Sie warf ihm einen spöttischen Blick zu, in <strong>de</strong>m er - nicht zu Unrecht - abgrundtiefe Verachtung las. Der Baron knurrte nur in sich hinein, Gänsekeule zwischen <strong>de</strong>n Zähnen, aber dies Knurren klang aufgebracht. Aufgebracht war auch <strong>de</strong>r Blick, <strong>de</strong>n <strong>de</strong>r weißblon<strong>de</strong>, hagere Friedrich, ältester <strong>Bernsdorf</strong>junker, Erbe <strong>de</strong>s <strong>Bernsdorf</strong>gutes und <strong>de</strong>r <strong>Bernsdorf</strong>schen Besitzungen im Polnischen (bei Bromberg) seiner Cousine zuschleu<strong>de</strong>rte wie einen Feh<strong>de</strong>handschuh, aber sie nahm ihn lächelnd auf, sodass er, entwaffnet, sich mit großer Aufmerksamkeit seinem Stück Gänsebraten widmete. Weil aber auch Joachim ihr nicht beisprang, nicht einmal aufsah <strong>von</strong> seinem Teller, da sagte sie - und sah ihn dabei an, ihren Lieblingsvetter: Frie<strong>de</strong>n auf Er<strong>de</strong>n und allen Menschen ein Wohlgefallen - verlang ich zu viel, in diesem Hause zu viel, ja? Und nun Blitz und Donner auf einen Schlag, und alle erstarrten, <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r alte Herr, kauend, schlug die Faust auf <strong>de</strong>n Tisch, brüllte mit vollem Mund: Ruhe im Glied, Kruzitürken, Himmelsakra, jetzt wird Essen gefasst, in diesem Hause, jawohl! Dorothea schickte einen verzweifelten Blick über <strong>de</strong>n Tisch, ihre grünen Augen in <strong>de</strong>m weißen, schwammigen Gesicht suchten Joseph <strong>von</strong> Janke, <strong>de</strong>n Hofrat. Der tat beschäftigt, war es auch, mit Messer und Gabel und Gänsebrust, und erst, als er seinen Teller leer gegessen, sauber getunkt hatte mit einem Stück Brot, hob er <strong>de</strong>n Kopf, nickte ihr Hilfe versprechend zu, stand auf, klopfte an sein Glas, begann leise und friedfertig zu re<strong>de</strong>n, als wäre hier nicht vor Kurzem gebrüllt wor<strong>de</strong>n mit vollem Mund. Meine Freun<strong>de</strong>, sagte er. Ein ereignisreiches Jahr neigt sich seinem En<strong>de</strong> zu, und nicht Streit und Krieg, son<strong>de</strong>rn Frie<strong>de</strong> und Versöhnung stehen an diesem En<strong>de</strong>. Jawohl, Frie<strong>de</strong>n auf Er<strong>de</strong>n. Und allen Menschen ein Wohlgefallen. Aber in einem weiteren, höheren Sinn. Herrmann <strong>von</strong> <strong>Bernsdorf</strong>, <strong>de</strong>r verdienstvolle Sohn dieses Hauses, mit <strong>de</strong>ssen Eintreffen wir täglich, ja stündlich rechnen, weilt vielleicht noch jetzt an <strong>de</strong>n historischen Stätten dieses historischen Jahres - bei ihm übrigens mein Sohn Wilhelm (mein Sohn, dachte Henriette zornig) -, und ich sage nur: Memel, Tilsit, Königsberg. Und, meine Freun<strong>de</strong>, wir alle <strong>de</strong>nken dann mit Genugtuung an das, was sich dort vor wenigen Wochen ereignet hat. Wir ge<strong>de</strong>nken vor allem <strong>de</strong>s glorreichen Augenblicks an jenem fünfundzwanzigsten Juni dieses Jahres, da die bei<strong>de</strong>n Größten dieser Welt, Napoleon und Alexan<strong>de</strong>r (die Größten, dachte Henriette erbittert, größer als Napoleon und Alexan<strong>de</strong>r - niemand, nicht Goethe, nicht Schiller, nicht Fichte, Beethoven, ach du mein Gott ...), sich in <strong>de</strong>r Mitte <strong>de</strong>s Grenzflusses trafen, in einem Pavillon, auf einem Floß, sonnenüberstrahlt, fürwahr, ein einzigartiger Augenblick, und sie reichten sich die Bru<strong>de</strong>rhand. Und einbezogen in diesen Bund wur<strong>de</strong> zu Tilsit am neunten Juli auch unser ruhmreicher König <strong>von</strong> Preußen. Friedrich Wilhelm III., (<strong>de</strong>r Trottel, dachte Henriette) und unsere strahlen<strong>de</strong> junge Königin, die holdselige Luise, die so standhaft und mutig <strong>de</strong>m genialen Kaiser gegenübergetreten ist. (Wer weiß, womit sie ihn umgarnt hat, aber Mag<strong>de</strong>burg hat er sich trotz<strong>de</strong>m nicht abhan<strong>de</strong>ln lassen, dachte Henriette.) Sodass also dieses Jahr zu En<strong>de</strong> geht in Frie<strong>de</strong>n und Eintracht. Und auf dass auch in diesem Hause, meine Freun<strong>de</strong>, stets Frie<strong>de</strong>n und Eintracht herrschen mögen, und
auf dass unsere teure Königsfamilie bald aus <strong>de</strong>r Verbannung zurückkehren darf in ihr heimatliches Berlin (unser Dämel sitzt in Memel, dachte Halina, die eben hereingekommen war und <strong>de</strong>n Tisch abzu<strong>de</strong>cken begann), darauf, liebe Freun<strong>de</strong>, lasst uns unsere Gläser erheben! Ein dankbarer Blick Dorotheas belohnte Janke für die Anstrengung, Henriettes ironisches Lächeln nahm er nicht zur Kenntnis. Während sie <strong>de</strong>n Wein auf <strong>de</strong>r Zunge zergehen ließen, setzten in <strong>de</strong>r Diele die Kin<strong>de</strong>rstimmen ein: „Es ist ein’ Ros’ entsprungen aus einer Wurzel zart.“ „Wie uns die Alten sungen ...“ Und das jetzt, nach dieser unerträglichen Tischre<strong>de</strong>. Henriette stützte <strong>de</strong>n Kopf in die Hän<strong>de</strong> und starrte in ihr Weinglas. Zwar hörte sie, wie unsauber die Kin<strong>de</strong>r sangen - einstimmig-vielstimmig -, und <strong>de</strong>r raue Bass <strong>de</strong>s Kantors, dieses holzbeinigen Feldwebels Johannes Rietz, bil<strong>de</strong>te eine so hässliche Dissonanz zu <strong>de</strong>n hellen Kin<strong>de</strong>rstimmen, dass Henriette wie fröstelnd die Schultern hochzog. Aber da war schon die Gegenwart <strong>von</strong> ihr abgefallen. Da war sie schon keine zweiunddreißigjährige Frau mehr, <strong>de</strong>ren fast fünfzigjähriger Mann Karriere gemacht hatte und weiterhin zu machen gesonnen war, in <strong>de</strong>ren dunkelbraunem Haar zwei weiße Fä<strong>de</strong>n schimmerten (sie hatte sie noch nicht ent<strong>de</strong>ckt), unter <strong>de</strong>ren Augen - bei genauem Hinsehen - die ersten Fältchen nisteten.
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mehr geschrieben? Michel begreift,
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Da sagte die Frau neben ihm: Ja, se
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Uniform, die euch nicht gefällt? E
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3. Kapitel 1 Henriette, während si
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welche nötig, und der Heirat mit E
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Vom Revolutionsfieber sind hier all
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2 Es klopfte, Henriette zuckte zusa
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sagte: Ich will mit, Michel? Da has
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Ja, da wolltest du. Aber schon da h
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Dem Janke tust du einen Gefallen, h
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nämlich manchmal, die beiden Alten
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denken können. Mir entging aber ni
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4 Henriette war erleichtert, als si
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Sie ist unzerbrechbar, hast du mir
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hast du denn mit deinem Kleid gemac
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hat er doch aller Welt gezeigt, wie
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5 Es schneite noch immer. Terrasse
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einkaufen bei Euch. Hä, machte der
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Fällt draußen noch der Novemberre
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Wiedersehen. Und er lauscht lange a
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Da drehte sich Tadeusz Piotrowski z
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Andreas! Da wacht er auf, sieht den
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Mit jedem Schritt nähern sie sich
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Anhängern, verschwinde aus meinem
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esseren Bund zu begründen zu Deuts
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unserer Bude in Erfurt - Hinterhof,
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Und Marianne war nicht mehr bei ihm
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Präsent zum Geburtstag, keine Gans
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eingeredet, ich kann ihn doch nun n
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und „Der fingerkleine Kobold“