Das Mirakel von Bernsdorf - Demo - Buch.de
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wir veranstalteten Umzüge und Versammlungen, Schüler und Lehrer, und die Dessauer<br />
Bevölkerung war <strong>von</strong> <strong>de</strong>r gleichen Begeisterung erfasst. Da griff ich in meinem<br />
Freu<strong>de</strong>ntaumel zu <strong>de</strong>n Sternen (so sagte mein Freund Peter Villaurne später zu mir). Ich<br />
stellte <strong>de</strong>n versammelten Erziehern <strong>de</strong>s Philanthropins vor, wie wenig es mit <strong>de</strong>n<br />
Menschenrechten übereinstimmt, wenn die Privilegien <strong>de</strong>s Stan<strong>de</strong>s nun durch die Privilegien<br />
<strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s ersetzt wer<strong>de</strong>n. Und ich zeigte ihnen einen an<strong>de</strong>ren Weg - meinen Plan<br />
erläuterte ich ihnen: Wir könnten auf die Mittel <strong>de</strong>r begüterten Eltern nach einer gewissen<br />
Zeit verzichten, wenn wir eine produzieren<strong>de</strong> und lernen<strong>de</strong>, vollkommen gleichberechtigte<br />
Gemeinschaft bil<strong>de</strong>ten, in <strong>de</strong>r alle Güter allen gemeinsam sind. Denn wir haben unsere<br />
Werkstätten, unsere Gärten, unsere Äcker, wir könnten ... Ach, bester Vater, da kam ich<br />
übel an! Seit<strong>de</strong>m gehen meine lieben Kollegen mit mir um wie mit einem Aussätzigen, und<br />
nur unter vier Augen gibt mir <strong>de</strong>r eine o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re zu verstehen, dass ich so unrecht<br />
vielleicht gar nicht habe ... Für meinen kleinen Freund konnte ich gar nichts erreichen, da ich<br />
mich nicht damit begnügen konnte und wollte, für ihn allein etwas zu än<strong>de</strong>rn. Er wird einst<br />
ein tüchtiger Tischler sein, es könnte doch aber ein großer, ein ganz großer Gelehrter aus<br />
ihm wer<strong>de</strong>n ..., und immer, wenn er mir einfällt, kann ich mich nicht bezwingen und streite<br />
mich mit meinen Herren Kollegen. Aber ich bin mir nun sicher, dass ich hier nichts erreichen<br />
kann, und wer<strong>de</strong> mein Glück <strong>de</strong>mnächst an<strong>de</strong>rswo suchen. Mein Plan einer Arbeits- und<br />
Erziehungskolonie ist gut, das <strong>de</strong>nke ich je<strong>de</strong>n Tag aufs neue, ich wer<strong>de</strong> ihn in einem <strong>Buch</strong><br />
genau erläutern, und ich träume auch da<strong>von</strong>, ihn irgendwann einmal zu verwirklichen.<br />
Vielleicht befolge ich nun doch <strong>de</strong>n Rat, <strong>de</strong>n Sie mir beim Abschied gaben, und gehe nach<br />
Hamburg. Mir scheint das ein Ort zu sein, wo man freier atmen kann. Und Ihr alter Freund<br />
Karl-Ernst Suhrbier wird mir gewiss weiterhelfen, ohne dass ich ihn um Almosen bitten<br />
muss. Denn ich fühle mich in <strong>de</strong>r Lage, selbstständig durchs Leben zu kommen, und wer<strong>de</strong><br />
ihm alles, was er mir möglicherweise vorstreckt, auf Heller und Pfennig zurückzahlen.<br />
Küssen Sie <strong>de</strong>n Jungen, lieber Vater; ich bin recht froh, dass er so ein gescheites und<br />
musikalisches Kerlchen ist, lehren Sie ihn soviel wie möglich, lassen Sie ihn sehr bald<br />
Lessing und Her<strong>de</strong>r lesen, damit sich sein Verstand entwickelt und er <strong>de</strong>n Gefahren<br />
entgeht, die uns drohen, wenn wir glauben, ohne zu <strong>de</strong>nken.<br />
Ihr dankbarer Sohn<br />
Heinrich Marten“<br />
Er faltet die Briefe zusammen. Auf einmal weiß er, was er tun wird. Nicht heute und<br />
morgen; die Trennung <strong>von</strong> Henriette ist ihm vorerst unvorstellbar. Aber irgendwann, bevor er<br />
Schulmeister wer<strong>de</strong>n muss, da wird er diesem Heinrich Marten nachfahren. Wird ihn<br />
suchen. Wird ihn fin<strong>de</strong>n. Natürlich wird er ihn fin<strong>de</strong>n. Und er wird Vater zu ihm sagen ... Und<br />
dann - ja, vielleicht kann er dann doch studieren? O<strong>de</strong>r eine Organistenstelle antreten,<br />
irgendwo in einer großen Stadt, an einer großen Kirche ... Ach, <strong>de</strong>r Heinrich Marten wird<br />
ihm schon sagen, was er dann tun kann, wird ihm schon auf <strong>de</strong>n Weg helfen ...<br />
Aber wo ist er jetzt? Michel sortiert die Briefe, vergleicht ihre Daten. Der letzte Brief kommt<br />
aus Hamburg, datiert vom 3. November 1786. Warum hat er seinem Vater danach nicht