Das Mirakel von Bernsdorf - Demo - Buch.de
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Der Lichtschein aus <strong>de</strong>r Kapelle zog Michel Marten an. Dabei wollte er in die Kirche, hatte<br />
schon nach <strong>de</strong>m Schlüssel in <strong>de</strong>r Tasche gefühlt, <strong>de</strong>m unrechtmäßig entführten, <strong>de</strong>m<br />
Begleiter seit vielen Jahren. Aber nun bog er zur Kapelle ab, sah, sich reckend, durch das<br />
Fenster, erblickte <strong>de</strong>n Mann und <strong>de</strong>n Hund und das Gestell, an <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Mann arbeitete: Er<br />
hatte eine <strong>de</strong>r Decken abgerissen, verän<strong>de</strong>rte die Richtung einer Holzlatte, murmelte dabei<br />
vor sich hin, Michel sah die Lippen, die sich bewegten, hörte nichts, las aber schließlich <strong>von</strong><br />
<strong>de</strong>n Lippen: fliegen. Wie gestern in <strong>de</strong>r Kirche, so wur<strong>de</strong> ihm auch jetzt unbehaglich beim<br />
Anblick <strong>de</strong>s Irren, obwohl <strong>de</strong>r gar nichts Irres an sich hatte: ein Mann, <strong>de</strong>r eine Arbeit tat,<br />
mit einer sturen Besessenheit allenfalls. Michel unterdrückte das Unbehagen und trat in die<br />
Kapelle.<br />
We<strong>de</strong>r erstaunt noch erschrocken blickte <strong>de</strong>r Mann auf, begann zu erklären, als hätten sie<br />
schon oft und gera<strong>de</strong> vor Kurzem über seinen Flugapparat gesprochen. Ich muss die Form<br />
än<strong>de</strong>rn, verstehst du? sagte er. Es ist zu breit. Hast du schon einen breiten Vogel gesehen?<br />
Wie soll er segeln, wenn es zu breit ist? Verstehst du?<br />
Michel erschrak. Diese Stimme habe ich schon gehört, dachte er. Unsinn, Michel Marten.<br />
Wie viele Menschen hast du im Laufe <strong>de</strong>r Jahre re<strong>de</strong>n hören. Dieser war nicht darunter.<br />
Denn mit Sicherheit hast du ihn nie gesehen.<br />
Schnell und im Befehlston sagte er: Du kannst das nachher weiterbauen. Komm jetzt und<br />
tritt mir <strong>de</strong>n Blasebalg.<br />
Er war verblüfft über die Wirkung seiner Worte. Der Mann zuckte zusammen, sprang hastig<br />
auf und wie<strong>de</strong>rholte: Blasebalg treten, ja, Blasebalg treten. Blick abgewandt, in <strong>de</strong>r Haltung<br />
hündische Ergebenheit.<br />
Diesen Ton, dachte Michel, ist er gewöhnt. Jemand hat ihn dressiert. Er drehte sich schnell<br />
um und ging, sicher, dass <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re ihm folgen wür<strong>de</strong>.<br />
Kurz darauf klang die Orgel auf, gedämpft drangen ihre Töne hinaus auf <strong>de</strong>n verschneiten<br />
Friedhof: eine Bachtoccata, voll krampfhafter, zorniger Fröhlichkeit.<br />
Hatte man je in <strong>Bernsdorf</strong> zu so früher Stun<strong>de</strong> die Orgel spielen hören? Die Menschen, die<br />
da gera<strong>de</strong> aus ihren Katen getreten waren, um das Brüllen <strong>de</strong>s hungrigen Viehs wenigstens<br />
für eine Stun<strong>de</strong> zum Verstummen zu bringen, sahen scheu o<strong>de</strong>r erstaunt o<strong>de</strong>r auch<br />
erleichtert zur Kirche: Der Marten-Michel. Und keiner, <strong>de</strong>r nicht sofort dachte: Die<br />
Bittschrift. Heute wer<strong>de</strong>n wir <strong>de</strong>m Baron die Bittschrift überreichen. Und manch einer dachte<br />
auch: Heute heiratet <strong>de</strong>r Lemke-August. Und heute lassen wir es uns nicht mehr bieten.<br />
Warum eigentlich nicht? Warum plötzlich nicht mehr? <strong>Das</strong> dachte niemand.<br />
Michel Marten spielte lange, ohne an<strong>de</strong>res zu <strong>de</strong>nken als die Noten vor ihm, ohne an<strong>de</strong>res<br />
zu fühlen als die Kraft dieser Musik. Erst beim Durchprobieren <strong>de</strong>r Choräle für die Trauung<br />
gingen seine Gedanken an<strong>de</strong>re Wege.<br />
Denn plötzlich hörte er <strong>de</strong>n Irren in <strong>de</strong>r Kapelle re<strong>de</strong>n: Ich muss die Form än<strong>de</strong>rn, verstehst<br />
du? Es ist zu breit. Hast du schon einen breiten Vogel gesehen? Wie soll es segeln, wenn