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Das Mirakel von Bernsdorf - Demo - Buch.de

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sah nun <strong>de</strong>n Freund, ein halb nacktes, schmutziges Kerlchen <strong>von</strong> acht Jahren, mager und<br />

behänd, mit dieser zu großen Nase und mit <strong>de</strong>m Helm aus strähnigen, ganz glatten,<br />

weißblon<strong>de</strong>n Haaren.<br />

Anscheinend ausgerissen ist dieser Bursche, <strong>de</strong>nn er sichert wie ein flüchtiges Wild, bevor<br />

er sich aus <strong>de</strong>n schützen<strong>de</strong>n Zweigen <strong>de</strong>r Trauerwei<strong>de</strong> herausschiebt und hastig auf das<br />

Flie<strong>de</strong>rgebüsch an <strong>de</strong>r Schlossmauer zuläuft. Von dort aus späht er noch einmal zur Schule<br />

zurück, und da kein Verfolger in Sicht ist, geht er langsam und ohne beson<strong>de</strong>re Vorsicht an<br />

<strong>de</strong>r hohen Schlossmauer entlang zum See hinunter. Denn wenn Küster Jakob Marten, <strong>de</strong>r<br />

Großvater, bis jetzt noch nicht gemerkt hat, dass er aus <strong>de</strong>m Fenster geklettert und „in die<br />

Welt“ gelaufen ist, dann ist er wie<strong>de</strong>r einmal so sehr in seine Lektüre vertieft: - in Lessing<br />

o<strong>de</strong>r Rousseau o<strong>de</strong>r Forster o<strong>de</strong>r Her<strong>de</strong>r -, dass er das Verschwin<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Enkels<br />

frühestens gegen Mittag bemerken wird. Und petzen - das tun die übrigen Schüler nicht.<br />

Obwohl sie Michel Marten oft hänseln, wegen dieser großen Nase. Aber nicht nur ihn,<br />

ähnliche Nasen sind in <strong>Bernsdorf</strong> nicht selten. Zum Verpetzen ist das kein Grund.<br />

Die Schlossmauer ist hoch, unendlich hoch für einen kleinen Jungen. Lang ist sie auch, aber<br />

keinesfalls unendlich. Wo sie aufhört, fängt <strong>de</strong>r See an, <strong>de</strong>r verbotene. Er ist hier schwer<br />

zugänglich: dichtes Gestrüpp, Sumpf, Schilf. Doch das stört einen eigensinnigen Michel<br />

Marten ganz und gar nicht. Er kauert schon nach kurzer Zeit auf einem ins Wasser<br />

gestürzten Baum im Wald aus Schilf und ist am Ziel seiner Wünsche: Durch <strong>de</strong>n<br />

schwanken<strong>de</strong>n grünen Vorhang kann er spähen, ungesehen, und sein Blick umfasst einen<br />

Teil <strong>de</strong>s Sees und die breite, schilffreie Ba<strong>de</strong>stelle <strong>de</strong>r Herrschaftskin<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>rer <strong>von</strong><br />

<strong>Bernsdorf</strong>, auch <strong>de</strong>n Uferstreifen davor, planiert, geharkt sogar.<br />

Nichts rührt sich heute hinter <strong>de</strong>n hohen Parkbäumen. Er verbirgt seine Enttäuschung vor<br />

sich selbst. Bin ich <strong>de</strong>nn hier, um die aus <strong>de</strong>m Schloss zu sehen? Wollte doch zum See,<br />

heraus aus <strong>de</strong>r langweiligen, dunklen Schulstube ...<br />

In <strong>de</strong>m Ofenwinkel dieser Schulstube sitzt er schon seit reichlich vier Jahren, ohne bis vor<br />

einem Jahr eigentlich Schüler zu sein, während <strong>de</strong>r Großvater sich mit <strong>de</strong>n fast dreißig<br />

Kin<strong>de</strong>rn zwischen sieben und zwölf Jahren abplagt, sich wenig um <strong>de</strong>n Enkel in seinem<br />

Winkel kümmert, oft auch nicht um die an<strong>de</strong>ren Kin<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>nn er hat immer zu lesen o<strong>de</strong>r<br />

Noten zu schreiben ... Der Enkel hat gelernt, was es hier zu lernen gibt, er bekämpft die<br />

Langeweile. Nach <strong>de</strong>r Schule, abends, sonntags - da gibt es freilich noch mehr zu lernen<br />

und an<strong>de</strong>res, weit Schöneres als Bibelverse und Gesangbuchstrophen. Da kann man <strong>de</strong>m<br />

Großvater mit einhun<strong>de</strong>rtsiebenundneunzig Fragen kommen, und er wird genau ebenso viele<br />

Antworten wissen, wird <strong>von</strong> Forsters Weltreisen erzählen und <strong>von</strong> Lessings Schauspiel<br />

„Nathan <strong>de</strong>r Weise“ und immer wie<strong>de</strong>r <strong>von</strong> <strong>de</strong>n wun<strong>de</strong>rschönen Kantaten <strong>de</strong>s Johann<br />

Sebastian Bach, die er in Leipzig gehört hat, und nicht nur gehört - mitgesungen hat er, <strong>de</strong>r<br />

Großvater Marten, als Thomasschüler ...<br />

Michel Marten, auf seinem Baumstamm, baumelt mit <strong>de</strong>n Beinen im seichten Wasser,<br />

blinzelt durch Schilfhalme und Sonnenwogen auf <strong>de</strong>n See, zu <strong>de</strong>n Wil<strong>de</strong>nten und<br />

Wasserhühnern hin, die sich um ihn nicht kümmern, verfolgt mit <strong>de</strong>n Augen eine grünlich<br />

glitzern<strong>de</strong> Libelle. Und gar nicht lange dauert es, da spielt er in Gedanken Cembalo, alle

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