Das Mirakel von Bernsdorf - Demo - Buch.de
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<strong>de</strong>r Seite, ängstlich forschend, und bei<strong>de</strong> sahen sie, was sie befürchteten zu sehen: Seine<br />
schläfrigen Züge (Kienasts Predigten bewirkten bei ihm stets das Gegenteil <strong>von</strong> <strong>de</strong>m, was<br />
sie bei an<strong>de</strong>ren bewirkten, nämlich Schlafbedürfnis), dieses mü<strong>de</strong> Greisengesicht belebte<br />
und verjüngte sich.<br />
Michel war gleich nach seinem Spiel auf Zehenspitzen am Blasebalg vorbei und die<br />
Wen<strong>de</strong>ltreppe hinuntergeschlichen, stand dann noch einen Moment im Vorraum, gefesselt<br />
<strong>von</strong> <strong>de</strong>m unerwarteten Anblick <strong>de</strong>s verstümmelten Irren, <strong>de</strong>r an <strong>de</strong>r Tür zum Kirchenschiff<br />
lehnte, geduckt, horchend, die Hän<strong>de</strong> hielten das Hemd über <strong>de</strong>r Brust umklammert, als<br />
wollten sie es auseinan<strong>de</strong>rreißen. Er nahm Michel nicht wahr, und <strong>de</strong>r wandte sich schnell<br />
und erschrocken ab, irgen<strong>de</strong>twas an diesem Menschen beunruhigte ihn, ohne dass er zu<br />
sagen vermochte, was das war, und vor allem wollte er es nicht wissen, doch das gestand<br />
er sich nicht ein.<br />
Hastig überquerte er <strong>de</strong>n Friedhof, verhielt einen Augenblick vor <strong>de</strong>m Grab <strong>de</strong>s alten<br />
Marten, lief weiter, an <strong>de</strong>r Schlossmauer entlang, zum See hinunter.<br />
Der See lag unbeweglich, zugefroren, aber er war mit Milliar<strong>de</strong>n Raureifkörnern bestreut,<br />
und aus je<strong>de</strong>m einzelnen funkelte ein Sonnenstrahl. Da schloss Michel Marten geblen<strong>de</strong>t die<br />
Augen. Im gleichen Moment fiel ihm auf, dass noch immer das Fugenthema in ihm<br />
herumsprang, diese unvergleichlich gelöste Melodie, die <strong>von</strong> niemand an<strong>de</strong>rem erdacht sein<br />
konnte als <strong>von</strong> <strong>de</strong>m Leipziger Kantor: Sie tanzte, ohne zu tän<strong>de</strong>ln, ihre Heiterkeit war tief<br />
und ernsthaft und schloss sogar die Trauer ein ...<br />
So war es nach Großvater Martens Beerdigung, dachte Michel. Und Henriette verstand<br />
mich nicht. Sie fürchtete, ich wollte Jankes Schatten wer<strong>de</strong>n. Ich wollte aber nichts weniger<br />
als das. Wollte auch keine Karriere, wie Janke sie hinter sich hatte und noch vor sich. War<br />
lange genug auf <strong>de</strong>m Schloss, um die Zwitterstellung zu hassen, die ich dort einnahm -<br />
freiwillig und nicht ungern einnahm! Die abgetragenen Klei<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r <strong>Bernsdorf</strong>junker, mit<br />
<strong>de</strong>nen ich herumlief, <strong>de</strong>mütigten mich. Und gefielen mir doch besser als meine alten,<br />
verwaschenen ... Manchmal hasste ich mich selbst - <strong>de</strong>n Großvätern wur<strong>de</strong> ich fremd und<br />
frem<strong>de</strong>r, ganz zu schweigen <strong>von</strong> <strong>de</strong>n Dorfjungen. Vom Lemke-August zum Beispiel. Da war<br />
kein Gespräch mehr möglich o<strong>de</strong>r gar ein Spiel. Denn die gleichaltrigen Jungen krochen<br />
längst auf <strong>de</strong>m Acker herum o<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n Ställen. Ich dachte darüber nicht nach, es<br />
interessierte mich nicht. Meistens dachte ich auch nicht über diese seltsame Rolle nach, die<br />
ich spielte, lebte in <strong>de</strong>n Tag hinein und in die Jahre, fühlte mich durchaus nicht unglücklich,<br />
lernte mit Besessenheit, wusste im Grun<strong>de</strong>, dass ich ein bequemes Leben führte und nicht<br />
tauschen wür<strong>de</strong> - mit <strong>de</strong>m August Lemke beispielsweise, und niemals dachte ich darüber<br />
nach, wie ich eigentlich dazu kam, meine Tage auf <strong>de</strong>m Schloss zuzubringen, halb<br />
Spielgefährte, halb Dienstbote, teils Freund, teils mitleidig Gedul<strong>de</strong>ter, vom Baron<br />
übersehen, <strong>von</strong> Janke gehätschelt. Denk an mich, Michel Marten, sagte Janke oft zu mir,<br />
dann weißt du, welche Chancen das Leben bietet! Er sei nur ein kleiner Hütejunge in einem<br />
sächsischen Dorf gewesen, <strong>de</strong>ssen helles Köpfchen einem e<strong>de</strong>lmütigen Patron auffiel. Wer<br />
aber sei er jetzt? Und was wer<strong>de</strong> er <strong>de</strong>mnächst sein? Ein Herr, vor <strong>de</strong>m sich <strong>de</strong>r Bürger zu<br />
verbeugen habe! Dem alle Wege offenstün<strong>de</strong>n. Man könne schon zu etwas kommen im<br />
Leben, wenn man seine Chancen nicht verspiele. Man erreiche schon, was man wolle!