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In den Mühlen des Staatsterrors - The 3 Saints

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Das Glockenspiel vom Westertoren<br />

Wir hatten übrigens in unserem Versteck noch einen<br />

Platz, wo wir uns notfalls für kurze Zeit hätten alles in der Welt.) „Das brauche ich doch nicht?“<br />

goud.“ (Ich habe Angst, hinzuschauen, nicht für<br />

unsichtbar machen können: <strong>In</strong> einer sehr kleinen, und Tante Mina pflichtete mir bei: „Nein, bei uns<br />

alten Küche war unter der Anrichte ein Schrank, in nimmt man so nicht Abschied von <strong>den</strong> Toten, das<br />

<strong>den</strong> mit „veel passen en meten“ (viel drücken und ist bei uns nicht Sitte, dann soll man das auch lassen.<br />

Du gehst einfach dran vorbei, tante Mies will,<br />

schieben) drei Erwachsene und drei Kinder reinpaßten.<br />

Allerdings hätten wir in dem winzigen und daß das Haus sauber gehalten wird.“ Sie führte<br />

engen Versteck so gut wie keine Luft mehr bekommen.<br />

Wir haben es zwar geprobt, aber glücklicherlichkeit<br />

zwischen Mutter und Sohn ist verblüffend.<br />

immer das weise Wort, wie Siegfried auch, die Ähnweise<br />

nie ernsthaft davon Gebrauch machen müssen.<br />

Immerhin wäre dieses Risiko noch erträglicher Sarg vorbei und setzte meine Arbeit fort, oh, wie<br />

Von da an schlich ich weiter durch <strong>den</strong> Raum am<br />

gewesen, als sofort entdeckt zu wer<strong>den</strong>. <strong>In</strong> diesem schrecklich!<br />

Schränkchen war übrigens auch der Radioempfänger<br />

versteckt, mit dem oom Jan täglich <strong>den</strong> haupt nichts. Bad oder Dusche existierten natür-<br />

<strong>In</strong> unserem Versteck besaßen wir so gut wie über-<br />

englischen Sender abhörte.<br />

lich weder in unserem Raum noch im Haus. Fließen<strong>des</strong><br />

Wasser aus der Leitung gab es nur zeitwei-<br />

Neben unseren „onderduikouders“ wohnten<br />

noch die Eltern sowie Tante Anna von oom Jan im lig in der Wohnung von tante Mies und der Toilette.<br />

Wir hatten kein warmes Wasser und keine Wasch-<br />

Souterrain <strong>des</strong> Hauses, hinter dem Geschäft von<br />

Tukker en Cram. Sie waren die einzigen, die über seife, täglich wuschen wir uns alle in einer kleinen<br />

unsere Anwesenheit im Haus Bescheid wußten. Als Gummischüssel. „Onze onderduikmoeder tante<br />

der alte Opa starb, wurde er auf unserer Etage, im Mies“ stand <strong>den</strong> ganzen Tag in Schlangen vor Geschäften,<br />

um auf ihren eigenen Lebensmittelkar-<br />

ersten Zimmer am Ende der langen Treppe aufgebahrt.<br />

Da hier früher der Versand der Produktion ten wenigstens noch etwas zu essen zu bekommen<br />

erfolgte, nannte man dieses Zimmer, das sich direkt<br />

vor unserem Versteck befand, „expeditie“. Die mittel einzutauschen. „Honger is iets vreselijks“<br />

oder andernfalls auf dem Schwarzmarkt Nahrungs-<br />

Tür, die zu uns führte, verbarg sich hinter einem (Hunger ist was Furchtbares), Hunger ist, wie wir<br />

dicken Vorhang aus dunkelrotem Stoff. Oom Jan in Holland sagen, „een heel scherp zwaard“ (ein<br />

zimmerte aus Brettern vom Schwarzmarkt eine scharfes Schwert). Wir haben enorm gehungert, alle<br />

„doodkist“, die in der Werkstatt mit Silberverzierungen<br />

beschlagen wurde. Zum Empfang von heerlijke gebakken vistongen“ (herrlichen großen<br />

träumten wir von „heerlijke grote biefstukken en<br />

Kondolenzbesuchern, die von dem Verstorbenen Beefsteaks und gebackenen Fischfilets), jedoch bekamen<br />

wir weder Vollmilch noch Butter, Fett oder<br />

Abschied nahmen, lag der Opa im offenen, mit einer<br />

Glasscheibe abgedeckten Sarg. Die Wände <strong>des</strong> sonstige gleichwertige Kost. Fast alles, was wir erhielten,<br />

stammte vom Schwarzmarkt. Pro Tag und<br />

Zimmers waren mit schwarzem Kreppapier behangen.<br />

Wenn ich morgens mit meinem Putzeimer Person bekamen wir „twee sneedjes brood“. Ich war<br />

durch <strong>den</strong> Raum mußte, wirkte die ganze Atmosphäre<br />

auf mich so „eng, griezelig en oneerbiedig“ dig Hunger, daran litten wir alle entsetzlich. Wir hat-<br />

damals 16 bis 19 Jahre alt und hatte natürlich stän-<br />

(bedrückend, gespenstig und wenig ehrerbietig), ten im Winter keine Heizung, und wenn man friert,<br />

daß ich es nicht wagte, <strong>den</strong> toten Opa in seinem empfindet man <strong>den</strong> knurren<strong>den</strong> Magen noch wesentlich<br />

intensiver. Von <strong>den</strong> zwei Scheiben Brot, die<br />

Sarg anzuschauen. Ich fand das schrecklich, mußte<br />

einfach weggucken, aber tante Mies nahm das weiter<br />

nicht tragisch, sondern ermunterte mich mit <strong>den</strong> eine halbe Scheibe an mich oder eine meiner<br />

natürlich auch Tante Mina nur bekam, gab sie stets<br />

Worten: „Hij ligt daar zo mooi bij, kom wij kijken Schwestern mit <strong>den</strong> Worten: „Ich bin alt, ich brauche<br />

nicht mehr soviel.“ Leider bekam auch sie nicht<br />

eens samen“ (er liegt da so friedlich, komm wir<br />

gucken mal beide), einen Blick auf <strong>den</strong> Toten zu mehr, es gab einfach nichts. Dabei hatten wir noch<br />

werfen. Ich war damals etwa siebzehn Jahre alt und Glück, <strong>den</strong>n so viele Amsterdamer sind im strengen<br />

meinte zu Mutter: „Ik durf niet te kijken, voor geen Winter 1944 regelrecht verhungert oder erfroren.<br />

Trotz der immer allgegenwärtigen Angst und<br />

Spannung versuchten wir doch, festliche Anlässe,<br />

so recht und schlecht es eben ging zu feiern. So<br />

waren oom Jan en tante Mies Anfang Mai 1943,<br />

wenige Monate nach unserer Ankunft, und meine<br />

Eltern am 28. August 1943 fünfundzwanzig Jahre<br />

verheiratet und „deze twee zilveren bruiloften“ (diese<br />

zwei silbernen Hochzeiten) haben wir festlich<br />

begangen. Schließlich lebten wir (noch) in Sicherheit,<br />

und das war schon für uns alle ein besonderer<br />

Grund, dankbar zu sein. Keiner von uns ahnte, daß<br />

die Eltern meines Vaters, 80 und 85 Jahre alt, sowie<br />

die Geschwister von Mutter und so viele Angehörige<br />

bereits in unbekannte Lager verschleppt und teils<br />

schon längst ermordet waren. Für ein paar Stun<strong>den</strong><br />

gelang es uns, die ständige Last und große Sorge<br />

um das Leben unserer Verwandten und unseres<br />

Bruders Sallo zu verdrängen.<br />

Wir feierten die bei<strong>den</strong> silbernen Hochzeiten mit<br />

einem „eenvoudig etentje“ (einfachen Essen), organisiert<br />

auf dem Schwarzmarkt. Beim ersten Mal<br />

gab es als „Festmahl“ Kaninchen. Tante Mina,<br />

meine Eltern und wir Kinder durften es eigentlich<br />

aus religiösen Grün<strong>den</strong> nicht essen, da es sich nicht<br />

um „koscheres“ Fleisch handelte. Wir wagten aber<br />

nicht, was zu sagen und hungrig, wie wir waren,<br />

konnten wir erst recht nicht widerstehen. Mies hatte<br />

sich soviel Mühe gegeben, überhaupt was zu bekommen,<br />

und so wollten wir nicht beleidigend sein<br />

und das Essen zurückweisen. Oom Jan besaß noch<br />

zwei Flaschen Wein, für je<strong>des</strong> Brautpaar eine. Die<br />

erste öffnete er für „hun zilveren bruiloft“, und die<br />

andere verwahrte er für die zweite Feier.<br />

Bei der silbernen Hochzeit meiner Eltern muß<br />

tante Mies ein Vermögen für das Essen aufgebracht<br />

haben. Sie kam aus der Küche und präsentierte uns<br />

mit <strong>den</strong> Worten: „Ich habe einen schönen Kalbsfricandeau“,<br />

einen sehr appetitlichen Braten. Tante<br />

Mina und mein Vater kannten je<strong>des</strong> Fleisch genau.<br />

Beide sahen es mit einem Blick: Es war<br />

„Kalbsfricandeau“ vom Schwein. Mies hatte nichts<br />

anderes bekommen können. „Wij mochten geen<br />

varkensvlees eten“ (Wir durften auch kein Schweinefleisch<br />

essen). „Herrliches Kalbfleisch“, wiederholte<br />

Mies, und meine Mutter hat’s geglaubt. Der<br />

Vater blickte rüber und kniff ein Auge zu Tante<br />

Mina. Als ich ihn fragend anschaute, flüsterte er<br />

nur: „Halt <strong>den</strong> Mund!“ Er wußte Bescheid, aber ihm<br />

machte das nicht soviel. Tante Mina meinte zu mir:<br />

„Vielleicht das einzige Mal, ich esse es, aber es ist<br />

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