Das Mirakel von Bernsdorf - Demo - Buch.de

den Traum: „Der Orden der Rosenkreuzer ist im Besitz untrüglicher Weisheiten und des
Geheimnisses, den Stein der Weisen zu bereiten, Armut und Krankheit zu bannen. In seinen
Reihen findet der Gläubige alles, was ihn zeitlich und ewig beglücken kann. Die Natur
verleiht ihm ihre Kräfte, gibt ihm Kenntnis und Erlaubnis, den Körper zu befreien und zu
erhellen und auf den Höhepunkt der Vollkommenheit zu führen ...“
Wenn ich nur wüsste, Michel, warum dich das beeindruckt? Waren wir vorher nicht immer
einer Meinung in solchen Dingen? Und nun erregt und befriedigt dich, was mir unbehaglich
und verdächtig ist. Weil ich nicht mag, wenn man mir das Denken austreiben will ... Hat dich
eigentlich dieser Italiener nicht misstrauisch gemacht, dieser Signore Rossi? (Wie viele
seltsame Gestalten bei uns auftauchen, seit die Prophezeiung des Geistes erfüllt ist ... Und
immer, wenn der Onkel nicht da ist. Ob sie alle Angst vor seinem Knotenstock haben?)
Janke hatte uns neugierig gemacht: „Ordensbruder Roberto Rossi besitzt seit
Jahrhunderten die Kenntnis darüber, wie man das Lebenselexier gewinnt. Er zählt
eintausendachthundertundvierzig Jahre und kennt die Evangelisten, ganz besonders gut den
Apostel Paulus, von Angesicht zu Angesicht ...“
War etwas Besonderes an ihm zu sehen? Ich konnte nichts finden. Nur Friedrich durfte im
Zimmer bleiben. Sie verhandelten lange. Weißt du, dass sie ihm sein Rezept abkaufen
wollten, aber er verlangte Unerschwingliches? Wozu braucht er Geld, angeblich kann er
doch auch Gold machen? Verkaufte ihnen nur ein kleines Fläschchen „Lebenselexier“, und
das untersucht ihr nun seit Wochen, um seine Bestandteile zu erforschen ... Ach, Michel, du
musstest doch misstrauisch geworden sein bei unserem Gespräch mit diesem Kutscher des
Signore. Aber du experimentierst mit einem Tröpfchen Flüssigkeit, das gewiss nichts
anderes ist als Fuchtsaft ...
Ist Euer Herr tatsächlich eintausendachthundertundvierzig Jahre alt? fragtest du den
Kutscher. Der saß auf dem Bock, würdig, ernsthaft, schwieg beharrlich, bis ich meine
ersparten Groschen holte und ihm zusteckte. Er nahm sie und lächelte unter seinem
Schnauzbart. Dann sagte er - und das war unverkennbar Sächsisch, Michel: Nu ja, so
genau kann ich’s freilich nicht wissen, glaub’s aber schon, bin selbst nicht gar so alt.
Wie alt denn?
Äh nu, so an die fünfhundert, ’s können freilich auch fünfhundertundvier Jährchen sein, nicht
wahr?
Ach, Michel ... diese fremden Gesichter in der Kirche, als dein Großvater, der alte Schulz,
gegen Wöllners Religionsedikt predigte ... Jeder im Dorf hatte das Thema der Predigt
gekannt. Und jeder im Schloss. Aber die Herren aus Berlin, woher haben die das gewusst?
Und er, der Schulz - hatte er sie nicht gesehen, oder warum hat er geredet, als wären sie
nicht gekommen? Sprach wie immer: ruhig und freundlich, ohne die Stimme künstlich zu
heben, redete vom Recht jedes Menschen auf Glaubens- und Gewissensfreiheit, das durch
Gesetze, Institutionen, Inquisition nicht aufzuheben sei, denn es sei ein göttliches Recht, ein
natürliches Recht, ein unveräußerliches ... der ganze Rousseau schimmerte durch diese
Predigt. Und unüberhörbar war, was er zu sagen hatte: Wöllners Edikt, das jede
Abweichung von der Lutherischen Lehre mit harten Strafen belegt, das jedem Geistlichen