AUF EIN WORT - Interessengemeinschaft deutschsprachiger ...
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der Kante der Sitzbank und starrte aus dem Fenster.<br />
‘Papa. Warum?’ Die Tränen in ihren Augen<br />
brannten und fanden einen eigenen Ausweg.<br />
Marie Montvert, Duchesse von St. Germain<br />
und die beste Freundin ihrer Mutter, saß ihr gegenüber,<br />
aufrecht, sie beobachtend. Sie fächerte<br />
sich mit einem Hauch von Seide Luft zu. In Héloises<br />
Augen war Marie ein respekteinflößender<br />
Wegweiser, der in dem Dickicht, in das sie geschickt<br />
wurde, nur von Nutzen sein konnte, zumal<br />
sie diesen Wegweiser mochte. Marie machte<br />
ihr den Abschied, den Neubeginn,<br />
die Fremde erträglich. Sie<br />
war ihre Patin und sollte die einzige<br />
Stütze an Héloises Seite<br />
sein, wenn sie dem König und<br />
der Königin von Frankreich vorgestellt<br />
wurde.<br />
Hinter Marie, hinter dem gemaserten<br />
Holz der Rückwand<br />
und weit hinter der letzten Biegung,<br />
in dem kleinen Ort namens<br />
Le Plessis-Macé bei Angers,<br />
war ihr Zuhause, sollte es<br />
immer sein. Dort lebte Adolphe<br />
Maximilien de Clement-Barentin,<br />
Marquis de Bellefort. Ihr<br />
starker, unbesiegbarer Papa. Er<br />
war Musketier im Regiment des<br />
Königs gewesen, des alten Königs, dessen Edelmut<br />
er immer noch schätzte. Héloise liebte ihren<br />
Papa bedingungslos.<br />
Dort herrschte Madeleine de Clement-Barentin,<br />
eine geborene St. Phare. Ihre Mutter. Madeleine<br />
war entweder nur einschüchternd oder herablassend.<br />
Diese Eigenarten hatte sie perfektioniert.<br />
Madeleine gebar sieben Kinder, und Héloise,<br />
die jüngste Tochter, begegnete ihr entweder<br />
mit Scheu oder Verachtung. Héloise wünschte<br />
sich oft, Marie wäre ihr Mama.<br />
In Le Plessis-Macé lebte Raphael, der einzige<br />
ihrer vier Brüder, den sie kannte, und ihre Großtante<br />
Sophie Aimée d’Aulnay-sous-Bois, Duchesse<br />
de Reims. Sophie war ihre Lehrerin und<br />
eine Hexe. Das jedenfalls behauptete Madeleine.<br />
Héloise wusste es besser.<br />
In Gedanken versunken presste sie ihre<br />
Hände um den Einband eines Buches, das Papa<br />
ihr zum Abschied überreichte. Es sollte Héloise<br />
an daheim erinnern, an die Bücher in der Bibliothek,<br />
die sie liebte. Héloise war oft, umhüllt von<br />
den Düften nach Papier, Leder und Holz, über<br />
einer Landkarte eingeschlummert. Dann träumte<br />
sie von Expeditionen in weit entfernte Regionen.<br />
Die Herbarien, die sie mit Sophies Hilfe anlegte,<br />
waren sicher im Reisegepäck verstaut. Diese<br />
Schätze ließ Héloise auf gar keinen Fall daheim,<br />
denn sie wollte nicht, dass ihre Mutter sie<br />
fand. Madeleine hielt nichts von diesen Dingen –<br />
sie meinte die Kräuterkunde – und hätte die Bücher<br />
in den Kamin geworfen. Héloise war sich<br />
sicher, dass Madeleine gar nichts verstand. Immerhin<br />
halfen ‘diese Dinge’ bei<br />
Papas Blasensteinen und Raphaels<br />
Wundheilungen.<br />
Raphael. Ein Lächeln. Der Elfjährige,<br />
der ihr mit dem Herzen<br />
so nahe war, als seien sie aus<br />
einem Holz geschnitzt, war das<br />
Gegenstück ihres Temperaments:<br />
Raphael de Clement-Barentin<br />
war ein Wirbelwind, und<br />
seine Neigung zu Unfällen ließen<br />
Héloise mitunter verzweifeln.<br />
Seine Verletzungen beschränkten<br />
sich auf Blessuren<br />
und Prellungen, wenn er wieder<br />
einmal von einem zu hohen<br />
Baum gesprungen war oder die<br />
Breite eines Flussbetts unterschätzte,<br />
doch es verging keine Woche ohne Aufregung.<br />
Kaum war eine Wunde verarztet, heckte<br />
er neue Streiche aus und sein ansteckendes<br />
Lachen fehlte ihr schon jetzt.<br />
Sie seufzte und sah, während ihr Daumen heftig<br />
über den ledernen Einband des Buches rieb,<br />
wieder aus dem Fenster. Papa wählte das Buch,<br />
so wie er alles, was er begann, sorgfältig und<br />
konzentriert zu Ende führte. Sie war, bevor sie<br />
die erste Seite aufschlug, überzeugt, dass ihr die<br />
Geschichte Trost und Kraft spendete, um die<br />
Trennung auszuhalten. Sie hielt das Buch an die<br />
Nase, atmete den Duft des Leders ein und konservierte<br />
diesen Moment in ihrer Erinnerung.<br />
Das Buch wurde zu einer Brücke, die es ihr erlaubte,<br />
hinüberzugehen und ihrer Familie zu begegnen.<br />
Vielleicht war es nicht verkehrt, mit Marie<br />
nach Paris zu gehen, und wenn es ihr dort gar<br />
nicht gefiel, konnte sie immer noch zurück nach<br />
Le Plessis-Macé.<br />
IGdA-aktuell, Heft 3 (2007), Seite 22