Das Mirakel von Bernsdorf - Demo - Buch.de

Gestell baute, mit dem er angeblich fliegen wollte wie die Vögel in der Luft? Denn das war
der Inhalt seiner seltenen Reden, darüber sprach er mit ihnen - wenn er überhaupt sprach.
Und er redete davon so wie sie, richtig und ruhig und vernünftig, dass sie an seine
Verrücktheit nur durch diese ganz und gar verrückte Idee erinnert wurden.
Die aus dem Schloss, Bewohner wie Besucher, mussten nicht an ihm vorbei. Eingang für
Herrschaften: diesen Vorzug hatte auch eine Dorfkirche. Er führte ins Seitenschiff, von dort
stieg man eine schmale Treppe hoch in den einzigen Chor. Holzgestühl auch hier; aber
Halina und Tochter Maria schleppten Kissen und Decken für Dorothea und den Baron, auch
Henriette wurde bedacht.
Es bedarf einer Erklärung, wie dies Läuten zum Verstummen gebracht werden kann, das
nicht anders als wild oder wütend zu nennen ist, auch wenn es den Frühgottesdienst des
ersten Weihnachtstages einleitet. Denn keine Vernunft wird ihm Einhalt gebieten können.
Wohl aber der, der sich nun nähert: Aus der Tür des Pfarrhauses tritt Pastor Emanuel
Kienast. Ein stattlicher, ein schöner Mann. Nur - er weiß das. Man sieht es deutlich an der
Art, wie er den langen, faltenreichen schwarzen Talar rafft, wenn er die Schwelle
überschreitet. Wie er das blütenweiße Bäffchen am Hals mit sorgfältigen Handbewegungen
glättet, obwohl es glatt und richtig sitzt, so wie Margarete es ihm vor knapp fünf Minuten
umgelegt hat. Wie er sich dann das schwarze Käppchen auf dem vollen, schwarzgrauen
Haar zurechtrückt, gemessenen Schritts nun auf die Kirche zugeht, ohne sich auch nur
einmal umzusehen nach ihr, der Frau Margarete Kienast, die ihm getreulich folgt, ein
Notenheft tragend, denn sie wird die Orgel spielen, mehr schlecht als recht zwar, doch
gewiss besser als der kriegsinvalide Schulmeister Johannes Rietz, der davon so viel
versteht wie ein preußischer General: nichts.
Kienast stellte sich hinter den am Strick Schaukelnden, während Margarete schattengleich
vorbeihuschte, das Treppchen zur Orgel hinauf. (Dass sie die Bank besetzt finden wird,
ahnt sie nicht.) Er tippte ihm mit dem rechten Zeigefinger auf die Schulter und rief ihm ins
Ohr: Heinrich!
Wild warf der den Kopf zurück, sein rechtes Auge funkelte den Pastor böse an. Kienast
tauchte seinen Blick in dieses eine Auge hinein und wiederholte zum hundertstenmal eins
seiner Experimente mit dem Irren: Er bannte ihn, indem er dies ungebärdige Auge besiegte.
Und Heinrichs Körper erschlaffte, nicht plötzlich, aber genau sichtbar (Kienast verfolgte den
Vorgang mit sachlichem Interesse, ohne seinen Blick von dem schwarzen Auge
abzuziehen), der rechte Fuß stieß nicht mehr vom Boden ab, die verkrampften Hände ließen
den Strick zwar noch nicht fahren, aber ihr Griff lockerte sich allmählich; statt zu ziehen,
wurden sie jetzt gezogen und wieder heruntergelassen, vom Strang, den die Glocke
bewegte, dem Trägheitsgesetz gehorchend; die Glockentöne trennten sich voneinander,
wurden wieder zum zaghaften, zögernden Gebimmel, und ganz plötzlich verstummte das
Läuten. Der Irre stand mit hängenden Schultern. Kienast, zufrieden mit seinen suggestiven
Fähigkeiten, nickte ihm kurz zu, wies auf einen Schemel an der Tür. Gehorsam humpelte
Heinrich dort hin, setzte sich, sah demütig von unten zu ihm hoch: der Hund zum Herrn.
Sekunden nur Stille zwischen dem letzten Ton der Glocke und dem Aufrauschen der Orgel,