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Das Mirakel von Bernsdorf - Demo - Buch.de

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und er weiß - wie in je<strong>de</strong>m Frühjahr -, dass die Juristerei sein Fach gar nicht ist, dass die<br />

Naturwissenschaften seine große, vergebliche Liebe bleiben wer<strong>de</strong>n.<br />

Wo ist die Weltgeschichte, als sie da wan<strong>de</strong>rn? Vergessen sie nicht für Stun<strong>de</strong>n, ja für<br />

Tage, dass da eine Revolution in Paris war und sie zu ihr wollen? Zu ihr und ihren Kin<strong>de</strong>rn?<br />

Sogar <strong>de</strong>n Heinrich Marten vergessen sie zuzeiten. Einmal verweilen sie stun<strong>de</strong>nlang in<br />

einem Dorf, in <strong>de</strong>ssen romanischer Kirche Michel eine gute Orgel vermutet - er wird nicht<br />

enttäuscht, auch vom Küster nicht („Die Kirche ist zwar geschlossen, Bürger, sie wird zu<br />

einem Tempel <strong>de</strong>r Vernunft umgestaltet, aber die Orgel ist da, eine sehr gute Orgel!“).<br />

Michel spielt lange und selbstvergessen.<br />

Schön war das, sagt Andreas, <strong>de</strong>r nüchterne, sachliche Andreas. Und dann sagt er: Weißt<br />

du, was mir dabei in <strong>de</strong>n Sinn kam, Michel? Wie dumm wir doch sind, dachte ich. Wir leben<br />

entwe<strong>de</strong>r in Trauer um Vergangenes o<strong>de</strong>r in Hoffnung auf Zukünftiges. Und versäumen<br />

darüber das einzig Wichtige - das Gegenwärtige. Leben wir so nicht am Leben vorbei?<br />

Michel überlegt lange, schiebt dabei die Register zurück, steht <strong>von</strong> <strong>de</strong>r Orgelbank auf,<br />

überfliegt mit einem Blick das weiß getünchte Kircheninnere - keine Heiligenbil<strong>de</strong>r, kein<br />

Kruzifix, klare, weiße Linien, die Trikolore über <strong>de</strong>m Altar, ein Freiheitsbaum davor - dann<br />

sagt er: Es gibt wohl noch mehr Möglichkeiten, am Leben vorbei zu leben, Andreas. Dies<br />

mag eine da<strong>von</strong> sein. Für mich trifft sie kaum zu. Im Gegenteil, ich habe wohl bisher viel zu<br />

sehr das gegenwärtige Leben gelebt. Zuwenig an Zukünftiges gedacht. Immer an<strong>de</strong>re für<br />

mich entschei<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r mich <strong>von</strong> <strong>de</strong>n Ereignissen schieben lassen. Wenn man nur für sich<br />

und <strong>de</strong>n Augenblick lebt, was ist man dann, und was ist dann <strong>de</strong>r Augenblick?<br />

Jaja, sagt Andreas ungeduldig, aber lebt man nicht für sich und <strong>de</strong>n gegenwärtigen<br />

Augenblick, was ist man dann, und was ist dann <strong>de</strong>r Augenblick? Siehst du. Auf bei<strong>de</strong><br />

Fragen dieselbe Antwort: nichts. Ein Geschäftsfreund meines Vaters, ein kluger, gebil<strong>de</strong>ter<br />

Ju<strong>de</strong>, schrieb mir vor Jahren einen Spruch ins Stammbuch, <strong>de</strong>n ich als einzigen <strong>von</strong> all <strong>de</strong>n<br />

schönen, weisen Sätzen, die dort hineingeschrieben wur<strong>de</strong>n, nicht vergessen habe. „Denn<br />

wenn ich nicht für mich bin, wer wird für mich sein? Aber wenn ich nur für mich bin, was bin<br />

ich?“ Gefällt dir das?<br />

Ja, sehr, sagt Michel betroffen.<br />

Dieser Art sind ihre Gespräche. Und so kommen sie Schritt für Schritt näher an Paris heran.<br />

An das Paris <strong>de</strong>r Jakobiner, Sommer 1793. Schritt für Schritt durch das Frankreich <strong>de</strong>r<br />

Jakobiner. Mehr als einmal haben sie sich auszuweisen, haben Sansculottenführern Re<strong>de</strong><br />

und Antwort zu stehen: Woher? Wohin? Wer seid Ihr? Spione? Sacré matin, seht ihr dort<br />

die Guillotine?<br />

Und dann Umarmungen, Hän<strong>de</strong>schütteln, Schulterklopfen, wenn Andreas’ gute Papiere -<br />

Empfehlungsschreiben <strong>de</strong>s französischen Gesandten Lehoc in Hamburg, Lehoc, Freund<br />

seines Vaters - <strong>von</strong> allen Seiten betrachtet und für gut befun<strong>de</strong>n wur<strong>de</strong>n. Guten Tag,<br />

Brü<strong>de</strong>r, guten Weg, Kamera<strong>de</strong>n, es lebe die Freiheit. Und die Gleichheit, und die<br />

Brü<strong>de</strong>rlichkeit, vive la nation!<br />

Mit je<strong>de</strong>m Schritt nähern sie sich Paris.

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