Das Mirakel von Bernsdorf - Demo - Buch.de
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Ja, was willst du <strong>de</strong>nn eigentlich, Henriette? Ja, was ... Und da wun<strong>de</strong>re ich mich, dass<br />
mich niemand versteht. Versteh ich mich <strong>de</strong>nn selbst? Und kann überhaupt jemand einen<br />
an<strong>de</strong>ren verstehen? Vielleicht ist doch je<strong>de</strong>r ganz allein auf <strong>de</strong>r Welt ... Und eine Briefstelle<br />
kam ihr in <strong>de</strong>n Sinn, aus einem <strong>de</strong>r Briefe Joachims, die schon nach Berlin gingen, <strong>de</strong>nn da<br />
war Janke schon Kabinettssekretär beim königlichen Kabinettsminister Friedrich <strong>von</strong><br />
<strong>Bernsdorf</strong>, und er, Joachim, war nach <strong>de</strong>m Pariser und Mainzer Zwischenspiel wie<strong>de</strong>r in<br />
Jena und hörte Fichtes Vorlesungen. „Stell dir das vor, Henriette“, schrieb er, „es gibt nur<br />
das Ich. Alles an<strong>de</strong>re wird <strong>von</strong> diesem Ich geschaffen. <strong>Das</strong> Ich setzt das Nicht-Ich, lehrt<br />
Fichte. Und er schreibt: ,Der Mensch kann, was er soll; und wenn er sagt: ich kann nicht, so<br />
will er nicht.’ <strong>Das</strong> heißt aber auch: Ich bin allein auf <strong>de</strong>r Welt. Schau<strong>de</strong>rt dich? Ein<br />
schrecklicher Gedanke. Ein wun<strong>de</strong>rbarer, kräftiger Gedanke. Ein Ausweg aus <strong>de</strong>m Chaos<br />
<strong>von</strong> Unsinnigkeiten. Ein Fixpunkt, <strong>von</strong> <strong>de</strong>m allein aus man jetzt noch weiterleben kann.“<br />
Ich weiß nicht, Joachim, dachte sie mü<strong>de</strong>. Aber vielleicht bin ich zu schwach für solche<br />
„starken“ Gedanken ...<br />
Sie ging in ihr Zimmer und legte sich aufs Bett, voll Gleichgültigkeit plötzlich, leer, sehr<br />
mü<strong>de</strong>. Es schneit schon stärker, dachte sie, morgen wird alles weiß sein ...<br />
Dann arbeitet sie sich durch eine Schneewehe, versinkt bis an die Hüften, hinter ihr<br />
Joachim, vor ihr die Totenkapelle auf <strong>de</strong>m Friedhof, Dunkelheit, ein schwaches Licht aus<br />
<strong>de</strong>m Fenster <strong>de</strong>r Kapelle, sie recken sich, auf Zehenspitzen stehend, hinter <strong>de</strong>m Fenster<br />
hockt ein Mann auf <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong>, die Laterne steht neben ihm, er schlägt mit <strong>de</strong>m Hammer<br />
Nägel ein in ein unförmiges Gestell aus Latten, einem großen Vogel ähnlich, vielleicht; die<br />
Plane, flüstert sie, will er die Plane daraufnageln? Natürlich, sagt jemand neben ihr, da sieht<br />
sie, dass noch mehr Menschen gekommen sind - Marie und August, <strong>de</strong>r alte Lemke und<br />
Kröger-Hannes, Ta<strong>de</strong>usz und sogar Adam, aber <strong>de</strong>r ist noch immer dreizehn Jahre und hat<br />
seinen Knotenstock in <strong>de</strong>r Hand. Fliegen will er, sagt Joachim, aber <strong>de</strong>r Mensch kann nicht<br />
fliegen. Lasst ihn, sagt <strong>de</strong>r alte Lemke, er ist nicht richtig im Kopf. Aber Maria sagt: Wer<br />
weiß, vielleicht schafft er’s doch. Der Mensch kann, was er will; und wenn er sagt, ich kann<br />
nicht, dann will er nicht. Er wird vielleicht mit uns fortfliegen, vor <strong>de</strong>m Baron wer<strong>de</strong>n wir<br />
da<strong>von</strong>fliegen, stellt euch das Gesicht vor, das <strong>de</strong>r dann zieht!<br />
Jemand packt Henriettes Arm, die Tante, was stehst du hier herum, Kind, das schickt sich<br />
doch nicht. Ja, Tante, sagt sie und folgt ihr, da liegt kein Schnee mehr, da gehen sie über<br />
eine große, bunt getupfte Wiese, Dorothea nimmt sie an die Hand, die kleine Henriette mit<br />
<strong>de</strong>n braunen Zöpfen, aber sie macht sich sofort los und läuft durch das hohe Gras und wirft<br />
sich plötzlich hinein in dieses grüne Bett, lässt sich einen kleinen Abhang hinunterrollen,<br />
jauchzend vor Vergnügen, ganz <strong>von</strong> fern die Stimme Dorotheas: Aber, Henriette, das gute<br />
Kleid.<br />
<strong>Das</strong> Kleid? Ach ja. Es war zu eng, heute Nacht hat sie zwei Nähte geöffnet und ganz knapp<br />
wie<strong>de</strong>r zugenäht, und einen Abnäher aufgetrennt ... Wie schnell war <strong>de</strong>r Sommer vorbei ...<br />
Adam schüttelt <strong>de</strong>n Pflaumenbaum, sie sammelt, Pflaumen über Pflaumen fallen über sie<br />
her, es schneit Pflaumen, sie kann sie nicht so schnell aufheben, wie sie herunterschneien.<br />
Henriette, was tust du <strong>de</strong>nn da? - Ja, Tante, ich weiß, es schickt sich wohl nicht. - Was