nicht nach Paris? Freilich fand ich mich hier in meinen<br />

Erwartungen arg getäuscht, doch da<strong>von</strong> heute nichts. Der drohen<strong>de</strong> Krieg gegen die<br />

Franken zog uns sehr schnell wie<strong>de</strong>r zurück; wir waren <strong>de</strong>r lächerlichen Meinung, wir<br />

könnten in Deutschland etwas tun, um ihn zu verhin<strong>de</strong>rn. Natürlich war das ein Vorhaben,<br />

das unsere Kräfte überstieg; unsere Flugschriften, unsere Zeitung - das alles hat gewiss<br />

recht wenig bewirkt. Und vielleicht war dieser Krieg auch sinnvoll und notwendig, Henriette,


hat er doch aller Welt gezeigt, wie schmählich die Preußen und Österreicher vor <strong>de</strong>n freien<br />

Soldaten eines freien Volkes die Flucht ergreifen mussten. Schneller als ich es geahnt hatte,<br />

war ich wie<strong>de</strong>r <strong>von</strong> Citoyens umgeben - in Mainz erlebte ich <strong>de</strong>n Einmarsch <strong>de</strong>s<br />

Revolutionsheeres, nach<strong>de</strong>m zuvor <strong>de</strong>r Erzbischof seine Stadt feige im Stich gelassen hatte<br />

und mit all seiner Habe, gefolgt <strong>von</strong> <strong>de</strong>r gesamten vornehmen Mainzer Welt, geflüchtet war.<br />

Seit ein paar Tagen sind Andreas und Michel aus Hamburg hier, sodass ich plötzlich nicht<br />

nur in einer freien Stadt lebe, son<strong>de</strong>rn auch meine besten Freun<strong>de</strong> um mich habe - was will<br />

ich mehr? Nur ganz im Hintergrund, da hockt nach wie vor <strong>de</strong>r Jammer über meine<br />

verlorene, vergebliche Liebe, überfällt mich unversehens und schlägt mich mit maßloser<br />

Traurigkeit ...“<br />

„Ich weiß nicht, Joachim, ob eine verlorene Liebe auch eine vergebliche gewesen ist, ich<br />

glaube es nicht. Denn ich <strong>de</strong>nke, es ist ein ganz großes Glück, geliebt zu haben o<strong>de</strong>r noch<br />

zu lieben, und dies Glück ist auch dann da, wenn man nicht wie<strong>de</strong>rgeliebt o<strong>de</strong>r wenn man<br />

getrennt wur<strong>de</strong>. Ohne solchen Glauben, Joachim, wie sollte ich da als Frau <strong>von</strong> Janke<br />

leben? Soviel nur zu Deiner Verwun<strong>de</strong>rung über meine Heirat, alles an<strong>de</strong>re <strong>de</strong>nke Dir o<strong>de</strong>r<br />

<strong>de</strong>nke Dir nicht ... “<br />

Sie ordnete die Blätter wie<strong>de</strong>r sorgfältig ein und brachte dabei die im Traum<br />

durcheinan<strong>de</strong>rgeratenen Jahre in die richtige Reihenfolge: Danach kam Wilhelm, dachte sie,<br />

er schrie auch so energisch wie diese Luise, die ich mir nun gleich ansehen wer<strong>de</strong>. Und<br />

dann zogen wir nach Berlin. Und eines Tages stand Marianne vor <strong>de</strong>r Tür - Joachim habe<br />

ihr so viel <strong>von</strong> mir vorgeschwärmt, <strong>von</strong> seiner einzigartigen Cousine ...<br />

Joachim? Er hat mir aber geschrieben, dass Sie ...<br />

Was? <strong>Das</strong> ich ihm Kummer gemacht habe, ja? Ach ja, <strong>de</strong>r Gute, er hat schon recht ... Ich<br />

habe viel zu spät begriffen, dass ich ihn liebe und nieman<strong>de</strong>n sonst, Henriette ... Ich darf<br />

doch Henriette sagen?<br />

Sie bleibt ein paar Wochen. Kümmert sich nicht um Jankes eisige Zurückhaltung. Sie malt.<br />

Sie stellt Bil<strong>de</strong>r aus. Sie führt Henriette in die Dachstube <strong>de</strong>r Jägerstraße vierundfünfzig ein:<br />

bei Rahel Levin.<br />

Und sie ent<strong>de</strong>cken einan<strong>de</strong>r, Marianne und Henriette, und sie lieben sich, und sie ent<strong>de</strong>cken<br />

miteinan<strong>de</strong>r Berlin und Goethes „Lei<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s jungen Werther“ und in <strong>de</strong>r „Neuen Thalia“ das<br />

Romanfragment „Hyperion“ eines gewissen Höl<strong>de</strong>rlin, Friedrich, <strong>de</strong>n erklären sie fortan zu<br />

ihrem Gott. Und eines Tages kommt wie<strong>de</strong>r ein Brief <strong>von</strong> Joachim aus Mainz, da packt<br />

Marianne Hals über Kopf ihre Koffer, verkauft ihre bei<strong>de</strong>n besten Bil<strong>de</strong>r und ist fort,<br />

unwi<strong>de</strong>rruflich, unwie<strong>de</strong>rbringlich. Ab und zu kommt ein Brief - Freundschaftsersatz;<br />

Henriette verliert <strong>von</strong> nun an nie mehr ganz ein Gefühl <strong>von</strong> Heimatlosigkeit. Briefe aus<br />

Mainz, aus Paris, aus Straßburg: heitere, glückliche, traurige, bittere. Wie<strong>de</strong>r aus Mainz,<br />

aus Jena dann dunkle Briefe, gelegentlich voll krampfhafter, unglaubwürdiger Zuversicht.<br />

Solche Sätze auch: „An <strong>de</strong>r Sache <strong>de</strong>r Franzosen verzweifeln, heißt das nicht, an <strong>de</strong>r


ganzen Menschheit verzweifeln? Also lass mir <strong>de</strong>n Traum, Henriette, wenn es ein Traum ist<br />

und nichts weiter, lass ihn mir, er könnte wirklicher sein als die Wirklichkeit.“<br />

Aus Frankfurt - das war <strong>de</strong>r letzte Brief.<br />

Die To<strong>de</strong>sanzeige fand Henriette im Oktober 1804 in einer Berliner Zeitschrift: „Die<br />

bekannte und durch ihren allzu freien Lebenswan<strong>de</strong>l auch berüchtigte Malerin Marianne<br />

Hauschildt, geborene Vischer, entleibte sich am Abend <strong>de</strong>s 30. September am Ufer <strong>de</strong>s<br />

Rheins in <strong>de</strong>r Nähe <strong>von</strong> Frankfurt.“<br />

Joseph, schreit Henriette auf, sieh nur, hier!<br />

Er liest, ach, sagt er, ja, so musste sie wohl en<strong>de</strong>n, diese Bekanntschaft hätte mich schon<br />

damals fast kompromittiert, dass du jetzt nicht etwa aller Welt erzählst, du wärest mit ihr<br />

befreun<strong>de</strong>t gewesen, Henriette!<br />

Nein, Joseph, nein, sagt sie mechanisch, schnei<strong>de</strong>t die To<strong>de</strong>sanzeige aus, legt sie in ihre<br />

Briefmappe.<br />

Sie hielt <strong>de</strong>n Zeitungsausschnitt noch in <strong>de</strong>r Hand und schob ihn rasch zwischen die Briefe,<br />

als sie <strong>de</strong>n schweren Schritt Jankes auf <strong>de</strong>r Treppe hörte.<br />

Wo bleibst du <strong>de</strong>nn, Henriette? Willst du <strong>de</strong>ine eigene Verwandtschaft brüskieren? <strong>Das</strong><br />

geht aber zu weit, du kannst mich vor diesem Andreas Suhrbier nicht kompromittieren, er ist<br />

schließlich ein Beamter Napoleons, Richter in Mainz, eine einflussreiche Persönlichkeit ...<br />

So? sagte Henriette spöttisch.<br />

Aber sie stand auf und ging mit ihm hinunter.


5<br />

Es schneite noch immer. Terrasse und Freitreppe und die Köpfe <strong>de</strong>r Puttenskulpturen<br />

leuchteten weiß.<br />

Wie schön, sagte Dorothea, sagte es eine Spur zu weinerlich, aber das merkte sie nicht,<br />

sie meinte, was sie sagte: Weiße Weihnachten, endlich einmal wie<strong>de</strong>r weiße Weihnachten,<br />

sagte sie, ist das nicht wun<strong>de</strong>rvoll, Herr Suhrbier?<br />

Hm, hm. Karl-Ernst Suhrbier nickte bedächtig und strich sich über das Haar, über <strong>de</strong>n<br />

spärlichen grauen Haarkranz, <strong>de</strong>r seine glänzen<strong>de</strong> Halbglatze einrahmte und seinem großen<br />

Schä<strong>de</strong>l etwas Statuenhaftes verlieh. Der an<strong>de</strong>re Suhrbier, Andreas, sagte nichts, sah<br />

unverwandt in <strong>de</strong>n Flockenwirbel hinaus.<br />

Im Zimmer über ihnen schrie Luise <strong>von</strong> <strong>Bernsdorf</strong> durchdringend, verstummte plötzlich,<br />

Suhrbier lächelte, hat einen Bärenhunger gehabt, unsere Enkelin, sagte er mit<br />

Großvaterstolz. Da lächelte auch Dorothea, unverkrampft und ohne Wehmut, ich bin ja<br />

Großmutter, dachte sie ganz erstaunt, was sie seit einem Vierteljahr wusste.<br />

Friedrich und Janke kamen hastig herein, weich und betulich floss Jankes Re<strong>de</strong>strom: <strong>Das</strong><br />

habe sich doch so angehört, als wäre jemand gekommen, natürlich, die Hamburger,<br />

herzliches Willkommen und frohes Fest!<br />

Brummig und zugeknöpft, misslaunig offenbar, folgte <strong>de</strong>r alte Herr.<br />

Auch Andreas drehte sich nun <strong>de</strong>m Zimmer zu, er ähnelte <strong>de</strong>m alten Suhrbier - die gleiche<br />

leicht fliehen<strong>de</strong> Stirn, die grauen Augen, die gera<strong>de</strong>, schmale, lang gezogene Nase, das<br />

vorgestreckte Kinn -, aber seine Haare waren noch aschblond und voll, nur die Ecken etwas<br />

eingebuchtet, und alles an ihm war straffer, lebhafter, kraftvoller.<br />

Dorothea öffnete die Flügeltür zum Nebenzimmer, sie setzten sich um <strong>de</strong>n grünen Ofen<br />

herum, das Gespräch schleppte sich mühsam dahin, wäre sofort versiegt, wenn Janke es<br />

nicht eifrig in Fluss gehalten hätte. Denn Andreas schwieg, Friedrich war in Gedanken mit<br />

an<strong>de</strong>ren Dingen beschäftigt, <strong>de</strong>r Baron brummte nur ab und zu ein paar Satzbrocken, und<br />

auch <strong>de</strong>r alte Suhrbier begnügte sich vorerst mit wenigen Bemerkungen, <strong>von</strong> <strong>de</strong>nen „jaja“,<br />

„aber gewiss doch“ und das unvermeidliche „nicht wahr“ am häufigsten wie<strong>de</strong>rkehrten,<br />

wur<strong>de</strong> erst gesprächiger, als Dorothea die Re<strong>de</strong> auf das gemeinsame Enkelkind brachte,<br />

das gera<strong>de</strong> wie<strong>de</strong>r zu weinen begann, kurz nur und schläfrig. Da stand Janke auf und ging<br />

hinaus, murmelte entschuldigend: Wo bleibt nur meine Frau?<br />

Stiefeltritte auf <strong>de</strong>r Treppe, ein energisches Klopfen - die Franzosen, wir haben zwei<br />

französische Offiziere im Haus, erklärte Friedrich eilig, da stan<strong>de</strong>n sie auch schon in <strong>de</strong>r<br />

Tür.<br />

Darf man eintreten? fragte Jean-Pierre, bon jour, camara<strong>de</strong>, sagte Michel Marten und sah<br />

Andreas an, <strong>de</strong>r sprang auf, sie gingen aufeinan<strong>de</strong>r zu, lagen sich in <strong>de</strong>n Armen - hier<br />

wur<strong>de</strong> kein Theater gespielt, man erkannte sich bedingungslos, die Worte fehlten ihnen<br />

lange. Auch Karl-Ernst Suhrbier war aufgestan<strong>de</strong>n, nee, sagte er verblüfft, das gibt’s doch<br />

wohl nicht, <strong>de</strong>r Herr Marten, nicht wahr? Und er schüttelte Michel die Hand, als wollte er nie<br />

mehr damit aufhören, tat es aber dann ganz plötzlich, setzte sich wie<strong>de</strong>r, während Andreas


noch immer stand und <strong>de</strong>n französischen Michel Marten <strong>von</strong> allen Seiten betrachtete, sich<br />

dann besann und Jean-Pierre die Hand gab: Suhrbier, sagte er, Andreas Suhrbier aus<br />

Mainz.<br />

Ich weiß, ich weiß natürlich, sagte Jean-Pierre, mein Camara<strong>de</strong>, mein Bru<strong>de</strong>rherz Michel,<br />

hat mir schon viel <strong>von</strong> <strong>de</strong>m Citoyen Suhrbier erzählt, ich kenne dich recht gut, Camara<strong>de</strong>.<br />

Ja, es gibt doch seltsame Fügungen im Leben, glaubte Dorothea sagen zu müssen, sie sah<br />

dabei ängstlich zum Baron, konstatierte, ängstlicher wer<strong>de</strong>nd, seinen wüten<strong>de</strong>n<br />

Gesichtsausdruck, sagte zu Friedrich: Wo bleibt <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r Joseph mit <strong>de</strong>r Henriette? und<br />

versuchte, das Gespräch auf die ersten Lebensreaktionen <strong>de</strong>r Enkelin zurückzuführen. Ein<br />

wenig erleichtert stellte sie fest, dass die französischen Offiziere sich mit Andreas ins<br />

Nebenzimmer zurückzogen.<br />

Jaja, seltsame Fügungen, wie<strong>de</strong>rholte Karl-Ernst Suhrbier, ohne auf die kleine Luise<br />

zurückzukommen. Und er provozierte damit ein Satzbrockengeprassel <strong>de</strong>s alten Herrn, mit<br />

<strong>de</strong>m <strong>de</strong>r die aufgestaute Wut abfließen ließ: Fügungen, Fügungen, Papperlapapp.<br />

Missratene Söhne, nichts weiter. Wohl Franzose gewor<strong>de</strong>n, Euer Sohn, he? Und Ihr, Ihr<br />

auch? Verdammte Franzosenkriecherei heutzutage, ruiniert uns vollständig, Ihr als<br />

Kaufmann, etwa auch für Han<strong>de</strong>lssperre mit England, was? Weiß nicht, wohin mit Holz, und<br />

nächstes Jahr - was wird mit Getrei<strong>de</strong>? Preußen zu stolz für Franzosenkriecherei (giftiger<br />

Blick zu Friedrich), echte Preußen hassen Franzosen, erblich, Himmelkruzitürken.<br />

Na ja, sagte bedächtig Karl-Ernst Suhrbier, abgesehen da<strong>von</strong>, dass ich Hamburger bin,<br />

Deutscher, und kein Preuße, auch kein Franzose, nicht wahr, warum sollte aber ein<br />

Deutscher nicht mit einem Franzosen befreun<strong>de</strong>t sein, lieber Baron? Ich sehe da eigentlich<br />

kein Hin<strong>de</strong>rnis, nicht wahr, ich sehe immer erst <strong>de</strong>n Menschen und dann seine Nationalität.<br />

Freilich - <strong>de</strong>n Bonaparte liebe ich nicht, die Kontinentalsperre ist eine Katastrophe, hier<br />

stimme ich mit Euch ganz und gar überein. Ja, ich dachte mir schon, dass Ihr wirtschaftliche<br />

Schwierigkeiten habt ...<br />

Ihr etwa nicht? unterbrach ihn <strong>de</strong>r Baron.<br />

Nun ja, in gewisser Weise schon, sagte Suhrbier, <strong>de</strong>r Han<strong>de</strong>l mit England fehlt mir auch,<br />

aber dafür handle ich seit über zehn Jahren mit Frankreich. Und ich bin sehr stolz darauf,<br />

sagen zu können, dass ich gute Gewinne erzielt habe, nicht nur für mich, son<strong>de</strong>rn für meine<br />

ganze Vaterstadt, Baron. Ich wäre also durchaus in <strong>de</strong>r Lage, Euch Kredite zu geben, nicht<br />

wahr, jedoch hätte ich einen an<strong>de</strong>ren Vorschlag zu machen.<br />

Soso, knurrte <strong>de</strong>r Baron.<br />

Ja und? fragte Friedrich ungeduldig.<br />

Joachim kam herein, weiße Flocken auf <strong>de</strong>n dunklen Haaren, er setzte sich, nach<strong>de</strong>m er<br />

<strong>de</strong>n alten Suhrbier begrüßt hatte, neben seine Mutter, ohne ins Nebenzimmer zu gehen,<br />

warf nur einen kurzen Blick durch die offene Tür auf die Offiziere und auf Andreas, das<br />

Gesicht verschlossen, nur wer genau hinsah, konnte ahnen, wie sehr er sich beherrschte,<br />

was in ihm vorging - bei diesem einen kurzen Blick auf die einstigen Freun<strong>de</strong>. Doch niemand<br />

sah genau hin. Sie warteten auf Suhrbiers Antwort. Und <strong>de</strong>r sagte: Ich möchte mich


einkaufen bei Euch.<br />

Hä, machte <strong>de</strong>r Baron erstaunt.<br />

Ja, sagte Suhrbier, ich möchte eins Eurer Güter kaufen, am liebsten das zu <strong>Bernsdorf</strong><br />

gehören<strong>de</strong> Dorf Alt-Grö<strong>de</strong>rn, mit Schloss und Vorwerk inklusive Wald.<br />

Und da <strong>de</strong>r Baron ihn sprachlos anstarrte, da Joachim aufsprang und hin und her zu laufen<br />

begann, Friedrich verlegen schweigend seine Fingerspitzen betrachtete, da re<strong>de</strong>te er<br />

weiter: Uns ist bei<strong>de</strong>n geholfen, lieber Baron. Denn Ihr braucht Geld, und ich möchte - für<br />

Kin<strong>de</strong>r und Enkelkin<strong>de</strong>r - Grundbesitz erwerben. Was ist daran so erstaunlich, nicht wahr?<br />

Es ist nicht das erste Stück Land, das ich kaufe. In <strong>de</strong>n neunziger Jahren erwarb ich etliche<br />

französische Nationalgüter, die ich dann aber - mit Gewinn, versteht sich - wie<strong>de</strong>r verkaufte;<br />

sowohl ich als auch die Hamburger haben ihre Vorteile da<strong>von</strong> gehabt. Auch unser Geschäft<br />

wäre eins zum gegenseitigen Vorteil, bester Baron. Durch das Oktoberedikt ist es nun<br />

bekanntlich auch in Preußen für je<strong>de</strong>n Menschen möglich gewor<strong>de</strong>n, Grundbesitz zu<br />

erwerben, nicht wahr?<br />

Ja, lei<strong>de</strong>r, sagte Joachim.<br />

Wie bitte? fragte Karl-Ernst Suhrbier.<br />

Lei<strong>de</strong>r, sagte ich, die Er<strong>de</strong>, die doch unverkäuflich sein sollte, wird zum Objekt <strong>de</strong>s<br />

Schachers, dieser Wi<strong>de</strong>rsinn! sagte Joachim, immer noch hin und her laufend.<br />

Begreife ich nicht, sagte Suhrbier und ließ seine hellen Augen <strong>von</strong> einem zum an<strong>de</strong>ren<br />

gehen. Wenn man das so sieht, lieber Joachim, dann ist es doch auch wi<strong>de</strong>rsinnig, dass die<br />

Er<strong>de</strong> <strong>de</strong>m A<strong>de</strong>l vorbehalten sein soll, nicht wahr? <strong>Das</strong>s sie vererbt, verliehen, erobert und<br />

was weiß ich wer<strong>de</strong>n darf. Es geht aber heutzutage um das Recht <strong>de</strong>s Einzelnen auf<br />

Eigentum. Und auf <strong>de</strong>n unbehin<strong>de</strong>rten Gebrauch seines Eigentums, nicht wahr.<br />

Plötzlich sagte Friedrich - wie wi<strong>de</strong>rwillig klang es, aber doch entschlossen: Wir brauchen<br />

das Geld, Vater. Ich habe heute Vormittag gerechnet und gerechnet, ohne einen Ausweg zu<br />

sehen. Nun sehe ich ihn. Alt-Grö<strong>de</strong>rn wird uns retten. Alt-Grö<strong>de</strong>rn gehört zu meinem Erbteil.<br />

Alt-Grö<strong>de</strong>rn gehört mir. Ich bin einverstan<strong>de</strong>n.<br />

Der Baron saß reglos, zusammengesunken. Seine Wangenmuskeln arbeiteten, das sah nur<br />

Dorothea, sie sah auch voraus, was dann geschah: Er stand auf, lief durch das Zimmer an<br />

<strong>de</strong>n Eckschrank, griff mit bei<strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n nach <strong>de</strong>r Porzellanfigur, die dort stand - ein<br />

preußischer Offizier zu Pfer<strong>de</strong>, ein Hund, an die Vor<strong>de</strong>rbeine <strong>de</strong>s Pfer<strong>de</strong>s geschmiegt,<br />

schneeweiß das alles - und schmetterte sie auf die Er<strong>de</strong>.<br />

Dann stampfte er aus <strong>de</strong>m Zimmer, schrie nach Ta<strong>de</strong>usz, schrie: Gaul satteln, meine Flinte<br />

her, dalli, dalli!<br />

Mein Gott, er wird doch nicht? rief Dorothea.<br />

Ach was, Mutter, sagte Friedrich, ein paar Hasen wird er schießen, und danach wird mit<br />

ihm zu re<strong>de</strong>n sein.<br />

Janke stürzte herein, sah mit großen run<strong>de</strong>n Augen auf die Scherben, rief nach Halina.


Wo bleibt ihr <strong>de</strong>nn? sagte Dorothea vorwurfsvoll.<br />

Ja, gleich, sagte Janke und lief wie<strong>de</strong>r hinaus, die Treppe hoch, kam wenig später mit<br />

Henriette zurück.<br />

Auch im Terrassenzimmer waren sie aufmerksam gewor<strong>de</strong>n, hatten <strong>de</strong>n Ausbruch <strong>de</strong>s<br />

Barons erstaunt beobachtet, stan<strong>de</strong>n nun schweigend und sahen durch die offene Tür zu,<br />

wie Halina die Scherben zusammenkehrte.<br />

Da blieb Joachim nichts an<strong>de</strong>res übrig, als <strong>de</strong>n Schwager zu begrüßen, er tat es steif,<br />

gezwungen; Andreas lächelte ihm aber entgegen, sagte: Hallo, Joachim, alter Kommilitone,<br />

Leben noch frisch? - wie sie sich vor Jahr und Tag zu begrüßen pflegten bei einem<br />

Wie<strong>de</strong>rsehen. Zuletzt in Mainz.<br />

Jean-Pierre entschuldigte sich und ging - nach <strong>de</strong>n Leuten müsse er sehen; so blieben sie<br />

zu dritt im Terrassenzimmer, setzten sich um <strong>de</strong>n Tisch, und alle drei dachten sie, dass sie<br />

vor über zehn Jahren auch zu dritt um einen Tisch gesessen hatten, erst zu dritt und dann zu<br />

viert, und Rotwein hatten sie getrunken auf ein gutes Wie<strong>de</strong>rsehen. Da kam Joachim in<br />

Versuchung, aufzustehen und eine Flasche Rotwein zu holen. Aber er tat es nicht. Sie<br />

re<strong>de</strong>ten freundlich und höflich miteinan<strong>de</strong>r. Über Belanglosigkeiten. Je<strong>de</strong>r bemühte sich,<br />

gefährliche Themen zu vermei<strong>de</strong>n, vorsichtig, wie ein Schiff gefährliche Riffe in Küstennähe<br />

umschifft. Nur in Gedanken, da sprachen sie über solche Themen. Da re<strong>de</strong>ten sie<br />

unverstellt.<br />

In Gedanken - während er über das Wetter spricht und über Andreas' Reise hierher und<br />

über <strong>de</strong>n Baron und über die Jagd und wie<strong>de</strong>r über das Wetter - da sitzt Michel in Mainz.<br />

Kein Schnee fällt, son<strong>de</strong>rn Regen, <strong>de</strong>r obligatorische dünne, kalte Novemberregen, <strong>de</strong>r<br />

Ofen strahlt Wärme aus, ein Blick aus <strong>de</strong>m Fenster, da steht <strong>de</strong>r Freiheitsbaum, <strong>de</strong>n sie<br />

Stun<strong>de</strong>n zuvor gepflanzt haben. Besser: Sie haben zugesehen, wie er aufgestellt wur<strong>de</strong>,<br />

haben mitgerufen im Chor <strong>de</strong>r übrigen: „Vive la revolution !“ „Vive la nation!“ Und jetzt, im<br />

Zimmer <strong>de</strong>r Witwe Haufe, das Joachim gemietet hat und in <strong>de</strong>m sie zu dritt hausen, jetzt<br />

heben sie die Gläser: Auf <strong>de</strong>n Freiheitsbaum! <strong>Das</strong>s er bald überall in Deutschland<br />

aufgerichtet wird! Vive la nation!<br />

So Andreas.<br />

Aber als sie die Gläser absetzen, sagt Joachim: Welche Nation meinen wir eigentlich? Die<br />

<strong>de</strong>utsche? O<strong>de</strong>r die französische?<br />

Ist das wichtig? fragt Michel Marten, meinetwegen bei<strong>de</strong>.<br />

Mir ist es wichtig, beharrt Joachim. Ich bin kein Franzose. Du warst noch nicht in Paris,<br />

Michel, fahr du nur erst dorthin, und du wirst dich schnell genug wie<strong>de</strong>r nach Deutschland<br />

sehnen.<br />

Ich meine die französische, sagt Andreas. Ich muss die französische meinen, damit ich<br />

einmal die <strong>de</strong>utsche meinen kann, wer weiß wann, aber einmal wird es sein. Vorerst haben<br />

wir für Deutschland nichts zu hoffen. Und die Mainzer Republik hat nur diese eine<br />

Möglichkeit - um Anschluss an die französische Republik zu bitten, wenn sie leben will.


Fällt draußen noch <strong>de</strong>r Novemberregen? Ist es nicht schon März gewor<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r Schnee<br />

geschmolzen, <strong>de</strong>r Rheinisch<strong>de</strong>utsche Nationalkonvent zusammengetreten, die Mainzer<br />

Republik ausgerufen? Und Georg Forster müht sich, die Abgeordneten zu überzeugen,<br />

dass nur durch <strong>de</strong>n Anschluss an Frankreich die erste <strong>de</strong>utsche Republik geschützt ist?<br />

Ja, nur diese eine Möglichkeit, so ist es, sagt Michel Marten. Auch Joachim wi<strong>de</strong>rspricht<br />

nicht. Ich weiß, sagt er. Der Forster, <strong>de</strong>r bleibt ein Deutscher. Trotz<strong>de</strong>m - lieber wäre mir,<br />

wenn ganz Deutschland ...<br />

Red nicht, sagt Andreas, das wäre uns auch lieber, und <strong>de</strong>m Forster auch, aber wo ist<br />

<strong>de</strong>nn die <strong>de</strong>utsche Revolution geblieben?<br />

Lasst nur erst die französischen Heere weiter vorstoßen, sagt Michel, wartet nur ab, wie<br />

sich dann ganz Deutschland erheben wird.<br />

Andreas sieht ihn spöttisch an. Ich glaube, <strong>de</strong>ine Fantasie geht mit dir durch, Michel, sagt<br />

er. Weißt du, wann das geschehen wird?<br />

Und Andreas hebt sein Weinglas hoch und fängt zu singen an: „Wenn’s schneiet rote Rosen<br />

und regnet kühlen Wein ...“<br />

Da steckt die Witwe Haufe <strong>de</strong>n Kopf zur Tür hinein, ein gutmütiges, rosiges Gesicht, faltig<br />

schon, aber noch immer rosig, und sie sagt mit heiserem Staunen in <strong>de</strong>r Stimme: Eine<br />

Dame ist da, Herr <strong>von</strong> <strong>Bernsdorf</strong>, die sucht nach Ihnen, sagt sie, ganz ohne Begleitung, mit<br />

eigenem Reisewagen und Postpfer<strong>de</strong>n und gemietetem Kutscher, <strong>de</strong>n sie schon<br />

fortgeschickt hat samt <strong>de</strong>n Pfer<strong>de</strong>n, sie wird doch nicht bleiben wollen, wo Sie schon zu<br />

dritt sind, und drei Männer dazu ...<br />

Will sie aber, sie fürchtet drei Männer nicht, sagt eine fröhliche Stimme, und Marianne<br />

Hauschildt, geborene Vischer, schiebt sich an <strong>de</strong>r missbilligend staunen<strong>de</strong>n Wirtin vorbei ins<br />

Zimmer.<br />

Die fahren doch morgen nach Paris, meine Freun<strong>de</strong>, stammelt Joachim. Und auch, als Frau<br />

Haufes Kopf verschwun<strong>de</strong>n ist, bringt er nur diese Frage heraus: Marianne, mein Gott, was<br />

suchen Sie in Mainz, was wollen Sie hier tun, wissen Sie nicht, dass uns möglicherweise<br />

eine Belagerung durch die Preußen bevorsteht?<br />

Marianne lacht. Ad eins, sagt sie, ich suche dich. Ad zwei: Ich will hier malen. Den Georg<br />

Forster zum Beispiel. O<strong>de</strong>r dich. O<strong>de</strong>r Freiheitsbäume. O<strong>de</strong>r Jakobinermützen. <strong>Das</strong> ist mir<br />

ziemlich einerlei. Ad drei - ich ahne es, aber was tut das? Frankreichs Soldaten wer<strong>de</strong>n<br />

Mainz nicht hergeben, <strong>de</strong>nke ich. Und noch zu zwei: Auch ein Glas Wein möchte ich, meine<br />

Herren.<br />

Diese Marianne ... Sie stoßen mit ihr an, räumen ihr das Gepäck aus <strong>de</strong>m Wagen.<br />

Malen? sagt Joachim, wissen Sie, was Sie hier malen müssen, Marianne? <strong>Das</strong> Geschmeiß<br />

aus <strong>de</strong>m Jakobinerklub, das Mitläufergesin<strong>de</strong>l, die Phrasendrescher, die Theaterspieler, die<br />

sich gesundstoßen wollen, <strong>de</strong>nen Freiheit nicht mehr be<strong>de</strong>utet als Macht und Gel<strong>de</strong>rwerb -<br />

alle diese erbärmlichen Menschen, die nichts kennen als geheuchelte Empfindungen - die<br />

musst du malen, Marianne.


Er merkt nicht, dass er in <strong>de</strong>r Erregung zum Du übergegangen ist. Sie verbirgt ihre Freu<strong>de</strong>.<br />

Übertreibst du nicht?<br />

Ein wenig übertreibt er, sagt Andreas.<br />

Der Georg Forster ist hier <strong>de</strong>r einzig Aufrechte und allein auf weiter Flur, sagt Joachim<br />

hitzig.<br />

Na, na, sagt Andreas. Natürlich übertreibst du. Lei<strong>de</strong>r ist aber auch vieles so, wie du sagst,<br />

warum wollten wir sonst nach Paris?<br />

Vielleicht überlegst du es dir noch und kommst mit?<br />

Joachim schüttelt <strong>de</strong>n Kopf. Nichts da, sagt er. Jetzt schon gar nicht. Und ich war ja in<br />

Paris. Habe gesehen, was ich sehen wollte. Habe auch dort nur Eigennutz und Lei<strong>de</strong>nschaft<br />

gefun<strong>de</strong>n, wo ich Größe erwartete, nur Worte statt Gefühl, nur Theater und große Auftritte<br />

statt wirklichen Seins und Wirkens. Nein, nein, mein Kin<strong>de</strong>rglaube war Täuschung, aber geht<br />

ihr nur und täuscht euch, solange ihr könnt.<br />

Da hat Marianne mit <strong>de</strong>m Auspacken aufgehört und starrt ihn an.<br />

Joachim, mein Gott, sagt sie, du verallgemeinerst doch <strong>de</strong>ine zufälligen Erfahrungen, du<br />

warst doch nur ein paar Tage dort, du wirst schon noch einmal hinfahren müssen, mit mir<br />

nämlich, verstehst du? Nimmst du <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>n Franken übel, dass sie ihren Ludwig guillotiniert<br />

haben?<br />

Joachim schüttelt <strong>de</strong>n Kopf. <strong>Das</strong> war ihr gutes Recht, sagt er. Auch wenn ich nicht gera<strong>de</strong><br />

Freu<strong>de</strong>ntänze <strong>de</strong>swegen aufführe. Nein, das ist es nicht.<br />

Und was <strong>de</strong>nn? Hast du <strong>de</strong>nn abgeschworen - <strong>de</strong>n Menschenrechten, <strong>de</strong>r Freiheit,<br />

Gleichheit, Brü<strong>de</strong>rlichkeit, Joachim?<br />

Nein, nein, ruft er gequält, natürlich nicht, wie sollte man <strong>de</strong>nn sonst leben, Marianne?<br />

Und er schweigt hinfort, sieht ihr zu, <strong>de</strong>r Marianne, wie sie ihre Staffelei aufstellt, wie sie mit<br />

Selbstverständlichkeit <strong>von</strong> seinem Zimmer Besitz ergreift, hört kaum, was Andreas sagt -<br />

auch er sei schon in Paris gewesen, es sei ganz erklärlich, dass die Ereignisse aus <strong>de</strong>r<br />

Ferne an<strong>de</strong>rs aussähen als in <strong>de</strong>r Nähe, man dürfe aber die Einmaligkeit dieser Ereignisse<br />

nicht aus <strong>de</strong>m Auge verlieren, müsse sich gewissermaßen auch für die Nähe <strong>de</strong>n<br />

„Fernblick“ zu erhalten verstehen. Denn schließlich, trotz aller traurigen, ja<br />

verabscheuungswürdigen Begleiterscheinungen könne man nicht leugnen, dass die großen<br />

I<strong>de</strong>ale mit Selbstverständlichkeit in die Wirklichkeit übertragen wür<strong>de</strong>n. Und du wirst sehen,<br />

Joachim, ruft Andreas, was diese Nation noch zustan<strong>de</strong> bringt, als freie, als entschlossene<br />

Nation, als kluge und begeisterungsfähige Nation. Lass nur diese Franzosen einen<br />

Alexan<strong>de</strong>r haben, dann wird ganz Europa seine Beute wer<strong>de</strong>n!<br />

Und das wäre zu wünschen, Herr Suhrbier? fragt Marianne erschrocken.<br />

Gewiss nicht, sagt Andreas, aber wie wäre es zu verhin<strong>de</strong>rn? Doch nur durch eine <strong>de</strong>utsche<br />

Revolution, durch eine <strong>de</strong>utsche Republik, die sich mit <strong>de</strong>r französischen verbün<strong>de</strong>t, o<strong>de</strong>r?<br />

Auf die <strong>de</strong>utsche Republik, sagt da Michel Marten und hebt sein Glas. Und auf unser


Wie<strong>de</strong>rsehen.<br />

Und er lauscht lange auf <strong>de</strong>n Klang <strong>de</strong>r vier Gläser. Und wischt schnell die feierliche,<br />

gerührte Stimmung mit ein paar heiteren Bemerkungen fort.<br />

Aber <strong>de</strong>r Rotwein fehlt euch doch, sagte Henriette.<br />

Sie zuckten zusammen. Henriette stellte die Flasche auf <strong>de</strong>n Tisch, vier Gläser dazu, hatte<br />

die Tür zum Nebenzimmer geschlossen, nun gieß schon ein, Joachim, sagte sie leise.<br />

Er tat es, hob auch sein Glas, stellte es wie<strong>de</strong>r zurück.<br />

Worauf? sagte er ratlos.<br />

Auf die <strong>de</strong>utsche Republik, sagte Michel Marten.<br />

Andreas lachte bitter. <strong>Das</strong> ist heute ein schöner Traum, vor Jahren hatten wir noch mit<br />

Recht einige Hoffnung darauf, aber heute? Und mir sagt <strong>de</strong>ine Uniform, Michel Marten, dass<br />

du dasselbe <strong>de</strong>nkst.<br />

Michel Marten schwieg lange. Aber sie sahen ihn alle an, als erwarteten sie unbedingt<br />

gera<strong>de</strong> <strong>von</strong> ihm eine Antwort. Da wie<strong>de</strong>rholte er: Auf die <strong>de</strong>utsche Republik.<br />

Andreas hielt ihm sein Glas entgegen, warum nicht, sagte er, man kann auch auf seine<br />

Träume trinken, ich hab es schon damals für einen Traum gehalten, einen<br />

undurchführbaren.<br />

Da hob auch Joachim sein Glas, aber er sagte: Auf Deutschland.<br />

Henriette sah lächelnd <strong>von</strong> einem zum an<strong>de</strong>ren, stieß mit allen an, sagte nichts dabei,<br />

lächelte nur fortwährend, als habe sie plötzlich etwas sehr Wichtiges und Schönes<br />

begriffen.<br />

Und sie sagte, bevor sie trank: Auf <strong>de</strong>n morgigen Tag. Und auf die undurchführbaren<br />

Träume.


4. Kapitel<br />

1<br />

Gegen Mitternacht hatte es zu schneien aufgehört. Leichter Ostwind kam auf und trieb die<br />

Wolken vor sich her, fetzte sie über <strong>de</strong>n tief am Himmel hängen<strong>de</strong>n Mond, fegte <strong>de</strong>n<br />

Himmel für die Sterne frei, und <strong>de</strong>r Frost fiel herunter auf das schlafen<strong>de</strong> Dorf. Hörbar war<br />

die Stille.<br />

Dann schlug die Kirchturmuhr viermal.<br />

Im Hof <strong>de</strong>s Pfarrhauses regte sich <strong>de</strong>r Kettenhund in seiner Hütte, hob <strong>de</strong>n Kopf, kroch ins<br />

Freie, reckte <strong>de</strong>n Hals in die Frostluft und begann zu heulen, leise erst, er ließ die Töne<br />

anschwellen und abklingen, anschwellen, abklingen, immer lauter, ausdauernd und<br />

nachdrücklich.<br />

Sein Geheul drang in <strong>de</strong>n Pfer<strong>de</strong>stall <strong>de</strong>s Pfarrhauses, aus <strong>de</strong>m Traum fuhr <strong>de</strong>r Mann, <strong>de</strong>r<br />

dort unter alten Decken auf einer Strohschütte geschlafen hatte, wollte auffahren,<br />

aufstehen, wie er’s seit je gewohnt war beim Erwachen, begriff nicht, was ihn heute daran<br />

hin<strong>de</strong>rte, erinnerte sich nicht, warum er gefesselt lag. Langsam und bedächtig befreite er<br />

sich <strong>von</strong> <strong>de</strong>m Strick, <strong>de</strong>r gar nicht sehr fest um Arme und Beine gewun<strong>de</strong>n war, gegen <strong>de</strong>n<br />

er gestern vergeblich gewütet hatte. Ebenso langsam, mit traumwandlerischer Sicherheit<br />

aber, stand er auf, suchte nach <strong>de</strong>r Laterne und entzün<strong>de</strong>te sie, hinkte auf <strong>de</strong>n Hof und<br />

kettete <strong>de</strong>n Hund los, <strong>de</strong>r nun leise bellend seinen Befreier umwe<strong>de</strong>lte. Bei<strong>de</strong>, <strong>de</strong>r Mann<br />

und <strong>de</strong>r Hund, gingen zum Hoftor hinaus auf <strong>de</strong>n Kirchhof zu; das Licht <strong>de</strong>r Laterne geisterte<br />

vor ihnen her auf <strong>de</strong>r Schnee<strong>de</strong>cke. Aus <strong>de</strong>m Dorf war jetzt das Brüllen <strong>de</strong>r hungrigen Kühe<br />

zu hören.<br />

In <strong>de</strong>r Kapelle hockte <strong>de</strong>r Mann sich auf die Er<strong>de</strong>. Die Kälte drang durch seine dünne<br />

Kleidung, er spürte sie nicht; <strong>de</strong>r Hunger wühlte in seinem Magen, ihn fühlte er und suchte in<br />

seinen Taschen; er fand ein Stück Brot und verschlang es gierig. Sah dann <strong>de</strong>n betteln<strong>de</strong>n,<br />

we<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n Hund, <strong>de</strong>r schluckte und schluckte, da sagte er mürrisch: Such dir doch was,<br />

Hasso, wenn du Hunger hast.<br />

Der Hund kroch zu ihm, Bauch auf <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong>, stieß mit <strong>de</strong>r Schnauze an die Jackentasche,<br />

schnuppernd, leise winselnd, <strong>de</strong>r Mann griff in die Tasche - ein harter Brotkanten. Er<br />

betrachtete ihn erstaunt, war versucht, ihn zu essen, gab ihn dann <strong>de</strong>m Hund, sagte: Na<br />

schön, da hast. Und nun? Wer<strong>de</strong>n heute fliegen, ja?<br />

Er betrachtete das Gestell, das vor ihm lag, aus Latten gezimmert, vogelähnlich <strong>de</strong>r Umriss,<br />

mit Decken bespannt. Segeln wird es, wie ein Adler, murmelte er, segeln, in <strong>de</strong>r Luft liegen,<br />

frei schweben, kein Ballon, kein Gas, nur segeln wer<strong>de</strong> ich, gleiten, steigen, nicht fallen,<br />

aufsteigen und hinabgleiten, fliegen, fliegen ...<br />

Er murmelte das Wort vor sich hin: fliegen, ... iegen, ... ie- gen ...<br />

Es klang wie siegen.<br />

Da schlug die Kirchturmuhr halb. Halb fünf.


Da drehte sich Ta<strong>de</strong>usz Piotrowski zu Halina um, im schmalen Bett in <strong>de</strong>r<br />

Gesin<strong>de</strong>hauskammer; sie lag schlaflos wie er, lange schon. Nu Halina, sagt er, wird ein<br />

heißer Tag heute.<br />

Ja, sagte sie und spürte die Frostkälte durch die Decke. Ob’s gut war, Ta<strong>de</strong>usz, die<br />

Hochzeit heut zu machen, an seinem Geburtstag?<br />

Was gut, was schlecht, sagte er. Gut wär’s gewesen, wir wären vergangenen November<br />

nach Polen, als <strong>de</strong>r Kosciuszko <strong>de</strong>n Aufruf erlassen hatte. Aber wir haben erst in diesem<br />

Frühjahr da<strong>von</strong> gehört.<br />

Ta<strong>de</strong>usz hatte damit ein Gespräch begonnen, das sie nicht zum ersten Mal führten. Und<br />

nicht zum ersten Mal sagte er sich nun in Gedanken die heißen Worte <strong>de</strong>s alten Kosciuszko<br />

her, sie sind sein Morgen- und Abendgebet, seit er sie kennt: „Ich sehe diese väterliche<br />

Er<strong>de</strong> wie<strong>de</strong>r, die mein Arm verteidigt hat, diese Gefil<strong>de</strong>, die ich mit meinem Blut getränkt<br />

habe, und ich küsse sie mit Tränen. Heilige Reste meines Vaterlan<strong>de</strong>s, ich grüße euch mit<br />

Entzücken, ich umarme euch mit einem heiligen Wahnsinn. Die Zeiten Polens sind<br />

wie<strong>de</strong>rgekommen, das Glück hat Napoleon und seine Unüberwindlichen nicht an die Ufer<br />

<strong>de</strong>r Weichsel geführt, um keine Spuren daselbst zurückzulassen ...“<br />

Halina, sagte er, Halina, ob <strong>de</strong>r Adam noch lebt? Ob er jetzt auch dabei ist, in Polen?<br />

Ja, sagte Halina.<br />

Der Dombrowski, Halina, <strong>de</strong>r Dombrowski, nicht?<br />

Ja, sagte Halina. Denn sie kannte jetzt je<strong>de</strong>n seiner Gedanken. Dombrowski, ein Pole,<br />

General bei Napoleon. Und in seinem Aufruf an die Polen hatte es geheißen: „Polen, <strong>von</strong><br />

euch hängt es ab, selbstständige Wesen zu sein, ein Vaterland zu erlangen. Euer Rächer,<br />

euer Schöpfer ist erschienen.“<br />

Rächer - ja, <strong>de</strong>nkt Ta<strong>de</strong>usz. Und Schöpfer? Warum hat er das Herzogtum Warschau aber<br />

<strong>de</strong>m sächsischen König gegeben, <strong>de</strong>m frischgebackenen?<br />

Und wenn er Polen <strong>de</strong>m Sachsen lässt, Halina?<br />

Da schwieg sie, wie immer an dieser Stelle.<br />

Plötzlich sagte er: Heute Abend, Halina, wer<strong>de</strong>n wir wissen, ob er es ernst meint mit Polen<br />

o<strong>de</strong>r nicht.<br />

Erstaunt sah sie ihn an und begriff nichts.<br />

Aber er stand auf, streifte das Hemd über, wie<strong>de</strong>rholte: Heute Abend, da können wir es<br />

wissen.<br />

Sie fragte nicht, wieso man es heute Abend wissen könne. Sie fragte: Wer<strong>de</strong>n sie die<br />

Bittschrift überreichen?<br />

Er nickte, während er die Jacke anzog, sagte: August hat sie geschrieben, mit <strong>de</strong>m Michel<br />

zusammen. Um neun wer<strong>de</strong>n sie kommen, Halina.


Da stand sie auch auf, zog das Nachthemd über <strong>de</strong>n Kopf, sagte: Er wagt es sowieso<br />

nicht, Ta<strong>de</strong>usz. Wo doch die Franzosen hier sind. Die Franzosen und <strong>de</strong>r Michel, sie<br />

wer<strong>de</strong>n’s gar nicht zulassen.<br />

Er hat Polen <strong>de</strong>m Sachsen gegeben, murmelte Ta<strong>de</strong>usz.<br />

Sie zuckte mit <strong>de</strong>n Schultern. Ich red vom Baron und du vom Kaiser Napoleon, Ta<strong>de</strong>usz!<br />

Ich weiß, ich weiß, sagte er, stieg in die Schuhe, ging hinaus. Kopfschüttelnd sah Halina die<br />

Tür an, schlurfte dann, halb angeklei<strong>de</strong>t, vor <strong>de</strong>n Schrank, nahm Marias Brautkleid heraus,<br />

betrachtete es liebevoll und mit Angst.<br />

Da schlug die Kirchturmuhr fünfmal.<br />

Da richtete sich Michel Marten ruckartig in seinem Bett auf und dachte: So ein Traum aber<br />

auch. Was man in diesen Nächten träumt, zwischen Weihnachten und Neujahr, geht in<br />

Erfüllung, heißt es. Bist du abergläubisch, Michel Marten? Nicht sehr.<br />

Trotz<strong>de</strong>m mühte er sich, <strong>de</strong>n Traum ins Gedächtnis zurückzurufen, doch je mehr er sich<br />

mühte, um so rascher verflüchtigten sich die Traumbil<strong>de</strong>r. Paris, die Seine, die<br />

Wäscherinnen. Heinrich Marten und Andreas Suhrbier. Die Flucht aus Erfurt, in<br />

Frauenklei<strong>de</strong>rn, die gestohlene Bauernkriegsfahne, zerschnitten und unter die Mitglie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s<br />

„Menschheitsbun<strong>de</strong>s“ verteilt - er trägt sein Stückchen noch heute mit sich herum, <strong>de</strong>r<br />

Michel Marten -, ein unentwirrbares Durcheinan<strong>de</strong>r war dieser Traum, <strong>de</strong>nn auch August<br />

Lemke und die Bittschrift waren darin vorgekommen, und Jean-Pierre und Henriette.<br />

Leise stand Michel Marten auf und klei<strong>de</strong>te sich an, horchte auf Jean-Pierres ruhige<br />

Atemzüge, schlich dann aus <strong>de</strong>m Zimmer, die Treppe hinunter, auf <strong>de</strong>n Hof.<br />

Zertretener Schnee. Schwaches Licht aus <strong>de</strong>n Ställen, aus <strong>de</strong>n kleinen Fenstern <strong>de</strong>s<br />

Gesin<strong>de</strong>hauses. Sattes Schmatzen <strong>de</strong>r Kühe. Hohes, ungeduldiges Quieken <strong>de</strong>r Schweine,<br />

das allmählich verstummte.<br />

Michel ging aus <strong>de</strong>m Tor, stapfte durch <strong>de</strong>n unberührten Schnee zur Kirche. Sah die Spur,<br />

die vom Pfarrhaus zur Kapelle führte, Spur eines Menschen und eines Hun<strong>de</strong>s. Sah <strong>de</strong>n<br />

Lichtschein aus <strong>de</strong>r Kapelle.<br />

Da schlug die Kirchturmuhr halb. Halb sechs.<br />

Da stöhnte Andreas Suhrbier im Traum und kämpfte mit <strong>de</strong>m Ertrinken. Auf <strong>de</strong>r<br />

Rheinbrücke in Mainz hatte er gestan<strong>de</strong>n, er, Richter Suhrbier, Beamter <strong>de</strong>r französischen<br />

Republik, nach <strong>de</strong>m Prozess gegen <strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Aufruhrs angeklagten Heinrich Marten, für <strong>de</strong>n<br />

er Freispruch erwirkt hatte. Und in <strong>de</strong>n Rhein geworfen hatte er ein Fetzchen Stoff,<br />

geschnitten aus einer Bundschuhfahne, Erkennungszeichen für die Mitglie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s<br />

„Menschheitsbun<strong>de</strong>s“. Und <strong>de</strong>m Fetzen Stoff war er nachgesprungen - im Traum, nur im<br />

Traum -, und nun taucht er tief bis auf <strong>de</strong>n Grund, aber er fin<strong>de</strong>t das Stück Stoff nicht, er<br />

kämpft mit <strong>de</strong>m Wasser, das es nicht mehr hergeben will, er stöhnt so laut, dass <strong>de</strong>r alte<br />

Suhrbier aus <strong>de</strong>m leichten Greisenschlaf fährt, aufsteht, <strong>de</strong>n Sohn rüttelt: Andreas,


Andreas!<br />

Da wacht er auf, sieht <strong>de</strong>n Vater erstaunt an. Die Fahne, sagt er, ach so, ich hab’s<br />

geträumt.<br />

Was hast du geträumt? fragt Karl-Ernst Suhrbier.<br />

Bin <strong>de</strong>m Stück Stoff nachgetaucht, das ich in <strong>de</strong>n Rhein geworfen hatte, sagte Andreas.<br />

Warum geworfen? Was für ein Stoff?<br />

Aber Andreas will durchaus nicht, und schon gar nicht jetzt, mit <strong>de</strong>m Vater über <strong>de</strong>n<br />

Menschheitsbund re<strong>de</strong>n. Über dies tot geborene Kind unserer kindlichen Gläubigkeit, <strong>de</strong>nkt<br />

er und stellt sich, als schliefe er weiter. Dabei sieht er sich nun auf <strong>de</strong>m Weg zu diesem<br />

Bund. Weiter Weg. Von Mainz nach Paris, nach Würzburg, nach Erfurt, nach Altona, nach<br />

Paris. Und wie<strong>de</strong>r nach Mainz, zu dieser Rheinbrücke. Jahrelanger Weg. Mit Michel Marten<br />

auf <strong>de</strong>r verlorenen, wie<strong>de</strong>r gefun<strong>de</strong>nen, wie<strong>de</strong>r verlorenen Spur <strong>de</strong>s Heinrich Marten.<br />

In einem kleinen elsässischen Pfarrhaus: Ja, hier war ein Monsieur Henri Marten, gewiss,<br />

die Herren, sagt <strong>de</strong>r Pfarrer. Dort in <strong>de</strong>m alten, leeren Schulgebäu<strong>de</strong>, dort hat er seine<br />

Kolonie begrün<strong>de</strong>n wollen. Mit zwölf Waisenkin<strong>de</strong>rn und wenig Geld. Bald waren es dreißig<br />

Kin<strong>de</strong>r. Und nichts zu essen. Wir sind eine arme Gegend. Ich hätte ihm ja gern geholfen,<br />

aber ...<br />

Er macht eine resignieren<strong>de</strong> Geste mit Armen und Hän<strong>de</strong>n, er ist ein weißhaariger,<br />

gutmütiger Alter, man sieht, dass er <strong>de</strong>m Heinrich Marten gern geholfen hätte, man sieht<br />

aber auch, dass er ihn mitleidig, ungläubig, verständnislos belächelt hat.<br />

Was er dann gemacht hat? sagt er auf ihre Frage, ja, wer kann das wissen? Er hatte keine<br />

Wahl, musste die Kin<strong>de</strong>r fortschicken, sie wären ihm sonst verhungert. Und er war dann<br />

einfach verschwun<strong>de</strong>n. Die Leute hier re<strong>de</strong>ten, er habe sich gewiss aufgehängt. Irgendwo<br />

im Wald. Aber ich glaube das nicht, <strong>de</strong>nn es passt nicht zu ihm. So einer wie er hängt sich<br />

in <strong>de</strong>r größten Verzweiflung nicht auf, so einer verliert eher <strong>de</strong>n Verstand, als dass er das<br />

Leben fortwirft. Einmal zeigte er mir eine Schrift - seinen Vorschlag für ein neues<br />

Bildungssystem, <strong>de</strong>n wollte er <strong>de</strong>r französischen Republik unterbreiten. Ich hab’s gelesen.<br />

Ein wun<strong>de</strong>rschöner Traum, ja. Aber eben nur ein Traum, undurchführbar, meine Herren,<br />

wenn Sie mich fragen. Ich <strong>de</strong>nke, nach Paris wird er sein, <strong>de</strong>r Monsieur Marten.<br />

Er ruft nach <strong>de</strong>r Haushälterin, die bringt zwei Becher Milch, er bietet keine Stühle an, es ist<br />

offensichtlich, dass er die Besucher höflich, aber dringend wie<strong>de</strong>r forthaben möchte.<br />

Da ziehen sie weiter. Zu Fuß. Durch die Champagne. Auf <strong>de</strong>n Spuren <strong>de</strong>r im Frühjahr<br />

geschlagenen Alliierten, vom Heer <strong>de</strong>r französischen Revolutionäre geschlagenen<br />

preußisch-österreichischen Truppen. Sehen die Trümmer ihrer Bagage, ihrer<br />

zurückgelassenen Kanonen noch am Wegrand liegen, ahnen die Gräber rechts und links<br />

<strong>de</strong>s Weges - Massengräber <strong>de</strong>r <strong>von</strong> <strong>de</strong>r Ruhr zu Tausen<strong>de</strong>n hinweggerafften Soldaten -<br />

und darüber ein weiter Frühjahrshimmel, und das Grün <strong>de</strong>r Bäume, Sträucher und Wiesen<br />

ist frisch und hell wie in je<strong>de</strong>m Frühjahr, und Michel Marten lauscht <strong>de</strong>n Vogelkonzerten, wie<br />

er’s je<strong>de</strong>s Frühjahr in <strong>Bernsdorf</strong> getan hat, und Andreas Suhrbier untersucht die Pflanzen<br />

am Wegrand und die Steine auf <strong>de</strong>n Wegen und macht sich Notizen über die Landschaft,


und er weiß - wie in je<strong>de</strong>m Frühjahr -, dass die Juristerei sein Fach gar nicht ist, dass die<br />

Naturwissenschaften seine große, vergebliche Liebe bleiben wer<strong>de</strong>n.<br />

Wo ist die Weltgeschichte, als sie da wan<strong>de</strong>rn? Vergessen sie nicht für Stun<strong>de</strong>n, ja für<br />

Tage, dass da eine Revolution in Paris war und sie zu ihr wollen? Zu ihr und ihren Kin<strong>de</strong>rn?<br />

Sogar <strong>de</strong>n Heinrich Marten vergessen sie zuzeiten. Einmal verweilen sie stun<strong>de</strong>nlang in<br />

einem Dorf, in <strong>de</strong>ssen romanischer Kirche Michel eine gute Orgel vermutet - er wird nicht<br />

enttäuscht, auch vom Küster nicht („Die Kirche ist zwar geschlossen, Bürger, sie wird zu<br />

einem Tempel <strong>de</strong>r Vernunft umgestaltet, aber die Orgel ist da, eine sehr gute Orgel!“).<br />

Michel spielt lange und selbstvergessen.<br />

Schön war das, sagt Andreas, <strong>de</strong>r nüchterne, sachliche Andreas. Und dann sagt er: Weißt<br />

du, was mir dabei in <strong>de</strong>n Sinn kam, Michel? Wie dumm wir doch sind, dachte ich. Wir leben<br />

entwe<strong>de</strong>r in Trauer um Vergangenes o<strong>de</strong>r in Hoffnung auf Zukünftiges. Und versäumen<br />

darüber das einzig Wichtige - das Gegenwärtige. Leben wir so nicht am Leben vorbei?<br />

Michel überlegt lange, schiebt dabei die Register zurück, steht <strong>von</strong> <strong>de</strong>r Orgelbank auf,<br />

überfliegt mit einem Blick das weiß getünchte Kircheninnere - keine Heiligenbil<strong>de</strong>r, kein<br />

Kruzifix, klare, weiße Linien, die Trikolore über <strong>de</strong>m Altar, ein Freiheitsbaum davor - dann<br />

sagt er: Es gibt wohl noch mehr Möglichkeiten, am Leben vorbei zu leben, Andreas. Dies<br />

mag eine da<strong>von</strong> sein. Für mich trifft sie kaum zu. Im Gegenteil, ich habe wohl bisher viel zu<br />

sehr das gegenwärtige Leben gelebt. Zuwenig an Zukünftiges gedacht. Immer an<strong>de</strong>re für<br />

mich entschei<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r mich <strong>von</strong> <strong>de</strong>n Ereignissen schieben lassen. Wenn man nur für sich<br />

und <strong>de</strong>n Augenblick lebt, was ist man dann, und was ist dann <strong>de</strong>r Augenblick?<br />

Jaja, sagt Andreas ungeduldig, aber lebt man nicht für sich und <strong>de</strong>n gegenwärtigen<br />

Augenblick, was ist man dann, und was ist dann <strong>de</strong>r Augenblick? Siehst du. Auf bei<strong>de</strong><br />

Fragen dieselbe Antwort: nichts. Ein Geschäftsfreund meines Vaters, ein kluger, gebil<strong>de</strong>ter<br />

Ju<strong>de</strong>, schrieb mir vor Jahren einen Spruch ins Stammbuch, <strong>de</strong>n ich als einzigen <strong>von</strong> all <strong>de</strong>n<br />

schönen, weisen Sätzen, die dort hineingeschrieben wur<strong>de</strong>n, nicht vergessen habe. „Denn<br />

wenn ich nicht für mich bin, wer wird für mich sein? Aber wenn ich nur für mich bin, was bin<br />

ich?“ Gefällt dir das?<br />

Ja, sehr, sagt Michel betroffen.<br />

Dieser Art sind ihre Gespräche. Und so kommen sie Schritt für Schritt näher an Paris heran.<br />

An das Paris <strong>de</strong>r Jakobiner, Sommer 1793. Schritt für Schritt durch das Frankreich <strong>de</strong>r<br />

Jakobiner. Mehr als einmal haben sie sich auszuweisen, haben Sansculottenführern Re<strong>de</strong><br />

und Antwort zu stehen: Woher? Wohin? Wer seid Ihr? Spione? Sacré matin, seht ihr dort<br />

die Guillotine?<br />

Und dann Umarmungen, Hän<strong>de</strong>schütteln, Schulterklopfen, wenn Andreas’ gute Papiere -<br />

Empfehlungsschreiben <strong>de</strong>s französischen Gesandten Lehoc in Hamburg, Lehoc, Freund<br />

seines Vaters - <strong>von</strong> allen Seiten betrachtet und für gut befun<strong>de</strong>n wur<strong>de</strong>n. Guten Tag,<br />

Brü<strong>de</strong>r, guten Weg, Kamera<strong>de</strong>n, es lebe die Freiheit. Und die Gleichheit, und die<br />

Brü<strong>de</strong>rlichkeit, vive la nation!<br />

Mit je<strong>de</strong>m Schritt nähern sie sich Paris.


Mit je<strong>de</strong>m Schritt nähern sie sich auch Heinrich Marten. Doch das wissen sie nicht. Und sie<br />

sind schon mehrere Tage in Paris, als sie auf seine Spur stoßen. Und gleich darauf auf ihn<br />

selbst. Hockt da in einer Dachkammer <strong>de</strong>s Tischlermeisters Carnette, schreibt einen Brief<br />

nach <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren an verschie<strong>de</strong>ne Konventsmitglie<strong>de</strong>r, alle Briefe beginnen mit<br />

„Verehrungswürdiger, braver Verteidiger <strong>de</strong>r Menschenrechte“ und en<strong>de</strong>n mit „Gruß und<br />

Achtung <strong>de</strong>n republikanischen Prinzipien, für ihre Verbreitung in <strong>de</strong>r ganzen Welt. Henri<br />

Marten“. Und dazwischen steht geschrieben, dass er, Heinrich Marten, ein System <strong>de</strong>r<br />

Erziehung und Bildung entworfen habe, das einzig in einem Land wie Frankreich, in einer<br />

freien Republik, zu verwirklichen sei, das er <strong>de</strong>m Konvent vor Längerem zur Prüfung<br />

überreicht habe, ohne bisher eine Antwort erhalten zu haben, weshalb er <strong>de</strong>n Citoyen<br />

freimütig bitte ...<br />

Hast du schon viele Briefe geschrieben, Heinrich?<br />

Ja, viele, Andreas.<br />

Und warum antwortet niemand?<br />

Ja, warum. Als hätte er sich das nicht schon selbst gefragt. Was stört Robespierre und<br />

seine Leute an meinem Erziehungsplan? hat er sich gefragt. Er weiß lange um die<br />

Sinnlosigkeit seiner Briefe. Frankreich wird seine I<strong>de</strong>en nicht verwirklichen. Sie riechen nach<br />

Jaques Roux - nach Angriff auf das Eigentum. Riechen? Als hätte er es nicht klar<br />

ausgesprochen: Gemeineigentum ist die Voraussetzung für gleiche, freie Erziehung und<br />

Bildung. Und dann - wie sollten die Jakobiner jetzt Zeit für Erziehung und Bildung haben,<br />

wenn es innen und außen brennt - die Vendée im Aufstand, an <strong>de</strong>r Front verräterische<br />

Generale, die Gefängnisse voller Verräter o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Verrats Verdächtiger, die Front weicht<br />

zurück, Mainz ist gefallen, <strong>de</strong>n Preußen in die Hän<strong>de</strong> gefallen, Gna<strong>de</strong> Gott unseren<br />

Klubisten - was will da jetzt dieser Henri Marten, mon dieu ...<br />

Ja, das weiß er, das sieht er ein. Aber er schreibt seine Briefe, es zwingt ihn etwas,<br />

hungernd und übermü<strong>de</strong>t in <strong>de</strong>r Dachkammer <strong>de</strong>s Tischlers Carnette zu sitzen und<br />

irgendwelcher Kin<strong>de</strong>r wegen Briefe zu schreiben. Sodass <strong>de</strong>r brave Citoyen und Jakobiner<br />

Carnette - Mitglied <strong>de</strong>r Pariser Stadtverwaltung, Vater <strong>de</strong>s Freiwilligen Jean-Pierre<br />

Carnette - an seinem Verstand zweifelt und das <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n Besuchern auch unumwun<strong>de</strong>n<br />

sagt, die nach <strong>de</strong>m Heinrich Marten gefragt haben: Henri Marten? Oui, Oui. Aber ich weiß<br />

nicht, weiß nicht, Citoyens ..., glaube fast, mit <strong>de</strong>m stimmt’s nicht so ganz ..., sacré mer<strong>de</strong>,<br />

ist sonst ein guter Kerl und ein tapferer Draufgänger, war beim Maiaufstand dabei, als wir<br />

<strong>de</strong>n Konvent stürmten und die Giron<strong>de</strong> zum Teufel jagten, jaja!<br />

Nun sitzen sie auf seiner wackligen Holzpritsche, Andreas und Michel. Heinrich Marten steht<br />

gegen das Fensterkreuz gelehnt, berührt mit <strong>de</strong>m Kopf fast die niedrige Decke <strong>de</strong>r<br />

Kammer, er ist hager und bleich, unrasiert, seine schwarzen Augen liegen tief in <strong>de</strong>n Höhlen<br />

und flackern unruhig.<br />

Michel hat nicht Vater gesagt, wie er es wohl vorgehabt hatte. Denn Heinrich hatte ihn<br />

forschend, beinahe feindselig betrachtet und gesagt: Also, du bist <strong>de</strong>r Michel? Deiner<br />

Mutter ähnelst du nicht. Aber darauf kommt es nicht an.


Nein, sagte Michel, darauf gewiss nicht.<br />

Danach schwiegen sie lange, sahen sich nur an, und Andreas musste re<strong>de</strong>n und fragen.<br />

Dann hören sie <strong>de</strong>m Heinrich Marten zu; er läuft im Zimmer hin und her und erzählt <strong>von</strong><br />

Paris. Seine Augen glühen fiebrig, mit fahrigen Handbewegungen unterstreicht er seine<br />

Sätze. Die Jakobiner wer<strong>de</strong>n Frankreich retten, sagt er. Vor <strong>de</strong>n Verrätern, vor <strong>de</strong>n<br />

Aufständischen, vor <strong>de</strong>n Preußen und Österreichern und Russen und Englän<strong>de</strong>rn. Ja, sie<br />

kehren mit eisernen Besen. Mit blutigen Besen. Die Guillotinen kommen nicht zur Ruhe. Und<br />

es gibt nieman<strong>de</strong>n, nieman<strong>de</strong>n gibt es, <strong>de</strong>r ohne Furcht vor <strong>de</strong>r Guillotine sich abends ins<br />

Bett legen kann. Doch wenn etwas Frankreich vor <strong>de</strong>m Untergang retten kann, dann dies.<br />

Nur, was kann die Jakobiner vor <strong>de</strong>m Untergang retten?<br />

<strong>Das</strong> versteht ihr nicht? <strong>Das</strong> könnt ihr auch nicht verstehen, wenn ihr erst ein paar Tage hier<br />

seid. Da müsst ihr erst die Schlangen <strong>de</strong>r hungern<strong>de</strong>n Weiber vor <strong>de</strong>n Brotgeschäften<br />

gesehen haben. O<strong>de</strong>r besser: Ihr müsst euch dazugestellt haben. Niedrige Festpreise und<br />

Einschränkung <strong>de</strong>s Eigentums - das for<strong>de</strong>rt <strong>de</strong>r Priester Jaques Roux, und seine Anhänger<br />

nennt man die Wüten<strong>de</strong>n. Jaques Roux ...<br />

Plötzlich schweigt er, unterbricht seine Zimmerwan<strong>de</strong>rung, starrt finster vor sich hin. Sagt<br />

dann: Sie wer<strong>de</strong>n ihn guillotinieren, unseren Jaques. Sie wer<strong>de</strong>n es müssen, sonst rücken<br />

die Besitzen<strong>de</strong>n <strong>von</strong> ihnen ab - ach, was re<strong>de</strong> ich, sie sind doch selbst Besitzen<strong>de</strong>. Keine<br />

großen, das nicht. Aber Eigenes haben sie fast alle ... Und Marat ist tot. Ta, sie wer<strong>de</strong>n<br />

<strong>de</strong>n Jaques Roux wohl guillotinieren müssen. Dabei hat er recht. Er ist <strong>de</strong>r einzige, <strong>de</strong>r<br />

recht hat. Der einzige, <strong>de</strong>n man hier lieben muss.<br />

Und Robespierre? fragt Michel.<br />

Robespierre muss man bewun<strong>de</strong>rn, sagt Heinrich. Lieben kann man ihn nicht. Aber ich<br />

wer<strong>de</strong> ihn auch nicht hassen können, wenn er <strong>de</strong>n Jaques getötet hat. Denn er muss es tun.<br />

Wenn er hat? Du re<strong>de</strong>st, als hätte er es schon getan, sagt Andreas erschrocken.<br />

Ja, sagt Heinrich. Im Grun<strong>de</strong> hat er es schon getan. Ich sehe es.<br />

Dann wer<strong>de</strong>n auch seine Anhänger verfolgt wer<strong>de</strong>n, sagt Andreas.<br />

Ja, sagt Heinrich. Ich wer<strong>de</strong> dann <strong>von</strong> hier fort müssen. Wer<strong>de</strong> fliehen müssen vor <strong>de</strong>r<br />

Revolution, die doch meine Revolution ist!<br />

Er lacht plötzlich wie über einen guten Scherz, ein lautes, hartes, bitteres Lachen.<br />

Kalt wur<strong>de</strong> mir bei diesem Lachen, dachte Andreas, eiskalt, und <strong>de</strong>m Michel ging es<br />

ebenso, bei<strong>de</strong> hatten wir es plötzlich eilig, <strong>von</strong> ihm fortzukommen ... fortzukommen ...<br />

Da schlug die Turmuhr siebenmal.<br />

Da versank Andreas Suhrbier aus <strong>de</strong>m Wachtraum in <strong>de</strong>n wirklichen Traum. In die Kammer<br />

stürzt <strong>de</strong>r Tischler Carnette - es ist aber das Zimmer auf Schloss <strong>Bernsdorf</strong>, in <strong>de</strong>m<br />

Andreas jetzt mit <strong>de</strong>m Vater schläft -, und erregt, nicht ohne zustimmen<strong>de</strong> Genugtuung in<br />

<strong>de</strong>r Stimme, ruft <strong>de</strong>r Alte: Gera<strong>de</strong> wur<strong>de</strong> Jaques Roux verhaftet, sie suchen nach seinen


Anhängern, verschwin<strong>de</strong> aus meinem Haus, Henri, sie wer<strong>de</strong>n dich sonst holen, und ich<br />

müsste mit dir auf die Guillotine!<br />

Michel und Andreas springen auf, raffen ihre Sachen zusammen, Andreas möchte sich<br />

beeilen, aber er ist wie gelähmt, nur quälend langsamer Bewegungen fähig, und die Angst<br />

schnürt ihm die Kehle zu. Vor ihm ist Heinrich Martens Gesicht, kommt ihm näher und näher,<br />

flackern<strong>de</strong>, schwarze, irre Augen; Andreas will ihnen ausweichen, aber wohin er sich auch<br />

wen<strong>de</strong>t, überall trifft ihn dieser Blick: anklagend, aber auch ratlos fragend, trifft ihn bis ins<br />

Innerste; es fällt ihm schwer, sich <strong>von</strong> seinem Richterstuhl zu erheben und die Verhandlung<br />

zu eröffnen. Denn in Mainz ist er jetzt, und auf <strong>de</strong>r Anklagebank dieser zerlumpte, halbirre,<br />

verzweifelte Mensch - eben hat er Heinrich Marten in ihm erkannt. Und weiß, dass auch er<br />

erkannt wur<strong>de</strong>. <strong>Das</strong>s ein großer Teil <strong>de</strong>r wahnsinnigen Verzweiflung in <strong>de</strong>n Augen <strong>de</strong>s<br />

Angeklagten <strong>von</strong> diesem Erkennen herrührt.<br />

Da <strong>de</strong>nkt er angestrengt: Ich träume. Ich träume nur. <strong>Das</strong> ist lange vorbei. Ich habe<br />

Freispruch erwirkt. Und Haftentlassung. Ich habe mich auch bemüht, nach <strong>de</strong>m Prozess<br />

etwas über ihn in Erfahrung zu bringen, es ist doch nicht meine Schuld, dass er spurlos<br />

verschwun<strong>de</strong>n war. Vielleicht im Rhein. Vielleicht. Ich hab ihm mein Stückchen Fahne<br />

nachgeworfen ...<br />

Da war er schon an <strong>de</strong>r Schwelle zum Erwachen, da sagte er zu sich: Nicht lügen, Andreas.<br />

Du hast ihm nicht <strong>de</strong>n Fetzen nachgeworfen. Son<strong>de</strong>rn du hast dich <strong>von</strong> einem Teil <strong>de</strong>iner<br />

Vergangenheit befreien wollen. Und du wolltest dich gegen die Anklage in seinem Blick<br />

auflehnen. Und du hattest doch recht damit?<br />

Ja, ich hatte recht, sagte er leise vor sich hin, die Frage auslöschend, <strong>de</strong>nn er war nun ganz<br />

wach, da beherrschte er wie<strong>de</strong>r sein Gewissen, das im Traum, nur im Traum, ihn<br />

beherrscht hatte.<br />

Da schlug die Uhr halb, halb acht, und es wur<strong>de</strong> lebendig im Schloss. Der alte Suhrbier,<br />

schlaflos seit Langem, sagte: So gut wie du, nicht wahr, so gut möchte ich auch noch mal<br />

schlafen können! Aber was hast du da eben gesagt - wobei hattest du recht?<br />

Ich weiß auch nicht, sagte Andreas, was ich hier so zusammenträume.


2<br />

Der Lichtschein aus <strong>de</strong>r Kapelle zog Michel Marten an. Dabei wollte er in die Kirche, hatte<br />

schon nach <strong>de</strong>m Schlüssel in <strong>de</strong>r Tasche gefühlt, <strong>de</strong>m unrechtmäßig entführten, <strong>de</strong>m<br />

Begleiter seit vielen Jahren. Aber nun bog er zur Kapelle ab, sah, sich reckend, durch das<br />

Fenster, erblickte <strong>de</strong>n Mann und <strong>de</strong>n Hund und das Gestell, an <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Mann arbeitete: Er<br />

hatte eine <strong>de</strong>r Decken abgerissen, verän<strong>de</strong>rte die Richtung einer Holzlatte, murmelte dabei<br />

vor sich hin, Michel sah die Lippen, die sich bewegten, hörte nichts, las aber schließlich <strong>von</strong><br />

<strong>de</strong>n Lippen: fliegen. Wie gestern in <strong>de</strong>r Kirche, so wur<strong>de</strong> ihm auch jetzt unbehaglich beim<br />

Anblick <strong>de</strong>s Irren, obwohl <strong>de</strong>r gar nichts Irres an sich hatte: ein Mann, <strong>de</strong>r eine Arbeit tat,<br />

mit einer sturen Besessenheit allenfalls. Michel unterdrückte das Unbehagen und trat in die<br />

Kapelle.<br />

We<strong>de</strong>r erstaunt noch erschrocken blickte <strong>de</strong>r Mann auf, begann zu erklären, als hätten sie<br />

schon oft und gera<strong>de</strong> vor Kurzem über seinen Flugapparat gesprochen. Ich muss die Form<br />

än<strong>de</strong>rn, verstehst du? sagte er. Es ist zu breit. Hast du schon einen breiten Vogel gesehen?<br />

Wie soll er segeln, wenn es zu breit ist? Verstehst du?<br />

Michel erschrak. Diese Stimme habe ich schon gehört, dachte er. Unsinn, Michel Marten.<br />

Wie viele Menschen hast du im Laufe <strong>de</strong>r Jahre re<strong>de</strong>n hören. Dieser war nicht darunter.<br />

Denn mit Sicherheit hast du ihn nie gesehen.<br />

Schnell und im Befehlston sagte er: Du kannst das nachher weiterbauen. Komm jetzt und<br />

tritt mir <strong>de</strong>n Blasebalg.<br />

Er war verblüfft über die Wirkung seiner Worte. Der Mann zuckte zusammen, sprang hastig<br />

auf und wie<strong>de</strong>rholte: Blasebalg treten, ja, Blasebalg treten. Blick abgewandt, in <strong>de</strong>r Haltung<br />

hündische Ergebenheit.<br />

Diesen Ton, dachte Michel, ist er gewöhnt. Jemand hat ihn dressiert. Er drehte sich schnell<br />

um und ging, sicher, dass <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re ihm folgen wür<strong>de</strong>.<br />

Kurz darauf klang die Orgel auf, gedämpft drangen ihre Töne hinaus auf <strong>de</strong>n verschneiten<br />

Friedhof: eine Bachtoccata, voll krampfhafter, zorniger Fröhlichkeit.<br />

Hatte man je in <strong>Bernsdorf</strong> zu so früher Stun<strong>de</strong> die Orgel spielen hören? Die Menschen, die<br />

da gera<strong>de</strong> aus ihren Katen getreten waren, um das Brüllen <strong>de</strong>s hungrigen Viehs wenigstens<br />

für eine Stun<strong>de</strong> zum Verstummen zu bringen, sahen scheu o<strong>de</strong>r erstaunt o<strong>de</strong>r auch<br />

erleichtert zur Kirche: Der Marten-Michel. Und keiner, <strong>de</strong>r nicht sofort dachte: Die<br />

Bittschrift. Heute wer<strong>de</strong>n wir <strong>de</strong>m Baron die Bittschrift überreichen. Und manch einer dachte<br />

auch: Heute heiratet <strong>de</strong>r Lemke-August. Und heute lassen wir es uns nicht mehr bieten.<br />

Warum eigentlich nicht? Warum plötzlich nicht mehr? <strong>Das</strong> dachte niemand.<br />

Michel Marten spielte lange, ohne an<strong>de</strong>res zu <strong>de</strong>nken als die Noten vor ihm, ohne an<strong>de</strong>res<br />

zu fühlen als die Kraft dieser Musik. Erst beim Durchprobieren <strong>de</strong>r Choräle für die Trauung<br />

gingen seine Gedanken an<strong>de</strong>re Wege.<br />

Denn plötzlich hörte er <strong>de</strong>n Irren in <strong>de</strong>r Kapelle re<strong>de</strong>n: Ich muss die Form än<strong>de</strong>rn, verstehst<br />

du? Es ist zu breit. Hast du schon einen breiten Vogel gesehen? Wie soll es segeln, wenn


es zu breit ist? Verstehst du?<br />

Und dann hörte er die gleiche Stimme etwas an<strong>de</strong>res sagen: Die Festung wollt ihr ansehen?<br />

Na schön, macht das, aber ohne mich ... Er been<strong>de</strong>te <strong>de</strong>n Choral und saß minutenlang<br />

regungslos vor <strong>de</strong>r Orgel. Dann stand er auf und ging langsam und voll <strong>von</strong> Angst, die er<br />

sich nicht eingestand, um die Orgel herum zum Blasebalg. Doch dort war niemand mehr. Er<br />

setzte sich auf die oberste Stufe <strong>de</strong>r schmalen Wen<strong>de</strong>ltreppe, ratlos, erschrocken, aber<br />

auch erleichtert.<br />

Die Festung wollt ihr ansehen, sagt Heinrich Marten, na schön, macht das, aber ohne mich.<br />

Er setzt sich auf <strong>de</strong>n Brunnenrand (kleiner Platz, marktähnlich, niedrige Bürgerhäuser, bei<br />

Weitem nicht so prachtvoll wie in <strong>de</strong>r Innenstadt - Würzburg, Bischofssitz).<br />

Sie sehen sich also die Festung an - Michel, Andreas und dieser Stu<strong>de</strong>nt Alois, <strong>de</strong>n sie seit<br />

ein paar Stun<strong>de</strong>n kennen, ein dicklicher Medizinstu<strong>de</strong>nt mit sanfter Stimme und langsamen,<br />

weichen Bewegungen, mit großen erstaunten Kin<strong>de</strong>raugen; sie mochten ihn vom ersten<br />

Moment ihrer Bekanntschaft an.<br />

Im Zeughaus auf <strong>de</strong>r Festung stehen zwei eroberte Fahnen, Bundschuhfahnen, <strong>von</strong> <strong>de</strong>s<br />

Würzburger Bischofs Heerscharen im Bauernkrieg erbeutete Fahnen. Sie stechen ihnen<br />

sofort in die Augen. Sie verständigen sich mit Blicken. Michel bleibt in <strong>de</strong>r Nähe <strong>de</strong>r Fahnen.<br />

Andreas und Alois verwickeln <strong>de</strong>n alten, etwas begriffsstutzigen Wärter in ein verzwicktes<br />

Gespräch: Hat ein Bischof sein Amt <strong>von</strong> Gott o<strong>de</strong>r vom Kaiser? Wenn <strong>von</strong> Gott - warum<br />

dann eine solche kriegerische Macht, wie dies Zeughaus für Vergangenheit und Gegenwart<br />

bekun<strong>de</strong>t? Wenn vom Kaiser - wi<strong>de</strong>rspricht das nicht seinem Amt als Diener Gottes?<br />

Re<strong>de</strong>nd entfernen sie sich in <strong>de</strong>n Nebenraum.<br />

Michel greift rasch nach <strong>de</strong>m Fahnentuch, zieht es vom Schaft, faltet es zusammen, steckt<br />

es unter sein Hemd. Geht dann langsam <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren nach. Und dann haben sie es eilig,<br />

<strong>von</strong> <strong>de</strong>r Festung zu kommen.<br />

Heinrich Marten sitzt noch immer auf <strong>de</strong>m Brunnenrand, ein Stück Papier auf <strong>de</strong>n Knien.<br />

Hier, sagt er, mein Leitartikel für die erste Nummer unserer Zeitschrift ist fertig: Was tut<br />

<strong>de</strong>n Deutschen not? Und er liest, halblaut, mit vor Erregung zittern<strong>de</strong>r Stimme, seinen<br />

Revolutionsaufruf.<br />

Denn <strong>von</strong> Frankreich nach Deutschland sind sie zurückgegangen, um ihre Zeitschrift zu<br />

grün<strong>de</strong>n, die <strong>de</strong>n seit Kurzem wie<strong>de</strong>r siegreichen französischen Armeen in die Hän<strong>de</strong><br />

arbeiten soll - Deutschland für die Revolution in Bewegung bringen, nicht mehr und nicht<br />

weniger wollen sie.<br />

Schön und gut, sagt Andreas, als Heinrich zu En<strong>de</strong> gelesen hat, aber damit lockst du <strong>de</strong>n<br />

<strong>de</strong>utschen Bauern nicht vom Pflug fort, <strong>de</strong>n Bürger nicht aus seiner Manufaktur, <strong>de</strong>n<br />

Spießbürger nicht hinterm Ofen hervor ...<br />

Was geht mich <strong>de</strong>r Spießbürger an, unterbricht Heinrich ihn hitzig, das Volk, das Volk geht<br />

mich an, <strong>de</strong>nn ...


Wer ist <strong>de</strong>nn das Volk, ruft Andreas, nein, Heinrich. Wir müssen <strong>von</strong> Frankreich berichten,<br />

müssen die Lügen fortfegen mit unserer Zeitung, die Lügen, die hier über Frankreich<br />

verbreitet wer<strong>de</strong>n. Kein Verbrechen lassen diese Zeitungsschmierer aus, das sie nicht <strong>de</strong>n<br />

Jakobinern in die Schuhe schieben. Teufel in Menschengestalt sind wir Jakobiner, will man<br />

ihnen glauben. Und was bleibt <strong>de</strong>n Deutschen übrig, als zu glauben, wenn niemand die<br />

Wahrheit sagt? <strong>Das</strong> größte Verbrechen <strong>de</strong>r Jakobiner soll es sein, <strong>de</strong>n Frie<strong>de</strong>n zu wollen -<br />

haben wir’s nicht gestern in diesem Wiener Schmierblatt gelesen? Damit, Heinrich,<br />

erreichen wir die, die du Volk nennst, nichts ist doch leichter, als ihnen zu erklären: Jawohl,<br />

Frie<strong>de</strong>n wollen die Jakobiner. Und warum ist das ein Verbrechen? Und wer hin<strong>de</strong>rt sie<br />

daran? Wer zwingt sie, Krieg zu führen? Die Preußen, Österreicher, Englän<strong>de</strong>r, Russen?<br />

Nein, dreimal nein! Die Herrscher dieser Län<strong>de</strong>r, die Fürsten Europas!<br />

Andreas re<strong>de</strong>t mit Pathos, er merkt nicht, was die an<strong>de</strong>ren lange bemerkt haben:<br />

Menschen sammeln sich um sie, seine lei<strong>de</strong>nschaftliche Re<strong>de</strong> wird <strong>von</strong> vielen Ohren<br />

aufgenommen.<br />

Michel sieht sich unruhig um, räuspert sich, schließlich stößt er Heinrich an, <strong>de</strong>r ganz<br />

versunken ist in diese Re<strong>de</strong>, er schreibt sie hastig mit, sein Gesicht leuchtet - Stolz <strong>de</strong>s<br />

Lehrers auf <strong>de</strong>n Schüler, <strong>von</strong> <strong>de</strong>m er sich überflügelt glaubt. Seid ihr <strong>de</strong>nn lebensmü<strong>de</strong>, um<br />

Gottes willen, flüstert Michel, <strong>de</strong>nkt ihr <strong>de</strong>nn, auch nur einer dieser Menschen wird für uns<br />

eintreten, wenn man uns hier festnehmen will?<br />

Da kommt auch schon Unruhe unter die Zuhörer, einige entfernen sich, jemand zieht Michel<br />

am Ärmel, kommt schnell, flüstert eine Stimme, eine Hand schiebt ihn unter die Menge,<br />

hinter ihm Heinrich und Andreas, auch dieser Alois, durch ein Gewirr kleiner Gassen laufen<br />

sie und sitzen bald danach in einer verräucherten Gaststube. Durch bunte Fensterscheiben<br />

dringt nur gedämpftes Licht auf die sauber gescheuerten Holztische, <strong>de</strong>r Wirt stellt<br />

ungefragt fünf Gläser Rotwein vor sie hin, und jetzt erst sehen sie sich <strong>de</strong>n Menschen<br />

genauer an, <strong>de</strong>r sie hierhergeführt hat.<br />

Ein unscheinbarer Mensch. Schmalgesichtig, blass, mit schütterem dunklem Haar. Ein<br />

Büchermensch, <strong>de</strong>nkt Michel.<br />

Hätte ich dich nicht erkannt, Alois, sagt <strong>de</strong>r Mensch, ich hätte diese Leute für Provokateure<br />

gehalten. Wie kann man aber auch so unvorsichtig sein. Es ist so gut wie sicher, dass <strong>de</strong>s<br />

Bischofs Gendarmen schon jetzt die Stadt nach euch durchsuchen.<br />

Alois wird rot und senkt schuldbewusst <strong>de</strong>n Kopf. Hebt ihn aber gleich wie<strong>de</strong>r. <strong>Das</strong> ist<br />

Professor Effenberger, sagt er, bei <strong>de</strong>m ich Anatomie höre.<br />

Ärgerlich winkt <strong>de</strong>r Professor ab. Namen, Namen, sagt er. Nur keine Namen nennen. Ich will<br />

die Namen <strong>de</strong>iner Freun<strong>de</strong> auch nicht wissen. Vorsicht, allergrößte Vorsicht muss am<br />

Werke sein, wenn wir etwas erreichen wollen. Was sollen diese öffentlichen Re<strong>de</strong>n. Ja, es<br />

war eine gute Re<strong>de</strong>. Aber was Deutschland not tut, ist etwas an<strong>de</strong>res. Geheimbün<strong>de</strong> tun<br />

Deutschland not, die im Verborgenen wirken, aus <strong>de</strong>m Verborgenen losschlagen;<br />

urplötzlich, wie entfesselte Naturgewalten wer<strong>de</strong>n sie Deutschland erneuern. Die<br />

Freimaurerlogen sind durchsetzt <strong>von</strong> Fürstengeschmeiß und Spitzeln. Der Illuminatenor<strong>de</strong>n<br />

ist in Auflösung begriffen. Irgen<strong>de</strong>twas sagt mir, dass ich berufen bin, einen an<strong>de</strong>ren,


esseren Bund zu begrün<strong>de</strong>n zu Deutschlands Errettung.<br />

Ein fanatischer Glanz ist in <strong>de</strong>n schmalen Augen <strong>de</strong>s Professors, scharf sieht er sie alle <strong>de</strong>r<br />

Reihe nach an.<br />

Mir ist, meine Freun<strong>de</strong>, sagt er, als hätte ich heute <strong>de</strong>n Kern dieses Geheimbun<strong>de</strong>s<br />

gefun<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r aus Süd<strong>de</strong>utschland hervorbrechen wird. Was jetzt not tut, ist folgen<strong>de</strong>s (er<br />

wirft <strong>de</strong>n Kopf zurück, spreizt mit <strong>de</strong>r rechten Hand einen Finger <strong>de</strong>r linken nach <strong>de</strong>m<br />

an<strong>de</strong>ren ab, er mag sich in einem Kolleg wähnen, <strong>de</strong>nkt Michel, und er wun<strong>de</strong>rt sich über<br />

die Distanz, mit <strong>de</strong>r er das <strong>de</strong>nkt) : Wir brauchen erstens einen Namen. Zweitens ein<br />

sichtbares, aber gut zu verbergen<strong>de</strong>s Erkennungszeichen. Drittens Statuten. Viertens einen<br />

Plan. Fünftens Mitglie<strong>de</strong>r.<br />

Die Finger seiner linken Hand sind hoch aufgerichtet. Dann lässt er die Hand sinken. Nun?<br />

fragt er und sieht sie forschend an. Reibt sich dabei die Hän<strong>de</strong>.<br />

Menschheitsbund, sagt Alois. Er sagt es so rasch und sicher, als sei er sich <strong>de</strong>s Namens<br />

schon lange gewiss.<br />

Gut. Der Professor nickt anerkennend. O<strong>de</strong>r hat jemand einen besseren Vorschlag? Nicht.<br />

Also Menschheitsbund. Und das Erkennungszeichen?<br />

Die I<strong>de</strong>e kommt Michel Marten ganz plötzlich, und fast im gleichen Moment hat er die Fahne<br />

unter <strong>de</strong>m Hemd hervorgezogen. Sie sehen ihn fragend an.<br />

Ich meine, sagt er leise, wir könnten sie in viele Teile zerschnei<strong>de</strong>n. Je<strong>de</strong>r nimmt ein Stück<br />

da<strong>von</strong>. So als Ganzes, da kann ich sie doch nirgends lassen.<br />

Der Professor zögert. Bauernkriegsfahne, murmelt er. Jawohl, sagt Heinrich Marten, das ist<br />

gut. Denn die Bauern, das sind die meisten <strong>von</strong> <strong>de</strong>nen, die wir Volk nennen.<br />

Jaja, sagt <strong>de</strong>r Professor wi<strong>de</strong>rstrebend, aber sie, die Bauern, können die Revolution nicht<br />

machen, auch das sogenannte Volk nicht. Nur die Männer <strong>de</strong>s Geistes sind dazu in <strong>de</strong>r<br />

Lage. Darüber dürft ihr euch nicht täuschen, Freun<strong>de</strong>. Doch sei es, wie dieser junge Freund<br />

vorschlägt. Zerteilen wir das symbolische Tuch. Je<strong>de</strong>r <strong>von</strong> euch ein Stück. Die übrigen<br />

Stücke gebt ihr mir und <strong>de</strong>m Alois. Ich wer<strong>de</strong> sie verteilen, wenn ich unserem<br />

Menschheitsbund neue Freun<strong>de</strong> gewonnen habe unter <strong>de</strong>n Stu<strong>de</strong>nten und Professoren <strong>von</strong><br />

Wetzlar und Gießen. Alois wird an unserer hiesigen Lehranstalt das gleiche tun. Und ihr?<br />

Habt ihr im Preußischen und Sächsischen keine Freun<strong>de</strong> unter <strong>de</strong>n Stu<strong>de</strong>nten und<br />

Professoren?<br />

Jena, sagen Andreas und Michel gleichzeitig. Und bei<strong>de</strong> <strong>de</strong>nken sie an Joachim, <strong>de</strong>n sie<br />

dort wähnen, an Professor Hauschildt, an Marianne. Und an <strong>de</strong>n Professor Fichte.<br />

Gut, gut, sagt <strong>de</strong>r Professor, tut, was in euren Kräften steht. Damit hätten wir auch Punkt<br />

fünf erledigt. Unter Auslassung <strong>von</strong> Punkt drei kommen wir nunmehr zu viertens: Plan. Was<br />

schlagt ihr vor?<br />

Die Vorbereitung <strong>de</strong>r Revolution in ganz Deutschland, sagt Heinrich. Andreas nickt, Michel<br />

nickt. Alois sieht <strong>de</strong>n Professor unsicher und abwartend an.<br />

Dazu eine Zeitschrift, sagt Heinrich, die wir drei in Erfurt herausbringen wollen.


Einverstan<strong>de</strong>n mit <strong>de</strong>m letzteren, <strong>de</strong>r Zeitschrift, sagt <strong>de</strong>r Professor. <strong>Das</strong> erste ist zu<br />

verschwommen. Revolution in ganz Deutschland? Traum, Illusion, Unmöglichkeit.<br />

Deutschland ist nicht Frankreich.<br />

Ich <strong>de</strong>nke, sagt Alois zögernd und errötet dabei, ich <strong>de</strong>nke folgen<strong>de</strong>s: Im Geheimen eine<br />

Armee <strong>von</strong> ungefähr tausend Stu<strong>de</strong>nten zusammenstellen, mit ihr gegen Mainz marschieren,<br />

Mainz befreien, aufs neue die Mainzer Republik ausrufen, damit das Signal für <strong>de</strong>n<br />

gesamt<strong>de</strong>utschen Aufstand geben, <strong>de</strong>n die Zeitschrift vorbereitet hat.<br />

Und wenn dieser Aufstand dann ausbleibt? fragt <strong>de</strong>r Professor. Wenn, wenn, ruft Heinrich<br />

Marten zornig. Wenn die Franzosen so lange überlegt hätten, bevor sie die Bastille<br />

erstürmten, ob sie’s tun sollten o<strong>de</strong>r nicht, dann gäbe es vielleicht bis heute noch keine<br />

französische Republik!<br />

Was ich bezweifle, sagt <strong>de</strong>r Professor. Du bist zu hitzig, lieber Freund. Ich erinnere noch<br />

einmal daran, dass wir hier in Deutschland sind und nicht in Frankreich. Ein Aufstand, <strong>de</strong>r<br />

vom Volk ausgeht, ist in diesem Land vollkommen un<strong>de</strong>nkbar. Zu viel Dunkelheit liegt auf<br />

unserem Volk. Nur die wenigen vom Geist erhellten Köpfe können bei uns die Revolution<br />

bewirken. Und nur über geheime Verbindungen. Und weil er auf einem Geheimbund <strong>von</strong><br />

Stu<strong>de</strong>nten basiert, darum ist Alois’ Vorschlag im Kern gut, und ich unterstütze ihn.<br />

Vielleicht habt ihr recht, sagt Heinrich nach<strong>de</strong>nklich und versöhnt durch die unerwartete<br />

Zustimmung <strong>de</strong>s Professors. Ich kenne die Dunkelheit in <strong>de</strong>n Köpfen dieses Volkes, die<br />

Uneinigkeit und die Zersplitterung <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s, die Unentschlossenheit seiner Bürger ..., ja,<br />

sicher habt ihr recht. Aber ihr wer<strong>de</strong>t auch mir zustimmen, wenn ich sage: Man muss etwas<br />

wagen. Man muss einfach abspringen, vielleicht wird man sich dann selbst wun<strong>de</strong>rn, dass<br />

man plötzlich fliegen kann, aber man wird fliegen können, wenn man abzuspringen wagt.<br />

Da streckt <strong>de</strong>r Professor seine Hand über <strong>de</strong>n Tisch, Tränen stehen in seinen Augen, sie<br />

schütteln sich eine Weile die Hän<strong>de</strong>, sehen sich an dabei, Michel ist gerührt, und gleichzeitig<br />

ist es ihm peinlich, aber er weiß nicht, warum. Er <strong>de</strong>nkt auch nicht darüber nach.<br />

Um zu <strong>de</strong>m noch offenen dritten Punkt zu kommen, fährt Effenberger schließlich unbeirrt in<br />

seinem Programm fort, schlage ich vor, dass ich in Zusammenarbeit mit meinen Gießener<br />

Freun<strong>de</strong>n die Statuten unseres Geheimbun<strong>de</strong>s entwerfen und euch bei unserem nächsten<br />

Treffen - in einem Vierteljahr zur gleichen Stun<strong>de</strong> an dieser Stelle - zur Bestätigung vorlegen<br />

wer<strong>de</strong>. Eins nur lasst uns schon heute beschließen: Wir fünf bil<strong>de</strong>n <strong>de</strong>n Vorstand <strong>de</strong>s<br />

Bun<strong>de</strong>s, und unsere Losung sei: Deutschlands Freiheit.<br />

Deutschlands Freiheit! sagte er laut vor sich hin, <strong>de</strong>r Leutnant Michel Marten, in <strong>de</strong>r Uniform<br />

Bonapartes, in <strong>de</strong>r <strong>Bernsdorf</strong>er Kirche. Und er lachte hilflos, und es hallte wi<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r<br />

leeren Kirche, die Worte und das Lachen.<br />

Plötzlich sprang er auf und lief zur Orgel, zog die Register, griff in die Tastatur, es störte ihn<br />

nicht, dass keine Töne kamen, er hörte trotz<strong>de</strong>m, was er spielte. (Wie hieß nur dies Dorf,<br />

dachte er flüchtig, in <strong>de</strong>ssen Kirche ich nach unserer Flucht aus Erfurt auch tonlos spielte,<br />

um mich vor <strong>de</strong>r Angst zu retten?)<br />

Nur für ihn hörbar, erklang das Adagio aus <strong>de</strong>m Italienischen Konzert <strong>de</strong>s Johann Sebastian


Bach. Die verhaltene Trauer <strong>de</strong>s Satzes griff auf ihn über und beruhigte ihn, da dachte er:<br />

Mir scheint, dieser Bach wusste hun<strong>de</strong>rt Jahre zuvor besser über Deutschlands Freiheit<br />

Bescheid als wir heute...<br />

Als das Adagio zu En<strong>de</strong> ging, dachte er an die ausgelassene Fröhlichkeit <strong>de</strong>s<br />

Schlusssatzes, war versucht, sie dieser tapferen Trauer hinzuzufügen, legte schon die<br />

Hän<strong>de</strong> auf die Tasten - nahm sie wie<strong>de</strong>r zurück. Woher, Johann Sebastian, nahmst du <strong>de</strong>nn<br />

so starke Zuversicht? So viel Lebenskraft? Wie nur war es dir möglich, die Trauer dieses<br />

Satzes - Trauer über das Sosein und das <strong>Das</strong>ein - aufzuheben in ursprünglich-naive Freu<strong>de</strong>,<br />

Freu<strong>de</strong> über das <strong>Das</strong>ein, das Ich-lebe? <strong>Das</strong> war doch nicht <strong>de</strong>ine Frömmigkeit. Denn dies<br />

ist ganz irdisch. Ist kraftvoller Lebenswille.<br />

Da war ihm zum ersten Mal bewusst gewor<strong>de</strong>n, was er an seinem Bach so liebte: diesen<br />

Lebenswillen, <strong>de</strong>r stark und ganz unpathetisch in all seinen Kompositionen aufklang, <strong>de</strong>r in<br />

<strong>de</strong>r Trauer nicht weniger zu hören war als in <strong>de</strong>r Freu<strong>de</strong>, <strong>de</strong>r die Weisheit dieser Musik<br />

ausmachte, ihre ursprüngliche Heiterkeit und ihre tiefe Traurigkeit, die nie Verzweiflung war.<br />

Spielerisch schlug er das b-a-c-h-Motiv an, variierte es über einige Takte, brach plötzlich<br />

ab, jetzt störte es ihn, dass die Musik nicht hörbar war. Eilig und ohne sich umzusehen, lief<br />

er die Treppe hinunter und aus <strong>de</strong>r Seitentür hinaus, zu <strong>de</strong>r sein Schlüssel passte,<br />

verschloss die Tür und dachte nicht an <strong>de</strong>n Mann, <strong>de</strong>n er damit einschloss.<br />

Denn Heinrich Marten war noch in <strong>de</strong>r Kirche.<br />

Er hatte <strong>de</strong>n Blasebalg getreten, solange die Orgel gespielt hatte. Als sie schwieg,<br />

minutenlang, glaubte er die Arbeit getan. Er erinnerte sich nicht mehr, wer ihn<br />

hierhergebracht hatte. Sehr bald erinnerte er sich auch nicht mehr, was er hier zu tun hatte,<br />

obwohl er versuchte, darauf zu kommen. Er erinnerte sich einzig an seinen Flugapparat in<br />

<strong>de</strong>r Kapelle. Und damit an sein Vorhaben, so bald wie möglich vom Turm <strong>de</strong>r Kirche aus<br />

abzufliegen. Also stieg er die Wen<strong>de</strong>ltreppe hinter <strong>de</strong>r Orgel nicht hinab, son<strong>de</strong>rn hinauf: in<br />

<strong>de</strong>n Turm. Er betrachtete aufmerksam die Schalllöcher, eins nach <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren, und sagte<br />

laut: Sie sind zu klein. Da fiel sein Blick auf das Dach über ihm und einen losen Dachziegel<br />

darin, er lächelte zufrie<strong>de</strong>n und begann langsam und vorsichtig das Dach abzu<strong>de</strong>cken.


3<br />

Es war noch nicht einmal sieben Uhr, als Michel aus <strong>de</strong>r Kirche heraustrat und ins Dorf ging.<br />

Der Schnee knirschte unter seinen Stiefeln. Es friert Stein und Bein, dachte er, jetzt könnte<br />

man wohl nach J. über <strong>de</strong>n See reiten.<br />

Hier und dort sah er Menschen - vor <strong>de</strong>n Häusern, bei <strong>de</strong>n Ställen, sie grüßten ihn ohne<br />

Scheu und ohne die stumme Missbilligung, die er noch gestern Vormittag auf <strong>de</strong>m Friedhof<br />

in ihren Augen gefun<strong>de</strong>n hatte.<br />

Er hatte am vergangenen Abend noch sehr lange in <strong>de</strong>r Kate <strong>de</strong>s Lemke-Karl-Wilhelm<br />

gesessen, hatte mit August die Bittschrift aufgesetzt; da war <strong>de</strong>r eine und <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re aus<br />

<strong>de</strong>r Nachbarschaft dazugekommen, schließlich saßen zehn, zwölf Leute um <strong>de</strong>n Tisch<br />

herum, die alle ihre Meinung zur Bittschrift sagen wollten, hier verlangten sie ein Wort<br />

dazuzusetzen und dort eins zu streichen, es wur<strong>de</strong> eine emsige, lange Arbeit. Schließlich<br />

waren sie zufrie<strong>de</strong>n mit ihrem Werk, da brachte August zu En<strong>de</strong>, was er Stun<strong>de</strong>n zuvor, im<br />

Pfer<strong>de</strong>stall, begonnen hatte: Wenn es nun trotz - o<strong>de</strong>r wegen! - <strong>de</strong>r Bittschrift Krach geben<br />

sollte mit <strong>de</strong>m Baron, was dann er, Michel Marten, täte und was <strong>von</strong> <strong>de</strong>n französischen<br />

Soldaten zu erwarten sei.<br />

Peinliche Stille, sekun<strong>de</strong>nlang.<br />

Endlich sagte Michel: Zumin<strong>de</strong>st und auf je<strong>de</strong>n Fall - Neutralität.<br />

Na ja, sagte August, das ist schon immerhin etwas. Und nun erzähl uns mal was, Michel. Ich<br />

hab doch allen gesagt, dass du heute Abend erzählen willst, etwas ganz Aufregen<strong>de</strong>s, auch<br />

darum sind doch jetzt hier so viele Menschen, da kannst du mich jetzt nicht im Stich lassen.<br />

Michel lachte. Was Aufregen<strong>de</strong>s? sagte er, mein Gott, ich hab viel Aufregen<strong>de</strong>s erlebt, seit<br />

ich aus <strong>Bernsdorf</strong> weg bin. In Frankreich? fragte jemand gespannt.<br />

Auch, sagte Michel, aber auch in Deutschland. Zum Beispiel in Erfurt, ja, das muss ich euch<br />

erzählen. Also in Erfurt, da war ich anno 1795 zusammen mit meinem Vater, <strong>de</strong>m Heinrich<br />

Marten, und <strong>de</strong>m Andreas Suhrbier, das ist <strong>de</strong>r Bru<strong>de</strong>r <strong>von</strong> <strong>de</strong>r Susanna <strong>von</strong> <strong>Bernsdorf</strong>. Wir<br />

gaben eine Zeitschrift heraus, die wir „<strong>Das</strong> neue grüne Ungeheuer“ nannten, sie war<br />

verboten, <strong>de</strong>nn sie rief zur Revolution in Deutschland auf. Wir mussten sehr vorsichtig sein.<br />

Als Druckort schrieben wir „Altona“, <strong>de</strong>nn in Altona durfte man so gut wie alles drucken,<br />

weil's dort keine Zensur gab. Da herrschten die Dänen. Darum gingen wir später nach<br />

Altona, als wir aus Erfurt fliehen mussten.<br />

Er sah sie <strong>de</strong>r Reihe nach an, sie hingen an seinen Lippen, mein Gott, dachte er, warum ist<br />

dies Volk angeblich untauglich, eine Revolution zu machen?<br />

Nu erzähl schon, drängte <strong>de</strong>r alte Lemke, siehst doch, wie wir drauf spannen. Immer, wenn<br />

jemand aus <strong>de</strong>r Welt da draußen zu uns kommt, fragen wir ihn aus, bis es ihm über wird.<br />

Haben wir mit meinem August auch gemacht, als er aus <strong>de</strong>m Krieg zurückkam. Die an<strong>de</strong>rn<br />

fünf <strong>Bernsdorf</strong>er, die mit ihm weg waren, die sind ja lei<strong>de</strong>r nicht zurückgekommen. Mussten<br />

irgendwo ins Gras beißen, die armen Hun<strong>de</strong>. Also, nu red schon, Marten-Michel.<br />

Na schön, sagte Michel, also stellt euch vor: Wir bei<strong>de</strong>, Andreas Suhrbier und ich, sitzen in


unserer Bu<strong>de</strong> in Erfurt - Hinterhof, so dunkel im Zimmer, dass man am helllichten Tag die<br />

Petroleumfunzel brennen muss, wenn man die eigene Schrift erkennen will. Wir arbeiten an<br />

<strong>de</strong>r übernächsten Nummer unseres „Neuen grünen Ungeheuers“. Mit <strong>de</strong>r fertigen<br />

kommen<strong>de</strong>n Nummer ist Heinrich - ich sagte immer Heinrich zu ihm, nie Vater - gera<strong>de</strong> auf<br />

<strong>de</strong>m Weg zu unserem Drucker. <strong>Das</strong> war ein braver, ehrlicher <strong>Buch</strong>händler, ein Patriot, ein<br />

<strong>Demo</strong>krat, <strong>de</strong>r ganz gut wusste, was er riskierte. Als er die vorige Nummer im Druck hatte -<br />

wir hatten da aufregen<strong>de</strong> Sachen geschrieben über <strong>de</strong>n Elendszug <strong>de</strong>r Mainzer Klubisten in<br />

die Erfurter Zita<strong>de</strong>lle und über die unmenschlichen Bedingungen, unter <strong>de</strong>nen die armen<br />

Leute dort leben mussten -, da war unser guter <strong>Buch</strong>händler zwischendurch zu uns gelaufen<br />

gekommen: Ob wir uns das auch gut überlegt hätten mit diesen Enthüllungen, dieser Artikel<br />

könne ihm <strong>de</strong>n Kopf kosten, <strong>de</strong>nn er müsse die Schnüffler direkt mit <strong>de</strong>r Nase auf Erfurt als<br />

Druckort stoßen. Da hat <strong>de</strong>r Heinrich zu ihm gesagt: Stell dir vor, <strong>de</strong>in Sohn läge dort in <strong>de</strong>r<br />

Zita<strong>de</strong>lle und müsste lebendig verfaulen, und dann sag: Nehmt <strong>de</strong>n Artikel raus. Dann tu<br />

ich’s. Da hat er sich geschämt, <strong>de</strong>r Alte, hat gesagt: Ist schon gut, ich druck’s. So einer war<br />

das. - Aber seit dieser Nummer, da war uns nicht mehr ganz geheuer, da fühlten wir uns<br />

wie auf einem Pulverfass sitzend. Und <strong>von</strong> unseren Freun<strong>de</strong>n in Würzburg und Wetzlar, mit<br />

<strong>de</strong>nen wir im Jahr zuvor einen Geheimbund gegrün<strong>de</strong>t hatten, Menschheitsbund nannte er<br />

sich, hatten wir schon eine ganze Weile nichts mehr gehört. Wir kamen uns vor wie allein<br />

auf einer einsamen Insel, wisst ihr, das ist ein dummes Gefühl, Pulverfass und Insel<br />

zusammen ...<br />

Wir hocken also da in unserer Kammer und arbeiten und tun, als seien wir guter Dinge und<br />

ahnen doch, dass bald etwas geschehen wird. Da stürzt Heinrich herein, bleich und<br />

schweißnass: Die Druckerei sei umstellt, sagt er, <strong>de</strong>n Alten hätten die Gendarmen<br />

abgeführt, er, Heinrich, habe sich mit Mühe und Not über Hinterhöfe bis zu uns geflüchtet,<br />

doch je<strong>de</strong>n Moment könnten die Häscher da sein, er sei nicht sicher, ob sie seine Spur<br />

tatsächlich verloren hätten. - Wir also hoch - ein paar Sachen zusammengerafft, das meiste<br />

versteckt, durch die Hintertür fort, je<strong>de</strong>r für sich aus <strong>de</strong>r Stadt hinaus, je<strong>de</strong>r durch ein<br />

an<strong>de</strong>res Tor. Wie durch ein Wun<strong>de</strong>r kamen wir alle drei unbehelligt hinaus, abends trafen<br />

wir uns, wie verabre<strong>de</strong>t, in einem Dorf im Krug. Wir glaubten uns in Sicherheit. Saßen ganz<br />

ruhig im Hinterzimmer beim Rotwein, beratschlagten, was nun anzufangen sei. Da kommt<br />

die Wirtin an unseren Tisch, eine hübsche dralle Person, aufgeregt ist sie, sieht uns<br />

forschend <strong>de</strong>r Reihe nach an, sagt: Eben sind Soldaten <strong>de</strong>s Erzbischofs rein, beschnuppern<br />

vorn alle Gäste, meinen die euch? Heinrich springt gleich auf, da wusste sie Bescheid, aber<br />

sie war in Ordnung, die Frau! Winkt uns schnell, wir sollten mitkommen, bringt uns in ein<br />

Gästezimmer, hoch oben unterm Dach, holt für je<strong>de</strong>n einen Rock, eine Bluse, ein Mie<strong>de</strong>r,<br />

Strümpfe. Bezahlt ihr mir das wenigstens, fragt sie, und wir sehen: Sie tut’s nicht nur<br />

unseretwegen, sie hat tüchtige Angst, und das Geld ist ihr auch nicht gleich. Na, wir<br />

bezahlen natürlich. Sie geht. Wir haben uns gera<strong>de</strong> in thüringische Bauernmädchen<br />

verwan<strong>de</strong>lt, da poltern sie die Treppen hoch, die Herren Soldaten, plauzen die Türen, eine<br />

nach <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren, reißen auch unsere auf, werfen einen kurzen Blick auf uns „Weiber“,<br />

gehen wie<strong>de</strong>r, fluchend. Und wir setzen uns auf die Betten. Und wischen uns <strong>de</strong>n Schweiß<br />

ab. Dauert nicht lange, da kommt unsere Frau Wirtin. Sie lächelt sogar: Wie haben wir das<br />

gemacht? Aber dann hört sie auf zu lächeln. Über Nacht behalt ich euch nicht, sagt sie. Wer


weiß, die kommen vielleicht noch mal. Vielleicht lässt euch <strong>de</strong>r Pfarrer in <strong>de</strong>r Kirche<br />

übernachten. Ist ein Patriot, <strong>de</strong>r Pfarrer. Wie viele hier. Morgen früh schick ich je<strong>de</strong>m <strong>von</strong><br />

euch noch einen Marktkorb, da kommt ihr gewiss unbehelligt über die Grenze. Ist ja nicht<br />

mehr weit. - Damit hatte sie recht, wir sind am nächsten Tag unbehelligt aus <strong>de</strong>m<br />

Erfurtischen herausgekommen. Aber in <strong>de</strong>r Nacht, dort in <strong>de</strong>r Kirche, da flogen uns doch<br />

ganz schön die Hosen. Vielmehr die Röcke. Da versteckten wir uns hinterm Altar; <strong>de</strong>r<br />

Heinrich schrieb einen verzweifelten Brief nach Hamburg an Andreas' Vater, <strong>de</strong>r alte<br />

Suhrbier muss gedacht haben, wir seien kurz vor <strong>de</strong>r Hinrichtung, zum Glück waren wir<br />

früher in Hamburg als <strong>de</strong>r Brief. Und kalt war’s in <strong>de</strong>r Kirche. Und je<strong>de</strong>n Moment glaubten<br />

wir die Türen gehen und Soldatenstiefel poltern zu hören. Endlich war mir das Gebibbere<br />

über, und schließlich waren wir ja in einer Kirche - ich hatte schon eine Ewigkeit keine<br />

Orgeltasten mehr unter <strong>de</strong>n Fingern gespürt. Ich sage also: Ich spiele jetzt die Orgel. Die<br />

bei<strong>de</strong>n, zu To<strong>de</strong> erschrocken: Bist du verrückt? Aber ich hab sie schnell beruhigt: Keiner<br />

tritt <strong>de</strong>n Blasebalg, also wird man nichts hören. Und dann hab ich <strong>de</strong>n Rest <strong>de</strong>r Nacht Orgel<br />

gespielt, für mich. Da hatte ich plötzlich vor nichts und nieman<strong>de</strong>n mehr Angst, versteht ihr?<br />

Ja, sagte August, das verstehe ich. Wart ihr <strong>de</strong>nn nicht auch mit <strong>de</strong>m Junker Joachim<br />

zusammen, <strong>de</strong>r war doch um die Zeit noch immer zerstritten mit seinem Vater, weil er <strong>de</strong>n<br />

Franken anhing, nicht?<br />

<strong>Das</strong> schon, sagte Michel, aber wir waren mit ihm auch zerstritten, August. Er war damals in<br />

Jena und been<strong>de</strong>te sein Studium, vom Baron kriegte er zwar keinen Pfennig Geld mehr,<br />

aber dafür durch heimliche Vermittlung <strong>de</strong>r Baronin <strong>von</strong> <strong>de</strong>r Bülowschen Verwandtschaft.<br />

Jaja, sagte <strong>de</strong>r alte Lemke, das wissen wir vom Ta<strong>de</strong>usz, aber wieso war er <strong>de</strong>nn mit euch<br />

zerstritten?<br />

<strong>Das</strong> ist schwer zu erklären, sagte Michel zögernd. Er war für die Franken, <strong>de</strong>r Joachim, und<br />

war auch nicht mehr für sie, nicht mehr für die Revolution, wie sie jetzt aussah, versteht ihr?<br />

Wir wollten ihn für unseren Menschheitsbund gewinnen, aber er schrieb uns, er sehe keinen<br />

Sinn mehr in solchen Vereinigungen, und wenn wir uns nach wie vor zu <strong>de</strong>n radikalen<br />

Kräften <strong>de</strong>r Revolution bekennen sollten, dann brauchten wir ihm nicht mehr unter die Augen<br />

zu kommen. Die Verbrechen <strong>de</strong>r Jakobiner in <strong>de</strong>r Vendée seien nicht weniger<br />

verabscheuungswürdig als die <strong>de</strong>s Mainzer Erzbischofs; ein System, das nichtswürdigen,<br />

elen<strong>de</strong>n Kreaturen wie einem Carrier die Macht gebe, Frauen, Greise und Kin<strong>de</strong>r zu<br />

Tausen<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r Loire zu ertränken, sei ein verbrecherisches System. Und die erhabenste<br />

I<strong>de</strong>e wer<strong>de</strong> niedrig und klein, wenn in ihrem Namen Unmenschlichkeiten geschehen könnten.<br />

Da hat es nichts geholfen, dass wir ihm entgegenhielten: Ohne die Härte <strong>de</strong>r Jakobiner<br />

gäbe es keine französische Republik mehr, hätte <strong>de</strong>r Braunschweiger inzwischen seine<br />

anmaßen<strong>de</strong> Drohung wahr gemacht und Paris in Schutt und Asche gelegt. Und dieser<br />

Carrier - <strong>de</strong>n wir übrigens nicht weniger verachteten als Joachim - beschmutze durch seine<br />

Untaten nicht die I<strong>de</strong>e, son<strong>de</strong>rn sich selbst; dass man die beste I<strong>de</strong>e missbrauchen könne,<br />

spreche nicht gegen die I<strong>de</strong>e, son<strong>de</strong>rn gegen die Menschen, durch die das geschehe.<br />

Lange Briefe schrieben wir an Joachim, aber er antwortete schließlich nicht mehr. Ich weiß<br />

nicht, ob ihr das versteht.


Und Marianne war nicht mehr bei ihm, dachte Michel, war Bürgerin <strong>de</strong>r französischen<br />

Republik gewor<strong>de</strong>n ...<br />

Es ist schon schwer zu verstehen, sagte August.<br />

Ach was, sagte sein Vater, Junker bleibt Junker.<br />

Michel meinte, das sei doch wohl zu einfach erklärt, aber <strong>de</strong>r Alte blieb bei seinem Satz:<br />

Junker bleibt Junker, wie<strong>de</strong>rholte er, und wenn du mir jetzt ein Beispiel erzählst, wo das<br />

nicht so war, sag ich auch bloß: Na schön, Ausnahmen gibt’s eben immer, Marten-Michel.<br />

Da gab Michel es auf und erzählte keins <strong>de</strong>r vielen Beispiele, an die er dachte.<br />

Und als er nun, am folgen<strong>de</strong>n Morgen, sehr früh noch, nicht einmal sieben Uhr hatte es<br />

geschlagen, aus <strong>de</strong>r Kirche kam und ins Dorf ging, um sein Versprechen einzulösen: <strong>de</strong>n<br />

französischen Soldaten für diesen Tag Ruhe und Nichteinmischung zu befehlen, da sagte er<br />

sich sogar: Vielleicht hat er wirklich recht? Vielleicht be<strong>de</strong>uten alle meine schönen Beispiele<br />

gar nichts gegen seine Erfahrung?


4<br />

Der Baron stand auf <strong>de</strong>r obersten Stufe <strong>de</strong>r Freitreppe: Haltung militärisch-stramm, Gesicht<br />

mürrisch-leutselig. In <strong>de</strong>n Knöpfen seiner Uniform funkelte die Sonne, die, schräg vom See<br />

her, durch die kahlen dünnen Äste <strong>de</strong>r hohen Bäume auf ihn fiel, <strong>de</strong>n Hauptakteur, Held <strong>de</strong>s<br />

Tages im Rampenlicht. Die Farbe seines Rocks glich <strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Schnees auf <strong>de</strong>n<br />

Treppenstufen.<br />

Zu Füßen <strong>de</strong>r Treppe stan<strong>de</strong>n sie im Schatten: die <strong>Bernsdorf</strong>er. Eng aneinan<strong>de</strong>rgedrängt,<br />

ein dunkler Fleck, hinter ihm Park und See, vor ihm die Treppe. Seitlich die Kin<strong>de</strong>r;<br />

Schulmeister Johannes Rietz humpelte an <strong>de</strong>r schnurgera<strong>de</strong>n Reihe entlang, schubste hier,<br />

rückte dort; aus Holzpantinen, unter <strong>de</strong>nen sich <strong>de</strong>r Schnee ballte, froren ein paar Dutzend<br />

dünne Beine hervor. Verstohlen hebt sich hier und dort eins und reibt sich am an<strong>de</strong>ren.<br />

Obwohl man darauf gewartet hatte, zuckten alle zusammen, als die Kin<strong>de</strong>r plötzlich zu<br />

singen begannen: „Lobet <strong>de</strong>n Herren, <strong>de</strong>n mächtigen König <strong>de</strong>r Ehren.“ Sie sangen laut,<br />

rissen die Mün<strong>de</strong>r weit auf, die Töne gefroren zu weißen Dampfwölkchen vor<br />

Kin<strong>de</strong>rgesichtern.<br />

Aus <strong>de</strong>r Tür heraus und über die Treppe schob sich nun das Gefolge <strong>de</strong>s Hel<strong>de</strong>n:<br />

Dorothea, Joachim, Henriette und Janke marschierten hinter <strong>de</strong>m alten Herrn auf.<br />

„Lasset <strong>de</strong>n Lobgesang hören.“ Die Mün<strong>de</strong>r klappten zu, die Dampfwölkchen wur<strong>de</strong>n<br />

kleiner. Pfarrer Kienast stand plötzlich neben <strong>de</strong>m lahmen Rietz, sprach die Freitreppe<br />

hinauf wohlgeformte, endlos lange Sätze, Lob <strong>de</strong>s Herrn <strong>von</strong> <strong>Bernsdorf</strong>, Glückwünsche,<br />

langes Leben und Gottes Segen und diese Re<strong>de</strong>nsarten; dann ließ er <strong>de</strong>n oben Stehen<strong>de</strong>n,<br />

<strong>de</strong>n Hauptakteur, hochleben, dreimal, wie es sich gehörte, mit auffor<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>r Geste zum<br />

dunklen Fleck <strong>de</strong>r <strong>Bernsdorf</strong>er hinter ihm; das Echo, dreimal, blieb nicht aus, klang aber<br />

gefroren.<br />

Nun wie<strong>de</strong>r die Kin<strong>de</strong>r; es läuft wie am Schnürchen, sagt das zufrie<strong>de</strong>ne Kienast-Gesicht.<br />

Es schien <strong>de</strong>n Herrn Pfarrer nicht zu stören, dass jetzt „Ein feste Burg ist unser Gott“<br />

gesungen wur<strong>de</strong>, er sah sich nicht nach <strong>de</strong>n <strong>Bernsdorf</strong>bauern um, er sah <strong>de</strong>n August Lemke<br />

nicht, also störte ihn auch nicht dieses „Und wenn die Welt voll Teufel wär ...“.<br />

August Lemke, in <strong>de</strong>r ersten Reihe <strong>de</strong>s dunklen Flecks stehend, hatte bisher nervös die<br />

Hän<strong>de</strong> geknetet, ab und zu auch nach <strong>de</strong>m Zettel im Sonntagsrock gefühlt; jetzt stand er<br />

plötzlich still, und in seinen Augen leuchtete etwas, das ihm nur aus diesen Worten<br />

gekommen sein konnte: „Es muss uns doch gelingen ... Ein Wörtlein kann ihn fällen.“ Und<br />

mit Sicherheit ist anzunehmen, dass er weniger fromme Gedanken dabei hatte als weiland<br />

<strong>de</strong>r Herr Martin Luther zu Wittenberg.<br />

„<strong>Das</strong> Reich muss uns doch bleiben.“<br />

August machte einen Schritt nach vorn, zog dabei <strong>de</strong>n Zettel aus <strong>de</strong>r Tasche, faltete ihn<br />

umständlich auseinan<strong>de</strong>r. Und las. (Er liest nicht stockend. Er war, das ist lange her, ein<br />

Lieblingsschüler <strong>de</strong>s Jakob Marten. Dich würd ich studieren schicken, wenn ich könnte, hat<br />

<strong>de</strong>r alte Marten zu ihm gesagt, aber ich kann nicht mal <strong>de</strong>n Michel schicken ...) Zuerst die<br />

Gratulation. Es fehlte nicht das Wort „untertänigst“. Dann die Bitte um Nachsicht - kein


Präsent zum Geburtstag, keine Gans, keine Eier, nichts, <strong>de</strong>nn es sei nichts da in ihren<br />

Katen, nichts. <strong>Das</strong> ist schon die Überleitung zu ihren Bitten. Untertänigst. Die französische<br />

Einquartierung möge vom Schloss verpflegt wer<strong>de</strong>n. Insbeson<strong>de</strong>re die Pfer<strong>de</strong>. Und <strong>de</strong>r<br />

Baron möge sich <strong>de</strong>s Hungers <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r erbarmen. Und auch <strong>de</strong>s Viehs. Damit niemand<br />

Hungers sterben müsse über Winter, das Vieh nicht und die Kin<strong>de</strong>r nicht. Und <strong>de</strong>r Baron<br />

möge ihnen öffentlich zusichern, dass er die Oktobergesetze anerkenne und zu befolgen<br />

ge<strong>de</strong>nke, dass sie also nicht mehr erbuntertan seien, und er möge ihnen die Bedingungen<br />

bekannt geben, unter <strong>de</strong>nen sie auch <strong>von</strong> ihren Lasten und Abgaben befreit wer<strong>de</strong>n<br />

könnten.<br />

Er sah nicht auf <strong>von</strong> seinem Zettel, <strong>de</strong>r Lemke-August. (Denn wenn er auch Jakob Martens<br />

Lieblingsschüler gewesen ist - das ist lange her, und Übung hat er nicht in dieser Art<br />

Tätigkeit.) So konnte er nicht sehen, was das Gesicht <strong>de</strong>s Barons re<strong>de</strong>te. Die an<strong>de</strong>ren<br />

sahen es. Zuerst war da diese mürrische Leutseligkeit: Bin heut siebzig, sagte das Gesicht,<br />

bin noch gut bei Sache, Kruzitürken, werd's noch ’ne Weile machen. Dann ein wenig<br />

verächtliche Überlegenheit: Nichts zu schenken habt ihr, ach, ihr armen Schweine, werd<br />

aber nicht dran krepieren, Himmelsakra! Und gleich danach ungläubiges Erstaunen: Hör ich<br />

richtig? Bitten? Teufel, was ist das? Und dann ging das Erstaunen langsam in Wut über; die<br />

Wangenmuskeln zuckten, zusammengepresst <strong>de</strong>r Mund, ein Strich unterm zittern<strong>de</strong>n<br />

Schnurrbart.<br />

Warum blieb er geschlossen?<br />

August war mit <strong>de</strong>m Lesen fertig. Der dunkle Fleck geriet in schwache, kaum<br />

wahrnehmbare Bewegung: unruhig, ängstlich, erwartungsvoll stan<strong>de</strong>n sie und warteten.<br />

Sekun<strong>de</strong>n Stille, die je<strong>de</strong>m wie Minuten erschienen, dann <strong>de</strong>r alte Herr, beherrscht, fast<br />

leise: Wer hat verfasst, was er da gelesen?<br />

Ich, sagte August Lemke.<br />

Er ist <strong>de</strong>r Lemke-August?<br />

Ja, gnädiger Herr.<br />

Gedient?<br />

Ja, gnädiger Herr.<br />

Verwun<strong>de</strong>t gewesen?<br />

Ja, gnädiger Herr. Anno zweiundneunzig, Champagne.<br />

(Finsteres Baronsgesicht - Champagne, kein Ruhmesblatt in Preußens glorreicher<br />

Vergangenheit ...)<br />

Er hat heute Hochzeit?<br />

Ja, gnädiger Herr.<br />

Nach diesem Frage-Antwort-Spiel, in <strong>de</strong>m er nichts gefragt hatte, was er nicht selbst<br />

gewusst, räusperte sich Baron Wilhelm <strong>von</strong> <strong>Bernsdorf</strong>, er schien ganz ruhig und ohne je<strong>de</strong>n<br />

Zorn zu sein, er stemmte die Fäuste in die Seiten und wippte in <strong>de</strong>n Knien. Mal herhören,


Leute, sagte er forsch. Heut mein Geburtstag, bekannt, ja. Wenn nicht - Kruzitürken,<br />

Knotenstock her und diesem Kujon hier <strong>de</strong>n Buckel verbläuen! Räsonieren gibt’s nicht auf<br />

<strong>Bernsdorf</strong>, verstan<strong>de</strong>n? Hab aber heut gute Laune, Kerl kommt ins Loch, eine Woche, klar?<br />

Hat Hochzeit, weiß ich doch, kommt also erst morgen ins Loch. Hoffe, ihr wisst zu schätzen,<br />

Leute, wie ich bin zu euch. Streng und gerecht, aber Ordnung, verdammt, Ordnung muss<br />

sein. Und Er, Lemke-August, mach nu man erst Hochzeit, morgen re<strong>de</strong>n wir weiter. Kann<br />

sein, ich schenk Ihm das Loch. Zur Hochzeit. Hab weiter nichts zu verschenken, geht mir<br />

wie euch, Leute. Hähähä, ein Loch zur Hochzeit!<br />

Er lachte ausgiebig über seinen Witz, nahm nicht zur Kenntnis, dass niemand lachte außer<br />

ihm. Wur<strong>de</strong> aber gleich wie<strong>de</strong>r ernst und sagte: Schenk ihm tatsächlich Bestrafung, Lemke.<br />

Bedingung: Er gibt mir schriftlich, nie mehr zu räsonieren. Wilhelm <strong>von</strong> <strong>Bernsdorf</strong> heiß ich,<br />

basta. Spaß versteh ich. Nehm das heute als Spaß. Abtreten!<br />

Er drehte sich so plötzlich um, dass er Dorothea hinter sich fast umriss, marschierte steif<br />

und fest über die Terrasse, war verschwun<strong>de</strong>n, ehe sich einer <strong>de</strong>r Leute im Park auch nur<br />

gerührt hatte. So war er <strong>de</strong>r einzige, <strong>de</strong>r seinem Befehl gefolgt war.


5<br />

Sacré matin, sacré chien, sacrée soutane, fluchte Jean-Pierre leise vor sich hin, schloss<br />

das Fenster und warf sich auf sein Bett. Da habt ihre eure Preußen, sagte er giftig. Ein<br />

Spaß, ein Kin<strong>de</strong>rspiel, sacrée mer<strong>de</strong>!<br />

Andreas und Michel, am Fenster, blickten auf die Leute, die unschlüssig auf <strong>de</strong>r Stelle<br />

traten; mit Ausnahme <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r und ihres Schulmeisters trat noch immer niemand ab.<br />

Wenn er das nur nicht bereuen wird, <strong>de</strong>r Herr <strong>von</strong> <strong>Bernsdorf</strong>, flüsterte Michel. Er zitterte.<br />

Andreas sah ihn <strong>von</strong> <strong>de</strong>r Seite an. Was hast du <strong>de</strong>nn erwartet, Michel, sagte er, so und<br />

nicht an<strong>de</strong>rs musste er doch reagieren, <strong>de</strong>r Herr Baron, nimm dir das um Gottes willen nicht<br />

zu Herzen. Trotz<strong>de</strong>m wird die Geschichte um <strong>Bernsdorf</strong> keinen Bogen machen, irgendwann<br />

...<br />

Irgendwann, fuhr Michel auf, keinen Bogen machen, was sollen diese Re<strong>de</strong>nsarten,<br />

Andreas, Herrgott, du hast wahrhaftig <strong>de</strong>inen Frie<strong>de</strong>n gemacht mit <strong>de</strong>r Welt. Hier!<br />

Er griff in die Tasche und zog ein Stück schwarzen Stoff heraus. Erinnerst du dich<br />

wenigstens noch daran, ja?<br />

Ja natürlich, sagte Andreas, sagte es ohne Erstaunen und ohne Verlegenheit. Stell dir vor,<br />

gera<strong>de</strong> da<strong>von</strong> hab ich geträumt, heute Morgen. Seltsam. Aber du wirst doch zugeben,<br />

Michel, es waren Kin<strong>de</strong>reien, die wir vorhatten. Gesetzt <strong>de</strong>n Fall, unser Zug auf Mainz wäre<br />

zustan<strong>de</strong> gekommen, bevor die Franzosen die Stadt sowieso zurückeroberten - die<br />

Preußen hätten uns jämmerlich in die Flucht geschlagen. Und auch das Unwahrscheinliche<br />

unterstellt, wir wären vor Mainz siegreich gewesen - keine Hand im übrigen Deutschland<br />

hätte sich für uns gerührt, es sei <strong>de</strong>nn, um heimlich Beifall zu klatschen, heimlich. Ist dir das<br />

<strong>de</strong>nn nicht klar? Ganz abgesehen da<strong>von</strong>, dass so, wie wir es angefangen hatten, niemals<br />

etwas daraus wer<strong>de</strong>n konnte. Konspiration und Geheimbün<strong>de</strong>lei, aber dazu diese<br />

Vertrauensseligkeit, mit <strong>de</strong>r wir überall neue Mitglie<strong>de</strong>r warben - wie ein Wun<strong>de</strong>r erscheint<br />

es mir heute, dass dabei nur dieser eine Verräter sich eingeschlichen hatte. Und was die<br />

meisten <strong>de</strong>r Leute wert waren, das hat man dann gesehen, als die Sache aufflog: Alle sind<br />

sie zu Kreuze gekrochen. Weißt du, dass Alois ein Zettelchen unterschrieben hat, er wer<strong>de</strong><br />

sich für <strong>de</strong>n Rest seines Lebens je<strong>de</strong>r politischen Tätigkeit enthalten? Und er hat sich<br />

danach gerichtet, all die Jahre! Woher ich das weiß? Weil ich ihn später wie<strong>de</strong>rgetroffen<br />

habe. Da war er ein wohlbestallter Mediziner in Würzburg. Und sein Professor, unser<br />

weiser Kopf? Der war sogar <strong>de</strong>r Verhaftung entgangen. Was hat er dafür unterschrieben?<br />

Ich weiß es nicht. Aber das weiß ich: Ihn dürftest du heute nicht mehr an diesen Stofffetzen<br />

erinnern, mon ami, er würd dich glatt vor die Tür setzen. Wer weiß, ob’s ihm je ganz ernst<br />

war. Einen Geheimbundtick hatte er. Vielleicht wollte er ein zweiter Weißhaupt o<strong>de</strong>r Knigge<br />

wer<strong>de</strong>n, Aufsehen erregen mit einem neuen Illuminatenor<strong>de</strong>n ... Du kannst sagen, was du<br />

willst, Michel Marten, die Rettung für Deutschland kann nur aus Frankreich kommen, und<br />

nach Robespierres Tod gibt es nur eine Alternative: Napoleon. Und hat er nicht schon viele<br />

Throne stürzen lassen, viele Grenzen fortgewischt, hat er uns nicht <strong>de</strong>n Co<strong>de</strong> civil gebracht,<br />

atmet man nicht auch im französischen Kaiserreich noch die Luft <strong>de</strong>r französischen<br />

Republik?


Aber arg verdünnt, sagte Michel mü<strong>de</strong> und drehte sich vom Fenster weg - draußen<br />

begannen die Menschen sich zu zerstreuen, in Gruppen aber und nicht schweigend.<br />

Bist ein rechter Volksredner, Andreas, sagte Michel, hast doch <strong>de</strong>n richtigen Beruf, kannst<br />

gewiss je<strong>de</strong>n heraus- o<strong>de</strong>r hereinre<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>n Prozessen, grad wie du's willst ... Denkst du<br />

<strong>de</strong>nn, ich steckte noch in dieser Uniform, wenn ich eine an<strong>de</strong>re Alternative wüsste als<br />

Bonaparte? Aber nicht schon seit Robespierres En<strong>de</strong>, Andreas. Danach war noch jemand.<br />

Erstaunt sah Andreas ihn an. Vielleicht die Thermidorianer? fragte er verblüfft, Barras etwa,<br />

ja?<br />

Unsinn, sagte Michel Marten.<br />

Babeuf, sagte Michel Marten.<br />

Babeuf. Der Name füllte plötzlich das kleine Zimmer. Andreas setzte sich schweigend auf<br />

das freie Bett, und Jean-Pierre, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Gespräch <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n bisher angestrengtaufmerksam<br />

zugehört hatte, wie<strong>de</strong>rholte leise: Babeuf.<br />

Schließlich zuckte Andreas mit <strong>de</strong>n Schultern und sagte: Babeuf war ein Narr.<br />

Einen Augenblick lang sah es so aus, als wollte Michel sich auf ihn stürzen. Er bezwang sich<br />

aber, suchte erregt nach einer beson<strong>de</strong>rs starken Erwi<strong>de</strong>rung, fand keine, sagte schließlich:<br />

Babeuf war ein Heiliger.<br />

Also ein heiliger Narr o<strong>de</strong>r ein närrischer Heiliger, fasste Jean-Pierre zusammen, lachte<br />

aber nicht, fuhr fort: Er war nicht mehr und nicht weniger närrisch als ihr.<br />

Ich muss jetzt zum Lemke-August, sagte Michel unvermittelt, und außer<strong>de</strong>m, habt ihr <strong>de</strong>n<br />

Toten-Heinrich heute Vormittag schon gesehen?<br />

Sie schüttelten die Köpfe. Wer ist <strong>de</strong>nn das? fragte Andreas erstaunt.<br />

Michel sah ihn unsicher an, sagte aber nichts. Ich kann mir schon <strong>de</strong>nken, was du <strong>von</strong> ihm<br />

willst, Michel, sagte Jean-Pierre, und es könnte die richtige Spur sein, nur ist damit nichts<br />

gewonnen, weil er nicht zurechnungsfähig ist.<br />

Was re<strong>de</strong>st du nur, fragte Michel verwun<strong>de</strong>rt, <strong>de</strong>nkst du etwa an <strong>de</strong>n Leutnant Bertrand und<br />

seinen geheimnisvollen Tod? Meinst du, dieser Irre könnte ...<br />

Mein ich, sagte Jean-Pierre.<br />

Er habe schon ziemlich viele Erkundigungen eingezogen, wann und wo Bertrand zuletzt<br />

gesehen wor<strong>de</strong>n sei, alles liefe darauf hinaus, dass <strong>de</strong>r Irre ihn an <strong>de</strong>n See gelockt und<br />

aufs brüchige Eis gestoßen habe. Bertrand habe sich für diesen Flugapparat interessiert<br />

und häufig in <strong>de</strong>r Kapelle bei <strong>de</strong>m Verrückten gehockt.<br />

Michel schüttelte ungläubig <strong>de</strong>n Kopf. Wenn du dich da nur nicht irrst, Jean-Pierre, sagte er,<br />

man sieht doch, dass dieser Mensch keiner Fliege was zulei<strong>de</strong> tun kann. Aber ich geh nun<br />

ins Dorf.<br />

Misch dich da aber nicht ein, sagte Jean-Pierre, unsere Sache ist das nicht.<br />

Doch Michel zuckte mit <strong>de</strong>n Schultern, sagte: Ich hab doch <strong>de</strong>m August diese Bittschrift


eingere<strong>de</strong>t, ich kann ihn doch nun nicht allein damit lassen. Und was heißt „unsere Sache“?<br />

Vielleicht ist es tatsächlich auch meine Sache?<br />

Verdammt, rief Jean-Pierre und packte Michel an <strong>de</strong>n Schultern, wir haben doch unsere<br />

Instruktionen, Michel, überleg dir das.<br />

Ja, sagte Michel, aber darüber <strong>de</strong>nk ich nicht erst seit gestern und heute nach, mon ami:<br />

über diese Instruktionen.<br />

Auf <strong>de</strong>r Treppe stand er plötzlich Henriette gegenüber. Darauf war er nicht vorbereitet, und<br />

er konnte nicht verbergen, dass ihr ratlos-verstörtes Gesicht ihn traf. Wie an<strong>de</strong>rs wäre es<br />

sonst zu erklären, dass sie - ohne zu überlegen - nach seinen Hän<strong>de</strong>n griff. Was nun,<br />

Michel, was nun? fragte sie.<br />

Was nun? Hatte er sich das nicht noch eben selbst gefragt? Aber jetzt sagte er, als habe er<br />

es immer gewusst: Keine Angst, Henriette. Sie wer<strong>de</strong>n es sich nicht bieten lassen. Der Tag<br />

hat gera<strong>de</strong> erst begonnen, Henriette.<br />

Stehst du zu ihnen? Offen? fragte sie. Aber nur ihre Worte fragten, in ihrer Stimme und in<br />

ihrem Blick gab es keinen Zweifel an seiner Antwort, das sah er, das hörte er, und da sagte<br />

er, als sei das selbstverständlich: Ja, natürlich.<br />

Und ihm war sehr leicht und froh, als er durch <strong>de</strong>n Schnee ins Dorf stapfte; in Gedanken<br />

spielte er <strong>de</strong>n Schlusssatz <strong>de</strong>s Italienischen Konzertes, ihm war so leicht, dass er nicht<br />

erstaunt gewesen wäre, wenn er plötzlich hätte fliegen können. Da dachte es in ihm: Kann<br />

sein, er ist gar nicht irre, er tut nur so. Kann auch sein, ich täusche mich, er ist es gar nicht.<br />

Es ist keine Ähnlichkeit da. Nur diese Stimme.<br />

Aber dann hatte er es gar nicht mehr eilig, <strong>de</strong>n August Lemke zu sehen. Und war ihm eben<br />

noch so froh und leicht zumute gewesen, spürte er jetzt um so stärker, unerträglich stark,<br />

die Schwere seines Körpers, die ihn auf <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> hielt.<br />

Statt im Dorf, fand er sich plötzlich auf <strong>de</strong>m Pfad zwischen See und Wald, unsichtbarer<br />

Weg unterm Schnee, er formte im Gehen einen Schneeball und warf ihn über die niedrigen<br />

Sträucher weit auf die verschneite Eisfläche hinaus.<br />

Was willst du eigentlich, Michel Marten? Hast du Furcht, <strong>de</strong>m August Lemke unter die<br />

Augen zu kommen?<br />

Nein, keine Furcht. Aber die Bittschrift war keine gute I<strong>de</strong>e. Der Alte wird sich jetzt ganz<br />

gewiss die Hochzeitsnacht nicht streitig machen lassen. <strong>Das</strong> haben wir erreicht, sacrée<br />

mer<strong>de</strong>. Und Babeuf - wieso kamen wir heute auf Babeuf? Und war das eben die Frau <strong>von</strong><br />

Janke? Henriette war es doch, <strong>de</strong>ine Henriette, Michel Marten ..., jetzt mit ihr re<strong>de</strong>n, über<br />

alles, und vor allem über Babeuf ... Babeuf, ein heiliger Narr o<strong>de</strong>r ein närrischer Heiliger ...<br />

„Stehst du offen zu ihnen?“ - „Ja, natürlich.“ Was hab ich da gesagt? War das mein Ernst?<br />

„Auf die undurchführbaren Träume“ - sagtest du das nicht, Henriette? War das nicht erst<br />

gestern? Sie wer<strong>de</strong>n es sich nicht mehr bieten lassen, heute nicht mehr. Denn diese Leute<br />

<strong>von</strong> gestern Abend - das waren nicht die <strong>Bernsdorf</strong>er, die du vor fünfzehn Jahren gekannt


hast, Michel Marten ... Wie weiß man aber: Dieses ist nötig und richtig, jenes sind<br />

„undurchführbare Träume“? Hat er, dieser Babeuf, auch nur eine Sekun<strong>de</strong> Zeit damit<br />

verloren, über die Durchführbarkeit seiner Träume nachzugrübeln? Wird eine I<strong>de</strong>e vielleicht<br />

schon dadurch zum undurchführbaren Traum, wenn man an ihrer Möglichkeit zweifelt?<br />

„Etwas Großes und Würdiges wird nur durch das Volk und allein vom Volk geschaffen“ -<br />

einer <strong>de</strong>iner glasklaren Sätze, Babeuf ... Wann eigentlich hörte ich <strong>de</strong>inen Namen zum<br />

ersten Mal? <strong>Das</strong> kann man nicht vergessen. Da war Heinrich Marten dabei, in Paris war<br />

das, 1795, Robespierre war tot und die meisten seiner Leute ...


6<br />

Da stehen sie an <strong>de</strong>r Seine, Heinrich und Michel, ein warmer, gelber September, die Seine<br />

quält sich träge durch ihr Bett, sie ist dunkel und verschmutzt, ihre Ufer kahl und grau.<br />

Heinrich und Michel sind erst wenige Tage wie<strong>de</strong>r in Paris, ihre Gedanken sind ebenso<br />

trübe wie <strong>de</strong>r Fluss, <strong>de</strong>nn die Stadt, die sie vor einem Jahr verlassen haben, ist nicht<br />

wie<strong>de</strong>rzuerkennen. Wo sind die Trikoloren, wo die Bil<strong>de</strong>r <strong>von</strong> Robespierre und Marat und<br />

Saint-Just, wo die roten Jakobinermützen? Was sind dies für aufgeputzte Gimpel, flanieren<br />

über die Boulevards und schwätzen Gott und die Welt daher, wo sind die Debatten an <strong>de</strong>n<br />

Straßenecken über Egalité und Liberté und Fratemité, über das Maximum und die<br />

Agrarreform und das Gesetz Le Chapelier? Wer, sacrée mer<strong>de</strong>, wer hat hier an <strong>de</strong>r Zeit<br />

gedreht?<br />

Andreas hat sie allein gelassen in ihrer Ratlosigkeit, Andreas hat gesagt: <strong>Das</strong> alles ist<br />

schlimm, aber es ist doch nur <strong>de</strong>r Schein, die französische Republik besteht nach wie vor,<br />

ob mit o<strong>de</strong>r ohne Jakobiner, und ich wer<strong>de</strong> in ihren Dienst treten. Wenn aber nun die<br />

Republik <strong>de</strong>r Schein ist, fragte Heinrich, wenn sie nur das Aushängeschild ist, mit <strong>de</strong>m man<br />

auf Dummenfang geht? Wo ist die Verfassung <strong>von</strong> dreiundneunzig geblieben? Was hat die<br />

Revolution <strong>de</strong>nn nun <strong>de</strong>m Volk genützt, wenn dies ihr En<strong>de</strong> sein soll?<br />

Immerhin, wi<strong>de</strong>rsprach Andreas, doch soviel, dass die Bourbonen fort sind und das ganze<br />

A<strong>de</strong>lspack dazu. Republik, <strong>Demo</strong>kratie. Wirtschaft und Han<strong>de</strong>l florieren wie<strong>de</strong>r. Nützt das<br />

etwa <strong>de</strong>m einfachen Mann nicht?<br />

Freilich, sagte Heinrich mü<strong>de</strong>, freilich nützt ihm das. Aber du re<strong>de</strong>st wie <strong>de</strong>in Vater,<br />

Andreas.<br />

Da wur<strong>de</strong> er zornig, <strong>de</strong>r Andreas Suhrbier, Unsinn, rief er, und wenn schon, ihr seid vernarrt<br />

in eure Träume, man muss sich doch irgendwann einmal mit <strong>de</strong>n Gegebenheiten abfin<strong>de</strong>n,<br />

Herrgott, man kann doch nicht lebenslänglich seinen Träumen nachrennen!<br />

Da haben sie ihm Glück gewünscht und ihn gehen lassen; sollte er sehen, wie er durch die<br />

Maschen <strong>de</strong>s Netzes schlüpfen konnte, mit <strong>de</strong>m die neuen Machthaber nach Robespierres<br />

Anhängern fischten ...<br />

Was wollen wir hier, Heinrich?<br />

Von Altona hatten sie schnell genug gehabt. Was konnte man schon tun in Deutschland? So<br />

gut wie nichts. Kaum ein Echo auf ihre Zeitschrift. Die Versammlungen im Altonaer<br />

Jakobinerklub wur<strong>de</strong>n immer seltener, waren immer spärlicher besucht. Hin und wie<strong>de</strong>r<br />

noch: Flugzettel drucken und verteilen, unter <strong>de</strong>m Befehl <strong>de</strong>s Samuel Breker, eines<br />

grünäugigen, asketischen <strong>Buch</strong>druckers aus Hamburg, Hauptredner im Klub; vor Jahren<br />

hatte er Michel ein paar Wahrheiten über Karl-Ernst Suhrbier gesteckt, Michel hatte ihn<br />

sofort wie<strong>de</strong>rerkannt und seine Freundschaft gesucht, hatte das Misstrauen aber nie<br />

beseitigen können, mit <strong>de</strong>m Samuel ihm begegnete.<br />

<strong>Das</strong> Jahr 1795 wur<strong>de</strong> auch in <strong>de</strong>n Freien Städten Hamburg und Altona ein schlimmes Jahr<br />

für Jakobiner, <strong>de</strong>nn die Stadtväter hatten es sehr eilig, <strong>de</strong>n neuen Pariser Machthabern in<br />

<strong>de</strong>r Jagd auf Robespierres Anhänger nachzueifern. Nach Samuels Verhaftung verschwand


<strong>de</strong>r Altonaer Jakobinerklub, als hätte es ihn nie gegeben.<br />

Andreas war <strong>de</strong>r erste, <strong>de</strong>r vorschlug: Wir gehen wie<strong>de</strong>r nach Paris. Nur in Frankreich kann<br />

man heutzutage wirken. Robespierre ist tot, aber es gibt die französische Republik. Wir<br />

sind hier nicht mehr sicher.<br />

<strong>Das</strong> letzte mochte <strong>de</strong>r entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Grund gewesen sein. Und <strong>de</strong>r alte Suhrbier mochte<br />

auch dahinterstecken. Denn <strong>de</strong>r musste sich um diese Zeit vor <strong>de</strong>m Stadtrat verantworten<br />

seiner Beziehungen zur jakobinischen französischen Republik wegen, und er brachte viel<br />

Beredsamkeit und Geld auf, um nachzuweisen, dass er kein Jakobiner sei, auch nie<br />

gewesen und in Zukunft nie sein wer<strong>de</strong>, nicht wahr?<br />

Wie ö<strong>de</strong> und kahl dieser Fluss, sagt Heinrich. Und immer das gleiche Bild, heute wie vor<br />

Jahren, wie vor einem Jahr: ein paar Lastkähne, und die Wäscherinnen, und die Wäsche ...<br />

Sonst aber ist alles an<strong>de</strong>rs, sagt Michel. Heinrich, ist die Revolution nun zu En<strong>de</strong>?<br />

Sieh mal, <strong>de</strong>r Junge, sagt Heinrich.<br />

Auf einer <strong>de</strong>r Steintreppen, die zum Wasser hinunterführen, sitzt ein Neun- o<strong>de</strong>r<br />

Zehnjähriger, hat ein Stück Papier vor sich, das er unentwegt anstarrt, dabei rollen ihm die<br />

Tränen über das Gesicht, er wischt sie nicht fort, er kümmert sich we<strong>de</strong>r um die<br />

Wäscherin, die auf <strong>de</strong>r untersten Stufe seiner Treppe Betttücher spült, noch um die Männer<br />

hinter ihm.<br />

Lass ihn, sagt Michel.<br />

Aber wie könnte Heinrich Marten ein Kind lassen, das so wie dieses dort sitzt, lesend und<br />

weinend?<br />

Er setzt sich neben <strong>de</strong>n Jungen. Der hört nicht zu weinen auf, faltet aber nach einem<br />

schnellen Blick auf <strong>de</strong>n Mann das Papier zusammen.<br />

Ist <strong>de</strong>r Brief <strong>von</strong> <strong>de</strong>inem Vater? fragt Heinrich.<br />

Ja, sagt <strong>de</strong>r Junge, sieht Heinrich überrascht und misstrauisch an, wischt jetzt die Tränen<br />

fort.<br />

Und wo ist <strong>de</strong>in Vater?<br />

Der Junge mustert Heinrich, sein Blick ist aggressiv und unkindlich, er sagt: Denkst du, ich<br />

hab Angst vor dir?<br />

<strong>Das</strong> <strong>de</strong>nke ich nicht, sagt Heinrich.<br />

Ich weine auch nicht, weil mein Vater im Gefängnis ist, sagt <strong>de</strong>r Junge.<br />

Nein, sagt Heinrich, das wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>inem Vater auch nicht gefallen.<br />

Der Junge schluckt zwar noch, aber er weint nun nicht mehr.<br />

Nein, sagt er, das wür<strong>de</strong> ihm nicht gefallen.<br />

Und nach einer Weile, während <strong>de</strong>r sie schweigend nebeneinan<strong>de</strong>rgesessen und in <strong>de</strong>n<br />

Fluss gesehen haben: Soll ich dir <strong>de</strong>n Brief zeigen?


Wenn du willst, sagt Heinrich.<br />

Ich will. Sieh mal: „An :Emile, <strong>de</strong>n kleinen Schelm und lieben Schlingel.“ <strong>Das</strong> bin ich.<br />

Eigentlich heiße ich aber Robert. Kennst du <strong>de</strong>n Rousseau?<br />

Natürlich, sagt Heinrich.<br />

Aha. Dann weißt du, warum mein Vater mich Emile nennt?<br />

Oui.<br />

*** En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r <strong>Demo</strong>-Version, siehe auch<br />

http://www.ddrautoren.<strong>de</strong>/Nagel/<strong>Mirakel</strong>/mirakel.htm ***


Elke Nagel<br />

Elke Nagel, geborene Ballmann;<br />

geboren 21.07.1938 in Rerik (Mecklenburg);<br />

Studium <strong>de</strong>r Germanistik und Geschichte 1957 – 1962 (Pädagogische Hochschule<br />

Potsdam);<br />

Tätigkeit (mit Unterbrechungen) als Lehrerin 1962 – 1975 in Schönberg (Mecklenburg) und<br />

Forst (Lausitz);<br />

freischaffend ab 1975;<br />

zwei Kin<strong>de</strong>r (1966, 1967), zwei Enkel (1985, 1987).<br />

Veröffentlichungen unter <strong>de</strong>m damaligen Namen Elke Willkomm:<br />

Mit Feuer und Schwert (historische Erzählung für Kin<strong>de</strong>r und Jugendliche, Verlag Neues<br />

Leben Berlin 1973)<br />

<strong>Das</strong> <strong>Mirakel</strong> <strong>von</strong> <strong>Bernsdorf</strong> (historischer Roman, Verlag Neues Leben Berlin 1977, neu<br />

aufgelegt im BS-Verlag Rostock 2001)<br />

Der fingerkleine Kobold (Kin<strong>de</strong>rbuch, Der Kin<strong>de</strong>rbuchverlag Berlin 1978)<br />

Hexensommer (Roman, <strong>Buch</strong>verlag Der Morgen Berlin 1984)<br />

Seit 1982 verheiratet mit <strong>de</strong>m sorbischen Komponisten Jan Paul Nagel (1934 bis 1997)<br />

1991 mit ihm zusammen <strong>de</strong>n ENA-Musikverlag gegrün<strong>de</strong>t, Leitung <strong>de</strong>s Verlages <strong>von</strong> 1991<br />

bis 2005


Seit ca. 1984 Nachdichtungen aus <strong>de</strong>m Sorbischen, u. a. die sorbischen Texte <strong>de</strong>r Lie<strong>de</strong>r<br />

Jan Paul Nagels (veröffentlicht im ENA-Musikverlag) und sorbische Volkslie<strong>de</strong>r<br />

sowie Gedichte <strong>de</strong>r nie<strong>de</strong>rsorbischen Lyrikerin Mina Witkojc, veröffentlicht 2001 in <strong>de</strong>r<br />

Reihe „Die sorbische Bibliothek“ <strong>de</strong>s Domowina-Verlags Bautzen (Titel: Echo aus <strong>de</strong>m<br />

Spreewald)<br />

Kreuz am Waldrand, Novelle (Lusatia Verlag Bautzen 2007); E-Book bei EDITION digital<br />

2013<br />

Hausteins Marja, Erzählung (BS-Verlag-Rostock 2009), erschienen in sorbischer Sprache,<br />

übersetzt <strong>von</strong> Peter Thiemann, im Domowina-Verlag Bautzen 2010, E-Book bei EDITION<br />

digital 2011<br />

Der Froschkönig, Liedtexte zum musikalischen Märchen für Chor, Klavier und Sprecher<br />

<strong>von</strong> Jens-Uwe Günther, UA am 14. April 2011 in Ilmenau (Thür.)<br />

Altweibersommer. Legen<strong>de</strong>n aus <strong>de</strong>m wil<strong>de</strong>n Osten. Roman. BS-Verlag Rostock 2013


E-Books <strong>von</strong> Elke Nagel<br />

Hausteins Marja. Erzählung, frei nach Gerichtsakten <strong>von</strong> 1799<br />

Hausteins Marja wird beschuldigt, ihr neu geborenes Kind getötet zu haben.<br />

Marja ist eine Leibeigene; sie ist eine Sorbin in einem sorbischen Dorf, <strong>de</strong>ssen Herrschaft,<br />

Amtsgewalt und Regierung <strong>de</strong>utsch sind; sie ist zu naiver, mit Aberglauben verwobener<br />

Frömmigkeit erzogen.<br />

Mit Feuer und Schwert. Erzählung aus <strong>de</strong>r Zeit <strong>de</strong>r Hussitenbewegung<br />

Böhmen, spätes Mittelalter: Jan fiebert <strong>de</strong>m Tag entgegen, an <strong>de</strong>m er endlich die<br />

Klosterschule verlassen und seinen Vater suchen kann, <strong>de</strong>r als einer <strong>de</strong>r führen<strong>de</strong>n<br />

hussitischen Kämpfer in einem Burgverlies gefangen gehalten wird. Jan will ihn befreien.<br />

Zusammen mit seinem Freund Henning flieht er aus <strong>de</strong>m Kloster und schließt sich <strong>de</strong>m Heer<br />

<strong>de</strong>r Hussiten an.<br />

<strong>Das</strong> <strong>Mirakel</strong> <strong>von</strong> <strong>Bernsdorf</strong>. Historischer Roman<br />

Michel Marten, Offizier <strong>de</strong>r Armee Bonapartes, war vor Jahren <strong>de</strong>r Gefährte <strong>de</strong>r<br />

<strong>Bernsdorf</strong>kin<strong>de</strong>r, er, <strong>de</strong>r Enkel <strong>de</strong>s Dorfpfarrers und illegitime Sohn <strong>de</strong>s Barons. Er entfloh<br />

jedoch <strong>de</strong>r Perspektive, Dorfschulmeister zu wer<strong>de</strong>n, und schlug sich auf <strong>de</strong>n Spuren seines<br />

„eigentlichen" Vaters Heinrich Marten an <strong>de</strong>r Seite <strong>de</strong>r französischen Jakobiner durch.<br />

Michel gewinnt das Vertrauen seiner Landsleute, als er bereit ist, für ihre Interessen<br />

gegenüber <strong>de</strong>m Baron einzustehen. Doch an <strong>de</strong>r Spitze <strong>de</strong>r Bauernerhebung macht er sich<br />

eines Vergehens gegen Befehle seines Generals schuldig, und alle wissen, dass nur ein<br />

Wun<strong>de</strong>r ihn vor <strong>de</strong>m Tod retten kann.<br />

Hexensommer. Roman<br />

Der poetische Reiz dieses in sensibler Sprache geschriebenen Romans liegt in <strong>de</strong>r<br />

Verfremdung und zugleich Doppelung <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Hauptfiguren. Anne Bremer, Lehrerin, wird<br />

sich endlich <strong>de</strong>r Fehleinschätzung ihrer Schüler durch die zur Wahrhaftigkeit mahnen<strong>de</strong><br />

innere Stimme bewusst: Die Hexe Barbara verkörpert Annes zweites Ich, als die zweite<br />

Seite ihres Gewissens - Barbara in Anne, zwei und doch eins ...<br />

Für Anne Bremer war es ein langer Weg, selbstbewusst „ich" zu sagen. In die Wie<strong>de</strong>rgabe<br />

dieses Bil<strong>de</strong>s floss ein großer Erfahrungsschatz <strong>de</strong>r Autorin mit ein.<br />

Der fingerkleine Kobold<br />

Zwei kleine Geschichten für das Erstlesealter:<br />

„Wo sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagen“ — eine Gute-Nacht-Geschichte,


und „Der fingerkleine Kobold“ — eine Geschichte über einen kleinen Jungen, <strong>de</strong>r sich einen<br />

Kobold erschafft, <strong>de</strong>n nur er selbst sehen kann, <strong>von</strong> <strong>de</strong>m er nieman<strong>de</strong>n erzählen darf und<br />

mit <strong>de</strong>ssen Hilfe er versucht, alle seine Probleme zu bewältigen.<br />

Kreuz am Waldrand<br />

Ein Mann klettert <strong>von</strong> Zeit zu Zeit auf die Milchrampe und hält wüten<strong>de</strong> Re<strong>de</strong>n. Angeblich ist<br />

er ein Irrer. Weil er nicht verstehen kann, dass da ein Wehrloser erschossen wur<strong>de</strong> und<br />

seinem Mör<strong>de</strong>r nichts geschehen ist. Niemals. We<strong>de</strong>r damals noch später noch jetzt, wo er<br />

geehrt wird.

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