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cinéma<br />

FILM<br />

das kurze leben des josé antonio gutierrez<br />

Von Sonja Wenger (Bild: zVg.)<br />

■ Der Schweizer Filmpreis für den besten Dokumentarfilm<br />

2007 wurde im Januar in Solothurn an<br />

den Dokumentarfilm «Das kurze Leben des José<br />

Antonio Gutierrez» von Heidi Specogna verliehen.<br />

Der Film erzählt, wie ein ehemaliges Strassenkind<br />

aus Guatemala zu der zwiespältigen Berühmtheit<br />

gelangte, der erste gefallene US-Soldat im Irakkrieg<br />

von 2003 zu sein. «Zu Beginn meiner Recherche<br />

hielt ich zwei Fotos in der Hand», sagt die<br />

Regisseurin Specogna, die unter anderen die Dokumentarfilme<br />

«Tupamaros» und «Zeit der roten<br />

Nelken» geschaffen hat. «Auf dem einen trägt José<br />

Antonio Gutierrez die Uniform der US-Marines, es<br />

wurde kurz vor seinem Tod aufgenommen. Das andere<br />

zeigt ein Kinderporträt in schwarzweiss, vom<br />

Tag seiner Aufnahme im Waisenhaus in Guatemala<br />

- zur Zeit des Bürgerkrieges.»<br />

Es war die Geschichte zwischen diesen beiden<br />

Momentaufnahmen, die Specogna interessiert hat.<br />

Mit Interviews jener Menschen, die auf verschiedene<br />

Weise Einfluss auf Gutierrez’ Leben hatten<br />

oder davon berührt wurden, zeichnet die Regisseurin<br />

nicht nur ein immer dichter werdendes<br />

Einzelporträt, sondern gleichzeitig ein weitreichendes<br />

Bild der gesellschaftlichen Situation in<br />

Mittelamerika. Die schlechte wirtschaftliche Lage<br />

in ihren Ländern treibt jedes Jahr Zehntausende<br />

Menschen dazu, ihre Heimat zu verlassen und sich<br />

auf die gefährliche Reise in den Norden zu machen.<br />

Mit einem instinktiven Gespür für den Wechsel<br />

zwischen Emotionen und Fakten, zwischen Nachhallen<br />

lassen und dichter Erzählkunst, gelingt es<br />

Specogna, die Wesenszüge von Gutierrez auferstehen<br />

zu lassen. Ihr respektvoller Umgang mit den<br />

intensiven Gefühlen, der Erinnerung, der Trauer,<br />

aber auch der skandalösen Tragik der Geschichte<br />

jener Menschen, die in Gutierrez’ Fussstapfen getreten<br />

sind und es noch immer tun, öffnen ein<br />

Spektrum, in dem Weltpolitik plötzlich ihre Abstraktion<br />

verliert und sich im Gesicht realer Menschen<br />

spiegelt.<br />

«Das kurze Leben des José Antonio Gutierrez»<br />

ist aber auch ein Film, bei dem handwerklich<br />

alles stimmt. Die Bilder sind niemals reisserisch,<br />

und wenn die Kamera ganz nah bei den Menschen<br />

bleibt, wenn sie von ihren Erinnerungen überwältigt<br />

werden, so entsteht trotzdem nie der Eindruck des<br />

Voyeurismus, sondern mehr des Mitgefühls und<br />

der Betroffenheit, als wenn man Gutierrez selbst<br />

gekannt hätte. Die Erzähldramaturgie ist vom ersten<br />

bis zum letzten Moment stimmig und doch<br />

abwechslungsreich, man spürt den Erfahrungsmix<br />

zwischen Filmemachen und Journalismus. Dem<br />

Bildschnitt gelingt mühelos der Wechsel zwischen<br />

der Vergangenheit und Gegenw<strong>art</strong>, aber auch<br />

zwischen den Gegensätzen von Guatemala und<br />

den USA. Die Musik untermalt die emotionale Befindlichkeit<br />

ohne störenden oder gar wertenden<br />

Pathos und wird durch die drei Sprecher und Sprecherinnen<br />

Eva Mattes, Alexander Radszun und Peter<br />

Flechtner harmonisch ergänzt.<br />

Freunde, Verwandte, Betreuer und Kameraden<br />

erinnern sich nicht nur eindringlich an Geschichten,<br />

Anekdoten oder Charakterzüge von Gutierrez,<br />

sondern auch an die Umstände seiner Migration<br />

in die USA. Die Kamera folgt Gutierrez’ Route von<br />

Guatemala durch Mexiko, springt mit auf die endlosen<br />

Güterzüge, die jeden Tag Tausende Migranten<br />

illegal an die US-Grenze oder in den Rollstuhl<br />

bringen, wenn sie stattdessen unter die Zugräder<br />

geraten. Der Film besucht aber auch jene Herberge<br />

im südmexikanischen Chiapas, wo die Migranten<br />

und Migrantinnen noch einmal verschnaufen und<br />

neuen Mut für die letzte Reiseetappe fassen können.<br />

In der Begründung der Jury der Solothurner<br />

Filmtage heisst es, dass Specogna in «Das kurze<br />

Leben des José Antonio Gutierrez» ein «Einzelschicksal<br />

erzählt und es doch schafft, die Figur<br />

der im Irak gefallenen Soldaten in einen grösseren<br />

gesellschaftlichen und zeitgeschichtlichen Zusammenhang<br />

zu stellen». Insofern ist Gutierrez’<br />

Schicksal symptomatisch für viele Menschen aus<br />

Süd- und Zentralamerika, und doch bleibt seine individuelle<br />

Geschichte und sein ganz eigener Charakter<br />

stets surreal präsent.<br />

Erst beim dritten Anlauf gelang Gutierrez die<br />

Einreise in die USA, wo er eine weitere, jahrelange<br />

Odyssee durch Pflegefamilien und Institutionen<br />

antrat. Um seinen Traum eines Architekturstudiums<br />

verwirklichen zu können, trat Gutierrez – zum<br />

Unverständnis vieler, die ihn kannten - in die US-<br />

Armee ein und wurde ein sogenannter Greencard-<br />

Soldat. Damit hoffte er, seine Chancen auf eine<br />

Einbürgerung zu verbessern.<br />

José Antonio Gutierrez starb bereits am ersten<br />

Tag der US-Invasion im Irak, vermutlich durch die<br />

verirrte Kugel eines Kollegen. Für kurze Zeit feierten<br />

die Medien Gutierrez als Helden und die USA<br />

gewährte ihm ein Staatsbegräbnis. Gerade deswegen<br />

ist es wohl der Gipfel eines als Heldentum verbrämten<br />

Zynismus, dass ihm die US-Staatsbürgerschaft<br />

posthum verliehen wurde.<br />

Der Film dauert 94 Minuten und ist seit dem 25.<br />

Januar in den Kinos.<br />

24<br />

ensuite - kulturmagazin Nr. 50 | Februar 07

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