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Das Mirakel von Bernsdorf - Demo - Buch.de

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2. Kapitel<br />

1<br />

Mit hängen<strong>de</strong>n Schultern, <strong>de</strong>n linken Fuß nachschleppend, bewegte er sich auf die Kirche<br />

zu, und er brauchte für <strong>de</strong>n kurzen Weg vom Pfarrhaus zur Kirchhofsmauer - vom<br />

Pfer<strong>de</strong>stall <strong>de</strong>s Pfarrhauses besser, <strong>de</strong>nn das war seine Bleibe - eine halbe Ewigkeit.<br />

Was er vor sich hin pfiff, war schon wie<strong>de</strong>r die Marseillaise, <strong>de</strong>r Refrain nun aber, und<br />

immerfort die gleichen vier Takte; sie kamen mit <strong>de</strong>r Monotonie eines Uhrwerkes aus<br />

seinem gespitzten Mund und gefroren an <strong>de</strong>r kalten Luft zu weißem Dampf, <strong>de</strong>r sich fast<br />

sofort in Nichts auflöste.<br />

Beim Anblick <strong>de</strong>s Glockenstrangs im Vorraum <strong>de</strong>r kleinen Kirche brach er sein Pfeifen ab,<br />

mitten im Takt, auf <strong>de</strong>m höchsten Ton. Blö<strong>de</strong> lächelnd sah er auf <strong>de</strong>n Strick, <strong>de</strong>r ganz leicht<br />

hin und her schwankte; mit <strong>de</strong>m kleinen Finger seiner verstümmelten linken Hand tippte er<br />

ihn an, verfolgte stärker lächelnd seine zunehmen<strong>de</strong>n Bewegungen; und plötzlich verzerrte<br />

sich sein Gesicht - ein verstümmeltes Gesicht, fehlen<strong>de</strong>s linkes Ohr, leere Augenhöhle auf<br />

<strong>de</strong>r linken Seite, breite Narbe schräg über <strong>de</strong>r linken Gesichtshälfte, die rechte Seite<br />

unversehrt, ein schwarzes Auge, das jetzt böse leuchtete, in die Stirn und bis auf die<br />

Schulter fallen<strong>de</strong>s graues Haar, langer, grauer Vollbart, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Mund fast unsichtbar<br />

machte. Im gleichen Augenblick, in <strong>de</strong>m das irre, gutmütige Lächeln in ein böses Grinsen<br />

übergegangen war, hatte sich <strong>de</strong>r gebeugte, greisenhafte Körper gestrafft; die Arme<br />

hochreißend, sprang <strong>de</strong>r Mann <strong>de</strong>n Glockenstrang an, hängte sich an ihn mit <strong>de</strong>r gesun<strong>de</strong>n<br />

rechten und <strong>de</strong>r verstümmelten linken Hand, zog das rechte Bein an, spreizte das linke,<br />

lahmen<strong>de</strong> vom Körper ab, hing nun sekun<strong>de</strong>nlang in <strong>de</strong>r Luft, und nur <strong>de</strong>r nicht vorhan<strong>de</strong>ne<br />

Buckel unterschied ihn <strong>von</strong> Quasimodo, <strong>de</strong>m Glöckner <strong>von</strong> Notre-Dame. Und die Kirche<br />

selbstre<strong>de</strong>nd, diese kleine märkische Dorfkirche - Feldsteine unten und Backsteine oben,<br />

niedriger Turm mit Satteldach, kleine, bleigefasste Fenster -, sie erinnerte in nichts an<br />

Notre-Dame. Auch <strong>de</strong>r Glockenton nicht, <strong>de</strong>r nun hörbar wur<strong>de</strong>, dieser scheppern<strong>de</strong>, dünne<br />

Ton, <strong>de</strong>n man schon kennt. Den kleinen Kirchenvorraum füllte er jedoch aus, hier dröhnte er<br />

gewichtig, <strong>de</strong>r erste schon, mehr noch <strong>de</strong>r folgen<strong>de</strong> und <strong>de</strong>r dritte; immer schneller<br />

hintereinan<strong>de</strong>r schlugen sie an, während <strong>de</strong>r Toten-Heinrich sich am Strang hochzog und<br />

wie<strong>de</strong>r fallen ließ, nur mit <strong>de</strong>m gesun<strong>de</strong>n rechten Fuß <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n berührend, hochzog, fallen<br />

ließ, hochzog, fallen ließ, verbissen, wütend, rasend.<br />

An ihm vorbei mussten sie nun, die ins Kirchenschiff wollten: Bauern, Tagelöhner, Büdner,<br />

Mäg<strong>de</strong>, Knechte. Sie sahen ihn nicht an, machten sogar einen <strong>de</strong>utlichen Bogen um <strong>de</strong>n<br />

Wüten<strong>de</strong>n, nur die Kin<strong>de</strong>r warfen ihm einen neugierigen, scheuen Blick zu, ihm, <strong>de</strong>n sie zu<br />

je<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Tageszeit ungescheut und furchtlos verspotteten. Der Verrückte. Der Idiot,<br />

<strong>de</strong>r Toten-Heinrich. Der ihnen <strong>de</strong>n Glöckner und Totengräber und Harlekin machte und <strong>de</strong>m<br />

Pfarrer Kienast <strong>de</strong>n Pfer<strong>de</strong>knecht und das Experimentierobjekt, wo<strong>von</strong> noch zu re<strong>de</strong>n sein<br />

wird. Und <strong>de</strong>r für sie alle Gegenstand <strong>von</strong> Spott und Neugier<strong>de</strong> war durch seine I<strong>de</strong>e, diese<br />

total verrückte I<strong>de</strong>e, eine Flugmaschine zu bauen. Wer <strong>von</strong> ihnen hatte noch nicht <strong>de</strong>s<br />

Nachts voll Furcht und Spannung am Fenster <strong>de</strong>r Totenkapelle gehangen und gebannt auf<br />

diesen Menschen gestarrt, <strong>de</strong>r dort neben seiner Laterne kauerte und an <strong>de</strong>m seltsamen

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