23.11.2013 Aufrufe

In den Mühlen des Staatsterrors - The 3 Saints

In den Mühlen des Staatsterrors - The 3 Saints

In den Mühlen des Staatsterrors - The 3 Saints

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Eine schicksalhafte Begegnung<br />

<strong>In</strong> Amsterdam, Prinsengracht 289, sind wir zwei meiner ganzen Familie hin?) Nach kurzem Schweigen<br />

kam die Antwort: „Nou, dan komen jullie maar<br />

Jahre und vier Monate untergetaucht, und zwar im<br />

Hinterhaus von Johannes de Visscher und seiner bij ons. Ik moet het wel even met mijn vrouw<br />

Frau Maria (oom Jan en tante Mies), die selbst kinderlos<br />

waren. De Visscher stellte früher in seinem Ich muß das wohl eben mit meiner Frau bespre-<br />

overleggen!“ (Nun, dann kommen Sie nur zu uns.<br />

Atelier Priesterkleidung, Vorhänge und Kunstgegenstände<br />

aus Silber für die katholische Kirche her. Mein Vater war damals schon höchst überrascht:<br />

chen!)<br />

<strong>In</strong>zwischen war der Krieg ausgebrochen, unser Land „Sie bieten das an, ich weiß nicht, was ich darauf<br />

besetzt, und er konnte auf „legale“ Weise keine antworten soll!“ Das war ein völlig fremder Mann,<br />

kostbaren Stoffe und Material für seine Silbersachen dem wir nie zuvor in unserem Leben begegnet waren.<br />

Mein Vater hatte einige hervorragende<br />

mehr beziehen. Edelmetalle konnte man offiziell<br />

nur noch bekommen, wenn man Mitglied der von „zakenrelaties“ (Geschäftsfreunde), aber keiner<br />

<strong>den</strong> Deutschen eingesetzten „Kultuurkamer“ war. hätte das so schnell gewagt, und es war auch völlig<br />

Den Beitritt hatte er jedoch verweigert. Von nun an unmöglich, so etwas zu erwarten oder gar zu verlangen.<br />

Er kam als Wildfremder, saß zehn Minu-<br />

besorgte er sich sein Material durch andere Quellen<br />

und beschäftigte bei der Schmuckherstellung ten in unserem Wohnzimmer in Deventer, gestikulierte<br />

mit <strong>den</strong> Hän<strong>den</strong> und sagte: „Aber das kapier’<br />

„illegal“ sechs junge Leute. Da er sein Gewerbe offiziell<br />

nicht mehr ausüben konnte, produzierte er ich nicht! Kommt nur zu uns! Meine Frau muß<br />

nach eigenem Rezept eine Suppenpaste Marke auf je<strong>den</strong> Fall Bescheid wissen!“ Ja, wer tut so was?<br />

„JAMIE“ (Kombination der Vornamen Jan und Dabei war er sich genau <strong>des</strong> Risikos bewußt, das<br />

Mies), die er in kleinen Gläsern mit blauweißem sie eingingen, <strong>den</strong>n er hatte in Amsterdam bereits<br />

Deckel an Kun<strong>den</strong> auslieferte. Um seine Produktion<br />

abzusetzen, hatte er Anfang 1942 eine Annonce De Visscher war ein toller und außergewöhnli-<br />

die Schrecken der Besatzungszeit erlebt.<br />

in einer „landelijke krant“ (landwirtschaftliche Zeitung)<br />

aufgegeben, in der er einen Vertreter für die gezeigt: „Dat heeft een bedoeling (das hat einen<br />

cher Mann, und die ganzen Jahre hat er sich so<br />

Anwerbung und <strong>den</strong> Besuch von Kun<strong>den</strong> suchte. Sinn), daß wir uns kennengelernt haben. Gott hat<br />

Mein Vater schrieb einen Brief nach Amsterdam: uns zusammengebracht, jullie zijn op onze weg<br />

„Wir sind eine jüdische Familie ohne Arbeit und gekomen (ihr seid uns auf unserem Lebensweg<br />

Einkommen. Unser Betrieb wurde enteignet und begegnet), und dann muß man das tun. So einfach<br />

ist das“, sagte er dann. Er war unglaublich.<br />

wird jetzt von einem Verwalter der Deutschen weitergeführt.<br />

Ich besitze aber noch alle Kun<strong>den</strong>listen Ich bin keinem anderen Menschen mehr in meinem<br />

Leben begegnet, der so unbeirrt handelte. Und<br />

von Metzgern in der Umgebung von Deventer, die<br />

von meinem Sohn Sallo mit dem Fahrrad besucht ohne ein Wort zuviel zu re<strong>den</strong> oder gar zu jammern:<br />

„Wenn ihr gefun<strong>den</strong> werdet, sind auch wir<br />

wer<strong>den</strong> könnten.“ Kurz darauf rief Jan de Visscher<br />

tatsächlich an, und es kam zu einem Treffen in unserem<br />

Haus. Ich kann mich heute noch genau an hat er nie von sich gegeben. Das wußte er, das nahm<br />

erledigt, ist es auch für uns gelaufen.“ Dergleichen<br />

einige Sätze erinnern, die damals gesprochen wur<strong>den</strong>,<br />

nachdem mein Vater mit knappen Worten ihm klar, auf was er sich da einließ. Aber er selbst<br />

er in Kauf. Als er seine „Einladung“ aussprach, war<br />

unsere schlimme Situation und die besorgniserregende<br />

Bedrohung geschildert hatte. De Visscher: „Ik tes Ende nehmen würde: „Das schaffen wir zusam-<br />

besaß stets das meiste Vertrauen, daß alles ein gu-<br />

begrijp niet, dat U met Uw hele gezin hier Uw men, ganz einfach“, sagte er, „das schaffen wir!“<br />

noodlot zit af te wachten!“ (Ich verstehe nicht, Wie wir erst nach unserer Befreiung erfuhren, war<br />

warum Sie sich hier mit Ihrer ganzen Familie ihrem<br />

Schicksal ergeben.) Mein Vater: „Waar moet Verstecks Prinsengracht 263 der Familie Frank.<br />

„ons onderduikhuis“ in unmittelbarer Nähe <strong>des</strong><br />

ik met mijn hele gezin naar toe?“ (Wo soll ich mit Beide Häuser liegen auf der gleichen Seite der<br />

Gracht, hauptsächlich getrennt durch die bekannte<br />

Amsterdamer „Westerkerk“ (Westerkirche). Das<br />

tragische Schicksal dieser Familie ist vielen aus der<br />

Veröffentlichung der Tagebücher von Anne Frank<br />

bekannt gewor<strong>den</strong>. Ihre Mutter Edith Frank-Holländer<br />

war übrigens verwandt mit Johanna Devries<br />

aus Kal<strong>den</strong>kirchen, ebenfalls geborene Holländer,<br />

Schwägerin von Tante Mina. Mit Ausnahme <strong>des</strong><br />

Vaters Otto Frank kamen alle später in Konzentrationslagern<br />

um, Anne Frank starb kurz vor der Befreiung<br />

<strong>des</strong> Lagers Bergen-Belsen an Typhus. Auch<br />

wir lebten mit sechs Personen in einem Hinterhaus,<br />

vergleichbar mit dem, in dem die Familie Otto<br />

Frank Unterschlupf fand. Wir waren in einem Zimmer<br />

untergebracht, das vorher als Atelier gedient<br />

hatte, und blieben dort die ganze Zeit versteckt. <strong>In</strong><br />

diesem, mit alten Gardinen aus früherer Produktion<br />

verdunkelten Raum, in <strong>den</strong> das Tageslicht nur<br />

durch einen kleinen Spalt hereinfiel, spielte sich<br />

von nun an unser weiteres Leben ab. Wir schliefen<br />

dort und mußten ansonsten zusehen, uns <strong>den</strong> ganzen<br />

Tag zu beschäftigen. Die Toilette konnten wir<br />

nur abends benutzen, um nicht im Treppenhaus<br />

<strong>den</strong> jungen Leuten in die Arme zu laufen.<br />

Hinzu kam, 1943 war ein sehr kalter Winter. Wir<br />

stan<strong>den</strong> ohne Heizung, Gas und natürlich ohne<br />

elektrisches Licht da. Auch hatten wir keine „distriebutiekaarten“<br />

(Lebensmittelkarten), also mußte<br />

das Essen auf dem „zwarte markt“ beschafft wer<strong>den</strong>,<br />

wo sich der Handel hauptsächlich abspielte.<br />

Da es natürlich ausgeschlossen für uns war, sich<br />

draußen blicken zu lassen, mußte tante Mies auch<br />

Essen für uns mitbesorgen, und das war eine sehr<br />

schwierige Sache, <strong>den</strong>n es gab fast keine Nahrungsmittel<br />

mehr in Amsterdam. Auch mit Lebensmittelkarten<br />

konnte man kaum was bekommen,<br />

und alles war extrem teuer. Dadurch haben wir eine<br />

sehr, sehr entbehrungsreiche Zeit durchgemacht.<br />

Geld durften wir offiziell nicht besitzen, abgesehen<br />

davon hatten uns die Deutschen alle Wertsachen<br />

abgenommen, derer sie habhaft wer<strong>den</strong> konnten.<br />

Meine Mutter hatte im Laufe ihrer Ehe ganz tollen<br />

Brillantschmuck von meinem Vater geschenkt bekommen,<br />

und es war ihr wenigstens gelungen, diesen<br />

unter <strong>den</strong> Kleidern zu verbergen und mit auf<br />

unserer Flucht nach Amsterdam zu retten. Der<br />

Schmuck wurde später von oom Jan auf dem<br />

Schwarzmarkt „versilbert“.<br />

106

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!